Politische Philosophie Hannah Arendts Anregungen für den
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Politische Philosophie Hannah Arendts Anregungen für den
Politische Philosophie Hannah Arendts Anregungen für den Unterricht in der S I und II Arbeitskreis 22. September 2012 / Hamburg Klaus Feldmann Bergische Universität Wuppertal Didaktik der Philosophie [email protected] 2 Gliederung 1. 1.1 1.2 Leben Werk 2. 2.1 2.2 3. 3.3 3.4 Arbeit mit zentralen Begriffen Hannah Arendts in der S I und/oder S II: Arbeiten – Herstellen – Handeln Vorschläge für mögliche Unterrichtsschritte / mögliche Sequenz Zitate zu den Begriffen Arbeiten, Herstellen und Handeln Text: Vita activa und das politische Handeln 2.3 3.1 3.2 Biographisches Macht und Gewalt in der Sekundarstufe II Vorschläge für mögliche Unterrichtsschritte / mögliche Sequenz Planspiel zum Basistext III: Revolutionen als Machtwechsel Materialübersicht und Quellen der folgenden Texte zu Macht und Gewalt Texte Literatur 3 1. Biographisches 1.1 Leben 1906 Hannah Arendt wird am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover als einziges Kind in einer weltoffenen, nicht streng religiösen, jüdischen Familie geboren 1924 – 28 Studium der Philosophie, Evangelischen Theologie und Griechisch im Marburg, Heidelberg und Freiburg bei Heidegger, Husserl, Jaspers, Bultmann 1928 Promotion bei Jaspers mit dem Theam „Der Liebesbegriff bei Augustinus“ 1930 – 33 Arbeit an der Biographie über die Jüdin Rahel Varnhagen (1771–1833) 1929 – 37 erste Ehe mit Günter Stein, bekannt als Günter Anders 1933 – 41 Festnahme in Berlin, Flucht über Prag nach Paris, ab 1940 zweite Ehe mit Heinrich Blücher 1941 Nach der Flucht aus dem Lager Gurs in Südfrankreich Emigration über Lissabon per Schiff nach New York/USA ab 1941 Journalistische Tätigkeit u.a. in amerikanisch-jüdischen Organen ab 1951 Vorträge, Vortragsreisen und Lehre an verschiedenen Universitäten 1963 Berichterstatterin für The New Yorker beim Eichmann-Prozess 1975 Tod durch Herzinfakt in New York 1.2 Werk (in Auswahl) 1929 Der Liebesbegriff bei Augustinus. Versuch einer philosophischen Interpretation, Berlin (Dissertation bei Jaspers) 1951 Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, New York 1958 Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, Chicago (Arbeiten an der Schrift von 1930 – 33) 1958 Vita activa oder Vom tätigen Leben, Chicago 1963 Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, New York 1963 Über die Revolution, New York 1970 Macht und Gewalt, London 1978 Vom Leben des Geistes, Bd. 1: Das Denken, Bd. 2: Das Wollen, New York (bereits posthum veröffentlicht) 4 2. Arbeit mit zentralen Begriffen Hannah Arendts in der S I und S II: Arbeiten – Herstellen – Handeln 2.1 Vorschläge für mögliche Unterrichtsschritte / mögliche Sequenz Unterrichtsgeschen Sozailform Meth. – Did. Kommentar SuS listen auf, welche Tätigkeiten sie in der vergangenen Woche vollzogen haben Einzelarbeit Orientierung an der konkreten Erfahrung der SuS SuS stellen ihre Sammlungen vor und vergleichen ihre Ergebnisse UG Austausch und Abgleich der konkreten Erfahrungen SuS machen Vorschläge zur Systematisierung, in dem sie Oberbegriffe für Gruppen von Tätigkeiten vorschlagen UG Systematisierung, Weiterentwicklung und Sicherung der konkreten Erfahrungen L nennt Arendts Unterscheidung von Arbeiten, Herstellen und Handeln Vortrag L Fachlicher Input als formale Systematisierung SuS setzen ihre Systematik mit den genannten Begriffen in mögliche Beziehungen UG Vernetzung von eigenem Vorverständnis und formaler Vorgabe der Begriffe SuS ordnen ihre Tätigkeiten nach den genannten Begriffen Arbeiten, Handeln und Herstellen Einzelarbeit Ordnung eigener Vorstellungen nach neuen Ordnungsprinzipien SuS stellen Ergebnisse vor und sammeln gemeinsam mit L ihre Ordnungskriterien, indem sie ihre Wahl begründen UG Entwicklung eigener Bedeutungszuweiseungen von Arbeiten, Herstellen und Handeln Alternatives Vorgehen L benennt mit Bezugnahme auf Arendt die Begriffe Arbeiten, Herstellen und Handeln als zentrale menschliche Vollzüge Vortrag L Vorstellen einer Perspektive, die vertiefend bearbeitet werden soll SuS beschreiben arbeitsteilig (alternativ für jede Tätigkeit nacheinander) möglichst detailliert eine Situation, in der sie ihrer Meinung nach eine der Tätigkeiten vollzogen haben Einzelarbeit Konkretisierung durch Erfahrungen von SuS mit Hilfe der phänomenologischen Methode Einige SuS lesen ihre Situationsbeschreibungen vor, die anderen bekommen den Hörauftrag die Kriterien für die jeweilige Zuordnung herauszufinden Vortrag SuS Austausch, Abgleich und ggf. Ergänzung der individuellen Situationsbeschreibung Bei der jeweiligen Auswertung sammelt L die Kriterien für die jeweilige Tätigkeit UG Systematisierung der Arbeitsergebnisse unter den vorgegebenen Ordnungsprinzipien 5 Unterrichtsstand/Voraussetzung für die weiteren Schritte: Das Vorverständnis der SuS in Bezug auf die Begriffe Arbeiten, Herstellen und Handeln wurde abgerufen und problematisiert L stellt Hannah Arendt als Philosophin vor und verweist auf ihre Unterscheidung menschlicher Tätigkeiten. Vortrag L Information und Transparenz des Vorgehens und Benennung des Zieles, Arendts Terminologie zu verstehen SuS machen einen Rundgang/Museumsgang und lesen die Zitate, die im Raum verteilt sind, und kommentieren diese schriftlich. Einzelarbeit Auf der Basis der bisherigen Ergebnisse Vernetzung des ersten Verständnisses der Ausführungen von Arendt SuS werten in drei Gruppen arbeitsteilig die Ausführungen zu den verschiedenen Tätigkeiten aus, indem sie ihre inhaltlichen Kriterien sammeln. Gruppenarbeit Progression durch Systematisierung der Ausführungen unter der vorgegebenen Perspektive Gruppen stellen ihre Ergebnisse vor. Vortrag SuS Austausch und Information über die je anderen Inhalte Ergebnisse werden korrigiert bzw. systematisiert und vertiefend diskutiert und mit den eigenen, bereits erarbeiteten Kriterien verglichen. UG Sicherung und Ordnung der Ergebnisse mit dem Ziel, Arendts Verständnis von Arbeiten, Herstellen und Handeln zu erhalten. Ggf. als Hausaufgabe können die Situationsbeschreibungen nach Arendts Kriterien überarbeitet werden. Vertiefung, Sicherung und Transformation der Ergebnisse Ziel: SuS haben sich die Bedeutung der Begriffe Arbeiten, Handeln und Herstellen bei Hannah Arendt erschlossen Ggf. Lektüre des Textes „Vita activa und das politische Handeln“ Eröffnen der politischen Dimension des Handlungsbegriffes nach Arendt Mögliche Perspektiven / Anknüpfungspunkte: - Bedeutung der menschlichen Bedingtheit für das Politische? Vergleich von Sterblichkeit und Natalität in Bezug auf das Politische Natalität als kategorienbildendes Faktum für das Politische? Bedeutung der Aspekte des Handlungsbegriffs für das Politische? Anwendung auf philosophische Probleme der Globalisierung? 