Monika Roth Die Demokratiekonzeption von Hannah Arendt

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Monika Roth Die Demokratiekonzeption von Hannah Arendt
Monika Roth
Die Demokratiekonzeption von Hannah Arendt
Einleitung
Gesellschaftliches Zusammenleben wirft naturgemäß Interessensgegensätze auf, weshalb sich das Erfordernis einer sozialen und politischen
Ordnung einstellt. Sie wird erreicht über Herrschaftssysteme, denen die
Funktion übertragen wird, autoritativ verbindliche Regeln zu begründen
und diese in der Gesellschaft zu etablieren. Dabei kann Herrschaft vertikal
(streng hierarchisch) oder aber horizontal (als Interaktion unter Gleichen
in wechselnden Positionen) organisiert sein.1 Bedeutsam ist in jedem Fall
die Frage, ob und wie das Gewalt- oder Machtmonopol des Herrschaftssystems legitimiert ist. Selbst wenn man ausschließlich demokratische Systeme betrachtet, gibt es hierauf keine eindeutige Antwort, da die verschiedenen Demokratietheorien unterschiedliche Konzepte und Definitionen
zugrunde legen.
Hannah Arendt beantwortet diese Frage mit einem direktdemokratischen,
republikanischen Modell, das die Teilnahme der Bürger an allen Entscheidungen gewährleisten soll. Direkte Demokratie zielt auf eine vornehmlich
herrschaftsfreie Selbstregierung des Volkes und ist gekennzeichnet durch
eine weitreichende Kompetenz der Bürger in allen sie betreffenden Angelegenheiten. Eine Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft ist nicht
1
Leggewie 2002, 340.
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vorgesehen, vielmehr erscheint der Bürger2 als homo politikus in einer
starken Zivilgesellschaft. Der Bürgerbegriff ist sehr anspruchsvoll und unterstellt die Fähigkeit zu einer ausgeprägten Gemeinwohlorientierung,
welche das Eigeninteresse des Einzelnen übersteigt. Demokratie wird damit zu einem gesellschaftlichen Strukturmerkmal.3
Hannah Arendt formuliert in ihrer praktischen Philosophie sehr klare
Konzepte und Definitionen, mit denen sie die Lebensweise einer politisch
involvierten Bürgerschaft und daraus erwachsende Synergien beschreibt.
Nach ihrer Vorstellung liegt in der politischen Aktivität und Teilhabe ein
existentieller Bestandteil menschlicher Entwicklung und Selbstentfaltung,
welcher den Unterschied zwischen bloßer menschlichen Existenz und
selbstbestimmter, reflektierter Lebensführung erklärt. Dabei bewertet sie
die Existenz des Menschen als ein symbiotisches Verhältnis mit der ihn
umgebenden Welt: Die Welt braucht den Menschen, und der Mensch
braucht die Welt, denn die Welt „erhält ihren eigentlichen Sinn erst, wenn
sie die Bühne für Handelnde und Sprechende bereit stellt, wenn sie
durchwebt ist von dem Geflecht menschlicher Angelegenheiten und Bezüge und den Geschichten, die aus ihnen entstehen. Ohne von Menschen bewohnt zu sein und von ihnen dauernd besprochen zu werden, wäre die
Welt nicht mehr als ein Haufen beziehungsloser Dinge“ und „Ohne die gestaltete Welt blieben die eigentlich menschlichen Angelegenheiten ohne
Behausung...“4 Ihre Ausführungen beschränken sich weitgehend auf Konzepte, ohne eine eindeutige Demokratietheorie auszuformulieren. Ihre
Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird auf die Nennung der jeweils weiblichen
Form verzichtet. Männliche Bezeichnungen für Einzelpersonen meinen die weibliche jeweils mit. Eine Ausnahme bildet Kapitel I.1: In der griechischen polis waren
die Bürger tatsächlich immer nur männlich.
3 Lösche 2002, 162f., Forst 2007, 229.
4 Arendt 1958, 198.
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Grundannahmen weisen jedoch auf ein aus ihrer Sicht zu favorisierendes
Demokratiemodell. Die Idee dieses Demokratiemodells möchte ich in meiner Arbeit näher untersuchen. Nach einer Darstellung der diesbezüglich
relevanten Begrifflichkeiten bei Hannah Arendt sowie ihrer Kritik an den
bestehenden Demokratiemodellen möchte ich im Anschluss ihr Demokratieverständnis und ihre Vorstellung einer gelungenen Demokratie beschreiben. Abschließend gehe ich in einem Ausblick der Frage nach, ob
New Governance-Formen auf EU-Ebene – mit Einschränkungen – Möglichkeiten bieten, Hannah Arendts Demokratiekonzeption umzusetzen.
I.
Hannah Arendts zugrunde liegende Konzepte
Hannah Arendts Annahmen zur Demokratie bieten kein empirischdeskriptives Modell, das klare Mechanismen darlegt. Vielmehr ist ihr Ansatz normativ und beschreibt Vorzüge und Ideale ihrer Konzeption.5
1. Das Vorbild der griechischen Polis
Bei ihren Ausführungen hatte Hannah Arendt das Bild der aristotelischen
polis vor Augen. Es erschien ihr als Idealform einer politischen Selbstverwaltung und Selbstregierung, welche die Bürger durch Handeln in Pluralität in geeignetem öffentlichem Raum vollziehen. Die griechische polis hatte
ihren Ursprung in Athen und verbreitete sich mit der Zeit nahezu im gesamten Mittelmeerraum. Ihre Blütezeit war etwa 500 v. Chr. Platon beschrieb die polis als Ort, an dem die Lebensordnung der Bürger durch
Rechtsbewusstsein (dike), sittliche Gemeinschaft (ethos) und selbstgesetztes, positives Recht (nomos) geprägt sein sollte. Das Tun der Gemeinschaft
5
Guggenberger 2002, 137.
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sollte der Idee des Guten und den Prinzipien der Gerechtigkeit dienen,
wobei er die Bedürfnisse und Interessen des Einzelnen als nachrangig bewertete. Die ideale Dimension einer polis sah Platon bei einer Zahl von
5040 freien Bürgern, was – unter Berücksichtigung aller Nicht-Bürger
(Sklaven, Ausländer, Frauen, Kinder) – auf eine Stadt mit etwa 20.000
Einwohnern schließen lässt. Die polis strebte nach innerer und äußerer
Unabhängigkeit.6
Aristoteles baute mit leicht verändertem Menschenbild auf diese Grundlagen auf. Er sah den Menschen als sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen (zôon lógon echón) sowie als politisches Lebewesen (zôon politikón).
Daher solle der Staatsbürger an Regierung und Gericht partizipieren. Der
Mensch sei auf ein Leben in Gemeinschaft ausgerichtet und bedürfe der
Gemeinschaft ebenso wie die Gemeinschaft jedes einzelnen Menschen bedürfe. Partizipation galt als Instrument zum Erhalt der Gemeinschaft. Ein
politisch aktives Leben wurde als sinnstiftend zum Selbstzweck erklärt.
Allerdings konnten am politischen Leben nur Vollbürger teilnehmen, also
volljährige, männliche Bürger, die von Bürgern der polis abstammten und
über ausreichend Vermögen verfügten, um die in der Regel unbesoldeten
Ehrenämter auszuführen. Dagegen waren Fremde (metöken), Sklaven,
Frauen und Kinder von der Mitbestimmung ausgeschlossen. Die Konzeption einer polis beinhaltete somit einen elitären Charakter.7 Jeder Vollbürger
war dem anderen in Rechten und Pflichten gleich, jeder hatte Anteil an Gericht und Regierung.8
In der polis wurden die Sphären des Öffentlichen (polis) und des Privaten
(oikos) streng unterschieden. Der oikos war streng hierarchisch struktuBlum 1997a, 9 und 17.
Blum 1997b, 33, 35, 37, Roth 2005a, 41.
8 Blum 1997b, 33, 39, Becker 1998, 175, Sontheimer 2005, 106.
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riert, hier übte der Bürger die Herrschaft über Ungleiche (Sklaven, Frauen,
Kinder) aus, welche die Aufgaben des täglichen Lebens erledigten. Dagegen agierte die Bürger untereinander in der polis frei von ökonomischen
Erwägungen als pari inter pares: Jeder befand sich in Gesellschaft der Besten, an denen er sich messen konnte und heraustreten in das Gesehenund-Gehört-werden. Hier bestand die Möglichkeit des politischen Handelns im Sinne eines selbstbestimmten und tugendhaften Agierens im Einvernehmen mit anderen, die dies gleichermaßen taten. Ergebnis dieses
Zusammenschlusses von Individuen im öffentlichen Raum war die
Herausbildung eines gemeinsamen Willens.
Vorbedingung der politischen Selbstverwaltung und Selbstregierung war
die Existenz eines geeigneten öffentlichen Raums, eines Rahmens, der politischem Agieren sowohl eine Plattform als auch Regeln bot.9 Dieser Rahmen musste sowohl räumlich als auch institutionell geschaffen werden.
Bei Platon geschah dies in einem in Isonomie10 verfassten Rechtsstaat,
dessen Fundament eine Verfassung (politeia) bildete. Die politeia war ein
Regelwerk, das Bedingungen, Normen und Formen der bürgerlichen
Selbstverwaltung initial regelte11 und damit Ausdruck einer Nomokratie.12
Darauf aufbauend fand das selbstbestimmte Regieren der autarken Bürgerschaft in öffentlichen Debatten in Ratsgebäuden oder auf dem Versammlungsplatz statt (‚Marktplatzdemokratie‘). Die Debatten betrafen die
Gemeinschaft, und indem sie von allen gesehen und gehört werden konnten, entstand Öffentlichkeit. Sowohl die räumlichen Gegebenheiten einer
Stadt als auch die in der politeia festgelegten Regeln des Debattierens
Schönherr-Mann 2006, 120.
Isonomie bedeutet die Organisation von Gleichen im Rahmen eines Gesetzes oder
einer Verfassung (Arendt 1970, 41).
11 Roth 2005b, 30.
12 Roth 2005a, 42.
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formten ein Fundament für das politische Agieren, waren jedoch nicht
dessen Bestandteil.13 Oder, um es mit Hannah Arendt zu sagen: „…der Inhalt des Politischen, das, worum es in dem politischen Leben der Stadtstaaten selbst ging, war weder die Stadt noch das Gesetz – nicht Athen,
sondern die Athener waren die Polis.“14
Die Zusammensetzung der Regierung als eine Gemeinschaft von Gleichen
erlaubte den Ämterwechsel zwischen Regierenden und Regierten. Dies ist
eine Besonderheit bei Aristoteles, der einen solchen Wechsel explizit vorsah.15 Durch den Wechsel sollte vermieden werden, dass eines der Regierungsmitglieder zum Tyrannen aufstieg. Stattdessen sollte jeder Bürger
alle erforderlichen Tugenden entwickeln, um eigenverantwortlich zum
Gelingen der politischen Selbstverwaltung beitragen zu können. Dazu gehörte nicht nur die Fähigkeit zu regieren, sondern auch die Fähigkeit, sich
von anderen regieren zu lassen, also Untertan zu sein und das Regieren
anderer zu „dulden“. Anders als bei Platon stellt Aristoteles beim Regierungshandeln das Glück des Menschen in den Mittelpunkt. Seine praktische Philosophie erforschte die Handlungsbedingungen, die zum Guten für
den Menschen führen. Für Aristoteles war dies eine empirische Frage, ein
im Rahmen der gegebenen geschichtlichen Bedingungen zu verwirklichendes Ideal. Er definierte ein 'glückliches Leben' als gut für den Menschen und erklärte damit das menschliche Streben nach Glück zum legitimen höchsten Lebenszweck, den der Staat unterstützen muss. Dabei sollte
der Staat nicht nur für das Glück der Vollbürger sorgen, sondern er hatte
die gleiche Fürsorgepflicht gegenüber den Ungleichen (Sklaven, Frauen,
Roth 2005b, 30, Schönherr-Mann 2006, 120.
Arendt 1958, 187f.
15 Platon dagegen beschrieb eine Ämterteilung zwischen Philosophen-König, Wächtern sowie Bauern und Handwerkern (Blum 1997a, 20ff).
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Kinder). Die Partizipation der Bürger wurde auf diese Weise doppelt erfüllend, da sie sowohl Selbstregierung als auch Selbstverwirklichung bedeutete.16
Die Meinungsbildung in der polis vollzog sich, indem die Vollbürger ihre
Ansichten – sowohl in Volksversammlungen als auch in Volksgerichten –
öffentlich auf dem Versammlungsplatz debattierten. Inhalt und Ziel waren
die Lösung gesellschaftlicher Probleme in Eigenregie. Die polis setzte explizit nicht auf bürokratische Entscheidungsstrukturen oder einen übergeordneten politischen Staatsapparat,17 sondern auf öffentliche Kommunikation und Interaktion innerhalb einer Gemeinschaft über innen- und außenpolitische Vorgehensweisen und Ziele, wobei jedem Bürger das gleiche
Recht und die gleiche Freiheit zu Reden zugestanden wurde.18 Regieren
erfolgte nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, die sich in Gleichbehandlung (isonomia) und Fürsorge niederschlugen. Neben der sokratischen
universalen Gerechtigkeit wendet Aristoteles auch die partikulare Gerechtigkeit an, in den Formen der distributiven (austeilenden), kommutativen
(ordnenden) und ausgleichenden, wieder vergeltenden (Tausch-) Gerechtigkeit. Gleichheit definiert er nicht nur quantitativ, sondern bezog auch
qualitative Aspekte (Würde und Leistung des Menschen) mit ein.19
Aristoteles entwickelte eine Typologie aus sechs Regierungsformen und
bewertete sie anhand der Frage, ob der Regent sein Handeln am eigenen
Nutzen oder am Gemeinwohl ausrichtet. Nur letztere hält er für gute Regierungsformen. Seine präferierte Regierungsform ist die Politie, einer
Mischform aus Oligarchie (Herrschaft der Eliten, die auf Prosperität zielt)
Blum 1997b, 39f; Roth 2005a, 40ff, Arendt 1970, 40.
Roth 2005b, 30.