6 2.2 Zitate zu den Begriffen Arbeiten, Herstellen und Handeln Alle Zitate sind entnommen aus Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 122001. Die Seitenzahlen sind nach jedem Zitat angegeben. Zitate zum Begriff Arbeiten Arbeiten Zitat I Der Segen der Arbeit [...] ist die menschliche Art und Weise, der Seligkeit des schier Lebendigen teilhaftig zu werden, die wir mit allen Kreaturen teilen. Und ein in der Arbeit sich verbrauchendes Leben ist der einzige Weg, auf dem auch der Mensch in dem vorgeschriebenen Kreislauf der Natur verbleiben kann, in ihm gleichsam mitschwingen kann zwischen Mühsal und Ruhe, zwischen Arbeit und Verzehr, zwischen Lust und Unlust mit derselben ungestörten und unstörbaren, grundlosen und zweckfreien Gleichmäßigkeit, mit der Tag und Nacht, Leben und Tod aufeinanderfolgen. (S. 126) Arbeiten Zitat II Der Segen der Arbeit ist, daß Mühsal und Lohn einander in dem gleichen regelmäßigen Rhythmus folgen wie Arbeiten und Essen, die Zubereitung der Lebensmittel und ihr Verzehr, so daß ein Lustgefühl den gesamten Vorgang begleitet, nicht anders als das Funktionieren ei nes gesunden Körpers. (S. 126f) Arbeiten Zitat III Außerhalb des vorgeschriebenen natürlichen Kreislaufs, in dem ein Körper sich erschöpft und regeneriert, in dem die Mühsal der Arbeit von der Lust des Verzehrens und die Müdigkeit von der Süße der Ruhe gefolgt ist, gibt es kein bleibendes Glück, und was immer diese kreisende Bewegung aus dem Gleichgewicht bringt – die Not der Armut, wenn an die Stelle der Erholung das Elend tritt und die Erschöpfung ein Dauerzustand wird, oder die Not des Reich tums, wenn der Körper sich nicht mehr erschöpft und daher an die Stelle der Erholung die bare Langeweile [...] tritt [...] –, vernichtet die elementar sinnliche Seligkeit, die der Segen des Lebendigseins ist. (S.127) Arbeiten Zitat IV Daß in unserer Gesellschaft nahezu jedermann glaubt, ein Recht auf Glücklichsein zu haben, und gleichzeitig an seinem Unglücklichsein leidet, ist das beredteste Zeichen dafür, daß wir wirklich angefangen haben, in einer Arbeitsgesellschaft zu leben, die als eine Gesellschaft von Konsumenten nicht mehr genug Arbeit hat, um das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Konsum herzustellen und damit den arbeitenden und konsumierenden Massen das zu geben, was sie Glück nennen [...]. (S. 158) Arbeiten Zitat V Die Welt, das Haus, das der Mensch sich selbst auf Erden baut und verfertigt von dem Material, das die Natur der Erde ihm in die Hand gibt, besteht nicht aus Gütern, die verbaut und verzehrt werden, sondern aus Gegenständen und Dingen, die gebraucht werden können. So wie die Natur und die Erde die Bedingungen menschlichen Lebens bereitstellen, so stellen die Welt und die Weltdinge die Bedingungen her, unter denen dies Leben als ein spezifisch menschliches auf der Erde wohnen kann. Für das Animal Laborans, und das heißt natürlich für jeden Menschen, insofern der Mensch immer auch ein arbeitendes Wesen ist, spenden Erde und Natur den Segen, bieten das Füllhorn der „guten Dinge“, die allen Kindern der Erde gleicherweise gehören und die sie „ihr aus den Händen nehmen“ um sich mit ihnen zu „vermischen“ in Arbeit und Verzehr. (S. 159) 7 Zitate zum Begriff Herstellen Herstellen Zitat I Das Werk unserer Hände, und nicht die Arbeit unseres Körpers, Homo faber, der vorgegebenes Material bearbeitet zum Zwecke der Herstellung, und nicht das Animal laborans, das sich körperlich mit dem Material seiner Arbeit „vermischt“ und ihr Resultat sich einverleibt, verfertigt die schier endlose Vielfalt von Dingen, deren Gesamtsumme sich zu der von Menschen erbauten Welt zusammenfügt. (S. 161) Herstellen Zitat II Material [...] ist nicht einfach da und gegeben wie die Früchte von Baum und Strauch, die wir pflücken oder hängen lassen mögen, ohne damit in den Haushalt der Natur einzugreifen. Material muß erst einmal gewonnen werden, seiner natürlichen Umgebung entrissen, und mit der Gewinnung von Material greift der Mensch in den Haushalt der Natur ein, indem er entweder ein Lebendiges zerstört – einen Baum fällt, um Holz zu gewinnen – oder einen der langsameren Naturprozesse unterbricht, wenn er das Eisen, den Stein, den Marmor aus dem Schoß der Erde bricht. Alles Herstellen ist gewalttätig, und Homo Faber, der Schöpfer der Welt, kann sein Geschäft nur verrichten, indem er Natur zerstört. (S. 165) Herstellen Zitat III Die eigentliche Herstellung nun vollzieht sich stets unter Leitung eines Modells, dem gemäß das herzustellende Ding angefertigt wird. Ein solches Modell mag dem inneren Blick des herstel lenden nur vorschweben, oder es kann als Entwurf bereits versuchsweise vergegenständlicht sein. In jedem Fall befindet sich das Vorbild, das die Herstellung leitet, außerhalb des Herstellenden selbst [...]. (S. 166f) Herstellen Zitat IV Was nun den Herstellungsprozess selbst anlagt, so ist er wesentlich von der Zweck-MittelKategorie bestimmt. Das hergestellte Ding ist ein Endprodukt, weil der Herstellungsprozeß in ihm an ein Ende kommt [...] und es ist ein Zweck, zu dem der Herstellungsprozeß selbst nur das Mittel war. (S. 169f) Herstellen Zitat V Sofern der Mensch Homo faber [Herstellender] ist, kennt er nichts als seine vorgefaßten Zwecke, zu deren Realisierung er alle Dinge zu Mitteln degradiert, so daß schließlich unter seiner Herrschaft nicht nur die hergestellten Dinge, sondern „die Erde überhaupt, wie alle Naturkraft, keinen Wert [haben], weil sie keine in [ihnen] vergegenständlichete Arbeit darstel len.“ (S. 186) Herstellen Zitat VI Der Tauschmarkt ist der öffentliche Raum von Homo faber, der ihm ermöglicht, das Werk seiner Hände zur Schau zu stellen und die ihm gebührende Achtung und Hochschätzung zu empfangen. [...] Entscheidend ist, daß Homo faber, der Errichter der Welt und der Hersteller von Dingen, die ihm entsprechende Beziehung zu anderen Menschen nur finden kann, indem er seine Produkte mit ihnen austauscht, und zwar gerade, weil diese Gegestände selbst immer in Isolierung von anderen produziert werden. (S. 191) 8 Zitate zum Begriff Handeln Handeln Zitat I Handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie gebo ren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsa che des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen. [...]; der Antrieb scheint [...] in dem Anfang selbst zu liegen, der mit unserer Geburt in die Welt kam, und dem wir dadurch entsprechen, daß wir selbst aus eigener Initiative etwas Neues anfangen. In diesem ursprünglichsten und allgemeinstem Sinn ist Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe [...]