18 Der Rhetorik kam entsprechend große Bedeutung zu.
19 Roth 2005a, 42.
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und Demokratie des Volkes. Er befürwortet, dass Regierungsentscheidungen von mehreren Männern getroffen werden, was die Abhängigkeit von
einem einzelnen Charakter (Monarchie) nivelliert. In der Mischform aus
den beiden ursprünglich von ihm als schlecht eingestuften Regierungsformen Oligarchie und Demokratie nimmt er an, dass sich die Eigeninteressen der reichen Elite und die Ziele des zahlenmäßig überlegenen, aber
verführbaren einfachen Volkes gegenseitig ausbalancieren und so im Ergebnis die beste Regierungsform bewirken. Seine Annahme begründet er
damit, dass auf diese Weise die Interessen aller zur Geltung kommen. Die
Griechen in seinem Einflussgebiet beherzigten seinen Vorschlag, was jedoch bald dazu führte, dass sich das einfache Volk aus der Regierung zurückzog und ihre Teilhaberechte an die Elite abtrat. Im Gegenzug wurde
von den wohlhabenden Eliten eine Armenfürsorge eingerichtet. 338 v. Chr.
beendete der Makedonier Alexander der Große die Ära der autonomen
poleis.20
2. Das Handeln als politisches Tätigsein
Ihr Werk „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ schrieb Hannah Arendt in
Anlehnung an die griechische polis. Als Grundcharakteristika menschlicher
Existenz nennt sie Natalität, Pluralität und Mortalität, worin sie nicht nur
eine unmittelbare, sondern auch eine symbolische Bedeutung sieht. Natalität meint zunächst die Geburt des Menschen, steht aber gleichzeitig für
Neubeginn: Jeder Mensch bringt mit sich das Potential, einen Anfang zu
machen, etwas Neues zu beginnen. Natalität ist der Ursprung der menschlichen Kreativität. Diese Fähigkeit beinhaltet die Verpflichtung, seine individuellen Stärken einzubringen und sich zum Wohl der Gemeinschaft poli-
20
Roth 2005a, 43f.
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tisch zu beteiligen. Pluralität bedeutet nicht nur, dass der Mensch in Vielzahl existiert, sie beschreibt auch die Vielfältigkeit der Menschen mit ihren
jeweiligen individuellen Besonderheiten und Stärken. Mortalität schließlich bringt Sinn und Antrieb in die menschliche Aktivität. Das Wissen um
die Sterblichkeit veranlasst den Menschen, sich für seine weitere Existenz
sowie die seiner Nachkommen einzusetzen. Während Natalität die vielfältigen Ausprägungen des menschlichen Handelns bestimmt und Pluralität
den Rahmen sowie die Ressourcen bietet, begründet Mortalität die Motivation, tätig zu werden.21
Das Tätigsein der Menschen sieht Hannah Arendt ebenfalls in drei Formen: Im Arbeiten, im Herstellen und im Handeln, wobei sie das Handeln
als die edelste und bedeutendste Tätigkeitsform bewertet.22 Das Arbeiten
beschreibt lebenserhaltende, sich wiederholende Tätigkeiten im Privaten,
vorrangig im Haus, also im oikos. Arbeiten bindet den Menschen an den
privaten Raum und hält ihn dadurch vom politischen Aktivsein in der Öffentlichkeit ab. Aus diesem Grund stellt Arbeiten für Hannah Arendt eine
antipolitische Tätigkeit dar, eine Notwendigkeit des Alltags, die keine Entfaltungsmöglichkeiten bietet und deshalb nicht sinnstiftend sein kann.23
Im Gegensatz dazu sind Herstellen und Handeln Tätigkeiten im öffentlichen Raum. Das Herstellen ist objektbezogen und zielorientiert. Es schafft
dauerhafte Gegenstände, beispielsweise Bauwerke, aber auch Regelwerke
und Institutionen wie eine Verfassung oder Gesetze. Mit der Fertigstellung
des Werks ist das Herstellen abgeschlossen, der geschaffene Gegenstand
ist eindeutig erkennbar.24
Arendt 1958, 16-18.
Arendt 1958, 16, Sontheimer 2005, 108.
23 Schindler 1995, 146f, Arendt 1958, 16-18, 76ff.
24 Arendt 1958, 16-18, 124ff.
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Die höchste Form der menschlichen Tätigkeit ist für Arendt das Handeln.
Handeln geschieht öffentlich und entspringt dem tätigen Verhältnis des
Menschen zur Welt, der vita activa.25 Es vollzieht sich intersubjektiv auf
Basis einer Wir-Gemeinschaft, die sich durch eine gemeinsame Vergangenheit konstituiert. Handeln erfolgt immer in Pluralität, welche sich sowohl in der Gleichheit als auch in der Verschiedenheit der Menschen zeigt.
Die Gleichheit der Menschen präsentiert sich in ihrem Bedürfnis nach Verständigung, während die Verschiedenheit bzw. die Einzigartigkeit der
Menschen den besonderen Wert ihres Beitrags für die gemeinsame Gestaltung der Gesellschaft ausmacht. Solange der Mensch arbeitet oder herstellt, ist er ein von außen gesteuertes Wesen. Im Handeln dagegen ergreift
er die Möglichkeit, schöpferisch tätig zu werden und etwas Unwiderrufliches, Unvorhersehbares und Neues zu schaffen.26 Handeln beschreibt damit sowohl die Fähigkeit als auch die Verantwortung des Menschen, durch
seine Tätigkeit in das Weltgeschehen einzugreifen und es zu gestalten. Der
Sinn menschlicher Existenz erschließt sich nach Hannah Arendt im Handeln innerhalb einer Gemeinschaft.27 Dabei zielt Handeln sowohl auf den
Beginn als auch auf das gemeinsame Durchführen und auf das Vollenden
des Begonnenen. Damit beinhaltet Handeln die zuvor genannten Elemente
Natalität, Pluralität und Mortalität.28 Entscheidend sei die Unvorhersehbarkeit des Handelns: „… diese Begabung für das Unvorhersehbare … beruht ausschließlich auf der Einzigartigkeit, durch die jeder von jedem …
Hannah Arendt bezieht den Begriff der vita activa von Aristoteles, der als erfüllende Lebensformen sowohl die aktive, tätige (vita activa) als auch die besinnliche
(vita contemplativa) beschreibt (Schönherr-Mann 2006, 118).
26 Arendt 1958, 191, 231.
27 Arendt 1958, 242.
28 Arendt 1958, 181.
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geschieden ist …“29 Die durch das Einbringen seiner Einzigartigkeit sich
vollziehende Selbstoffenbarung eines handelnden Menschen ist ein wesentliches Moment des Handelns. Hannah Arendt definiert Handeln damit
als innovativen Prozess, der keinen Gesetzmäßigkeiten folgt und dessen
Verlauf und Folgen nicht geplant werden können. Handeln stiftet nicht nur
Beziehungen, sondern begründet eine Kontinuität des „Bezugsgewebes“.
Es wirkt uneingeschränkt und grenzüberschreitend, so dass der Raum, in
dem das Handeln sich bewegt, niemals stabil, sondern dauernd in Bewegung ist.30 Entsprechend können auch – im Gegensatz zum Herstellen – die
Auswirkungen des Handelns weder vorhergesehen noch eindeutig identifiziert werden.31 Prozesse, die durch menschliches Handeln einmal angestoßen wurden, können sie nicht mehr rückgängig gemacht werden.32 Indem der Mensch handelt, erreicht er Freiheit.33
3. Macht
“Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, … sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über
Macht verfügt niemals ein Einzelner, sie ist im Besitz einer Gruppe und
bleibt nur so lange existent, als die Gruppe zusammenhält.“34 Macht generiert sich also durch das Handeln einer Wir-Gemeinschaft. Darüber hinaus
benötigt Macht einen Raum, in dem sie in Erscheinung treten kann. Dieser
„Erscheinungsraum entsteht, wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen“ und der „verschwindet, … wenn die TätigArendt 1958, 167.