. (S. 215) Handeln Zitat II Der Bereich, in dem die menschlichen Angelegenheiten vor sich gehen, besteht in einem Bezugssystem, das sich überall bildet, wo Menschen zusammenleben. Da Menschen nicht von ungefähr in die Welt geworfen werden, sondern von Menschen in eine schon bestehende Menschenwelt geboren werden, geht das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten allem einzelnen Handeln und Sprechen voraus, so daß sowohl die Enthüllung des Neuankömmlings durch das Sprechen wie der Neuanfang, den das Handeln setzt, wie Fäden sind, die in ein bereits vorgewebtes Muster geschlagen werden und das Gewebe so verändern, wie sie ihrerseits alle Lebesfäden mit denen sie innerhalb des Gewebes in Berührung kommen, auf einmalige Weise affizieren. (S. 226) Handeln Zitat III Handeln, im Unterschied zu Herstellen, ist in Isolierung niemals möglich; jede Isoliertheit, ob gewollt oder ungewollt, beraubt der Fähigkeit zu handeln [...]; das Handeln und Sprechen vollzieht sich in dem Bezugsgewebe zwischen den Menschen, das seinerseits aus Gehandeltem und Gesprochenem entstanden ist, und muß mit ihm in ständigem Kontakt bleiben. (S. 234) Handeln Zitat IV Weil sich der Handelnde immer unter anderen, ebenfalls handelnden Menschen bewegt, ist er niemals nur ein Täter, sondern immer auch zugleich einer, der erduldet. Handeln und Dulden gehören zusammen, das Dulden ist die Kehrseite des Handelns. (S. 236) Handeln Zitat V Da Handeln immer auf zum Handeln begabte Wesen trifft, löst es niemals nur Re-aktionen aus, sondern ruft eigenständiges Handeln hervor, das nun seinerseits andere Handelnde affiziert. Es gibt kein auf einen bestimmten Kreis zu begrenzendes Agieren und Re-agieren, und selbst im beschränktesten Kreis gibt es keine Möglichkeit, ein Getanes wirklich zuverläs sig auf die unmittelbar Betroffenen oder Gemeinten zu beschränken, etwa auf ein Ich und ein Du. (S. 237) Handeln Zitat VI Die Unabsehbarkeit der Folgen des Handelns hängt aufs engste damit zusammen, daß alles Handeln und Sprechen unwillkürlich den Handelnden und Sprechenden mit ins Spiel bringt, ohne daß doch derjenige, der sich so exponiert, je wissen oder berechnen kann, wen er eigentlich als sich selbst zur Schau stellt. (S. 241) Handeln Zitat VII In diesem einzigen Fall [im Fall des Handelns] erwächst das Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit und Unabsehbarkeit der von ihm begonnenen Prozesse nicht aus einer anderen und potentiell höheren Fähigkeit, sondern aus den Möglichkeiten des Handelns selbst. Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit – dagegen, daß man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wußte, und nicht wissen konnte, was man tat – liegt in der menschlichen Fähigkeit, zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit – und damit gegen die chaotische Ungewißheit des Zukünftigen – liegt in dem Vermögen Versprechen zu geben und zu halten. (S. 301) 9 2.3 Text: Vita activa und das politische Handeln Mit dem Wort Vita activa sollen im folgenden drei menschliche Grundtätigkeiten zusammengefaßt werden: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Sie sind Grundtätigkeiten, weil jede von ihnen einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist. [...] Alle drei Grundtätigkeiten und die ihnen entsprechenden Bedingtheiten sind nun nochmal in der allgemeinsten Bedingtheit menschlichen Lebens verankert, daß es nämlich durch Geburt zur Welt kommt und durch Tod aus ihr wieder verschwindet. Was die Mortalität angeht, so sichert die Arbeit das Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung; das Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält; das Handeln schließlich, soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinschaften dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte. [...] Und da Handeln ferner die politische Tätigkeit par excellence ist, könnte es wohl sein, daß Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes, Kategorien-bildendes Faktum darstellt, wie Sterblichkeit seit eh und je. (S. 16 – 18) In: H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 122001, 16-18. 10 3. Macht und Gewalt in der Sekundarstufe II 3.1 Vorschläge für mögliche Unterrichtsschritte / mögliche Sequenz Unterrichtsgeschen Sozailform Meth. – Did. Kommentar Zum Basistext I: Begriffsunterscheidungen: Macht-Stärke-Kraft-Autorität-Gewalt SuS erstellen Mind-Maps zu den Begriffen Macht, Gewalt, Kraft, Stärke und Autorität Einzelarbeit Orientierung an der Erfahrung und dem Begriffsverständnis der SuS Vorstellen der Assoziationen zu den Begriffen und durch Sicherung Abgrenzung voneinander UG Austausch mit dem Ziel der gemeinsamen Begriffsbildung Ggf. Exemplifizieren der Begriffe anhand eines aktuellen polititschen Beispiels UG Konkretisierung der Thesen Arendts Lektüre des Textes unter der Aufgabenstellung, die verschiedenen Begriffe gemäß des Textes inhaltlich zu füllen Einzelarbeit Erarbeitung der Terminologie Hannah Arendts auf der Grundlage der eigenen Begriffsbedeutung SuS stellen Ergebnisse vor; Vergleich der Textinhalte mit den eigenen Vorstellungen UG Abgleich, ggf. Korrektur eines gemeinsamen Textverständnisses L fragt nach Bedeutungsverschiebungen der Begriffe durch die Einführung der Unterscheidung Herrschaft – Herrschaftsfreiheit UG Erarbeitung/Überprüfung der These Arendts, dass die Bedeutungsunterschiede der Begriffe durch eine Reduktion des Polischen auf Herrschaft nivilliert würden Zum Basistext II: Revolutionen als Machtwechsel SuS führen ein Planspiel durch, bei dem verschiedene gesellschaftliche Gruppen in einem konstruierten despotischen Staat einen Umsturz versuchen zu bewirken Planspiel Durch Identifikation mit einzelnen Gruppen Verdichtung, Konkretisierung und Intensivierung der Problemlage durch persönliche Erfahrung Auswertung des Planspiels mit der Frage nach Anwendung von Gewalt bzw. Ausübung von Macht UG Differenz von Gewalt und Macht soll verdeutlicht werden, indem der instrumentelle Charakter von Gewalt verdeutlicht wird Lektüre des Textes unter der Aufgabenstellung Macht und Gewalt zu unterscheiden Einzelarbeit Erarbeitung der Textinhalte unter vorgegebener Perspektive Auswertung der Aufgabe und Vergleich der Aussagen des Textes und der Erfahrungen im Planspiel UG Überprüfung des Textverständnisses und Korrelation mit den eingenen Erfahrungen Zum Basistext III: Der Begriff der Macht 11 SuS erschließen sich eigenständig den Text, indem sie eine Strukturskizze anfertigen. Ggf. werden die Begriffe Macht, Gewalt, Zweck Mittel, essentiell funktional, Rechtfertigung, Legitimität als zu verwendende Begriffe vorgegeben. Einzelarbeit oder Partnerarbeit Systematisierung der Unterscheidung von Macht und Gewalt Zum Basistext IV: Das Verhältnis von Macht und Gewalt Ggf als Vertiefung und/oder schriftliche HA mit folgender Aufgabenstellung zu bearbeiten: „Erklären Sie den Satz von Hannah Arendt „Was niemals aus den Gewehrläufen kommt ist Macht“. Erörtern Sie seine Aktualität anhand eines aktuellen politischen Geschehens.