Arendt 1958, 180, 182f.
31 Schönherr-Mann 2006, 125, 129, Arendt 1958, 171.
32 Arendt 1958, 226f.
33 Schönherr-Mann 2006, 131.
34 Arendt 1970, 45
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keiten, in denen er entstand, verschwunden oder zum Stillstand gekommen sind.“35 Macht ist demzufolge jeder Ansammlung von Menschen inhärent, jedoch nur als Potential. Erst im Handeln können Menschen dieses
Potential wecken und nutzen. Eine Gemeinschaft muss also in der Lage
sein, sich zu organisieren. Damit wird Macht zu einem flüchtigen Phänomen, das diskursiv erzeugt und durch Unterstützung gerechtfertigt werden muss.36 Des Weiteren legen die Handelnden grundsätzlich ihre Absichten offen: „Mit realisierter Macht haben wir es immer dann zu tun, … wo
Worte nicht mißbraucht werden, um Absichten zu verschleiern, sondern
gesprochen sind, um Wirklichkeiten zu enthüllen, und wo Taten nicht
missbraucht werden, um zu vergewaltigen und zu zerstören, sondern um
neue Bezüge zu etablieren und zu festigen, und damit neue Realitäten zu
schaffen.“ 37
Hannah Arendt unterscheidet streng zwischen den Begriffen Macht und
Gewalt, sie begreift sie als Antipoden.38 Gewalt geht nach Arendt vom Einzelnen aus, der seine Vorrangstellung behauptet, indem er Gewaltmittel
benutzt. Da Gewalt auf die Erreichung von Zielen und Interessen eines
Einzelnen ziele, sei sie niemals legitimiert. Sie sei unabhängig, aber niemals mächtig,39 denn Macht hat nach Arendt ihren Ursprung in einer politischen Gemeinschaft und drückt sich aus in der Fähigkeit einer Gruppe,
sich selbst gewaltfrei zu steuern. In der Kommunikation wird Macht kanalisiert und mündet in einem Konsens über die Frage ‚Wie wollen wir gemeinsam leben?‘ sowie in einer Einigung auf ein gemeinsames Handeln,
das gemeinwohlorientiert ist. Damit baut Macht auf Aristoteles‘ MenArendt 1958, 193.
Arendt 1958, 53f, 193, Forst 2007, 238.
37 Arendt 1958, 193f.
38 Arendt 1970, 58.
39 Arendt 1970, 47f.
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schenbild eines sowohl sprach- und vernunftbegabten als auch politischen
Lebewesens und impliziert einen anspruchsvollen Begriff einer politischen
Gemeinschaft, an der sich alle Bürger beteiligen, die wiederum jeweils
über eine individuelle reflektierte Urteilskraft verfügen. Sowohl der Diskurs als auch der darin produzierte Kollektivwille wirken gemeinschaftserhaltend und sichern die Unterstützung der Bürger für Gesetze, die sie
zuvor gemeinsam im Diskurs festgelegt haben.40 Unterstützung ist ein essentieller Gegenpart der Macht, da sie die Legitimierung der Macht durch
einen Konsens ausdrückt.41 Macht ist nicht auf die Erreichung von selbst
gesteckten Zielen begrenzt, sondern existiert als Selbstzweck unabhängig
von einer Zielsetzung. Sie braucht also – anders als die Gewalt – keine Ziele, um sich zu rechtfertigen.42 Arendt stellt dar, dass Macht und Gewalt –
obwohl sie in ihrer Definition Gegensätze darstellen – im Alltag interagieren und meist kombiniert auftreten.43 Macht braucht Gewalt als letztes
Druckmittel in der Außenpolitik und wendet sie innenpolitisch zum Schutz
vor Systemgegnern und als legitimiertes Durchsetzungsmittel der Polizei
an.44 Umgekehrt erfordern Gewaltmaßnahmen immer ein gewisses Maß an
Macht, um ihr Ziel zu erreichen. „Wo Befehlen nicht gehorcht wird, sind
Gewaltmittel zwecklos.“45 Zwar ist Gehorsam grundsätzlich ein Komplement zur Gewalt: Gewalt erzwingt Gehorsam unter Androhung von Sanktionen; kommt allerdings die Frage auf, ob Gewalt gehorcht werden soll
oder nicht, so zeigt sich der Aspekt der beidseitigen Anerkennung der
Kräfteverhältnisse. Dieser ist der Macht zuzuordnen. Dennoch sind Macht
Arendt 1970, 45; Becker 1998, 178.
Arendt 1970, 50, 54f.
42 Arendt 1970, 52f, Arendt 1958, 45; Becker 1998, 178.
43 Arendt 1970, 48.
44 Arendt 1970, 48, 52, Becker 1998, 175.
45 Arendt 1970, 50.
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und Gewalt bei Hannah Arendt grundsätzlich Antagonisten: Macht kann
durch Gewalt vernichtet werden und teilweise zielt Gewalt auch auf die
Vernichtung von Macht oder aber wird durch Machtverlust hervorgerufen.
Allerdings ist Machtzerfall nicht unmittelbar erkennbar, sondern offenbart
sich erst in einer Konfrontation.46
4. Der Erscheinungsraum
Sowohl Handeln als auch Macht gründen auf Vorbedingungen. Hannah
Arendt bezieht sich auch hier auf die polis: „Bevor das Handeln beginnen
konnte, musste ein begrenzter Raum fertig- und sichergestellt werden, innerhalb dessen die Handelnden dann in Erscheinung treten konnten, der
Raum des öffentlichen Bereichs der Polis, dessen innere Struktur das Gesetz war; der Gesetzgeber und der Architekt gehörten in die gleiche Berufskategorie. Aber der Inhalt des Politischen, das, worum es in dem politischen Leben der Stadtstaaten selbst ging, war weder die Stadt noch das
Gesetz – nicht Athen, sondern die Athener waren die Polis.“47 Der Erscheinungsraum formt sich also zum einen aus einem öffentlichen Raum, den in
der polis der Versammlungsplatz bildete, zum anderen aus zuvor festgelegten Regeln und Normen der Interaktion; bei den Griechen war dies die
politeia. Als Vorbedingungen sind sie bei Hannah Arendt nicht Teil des politischen Prozesses oder des Handelns, sondern müssen zuvor bereit gestellt werden, eine Tätigkeit, die sie dem Herstellen zuordnet, da sie ein
vorher festgelegtes Ende aufweist und ihr Ergebnis eindeutig erkennbar
ist.
46
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Arendt 1970, 50, 54f.
Arendt 1958, 187f.
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Der öffentliche Raum dient als Bühne, „jener Weltraum, den Menschen
brauchen, um überhaupt in Erscheinung treten zu können.“48 Hannah
Arendt illustriert dies in ihrer Metapher vom Tisch: „In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, daß eine Welt von Dingen zwischen denen
liegt, deren gemeinsamer Wohnraum sie ist, und zwar in dem gleichen
Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen
sie jeweils gemeinsam ist.“49 In Arendts öffentlichem Raum begegnen sich
Menschen unabhängig von den Notwendigkeiten des Alltags, um die Gestaltung ihrer gemeinsamen Welt miteinander zu diskutieren. Der Tisch
symbolisiert sowohl Diskursplattform als auch Öffentlichkeit. Gleichzeitig
belegt das Bild gleichberechtigte Zugangschancen zum Diskurs. Der Tisch
bildet also ab, was bei Aristoteles der Versammlungsplatz war, er ist eine
Vorbedingung des Handelns und bietet den Erscheinungsraum für Macht.
Indem die Menschen am Tisch ihren Diskurs führen, also handeln, bringt
jeder Einzelne seine Individualität ein und offenbart so Aspekte seiner
Identität. Hannah Arendt geht von einer unvollständigen und nicht planbaren Selbstoffenbarung aus, da niemand wissen kann, in welcher Weise
er wahrgenommen wird.50 Darüber hinaus besteht eine Wechselwirkung
zwischen dem einzelnen Handelnden und der Gruppe. Da sie sich gegenseitig beeinflussen, kommen jeweils nur bestimmte Aspekte einer Persönlichkeit zum Tragen. Der Handelnde bringt Dinge in Bewegung, welche die
anderen ‚Tischmitglieder‘ erdulden müssen. Gleichzeitig werden sie selbst
zum Handeln angeregt; die Tischgemeinschaft reagiert auf den Handelnden, was er wiederum aushält. Auch hier spiegelt sich ein Prinzip der aris-
Arendt 1958, 202.
Arendt 1958, 52.
50 Arendt 1958, 185f.
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totelischen polis, wo jeder Bürger sowohl das Regieren als auch das Untertan-Sein lernen soll. Insgesamt sind die Vorgänge an diesem Tisch nicht
greifbar, weder Handeln noch Macht manifestieren sich in einer Weise, die
sie messbar machen, „im Gegensatz zu Mitteln der Gewalt, die aufgespeichert werden können“.51
Die Entsprechung der griechischen politeia bilden Verfahrensregeln und
Normen im politischen Prozess, etwa Gesetze oder eine Verfassung. Hannah Arendt bewertet diese Elemente ebenfalls als präpolitisch und fasst
ihre Bereitstellung unter dem Begriff des Herstellens, sie sind nicht Teil
des politischen Prozesses, sondern geben dem Erscheinungsraum vorab
eine Struktur.52 Gesetzgebung ist nach Arendt kein politisches Handeln.53
5. Kommunikation und Diskurs
Entscheidender Ausdruck des Handelns sind Sprache und Kommunikation.
Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Wie das Handeln bedarf das
Sprechen der menschlichen Pluralität. „Sprechen wiederum entspricht der
in dieser Geburt vorgegebenen absoluten Verschiedenheit, es realisiert die
spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, daß Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden.“54 Ebenso wie das Handeln offenbart sich
eine Person also im Sprechen, wobei beides auf der Eigeninitiative des
Menschen beruht.55 Worte sind nach Arendt aber „besser geeignet, Auf-
Arendt 1958, 193.
Arendt 1958, 187, Becker 1998, 175.
53 Schönherr-Mann 2006, 120.
54 Arendt 1958, 167.
55 Arendt 1958, 172, 178.
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schluß über das Wer-einer-ist zu verschaffen, als Taten“56, da erst Worte
die Taten in einen Kontext setzen und auf diese Weise verständlich machen. Handeln wird erst im Zusammenhang mit Sprache und Kommunikation verständlich und aufschlussreich.57 Eine besondere Rolle kommt Versprechen (im Sinne von Zusagen, Zusicherungen) zu, die nach Arendt eine
zentrale politische Fähigkeit darstellen, weil sie Sicherheit produzieren in
einer Welt voller Unabsehbarkeiten. Diese Unabsehbarkeiten beruhen
zum Teil auf der Pluralität, zum Teil aber auch auf menschlicher Unzuverlässigkeit. In einem solch unkalkulierbaren Rahmen bilden Versprechen
„gewisse, genau abgegrenzte Inseln des Voraussehbaren …, wie Wegweiser
in ein noch unbekanntes und unbegangenes Gebiet. Sobald Versprechen
aufhören, solchen Inseln in einem Meer der Ungewißheit zu gleichen, sobald sie dazu mißbraucht werden, den Boden der Zukunft abzustecken
und einen Weg zu ebnen, der nach allen Seiten gesichert ist, verlieren sie
ihre bindende Kraft und heben sich selbst auf.“58 In einer politischen Gemeinschaft, die auf Freiheit beruht und die sich auf Grundlage ihrer kollektiven Macht selbst organisiert, sind Versprechen und auf ihnen basierend
Abkommen und Verträge als Formen der Selbstbindung die einzigen angemessenen Möglichkeiten, um Ordnung und Stabilität in die Welt zu bringen. Versprechen bürgen für diese stabilisierende und ordnende Selbstbeherrschung und signalisieren dem Gegenüber, dass Dominanz und Gewaltausübung nicht erforderlich sind für seine Zielerreichung. 59 Grundlage für
Arendt 1958, 167.
Arendt 1958, 168.
58 Arendt 1958, 240.
59 Arendt 1958, 239f.
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die Glaubwürdigkeit von Versprechen sind Integrität und Moral des Versprechenden.60
Kommunikation und Diskurs bei Arendt dürfen nicht verwechselt werden
mit Deliberation bei Habermas. Zwar sind Hannah Arendts Vorgaben in
ihren Implikationen zu Handeln und Macht der Diskursethik von Habermas ähnlich, und beide sehen als Ziel einen im Diskurs produzierten politischen Willen. Deliberation bei Habermas ist jedoch verfahrensorientiert,
was Ahrendt ablehnen und unter Herstellen fassen würde. Hannah Arendt
sieht ihren politischen Diskurs als offenen und freien Beratungsprozess
ohne vorgegebenes Ziel. Sie setzt auf eine hohe Integrität der beteiligten
handelnden Personen und legt dabei die sokratische Philosophie, nach der
sich Wahrhaftigkeit im Zwiegespräch offenbart, zugrunde. Oberstes Ziel
des Sokrates'schen Philosophenkönigs61 soll nicht sein, die Stadt zu regieren, sondern ihre Bürger zu mehr Wahrheitsliebe anzuregen. Wahrheit
selbst ist keine feststehende Größe, sondern wird im Diskurs entwickelt,
sie ist also Ergebnis des kommunikativen Austausches.62 Diese Konzeption
übernimmt Hannah Arendt in ihre republikanischen Politiktheorie, wo sie
die dialogische Beratung im demokratischen Prozess als Instrument der
Trennung zwischen Wahrheit und Meinung anführt. Wieder werden Öffentlichkeit sowie Vernunft und Urteilsfähigkeit als erste Kriterien für eine
partizipatorische und demokratische Beratung hervorgehoben.63 Das beratungs- und überlegungszentrierte dezisionistische Politikverständnis
Hannah Arendts steht damit der deliberativen Politik von Jürgen Habermas diametral gegenüber, denn Habermas‘ Entscheidungsfindungsprozes-
Arendt 1958, 241f.
Blum 1997a, 20ff; siehe Fußnote 15.