“ Einzelarbeit Vertiefung und Transfer des bisherigen Arbeitsstandes durch die Anwendung auf aktuelle Bezüge Zum Basistext V: Macht, Handeln und Fortschritt Lektüre des Textes mit zwei Perspektiven: Einzelarbeit 1. Analyse des Handlungsbegriffs in Verbindung mit dem Gewaltbegriff Erarbeitung der Textinhalte unter vorgegebenen Perspektiven Ggf. Vertiefung von bereits Erarbeitetem; andernfalls erste Analyse des Handlungsbegriffs 2. Problematisierung des (wissenschaftlichen) Forschritts als Gefährdung der Handlungsfähigkeit UG Erarbeitung der scheinbar paradoxen Struktur, dass mehr Möglichkeiten weniger Handlungsfähigkeit nach sich ziehen Sammeln von Beispielen (wissenschaftliche Erfindungen, Entwicklungen, Perspektiven) die kontrastierend befragt werden: - Was können wir alles tun? - Wie wollen wir leben? Gruppenarbeit und UG Vertiefung, Transfer und kritische Befragung der Ausführungen von Arendt durch übergreifende Perspektiven 12 3.2 Planspiel zum Basistext III: Revolutionen als Machtwechsel Situation: Wir befinden uns in einem kleinen Inselreich namens Despotistan. Despotistan wird regiert von dem Präsidenten. Er und seine Minister haben aus eigenen Interessen die Kontrolle über alle wichtigen Bereiche des Lebens in Despotistan übernommen. Darunter fallen die Wirtschaft, Telekommunikation und Nachrichten, Gesundheitswesen, Militär und Polizei, Zug und Busverbindungen. Formal handelt es sich um eine Republik. Wahlen gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Das Parlament hat keine Einflussmöglichkeit ohne die Zustimmung des Regierungskabinetts. In der Bevölkerung gibt es aber verschiedene andere Interessensgruppen, welche mit der gegebenen Situation nicht ganz glücklich sind. Zudem gibt es Gerüchte über eine Rebellenbewegung. Nun scheint die Zeit gekommen, dass sich etwas verändern kann. Gruppe A: Ihr seid der Präsident und seine Minister. Ihr sitzt im selben Boot und müsst versuchen, eure Machtposition zu erhalten. Überlegt, mit welcher anderen Gruppe ihr euch austauschen könnt, um dies zu erreichen. Wenn die Vertreter des Volkes glauben, euch absetzen zu können, werden sie es vermutlich tun. Eure Stärke ist, dass ihr im Moment noch die Kontrolle über die wichtigen Bereiche des öffentlichen Lebens habt. Gruppe B: Ihr seid die Generäle des Landes. Die Soldaten des Landes hören auf euer Kommando, solange ihr sie bezahlen könnt. Leider sind es nicht gerade viele Soldaten und die Ausrüstung könnte auch besser sein. Natürlich wollt ihr eure Position als einflussreiche Personen erhalten aber ihr wollt auch mehr Soldaten haben und bessere Ausrüstung. Die Rebellen sind euch ein Dorn im Auge und wenn die Regierung sich nicht durchsetzen kann, dann ist vielleicht die Zeit gekommen, durch einen Putsch eine neue Regierung einzusetzen, eine, welche auf euch hört. Gruppe C: Als gewählte Vertreter des Volkes seid ihr die Sprecher für die Massen. Ihr vertretet Gewerkschaften, Studentenbewegungen und auch die Kirche. Was ihr tut, tut ihr für das Volk. Eure Ziele sind einfach. Ihr fordert die Abschaffung der Zensur in den Nachrichten. Ihr wollt keine überhöhten Steuern mehr zahlen. Und natürlich fordert ihr einen fair gewählten Präsidenten. Das Militär ist eurer Meinung nach zu groß und die Regierung tut nur sehr wenig für das eigene Volk. Eure Stärke ist, dass ihr sehr viele seid, aber es mangelt an Ausrüstung um einfach die Regierung zu stürzen, da das Militär diese wohl schützen wird. Gruppe D: Ihr vertretet die ausländischen Mächte. Auf der einen Seite müsst ihr in diesem Konflikt eingreifen, um die Menschenrechte zu wahren und um den Prozess der Demokratisierung zu fördern. Auf der anderen Seite jedoch hat die jetzige Regierung von Despotistan immer Waffen von euch gekauft, und sie liefert billige Rohstoffe. Eure eigenen Wähler wären sehr verstimmt, wenn ihr einen unpopulären Kurs einschlagen würdet. Gruppe E: „Es lebe die Revolution". Offiziell seid ihr die Gruppe der bekannten Personen der Insel. Ob bekannter Arzt, Popstar oder Professor für Literaturgeschichte, ihr seid im Geheimen die Rebellen und wollt die Regierung stürzen. Auch das Militär ist euch ein Dorn im Auge, da es die Regierung schützt Darum versuchen eure Guerillas, in den Wäldern und Bergen die Regierung als schwach dar zu stellen. Offiziell versucht ihr einen Konflikt zu verhindern und eine Einigung zu erzielen. Aufgabe: Jede Gruppe hat eigene Ziele, Möglichkeiten und Schwächen. Überlegt in euren Gruppen, wie ihr diese am besten umsetzen könnt. Es wird eine Reihe an „Runden“ geben, in denen jede Gruppe ihre nächsten Schritte vorstellt, so dass jede Gruppe dann reagieren kann. (von R. Seinsche) 13 3.3 Materialübersicht und Quellen der folgenden Texte zu Macht und Gewalt Im Folgenden werden die von mir als Basis- und Zusatztexte vorgeschlagenen Materialien sowohl mit Seiten- und Zeilenangeben als auch Zeilenangaben von Kürzungen aufgeführt. Die Überschriften bzw. Titel für die Textpassagen sind Vorschläge meinerseits, finden sich nicht bei Hannah Arendt. Basistext I: Basistext II: Basistext III: Basistext IV: Basistext V: Zusatztext I: Zusatztext II: Zusatztext III: Begriffsunterscheidungen: Macht – Stärke – Kraft – Autorität – Gewalt; die Textpassagen wurden entnommen aus: H. Arendt, Macht und Gewalt, München 192009, S. 44/Z. 8 – S. 48/Z. 11; Kürzungen: S. 44/Z. 13 – 30; S. 46/Z. 2 – 8; S. 46/Z. 16; S. 47/Z. 2; S. 47/Z3 Revolutionen als Machtwechsel, die Textpassagen wurden entnommen aus: H. Arendt, Macht und Gewalt, München 192009, S. 48/Z. 12 – S. 50/Z. 31; Kürzungen: S. 48/Z. 29 – S. 49/Z. 4; S. 49/Z. 24; S. 49/Z. 25 – S. 50/Z. 2 Der Begriff der Macht, die Textpassagen wurden entnommen aus: H. Arendt, Macht und Gewalt, München 192009, S. 52/Z. 19 – S. 53/Z. 28 Das Verhältnis von Macht und Gewalt, die Textpassagen wurden entnommen aus: H. Arendt, Macht und Gewalt, München 192009, S. 53/Z. 29 – S. 58/Z. 6; Kürzungen: S. 54/Z. 10; S. 54/Z. 12 – 15; S. 54/Z. 29 – S. 55/Z. 30; S. 55/Z. 32 – 34; S. 56/Z. 8 – S. 57/Z. 14; S. 57/Z. 23 – S. 58/Z. 1 Macht, Handeln und Fortschritt; die Textpassagen wurden entnommen aus: H. Arendt, Macht und Gewalt, München 192009, S. 78/Z. 20 – S. 86/Z. 27; Kürzungen: S. 78/Z. 26 – S. 79/Z. 24; S. 80/Z. 2; S. 80/Z. 6 – S. 81/Z. 18; S. 82/Z. 13 – S. 85/Z. 33; S. 86/ Z. 18 – 21 Menschliche Grundtätigkeiten: Arbeiten – Herstellen – Handeln; die Textpassagen wurden entnommen aus: H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 122001, S. 16/Z. 4 – S. 18/Z. 9; Kürzung: S. 17/Z. 6 34 Der Herstellungscharakter der Gewalt; die Textpassagen wurden entnommen aus: H. Arendt, Macht und Gewalt, München 192009, S. 7/Z. 15 – 18; Kürzungen: S. 7/Z. 19 – 22; S. 7/Z. 25 – S. 8/Z. 4; S. 8/Z. 25 – S. 9/Z. 8; S. 9/Z. 14 Der Begriff des Handelns; die Textpassagen wurden entnommen aus: H. Arendt, Vita active oder Vom tätigen Leben, München 122001, S. 216/Z. 21 – S. 217/Z. 30 14 3.4 Texte Basistext I: Begriffsunterscheidungen: Macht – Stärke – Kraft – Autorität – Gewalt Es spricht, scheint mir, gegen den gegenwärtigen Stand der politischen Wissenschaft, daß unsere Fachsprache nicht unterscheidet zwischen Schlüsselbegriffen wie Macht, Stärke, Kraft, Autorität und schließlich