62 Lösch 2005, 28-31.
63 Lösch 2005, 32f.
60
61
26
Die Demokratiekonzeption von Hannah Arendt
se beruhen auf Verfahren und sind prozeduralistisch konzeptioniert.64 Habermas kritisiert an Hannah Arendts Machtbegriff, er sei nicht wahrheitsfähig, da ihm keine universalisierbaren Geltungsansprüche zugrunde lägen.65 Ein weiterer Unterschied zwischen Arendt und Habermas liegt im
Staatsbegriff, bei dem in der republikanischen Auffassung die gesamte Gesellschaft durch Partizipation aufgeht. In der deliberativen Demokratiekonzeption von Habermas werden dagegen Staat und Gesellschaft getrennt.66
II. Hannah Arendts Demokratieverständnis
1. Hannah Arendts Kritik an Repräsentation und Bürokratie
Die heutzutage gängigen Formen der repräsentativen rechtsstaatlichen
Demokratie bewertet Hannah Arendt als problematisch. Ihre Vorstellung
einer herrschaftsfreien politischen Atmosphäre definiert sich durch maximale Partizipations- und Einflussmöglichkeiten des Einzelnen, welche
aus Arendts Sicht durch Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie das Repräsentationsprinzip gefährdet werden, da sie die ihr bedeutsamen Elemente
des Handelns und der Macht einengen, deformieren oder unterbinden.67
Da Rechtsstaatlichkeit dem Bürger einen negativen Freiheitsbegriff anbietet, ihn also im Wesentlichen vor Staatseingriffen schützt, vermisst Arendt
hier Aufruf und Ansporn zur Partizipation, zum Handeln. Der negative
Freiheitsbegriff schafft aus ihrer Sicht passive Bürger, die sich aus der politischen Öffentlichkeit zurückziehen ins Private. Der Anreiz zur PartizipatiLösch 2005, 80, 153, 195.
Becker 1998, 171f.
66 Lösch 2005, 158.
67 Becker 1998, 172.
64
65
27
Monika Roth
on geht insbesondere dadurch verloren, dass Recht nicht im Diskurs, sondern in bürokratischen Verfahren festgesetzt wird. Dies stellt nach Arendt
einen weiteren Mangel dar, da solche Gesetze nicht durch Handeln, sondern durch Herstellen entstehen. Hannah Arendt präferiert positive Gesetze, die mit Bezug auf ihre lokalen und zeitlichen Rahmenbedingungen gemeinschaftlich im Diskurs erarbeitet und konsensual beschlossen wurden.
Eine verfahrensbasierte Gesetzgebung bewertet sie als demokratiefeindlich und interpretiert sie als Gewalt, die darauf abzielt, dass „die künstlichen Werkzeuge die natürlichen ganz und gar ersetzen“68, wobei die
künstlichen Werkzeuge Gesetzgebungsverfahren (Herstellen) sind und die
natürlichen der Diskurs handelnder Bürger. Recht findet damit nicht mehr
die Unterstützung aller Bürger und übt auf diejenigen, die es ablehnen,
Gewalt aus.69 Neben Freiheitsbegriff und Recht kritisiert Hannah Arendt
das Prinzip der Repräsentation. Durch die Professionalisierung und Bürokratisierung der Politik werde der unmittelbare Kontakt und Austausch
zwischen Politikern und Bürgern deutlich eingeschränkt und finde eher
zufällig statt, basierend auf Wahlkampfaktionen und Parteiprogrammen,
die eine künstliche Verbindung schafften und keine Kontinuität erlaubten.
Darüber hinaus repräsentierten die gewählten Interessensvertreter des
Volkes die materiellen Interessen sozialer Gruppen, gebündelt in Parteien.
Dies widerspricht Arendts Grundsatz des vernunftbegabten Bürgers, der
seine individuellen Ansichten sowie seine Urteilskraft in den politischen
Prozess einbringt und dadurch an einem innovativen Prozess mit unvorhersehbarem Ausgang teilnimmt. Direktdemokratische oder partizipatorische Formen innerhalb von Parteien erscheinen ihr nicht als ausreichend,
sie zielt auf einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, der alle Politikberei68
69
Arendt 1970, 47.
Becker 1998, 174f.
28
Die Demokratiekonzeption von Hannah Arendt
che gleichermaßen thematisiert.70 Ein vierter Kritikpunkt ist die Behandlung sozialer Fragen in der Politik. Nach Arendt ist dies problematisch,
weil sich hier die polis-Öffentlichkeit mit der oikos-Privatheit vermischt zu
einem Zwischenbereich, in dem sich Fragen und Interessen der materiellen Reproduktion mit politischer Öffentlichkeit verbinden. Damit kommen
Probleme auf den ‚Tisch‘ der politischen Debatte, die nicht diskussionsfähig sind, weil sie aus Arendts Sicht Wahrheitsfragen sind, auf die es eindeutige Antworten gibt. Entsprechend können sie nicht abgewogen werden, sondern sind rein administrativ zu lösen. Für Arendt gehört die Ausarbeitung von policies nicht zum Politischen. Stattdessen gibt die Dominanz des Sozialen einer Bürokratisierung Vorschub. Arendt jedoch lehnt
Bürokratisierung ab.71 Grundsätzlich widerstrebt Hannah Arendt die Vorstellung von Bürokratie, wie sie in repräsentativen Demokratien üblich ist,
weil sie ihr wichtige Demokratieelemente durch Verwaltungsinstrumente
ersetzt: Anstelle einer Regierung aus handelnden Akteuren tritt eine Verwaltung, die anstelle öffentlicher Entscheidungen anonyme Verfügungen
erstellt und statt positiver Gesetze Verordnungen anwendet. Im Ergebnis
wird Demokratie wird dadurch entpersonalisiert, Verantwortlichkeit kann
nicht mehr einzelnen Entscheidungsträgern zugeordnet werden, somit
kann auch niemand zur Rechenschaft gezogen werden. Darüber hinaus
zielt Verwaltung, die von Arendt ähnlich negativ bewertet wird wie Bürokratie, darauf ab, die Menschen entgegen ihrer Verschiedenheit und Individualität zu homogenisieren. Dadurch wird Pluralität zerstört und Kommunikation verhindert. Auf diese Weise wird politisches Handeln unterbunden. Die Atomisierung und Vermassung moderner Gesellschaften bewertet Hannah Arendt als äußerst riskant, da sie aus ihrer Sicht eine Vor70
71
Becker 1998, 174.
Becker 1998, 175-177.
29
Monika Roth
bedingung zum Totalitarismus darstellt.72 Des Weiteren sieht Hannah
Arendt den öffentlichen Erscheinungsraum, der Handeln erst ermöglicht
und in dem Handeln stattfindet, als gefährdet. Staatliche Institutionen
dämpfen den Drang zur öffentlichen Kommunikation, der öffentliche
Raum sowie die Debatte werden beeinflusst und zusätzlich durch Medien,
Bürokratie und die Professionalisierung in der Politik verzerrt. Dieser Verlust an öffentlichem Raum stellt für Hannah Arendt einen „Weltverlust“
dar.73
2. Das Ideal der Räterepublik
Die ideale Umsetzung ihrer praktischen Philosophie sieht Hannah Arendt
in einer Räterepublik.74 In einem Rätesystem hält sie für gewährleistet,
dass sich jeder einzelne Bürger unmittelbar und uneingeschränkt an politischen Debatten beteiligen und auf das Regierungsgeschehen Einfluss
nehmen kann und so seine Individualität im Zusammenwirken mit anderen und zum Nutzen aller in den politischen Prozess einfließt. Wichtig ist
ihr dabei ein positiver Freiheitsbegriff, die Freiheit zur Partizipation, in
der die unmittelbare und uneingeschränkte Beteiligung des Einzelnen an
öffentlichen Angelegenheiten explizit erwünscht ist und motiviert wird
dadurch, dass handelnde Akteure die Ergebnisse ihrer Beiträge umgesetzt
sehen.75 In Hannah Arendts Vorstellung bilden sich Räte unabhängig von
Parteien oder Fraktionen als Aktions- und Ordnungsorgane. Sie formen
sich spontan in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, beispielsweise
berufsbezogen oder wohnortbezogen. Den Impuls für die Bildung von Rä-
Becker 1998, 176f., Schönherr-Mann 2006, 124.