Gewalt - die sich doch alle auf ganz bestimmte, durchaus verschiedene Phänomene beziehen und kaum existieren würden, wenn sie das nicht täten. […] Hinter der scheinbaren Konfusion steht eine theoretische Überzeugung, derzufolge alle Unterscheidungen in der Tat von bestenfalls sekundärer Bedeutung wären, die Überzeugung nämlich, daß es in der Politik immer nur eine entscheidende Frage gäbe, die Frage: Wer herrscht über wen? Macht, Stärke, Kraft, Autorität, Gewalt - all diese Worte bezeichnen nur die Mittel, deren Menschen sich jeweils bedienen, um über andere zu herrschen; man kann sie synonym gebrauchen, weil sie alle die gleiche Funktion haben. Erst wenn man diese verhängnisvolle Reduktion des Politischen auf den Herrschaftsbereich eliminiert, werden die ursprünglichen Gegebenheiten in dem Bereich der menschlichen Angelegenheiten in der ihnen eigentümlichen Vielfalt wieder sichtbar werden. Diese Gegebenheiten in unserem Zusammenhang und mit Bezug auf die oben genannten Begriffe lassen sich wie folgt spezifizieren: Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er »habe die Macht«, heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln. In dem Augenblick, in dem die Gruppe, die den Machthaber ermächtigte und ihm ihre Macht verlieh (potestas in populo - ohne ein »Volk« oder eine Gruppe gibt es keine Macht), auseinandergeht, vergeht auch »seine Macht«. Wenn wir in der Umgangssprache von einem »mächtigen Mann« oder einer »machtvollen Persönlichkeit« sprechen, gebrauchen wir das Wort schon im übertragenen Sinn; nicht metaphorisch gesprochen handelt es sich um einen starken Mann oder eine starke Persönlichkeit. Denn Stärke, im Gegensatz zu Macht, kommt immer einem Einzelnen, sei es Ding oder Person, zu. Sie ist eine individuelle Eigenschaft, welche sich mit der gleichen Qualität in anderen Dingen oder Personen messen kann, aber als solche von ihnen unabhängig ist. Stärke hält der Macht der Vielen nie stand; der Starke ist nie am mächtigsten allein, weil auch der Stärkste Macht gerade nicht besitzt. Wo der Starke mit der Macht der Vielen zusammenstößt, wird er immer durch die schiere Zahl überwältigt, die sich oft nur darum zusammenschließt, um mit der Stärke eigentümlichen Unabhängigkeit fertig zu werden. […] Das Wort Kraft, das im deutschen Sprachgebrauch meist synonym mit Stärke gebraucht wird, sollte in der Begriffssprache für »Naturkräfte« vorbehalten bleiben, um dann metaphorisch überall da verwandt zu werden, wo physische oder gesellschaftliche Bewegungen bestimmte Energiequanten erzeugen - die »Wasserkraft« oder »die Kraft der Verhältnisse« -, die sich auf den Einzelnen auswirken. Autorität, das begrifflich am schwersten zu fassende Phänomen und daher das am meisten mißbrauchte Wort [...], kann sowohl eine Eigenschaft einzelner Personen sein - es gibt persönliche Autorität, z. B. in der Beziehung von Eltern und Kindern, von Lehrer und Schülern als einem Amt zugehören, wie etwa dem Senat in Rom (auctoritas in senatu) oder den Ämtern der katholischen Hierarchie (auch ein betrunkener Priester kann vermöge der Autorität des Amtes gültige Absolution erteilen). Ihr Kennzeichen ist die fraglose Anerkennung seitens derer, denen Gehorsam abverlangt wird; sie bedarf weder des Zwanges noch der Überredung. (So kann ein Vater seine Autorität entweder dadurch verlieren, daß er das Kind durch Schläge zwingt, oder dadurch, daß er versucht, es durch Argumente zu überzeugen. In beiden Fällen handelt er nicht mehr autoritär, in dem einen Fall tyrannisch, in dem anderen demokratisch.) Autorität bedarf zu ihrer Erhaltung und Sicherung des Respekts entweder vor der Person oder dem Amt. Ihr gefährlichster Gegner ist nicht Feindschaft sondern Verachtung, und was sie am sichersten unterminiert, ist das Lachen […]. Gewalt schließlich ist [...] durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet. Sie steht dem Phänomen der Stärke am nächsten, da die Gewaltmittel, wie alle Werkzeuge, dazu dienen, menschliche Stärke bzw. die der organischen »Werkzeuge« zu vervielfachen, bis das Stadium erreicht ist, wo die künstlichen Werkzeuge die natürlichen ganz und gar ersetzen. Wenn wir uns solcher begrifflichen Unterscheidungen bedienen, dürfen wir nicht vergessen, daß sie zwar keineswegs willkürlich sind und den Phänomenen in der Wirklichkeit durchaus entsprechen, daß sie aber andererseits aus dieser Wirklichkeit gleichsam herauspräpariert sind und in begrifflicher Reinheit nur selten in ihr anzutreffen sind. 15 Basistext II: Revolutionen als Machtwechsel Nun ist allerdings die Versuchung, sich in der Bestimmung des Wesens der Macht an den Kategorien des Gehorchens und Befehlens zu orientieren, besonders groß, wenn es sich um die Staatsmacht handelt, also um einen speziellen Fall von Macht. Da die Gewalt sowohl in der Außen- wie in der Innenpolitik immer als letzter Ausweg des Handelns miteinkalkuliert ist und infolgedessen als der letztlich entscheidende Schutz der Machtstruktur gegen alle entschlossenen Gegner erscheint - gegen den Feind von Außen und den Verbrecher im Innern -, kann es wirklich so aussehen, als sei Gewalt die Vorbedingung von Macht, und Macht nichts anderes als eine Fassade, hinter der die Gewalt sich verbirgt, der Samthandschuh, unter dem sich entweder die eiserne Faust oder eine Art Papiertiger befindet. Bei näherem Zusehen jedoch sind diese und ähnliche Vorstellungen von dem Verhältnis zwischen Macht und Gewalt sehr viel weniger einleuchtend, als man auf den ersten Blick glaubt. Dies läßt sich vielleicht am besten an dem Phänomen der Revolution erläutern. [...] Und wie erklären sich denn erfolgreiche Revolutionen oder auch nur eine vorübergehende Machtergreifung? Die Lösung des Rätsels ist einfach. Einmal ist die Kluft zwischen staatlichen Gewaltmitteln und dem, womit das Volk sich zur Not bewaffnen kann - von Bierflaschen und Pflastersteinen bis zu Molotow-Cocktails und Schußwaffen - schon immer so enorm gewesen, daß die modernen technischen Errungenschaften kaum ins Gewicht fallen. Zum anderen ist die verbreitete Vorstellung von der Revolution als Folge des bewaffneten Aufstands ein Märchen. Revolutionen gerade werden nicht »gemacht« und am wenigsten durch eine lernbare Prozedur, in der man vom Dissent zur Verschwörung, von passivem Widerstand zum bewaffneten Aufstand fortschreitet. Wo Gewalt der Gewalt gegenübersteht, hat sich noch immer die Staatsgewalt als Sieger erwiesen. Aber diese an sich absolute Überlegenheit währt nur solange, als die Machtstruktur des Staates intakt ist, das heißt, solange Befehle befolgt werden und Polizei und Armee bereit sind, von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Ist das nicht mehr der Fall, so ändert sich die Situation jählings. Nicht nur kann der Aufstand nicht niedergeworfen werden, die Waffen wechseln die Hände, und zwar manchmal, […] binnen weniger Stunden.