Arendt, 1958, 58, Schönherr-Mann 2006, 151f.
74 Schönherr-Mann 2006, 152.
75 Schönherr-Mann 2006, 152.
72
73
30
Die Demokratiekonzeption von Hannah Arendt
ten gibt der Wunsch, gemeinschaftlich zu handeln. Dieser Wunsch regt die
Bürger an verschiedenen Orten spontan dazu an, sich zu versammeln und
im Diskurs jeweils eine eigene Meinung zu fassen. Indem die Bürger von
ihrer Freiheit zu Handeln Gebrauch machen, bildet sich in der gemeinsamen Kommunikation ein öffentlicher Raum. Die spontanen Versammlungen nehmen Verbindung zueinander auf und ernennen aus ihrer Mitte
Vertreter, die sich pyramidenförmig zu jeweils übergeordneten Gremien
zusammenschließen, bis hin zum bundesstaatlichen Parlament. Die Vertreter handeln in Interaktion mit den weiteren Gremiumsmitgliedern. Sie
sind gegenüber ihrem entsendenden Rat berichtspflichtig, haben jedoch
kein imperatives Mandat. Ein solches wäre auch nicht durchzuhalten, da
sich ja auf jeder Ebene andere Akteure zum gemeinsamen Handeln treffen
und der Verlauf sowie das Ergebnis nicht vorhersehbar sind, sondern allein durch Vernunftsgebrauch und Meinungsbildung in öffentlicher und
freier Kommunikation getragen werden. Auf jeder Ebene bringen die Repräsentanten ihre Individualität ein, wertvolle Unterschiede, die sich im
Handeln gegenseitig befruchten. Damit ist das Ergebnis der Beratungen
jedes Mal offen. Sollte der entsendende Rat mit dem Auftreten seines Repräsentanten nicht (mehr) zufrieden sein, so hat er jederzeit die Möglichkeit, ihn abzusetzen und einen neuen zu bestimmen. Ein Rotationsprinzip
unterbindet Herrschaftsansprüche einzelner Personen, die dazu führen
könnten, dass Repräsentanten sich aus den Strukturen lösen und zu einer
unabhängigen politischen Elite verselbständigen. In dieser Form der Repräsentation liegt ein entscheidender Unterschied zur parlamentarischen
Demokratie. Durch eine Verschränkung der Hierarchieebenen, einmal
durch die Ernennung und Endsendung von Repräsentanten nach oben,
31
Monika Roth
zum zweiten durch die Berichterstattung nach unten, wird eine enge Vernetzung zwischen Regierenden und Regierten hergestellt.76
Die Bereitstellung des öffentlichen Raumes in Arendts Modell ist sehr voraussetzungsvoll und störanfällig. Um dem entgegenzuwirken, konzipiert
Hannah Arendt verschiedene Stabilisatoren. So nimmt sie an, dass die Repräsentanten aufgrund ihrer Autorität in der Lage sind, in dem sie entsendenden Rat eine ausgeprägte Folgebereitschaft zu bewirken. Diese Autorität entsteht nicht durch Zwang oder Überredungskünste, sondern rührt
vom Respekt für das Amt bzw. die Person.77 Ein zweiter Stabilisator besteht in Gesetzen. Zwar beruht das politische Tagesgeschäft des Rätesystems vorrangig auf Handeln und Diskussion, Gesetze sorgen jedoch für
Kontinuität in der Gemeinschaft. Sie entstehen als positive Gesetze im Ergebnis politischen Handelns als eine Funktion kommunikativer Macht. Dadurch beruhen sie auf einem breiten Konsens und sind ihren jeweiligen
zeitlichen und lokalen Gegebenheiten angepasst. „Alle Gesetze im Sinne
des positiven Rechts sind stabilisierende Faktoren für die ewig sich ändernden Umstände, für die notwendige Unbeständigkeit menschlicher Angelegenheiten, in denen menschliches Handeln sich in einer ständigen Bewegung hält und ständig neue Bewegung hervorruft.“78 Unklar bleibt jedoch, wie sich der Gesetzgebungsprozess über die verschiedenen institutionellen Arrangements darstellt. Zudem gestaltet sich die Genese der
kommunikativen Macht als aufwändig.79 Ein dritter Stabilisator betrifft die
Größe der selbstregierten Gruppe, welche die Regierbarkeit entscheidend
beeinflusst, ein Faktum, das bereits in der antiken polis Berücksichtigung
Wagenknecht 1995, 25-31, Becker 1998, 174, 176f, Schönherr-Mann 2005, 124,
151f., Arendt, 1958, 46.
77 Becker 1998, 173f., Arendt 1970, 46.
78 Arendt 1951, 707.
79 Becker 1998, 172ff.,178.
76
32
Die Demokratiekonzeption von Hannah Arendt
fand. Für die Gewährleistung einer überschaubaren Gemeinschaft, die ihren Bürgern in ausreichendem Maß Beteiligungs- und Einflussmöglichkeiten bieten kann, schlägt Hannah Arendt vor, große Staatsgebiete föderal
aufzuteilen und so die Regierbarkeit zu verbessern.80
Problematisch bleibt die Vermassung der Gesellschaft, die eine Homogenisierung befördert und in der Folge dazu führt, dass die in Arendts Modell
wertgeschätzte Individualität und Einzigartigkeit erodiert. Zweitens haben
die Erfordernisse des Alltags großen Einfluss auf die Bereitstellung und
Nutzung des öffentlichen Raums. In Arendts Demokratiekonzeption können nur diejenigen uneingeschränkt partizipieren, die über ausreichend
Ressourcen verfügen, um Alltagsaufgaben delegieren und sich Zeit für die
politische Beteiligung nehmen zu können. In der polis war dies gewährleistet durch die Abtrennung des oikos, in dem Nicht-Bürger die Alltagsaufgaben verrichteten. Ein solches Konzept wäre aus heutiger Sicht nicht mehr
tragbar, und so ist heutzutage wesentlich schwieriger, sich ausreichend
freie Zeit zu verschaffen, um im Arendt’schen Sinne partizipieren zu können. Drittens schließlich stehen soziale Einflussfaktoren und ökonomischstrategische Erwägungen einem ungezwungenen, originären Auftreten des
Bürgers, das allein von seiner Individualität bestimmt wird, entgegen. Damit ist Arendts Grundsatz der Wahrhaftigkeit im Handeln nicht gesichert.
Hannah Arendt selbst ist pessimistisch hinsichtlich der realen Umsetzungsmöglichkeiten ihrer Vorstellung von Demokratie, da die gängigen
nationalen Demokratien in der Regel parlamentarisch verfasst und stark
verfahrensorientiert sind. Räume des öffentlichen Handelns im Sinne
80
Becker 1998, 173, Blum 1997a, 17.
33
Monika Roth
Hannah Arendts werden dadurch verdrängt und zudem durch die Medien
verzerrt.81
III. Fazit und Ausblick auf New Modes of Governance in der EU
Heute sind moderne demokratische Nationalstaaten in der Regel parlamentarisch verfasst, das politische Tagesgeschäft wird weitgehend durch
Verwaltungen und professionelle Politiker ausgeführt. Gleichzeitig durchlaufen demokratische Systeme Veränderungsprozesse. In den vergangenen Jahren fiel das Augenmerk der Wissenschaft immer stärker auf neue
Governance-Strukturen, die sich z.B. auf EU-Ebene entwickeln und u.a. dadurch Beachtung finden, dass die EU häufig als Regierungsform eigener
Art (sui generis) bewertet wird.82 Der Begriff „Governance“ bezeichnet
Formen der politischen Handlungskoordination auf Regierungsebene. Das
Konzept wurde von theoretischen Modellen der Wirtschaftswissenschaften abgeleitet, beispielsweise der ‚unsichtbaren Hand‘ des Marktes,83 und
umfasst neben externen Steuerungselementen in zunehmendem Maße
Formen der Selbststeuerung. Die Ausprägungen sind unterschiedlich und
reichen von hierarchischen Strukturen über wechselseitige Anpassung im
Markt bis hin zu interdependenten Handlungen in Netzwerken.84 Dabei
entstehen zunehmend weiche Governanceformen wie die Offene Methode
der Koordinierung (OMK) oder informelle Governancewege, die allesamt
den Diskurs und die Erarbeitung tragfähiger Konsense in den Mittelpunkt
Schönherr-Mann 123ff., Lübbe-Wolf 2007, 343, Brumlik 2007, 321.
Börzel 2007, 61, Leiber, Schäfer 2007, 119.
83 Benz 2004, 16, Mayntz 2005, 16.
84 Benz 2004, 17, Mayntz 2005, 14.
81
82
34
Die Demokratiekonzeption von Hannah Arendt
der politischen Arbeit rücken.85 New Governance beinhaltet veränderte
Gesetzgebungsprozesse, bei denen gesellschaftliche Akteure stärker an der
Entwicklung und Implementierung von Politiken beteiligt werden und die
damit von der Konzentration auf Akteure des politisch-administrativen
Systems abrücken.86 Darüber hinaus bietet das Mehrebenensystem der EU
die Möglichkeit einer ebenenübergreifenden Verflechtung und Koordinierung von Steuerungsprozessen: Entscheidungen über das Regieren in der
EU werden zwischen nationalen, regionalen und europäischen Institutionen koordiniert, auf allen Ebenen werden Interessensgruppen einbezogen.87 Ein sehr hohes Maß an gesellschaftlicher Selbstkoordination findet
sich zum einen im Europäischen Sozialen Dialog, in dem die Sozialpartner
durch ihre Vereinbarungen die Grundlage für Richtlinien auf europäischer
Ebene schaffen88, und zum anderen in dem von Jan Kooiman entwickelten
Modell des socio-political governance, bei dem Regieren jenseits ökonomischer und staatlicher Dominanz stattfindet.89 Die Tatsache, dass auf EUEbene neue Governance-Formen aufkommen, belegt, dass sich der Verhandlungsprozess auf EU-Ebene relativ offen gestaltet. Die aus den nachgeordneten Ebenen entsandten Repräsentanten vereinbaren neue Prob-
Näheres hierzu in Dermot Hodson (2001): The Open Method as a New Mode of
Governance. The Case of Soft Economic Policy Coordination, in Journal of Common
Market Studies 39 (4), pp 719-746, bzw. in Alex Warleigh (2003): Informal governance: Improving EU democracy?, in: Th. Christiansen, S. Piattoni (eds.): Informal
Governance in the European Union, Cheltenham, UK, Northapton, MA, USA, 22-35.
86 Mayntz 2005, 12f.
87 Benz 2004, 23f., siehe auch Jürgen Neyer (2003): Discourse and Order in the EU: A
Deliberative Approach to Multi-Level Governance, in Journal of Common Market
Studies 41 (4), 687-706.
88 Börzel 2007, 17, siehe auch James S. Mosher and David M. Trubek (2003): Alternative Approaches to Governance in the EU: EU Social Policy and the European Employment Strategy, in Journal of Common Market Studies 39 (1), 63-88.
89 Benz 2004, 17.
85
35
Monika Roth
lemlösungswege und agieren dabei innovativ. Zwar berichten sie an ihr
entsendendes Gremium, haben aber offensichtlich Handlungsspielraum,
den sie im Zusammenspiel mit den anderen Repräsentanten nutzen, um
Entscheidungen und Regelungen festzulegen, die möglichst die Interessen
aller berücksichtigen. Dieser Handlungsspielraum spricht gegen ein imperatives Mandat und für vernunftsgesteuerte Diskussionen mit dem Ziel
einer Konsensbildung. „Governance ist die Gesamtheit der zahlreichen
Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen
ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Prozess, durch den kontroverse oder unterschiedliche Interessen ausgeglichen werden und kooperatives Handeln initiiert werden
kann. Der Begriff umfasst sowohl formelle Institutionen und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme als auch informelle Regelungen, die von Menschen und Institutionen vereinbart oder als im eigenen
Interesse angesehen werden.“90
In diesen Entwicklungen und Strukturen finden sich viele Elemente, die
– mit Einschränkungen – an Hannah Arendts Demokratiekonzeption erinnern. Die Abstimmung politischer Prozesse erfolgt über mehrere Ebenen,
die intensiv miteinander verflochten sind. Neue innovative GovernanceFormen belegen eine gewisse Handlungsfreiheit des Regierens, regiert
wird auf EU-Ebene (derzeit) nach positivem Recht. Allerdings beinhaltet
auch das Regieren auf EU-Ebene eine deutliche Bürokratisierung und Professionalisierung von Politik, zudem sind Verhandlungsprozesse in der
Regel von strategischen Überlegungen geleitet. Ein ungezwungenes und
autentisches Sich-Einbringen der Akteure auf EU-Ebene, das rein auf Rationalität und Gemeinwohlorientierung beruht, ist unwahrscheinlich. Damit
Commission on Global Governance (CGG 1995, 4) nach Messner/Nuscheler
1995, 12.
90
36
Die Demokratiekonzeption von Hannah Arendt
verwirklicht New Governance auf der EU-Ebene einzelne Aspekte von
Arendts Demokratiekonzeption, für eine vollständige Umsetzung ist sie
jedoch nicht geeignet.
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38
Sebastian Lamm
Monika Roth (Hrsg.)
Macht
Überlegungen zu Theorien der Macht
1. Auflage 2010
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http://www.menschundbuch.de
Lektorat, Layout und Umschlaggestaltung: Monika Roth
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Printed in Germany
ISBN: 978‐3‐86664‐880‐7
Inhaltsverzeichnis
Alexander Biegler
Vorwort..................................................................................................................1
Monika Roth
Die Demokratiekonzeption von Hannah Arendt..................................9
Kassian Mayr
Niklas Luhmanns Machtverständnis
Überprüfung der Luhmannschen Kritik
der klassischen Theorie der Macht ......................................................... 39
Sebastian Diezel
Luhmann meets Foucault
Ein Vergleich systemtheoretischer
und diskursiv-historischer Machtkonzepte ........................................ 67
Christopher W. van den Hövel
Pierre Bourdieu: Macht und Bildungssystem..................................... 97
Niklas Moulin
Bourdieu und die desillusionierte Demokratisierung
Analyse und Kritik der sozialen Reproduktion
im Bereich des französischen Schulwesens ..................................... 121
Alexander Biegler
Macht und Subjekt als Kategorien
der Gesellschaftskritik im Werk Michel Foucaults........................ 145
Angaben zu den Herausgebern ....................................................................... 190