[…] Erst wenn dies geschehen, wenn der Zusammenbruch der Staatsmacht offenkundig geworden ist und den Rebellen erlaubt hat, sich zu bewaffnen, kann man überhaupt von einem »bewaffneten Aufstand« sprechen, der oft überhaupt nicht mehr erfolgt. (Revolutionen sind im Beginn zumeist sehr unblutig.) Wo Befehlen nicht mehr gehorcht wird, sind Gewaltmittel zwecklos. Und für die Frage dieses »Gehorsams«, wo nämlich entschieden wird, ob überhaupt noch gehorcht werden soll, ist die Befehl-Gehorsam-Korrelation gänzlich irrelevant. Die Beantwortung dieser Frage hängt von nichts anderem als der »Meinung« ab und natürlich der Zahl derer, die diese Meinung so oder anders teilen. Jetzt stellt sich auf einmal heraus, daß alles von der Macht abhängt, die hinter der Gewalt steht. Der plötzliche dramatische Machtzusammenbruch, wie er für Revolutionen charakteristisch ist, zeigt, wie sehr der sogenannte Gehorsam des Staatsbürgers - gegenüber den Gesetzen, den Institutionen, den Regierenden oder Herrschenden - eine Sache der öffentlichen Meinung ist, nämlich die Manifestation von positiver Unterstützung und allgemeiner Zustimmung. Die innere Zersetzung der Staatsmacht macht Revolutionen möglich; sie sind keineswegs eine notwendige, errechenbare Folge. Die Geschichte kennt zahllose Beispiele von völlig ohnmächtigen Staaten, die über lange Zeiträume fortbestehen konnten. Entweder gab es niemanden, der die bestehende Macht auch nur auf die Probe stellte, oder das Regime hatte das Glück, in keinen Krieg verwickelt zu werden und keine Niederlage zu erleiden. Denn Machtzerfall wird häufig nur manifest in direkter Konfrontation; und selbst dann, wenn die Macht schon auf der Straße liegt, bedarf es immer noch einer Gruppe von Menschen, die auf diese Eventualität vorbereitet und daher bereit ist, die Macht zu ergreifen und die Verantwortung zu übernehmen. 16 Basistext III: Der Begriff der Macht Macht gehört in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen, Gewalt jedoch nicht. Gewalt ist ihrer Natur nach instrumental; wie alle Mittel und Werkzeuge bedarf sie immer eines Zwecks, der sie dirigiert und ihren Gebrauch rechtfertigt. Und das, was eines anderen bedarf, um gerechtfertigt zu werden, ist funktioneller aber nicht essentieller Art. Der Zweck des Krieges ist der Friede; aber auf die Frage: Und was ist der Zweck des Friedens? gibt es keine Antwort. Friede ist etwas Absolutes, obwohl in der uns bekannten Geschichte die Perioden des Krieges nahezu immer länger waren als die des Friedens. Ein solches Absolutes ist auch die Macht; sie ist, wie man zu sagen pflegt, ein Selbstzweck. (Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, daß Regierungen jeweils eine bestimmte Politik verfolgen und ihre Macht dafür einsetzen, vorgegebene Ziele zu erreichen. Aber die Machtstruktur selbst liegt allen Zielen voraus und überdauert sie, so daß Macht, weit davon entfernt, Mittel zu Zwecken zu sein, tatsächlich überhaupt erst die Bedingung ist, in Begriffen der Zweck-Mittel-Kategorie zu denken und zu handeln.) Und wenn der Staat seinem Wesen nach organisierte und institutionalisierte Macht ist, so hat auch die gängige Frage nach seinem Endzweck keinen Sinn. Die Antwort wird sich entweder in einem Zirkel bewegen - etwa: er soll das Zusammenleben von Menschen ermöglichen - oder sie wird utopische Ideale aufstellen, das Glück der größten Zahl, die klassenlose Gesellschaft, aber auch Gerechtigkeit, Freiheit und dergleichen mehr, die, wenn man sie im Ernst zu verwirklichen versucht, unweigerlich zu einer Zwangsherrschaft führen. Macht bedarf keiner Rechtfertigung, da sie allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist. Hingegen bedarf sie der Legitimität. Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt. Ein Machtanspruch legitimiert sich durch Berufung auf die Vergangenheit, während die Rechtfertigung eines Mittels durch einen Zweck erfolgt, der in der Zukunft liegt. Gewalt kann gerechtfertigt, aber sie kann niemals legitim sein. Ihre Rechtfertigung wird um so einleuchtender sein, je näher das zu erreichende Ziel liegt. Niemandem kommt es in den Sinn, die Berechtigung von Gewalttätigkeit im Falle der Selbstverteidigung in Frage zu stellen, weil die Gefahr nicht nur evident sondern unmittelbar gegenwärtig ist, mithin zwischen dem Zweck und den Mitteln, die er rechtfertigen muß, so gut wie keine Zeitspanne liegt. 17 Basistext IV: Das Verhältnis von Macht und Gewalt Obwohl Macht und Gewalt ganz verschiedenartige Phänomene sind, treten sie zumeist zusammen auf. Bisher haben wir nur solche Kombinationen analysiert, wobei sich herausgestellt hat, daß in ihnen jedenfalls die Macht immer das Primäre und Ausschlaggebende ist. Dies ändert sich jedoch, sobald wir unsere Aufmerksamkeit den selteneren Fällen zuwenden, wo sie in Reingestalt auftreten. Eine direkte Konfrontation von Macht und Gewalt begegnet uns zum Beispiel im Falle kriegerischer Auseinandersetzung, die mit einer feindlichen Besatzung endet. Wie wir sahen, beruht die übliche Gleichsetzung von Gewalt und Macht darauf, daß man das staatlich geregelte Zusammenleben als eine Herrschaft versteht, die sich auf die Mittel der Gewalt stützt. Diese Art von Herrschaft wird in der Tat von dem fremden Eroberer errichtet, und sie kann sich verhältnismäßig leicht durchsetzen, wenn sie es mit einer ohnmächtigen Regierung und einer Nation zu tun hat, die nicht an Freiheit gewöhnt ist, das heißt nicht weiß, wie man politische Macht bildet und mit ihr umgeht. In allen anderen Fällen sind die Schwierigkeiten außerordenltich groß, und die Besatzungsmacht wird sofort versuchen […] sich eine Machtbasis in der einheimischen Bevölkerung zu verschaffen, auf die sie ihre Herrschaft stützen kann. [...] Eine reine Gewaltherrschaft hat ihre Schwierigkeiten, aber sie ist keineswegs unmöglich, denn sie beruht ja nicht auf der Meinung der Beherrschten, bzw. auf der Anzahl derer, die eine bestimmte Meinung teilen, sondern ausschließlich auf den Mitteln der Gewalt. Wer versucht, sich der Gewalt durch bloße Macht zu erwehren, wird sofort zu spüren bekommen, daß er nicht mehr mit Menschen und möglichen Mehrheiten konfrontiert ist, sondern mit von Menschen erzeugten Geräten, mit Objekten, deren Vernichtungskraft proportional zu der Entfernung zwischen den Gegnern anwächst. Auch die größte Macht kann durch Gewalt vernichtet werden; aus den Gewehrläufen kommt immer der wirksamste Befehl, der auf unverzüglichen, fraglosen Gehorsam rechnen kann. Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht. […] Politisch ist ausschlaggebend, daß Machtverlust sehr viel eher als Ohnmacht zur Gewalt verführt, als könne diese die verlorene Macht ersetzen […] und daß Gewalt, eben weil sie in der Tat Macht vernichten kann, stets die eigene Macht mitbedroht. Wo die Gewalt mit ihren Geräten der Machtbasis verlustig gegangen ist, die ihr Ziele und Grenzen setzt, tritt die bekannte Umkehr des Zweck-Mittel-Verhältnisses in Kraft; nun sind es die Mittel, die Werkzeuge der Vernichtung, die die Zwecke bestimmen - mit dem Resultat, daß der tatsächlich erreichte Endzweck die Vernichtung aller Macht ist. […] Politisch gesprochen genügt es nicht zu sagen, daß Macht und Gewalt nicht dasselbe sind. Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist; überläßt man sie den ihr selbst innewohnenden Gesetzen, so ist das Endziel, ihr Ziel und Ende, das Verschwinden von Macht. So kann man auch nicht eigentlich sagen, das Gegenteil von Gewalt sei eben die Gewaltlosigkeit. Von »gewaltloser« Macht zu sprechen, ist ein Pleonasmus. Gewalt kann Macht vernichten; sie ist gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen. […] Zwischen Macht und Gewalt gibt es keine quantitativen oder qualitativen Übergänge; man kann weder die Macht aus der Gewalt noch die Gewalt aus der Macht ableiten, weder die Macht als den sanften Modus der Gewalt noch die Gewalt als die eklatanteste Manifestation der Macht verstehen. 18 Basistext V: Macht, Handeln und Fortschritt Da Gewalt ihrem Wesen nach instrumental ist, ist sie in dem Maße rational, als sie wirklich dazu dient, den Zweck, der sie rechtfertigen muß, zu erreichen. Und da Menschen, wenn sie zu handeln beginnen, niemals wissen oder wissen können, was sie tun bzw. was schließlich die Folgen ihres Tuns sein werden, ist Gewalttätigkeit in dem Maße rational, nämlich den Grundbedingungen menschlicher Existenz adäquat, als sie kurzfristige Ziele verfolgt. […] Die Gefahr der Gewalttätigkeit, selbst wenn sie sich bewußt im Rahmen kurzfristiger Ziele hält, bleibt bestehen. Sie liegt darin, daß, wie man gemeinhin sagt, nicht der Zweck die Mittel, sondern die Mittel den Zweck bestimmen. Werden die Ziele nicht schnell erreicht, so ist das schließliche Resultat nicht mir die Niederlage, sondern das Überhandnehmen von Gewalttätigkeit in allen Bereichen des politischen Lebens. Denn Handlungen kann man nicht rückgängig machen, und eine Rückkehr zum Status quo im Falle der Niederlage ist immer sehr unwahrscheinlich […]. Die Praxis der Gewalt verändert, wie alles Handeln, die Welt; wo die Reform nicht gelingt, wird das Ergebnis schließlich sein, daß die Welt gewalttätiger geworden ist, als sie es vorher war. [...] Was den Menschen zu einem politischen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln; sie befähigt ihn, sich mit seinesgleichen zusammenzutun, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden, die ihm nie in den Sinn hätten kommen, können, wäre ihm nicht diese Gabe zuteilgeworden: etwas Neues zu beginnen. Philosophisch gesprochen ist Handeln die Antwort des Menschen auf das Geborenwerden als eine der Grundbedingungen seiner Existenz: da wir alle durch Geburt, als Neuankömmlinge und als Neu-Anfänge auf die Welt kommen, sind wir fähig, etwas Neues zu beginnen; ohne die Tatsache der Geburt wüßten wir nicht einmal, was das ist: etwas Neues; alle »Aktion« wäre entweder bloßes Sichverhalten oder Bewahren. Keine andere Fähigkeit außer der Sprache, aber weder Verstand noch Bewußtsein, unterscheidet uns so radikal von jeder Tierart. Etwas tun und etwas beginnen ist nicht das gleiche, aber beides ist eng miteinander verknüpft. Alle dem Leben zugeschriebenen schöpferischen Qualitäten, die sich angeblich in Macht und Gewalt manifestieren, sind in Wahrheit einzig der Fähigkeit zu handeln geschuldet. Zeugen und Gebären sind so wenig »schöpferisch« wie Sterben eigentlich »vernichtend« ist. Sie sind nur die verschiedenen Phasen des gleichen, unvergänglichen Kreislaufs, in den alles Lebendige gebannt ist. Macht und Gewalt sind keine Naturphänomene und können mit Metaphern, die dem Lebensprozeß entnommen sind, niemals adäquat erfaßt werden. Ich glaube, es läßt sich nachweisen, daß keine andere menschliche Fähigkeit in solchem Ausmaß unter dem »Fortschritt« der Neuzeit gelitten hat wie die Fähigkeit zu handeln. Denn Fortschritt nennen wir den erbarmungslosen Prozeß des Mehr und Mehr, Größer und Größer, Schneller und Schneller, der immer gigantischerer Verwaltungsapparate bedarf, um nicht im Chaos zu enden. [...] Dank der enormen Effektivität wissenschaftlicher Teamarbeit - vielleicht Amerikas hervorragendster Beitrag zu moderner Wissenschaft - können wir komplizierteste Prozesse mit einer Genauigkeit kontrollieren, die eine Reise zum Mond weniger gefährlich macht als gewöhnliche Wochenendausflüge; aber die angeblich »größte Macht der Welt« ist außerstande, einen für alle Betroffenen eindeutig katastrophalen Krieg in einem der kleinsten Länder der Erde zu beenden. Es ist, als seien wir wie im Märchen einem Zauberspruch verfallen, der uns die Gabe verliehen hat, das »Unmögliche« zu tun unter der Bedingung, daß wir die Fähigkeit, das Mögliche zu tun, verlieren, als gelinge uns das Außerordentliche nur noch um den Preis, daß wir alltägliche Bedürfnisse nicht mehr zu befriedigen wissen. Wenn Macht im Unterschied zum bloßen Können meint: wir-wollen-und-wir-können, dann liegt in der heutigen sich ständig noch steigernden Macht der Menschen auf der Erde ein seltsames Element der Ohnmacht; denn der Fortschritt der Wissenschaft ist von dem, was wir tun wollen, fast unabhängig geworden; seine Rasanz ist, wie die Wissenschaftler uns immer wieder erklären, nicht mehr zu stoppen, so wenig wie die scheinbar unaufhaltsame Entwicklung der Technik. Der Fortschritt folgt seinen eigenen unerbittlichen Gesetzen und zwingt uns, ohne Rücksicht auf die Folgen zu tun, was immer wir tun können. Sollte das Ich-will und das Ich-kann sich voneinander getrennt haben? […] Wiederum wissen wir nicht, wohin diese Entwicklungen uns führen. Aber wir wissen oder sollten wissen, daß jeder Machtverlust der Gewalt Tor und Tür öffnet, und sei es nur, weil Machthaber, die fühlen, daß die Macht ihren Händen entgleitet, der Versuchung, sie durch Gewalt zu ersetzen, nur sehr selten in der Geschichte haben widerstehen können. 19 Zusatztext I: Menschliche Grundtätigkeiten: Arbeiten – Herstellen – Handeln Mit dem Wort Vita activa sollen im folgenden drei menschliche Grundtätigkeiten zusammengefaßt werden: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Sie sind Grundtätigkeiten, weil jede von ihnen einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist. Die Tätigkeit der Arbeit entspricht dem biologischen Prozeß des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebendigen Organismus zuzuführen. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben selbst. Im Herstellen manifestiert sich das Widernatürliche eines von der Natur abhängigen Wesens, das sich der immerwährenden Wiederkehr des Gattungslebens nicht fügen kann und für seine individuelle Vergänglichkeit keinen Ausgleich findet in der potentiellen Unvergänglichkeit des Geschlechts. Das Herstellen produziert eine künstliche Welt von Dingen, die sich den Naturdingen nicht einfach zugesellen, sondern sich von ihnen dadurch unterscheiden, daß sie der Natur bis zu einem gewissen Grade widerstehen und von den lebendigen Prozessen nicht einfach zerrieben werden. In dieser Dingwelt ist menschliches Leben zu Hause, das von Natur in der Natur heimatlos ist; und die Welt bietet Menschen eine Heimat in dem Maße, in dem sie menschliches Leben überdauert, ihm widersteht und als objektiv-gegenständlich gegenübertritt. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Herstellens steht, ist Weltlichkeit, nämlich die Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Gegenständlichkeit und Objektivität. Das Handeln ist die einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt. Die Grundbedingung, die ihr entspricht, ist das Faktum der Pluralität, nämlich die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern. […] Alle drei Grundtätigkeiten und die ihnen entsprechenden Bedingungen sind nun nochmals in der allgemeinsten Bedingtheit menschlichen Lebens verankert, daß es nämlich durch Geburt zur Welt kommt und durch Tod aus ihr wieder verschwindet. Was die Mortalität anlangt, so sichert die Arbeit das Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung; das Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält; das Handeln schließlich, soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte. 20 Zusatztext II: Der Herstellungscharakter der Gewalt Die technische Entwicklung der Gewaltmittel hat in den letzten Jahrzehnten den Punkt erreicht, an dem sich kein politisches Ziel mehr vorstellen läßt, das ihrem Vernichtungspotential entspräche oder ihren Einsatz in einem bewaffneten Konflikt rechtfertigen könnte. […] Damit ist ein wirklicher Wendepunkt eingetreten. Der Krieg - seit undenklichen Zeiten letzte Instanz der Außenpolitik - hat seine Effektivität und das Kriegshandwerk seinen Glanz eingebüßt. […] Da Gewalt (im Unterschied zu Macht, Kraft oder Stärke) als „reale Vorbedingungen zu ihrer Betätigung ... Werkzeuge erfordert“1, hatte die technische Revolution, eine Revolution in der Herstellung von Geräten, besonders weitreichende Folgen auf dem Gebiet der Gewaltbetätigung, also vor allem der Kriegsführung. Es liegt im Wesen der Gewalthandlung, daß sie wie alle Herstellungsprozesse im Sinne der Zweck-Mittel-Kategorie verläuft. Wird diese Herstellungskategorie auf den Bereich der menschlichen Angelegenheiten angewandt, so hat sich noch immer herausgestellt, daß die Vorrangstellung des Zwecks im Verlauf der Handlung verloren geht; der Zweck, der die Mittel bestimmt, die zu seiner Erreichung notwendig sind und sie daher rechtfertigt, wird von den Mitteln überwältigt. Denn das Resultat menschlichen Handelns läßt sich niemals mit der gleichen Sicherheit voraussagen, mit der das Endprodukt eines Herstellungsprozesses bestimmt werden kann; daher sind die zur Erreichung politischer Ziele eingesetzten Mittel für die Zukunft der Welt zumeist von größerer Bedeutung als die Zwecke, denen sie dienen sollen. Zu diesem Unsicherheitsfaktor, der dem Handeln ohnehin innewohnt, fügt die Gewalthandlung noch ein nur ihr eigentümliches Element des rein Zufälligen hinzu. […] Denn wenn Kriege immer noch geführt werden und immer noch gerüstet wird, so nicht, weil die Menschheit von einem geheimen Todes- oder einem unkontrollierbaren Aggressionstrieb besessen wäre, und noch nicht einmal, weil - was immerhin einleuchtender wäre - die Abrüstung der ungeheuren Militärmaschinen in den in Frage stehenden Ländern ernste politische, gesellschaftliche und ökonomische Probleme zur Folge haben würde […], sondern einzig und allein, weil bisher nirgends ein annehmbares Surrogat für die Willkür der Gewalt als ultima ratio in den Konflikten der Völker zum Vorschein gekommen ist. Es gilt immer noch Hobbes' Wort: “Covenants without the sword are but words.” 1 Zitat aus: F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878), II. Abschnitt, Kap. 3 21 Zusatztext III: Der Begriff des Handelns Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, daß er, von dem Gewesenen und Geschehenen her gesehen, schlechterdings unerwartet und unerrechenbar in die Welt bricht. Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses ist allen Anfängen und allen Ursprüngen inhärent. Die Entstehung der Erde, des organischen Lebens auf ihr, die Entwicklung des Menschengeschlechts aus den Evolutionen der Tiergattungen, also der gesamte Rahmen unserer realen Existenz, beruht auf »unendlichen Unwahrscheinlichkeiten«, wenn man die Urereignisse, die diesen Rahmen einst gebildet haben, vom Standpunkt der Vorgänge im Universum oder der Ablaufprozesse des Anorganischen oder der Entwicklungsprozesse des organischen Lebens sieht, welche durch jedes dieser Ereignisse jeweils entscheidend unterbrochen werden. Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfaßbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen – das heißt, in der Erfahrung des Lebens, die vorgeprägt ist von den Prozeßabläufen, die ein Neuanfang unterbricht –, immer wie ein Wunder an. Die Tatsache, daß der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, kann daher nur heißen, daß er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht, daß in diesem einen Fall das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, und daß das, was »rational«, d. h. im Sinne des Berechenbaren, schlechterdings nicht zu erwarten steht, doch erhofft werden darf. Und diese Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare wiederum beruht ausschließlich auf der Einzigartigkeit, durch die jeder von jedem, der war, ist oder sein wird, geschieden ist, wobei aber diese Einzigartigkeit nicht so sehr ein Tatbestand bestimmter Qualitäten ist oder der einzigartigen Zusammensetzung bereits bekannter Qualitäten in einem »Individuum« entspricht, sondern vielmehr auf dem alles menschliche Zusammensein begründenden Faktum der Natalität beruht, der Gebürtlichkeit, kraft deren jeder Mensch einmal als ein einzigartig Neues in der Welt erschienen ist. Wegen dieser Einzigartigkeit, die mit der Tatsache der Geburt gegeben ist, ist es, als würde in jedem Menschen noch einmal der Schöpfungsakt Gottes wiederholt und bestätigt; will man den Jemand, der einzigartig in jedem neuen Menschen in die Welt kommt, bestimmen, so kann man nur sagen, daß es in bezug auf ihn vor seiner Geburt »Niemand« gab. Handeln als Neuanfangen entspricht der Geburt des Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins […]. 22 Literatur Arendt, H., Macht und Gewalt, München 192009 Dies., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 122001 Barly, D., Hannah Arendt. Einführung in ihr Werk, Freiburg/Breisgau u. a. 1990 Benhabib, S., Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998 Bielefeldt, H., Wiedergewinnung des Politischen. Eine Einführung in Hannah Arendts politisches Denken, Würzburg 1993 Figal, G., Öffentliche Freiheit: Der Streit von Macht und Gewalt. Zum Begriff des Politischen bei Hannah Arendt, in: V. Gerhard u. a. 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