Wolfgang Hesse: "Portrait of this mortal coil" ua in
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Wolfgang Hesse: "Portrait of this mortal coil" ua in
torseidel Wolfgang Hesse: "Portrait of this mortal coil" u.a. in Rundbrief Photographie (2003) Bilder des Lebens vor dem Tod Wohl jede und jeder von uns verbindet mit Röntgenfotografien eigenes Erlebtes oder zumindest bildhafte Assoziationen, und es werden zumeist Krankheitserfahrungen und Todesvorstellungen sein, die wir erinnern. Das liegt nicht allein an dem naturwissenschaftlich-medizinischen Nutzen dieser Aufzeichnungstechnik. Denn nächst der praktischen Seite funktionieren abgebildete Menschenknochen – und hier vor allem die des Schädels – in vielen Kulturen seit langem als Sinn-Bilder, als Emblemata ohne Text, als memento mori. Aber steht nicht vielleicht doch die Wirklichkeit der neuen, technischen Bilder quer zu den alten Ikonografien? Die Entdeckung der Röntgenstrahlen ist eine der Sternstunden moderner Physik, der denn auch 1901 der erste in dieser Wissenschaft verliehene Nobelpreis zuerkannt worden ist. Sie datiert auf den 22. Dezember 1895, als es Wilhelm Conrad Röntgen in Würzburg gelang, einen festen Körper mit unsichtbarer Strahlung zu durchdringen und die projizierten Schattenbilder der unterschiedlich dichten Materie als „eine Art kameraloser Fotografie“ [1] auf einer Platte zu fixieren. Die beringte Hand seiner Frau Bertha ging als Ikone in die Bildgeschichte ein [2]. „Der Zufall will es, daß im selben Jahr weitere bedeutende Ereignisse zu verzeichnen sind, die die Epoche der beginnenden Moderne prägten: die erste Vorführung eines Films durch die Gebrüder Lumière, die Entdeckung der Wunscherfüllung im Traum durch Sigmund Freud, die Sichtbarmachung der Bahnen subatomarer Teilchen durch Wilson und die erste drahtlose Telegrafie durch Marconi. Im wesentlichen ist dies erstmals ein massiver Vorstoß ins Unsichtbare, in eine Welt der Abbildungen und Projektionen bis hin zur Fiktion, ein Aspekt der Wirklichkeit, der uns bis heute begleitet.“ [3] In Medizin, Astronomie, Molekularanalyse, in Archäologie oder Kunsttechnologie hat die Entdeckung der Röntgenstrahlen und die Möglichkeit ihrer fotografischen Darstellung die Erkenntnisse über die Materialität der Welt entscheidend erweitern helfen und zu den modernen Theorien ihrer Genese beigetragen – und sie hat ihre Spuren auch in der Kunst hinterlassen. 2 Der Erfolg der neuen Bilder des Unsichtbaren war spektakulär, und es ist weit über Dresdner Verhältnisse hinaus signifikant, daß sich auch im „Historischen Lehrmuseum für Photographie“, Hermann Krones museal-didaktischem Entwurf einer Geschichte des Mediums, eine Tafel zur Röntgenfotografie findet. Sie feiert, wie dies Tafelwerk insgesamt, aus zeitgenössischer Perspektive den Fortschritt der Erkenntnis des eben erst vergehenden 19. Jahrhunderts [4]. Ihr Titel „Graphische Darstellung durch Röntgenstrahlen“ bezeichnet das Bewußtsein eines Sonderfalls des Fotografischen. Ästhetisch weisen die in diese Sammlung aufgenommenen Röntgenaufnahmen auf die nachgeborene Verwandtschaft zu den Fotogrammen der 1920er Jahre, in denen ebenfalls nicht Objektoberflächen, sondern Formen und Dichten von Gegenständen kameralos abgebildet werden. Dezidiert mit Röntgenaufnahmen im Kunstkontext allerdings haben sich wohl erst Performance-Künstler und Konzeptionisten der 1970er und 80er Jahre befaßt, wenn sie ihre eigenen Krankengeschichten in Installationen einbauten wie etwa Anna Oppermann oder Anthony Z. Romano [5], als Jürgen Klauke in Ganzfigur als durchleuchteter Fotograf in durchaus ironischer Geste posierte [6], oder wo sich Röntgenbilder im Werk von Sigmar Polke und anderen finden [7]. Bei solchen außermedizinischen Veröffentlichungen ist seit über 100 Jahren das breite Spektrum zwischen der Einbettung des menschlichen Körpers in das naturwissenschaftliche Paradigma experimentell nachvollziehbarer Objektivität einerseits und dem Drang zum Geheimnisvollen, Unaufklärbaren, Undurchsichtig-Okkulten – und dies als durchaus sich wechselseitig durchdringend – gemeint. Die Entdeckungen belebten alte Hoffnungen, schienen ihnen Verwirklichung in der neuen Welt der exakten Wissenschaften zu versprechen: Die Freisetzung der Selbstaufzeichnung der Kräfte der Natur in der Fotografie findet ihre Parallelen in Vorstellungen von der Durchdringung des Unsichtbaren bis hin zur Selbstaufzeichnung der Geistestätigkeit, die ihre Legitimation in der Entdeckung der natürlichen Strahlung unserer Welt fanden [8]. Verwandlungen überall, alles ist Strahlung und Welle und Energie – und die durchleuchteten Körper werden in ähnlichen Kategorien begriffen wie die zum Sprechen über ihre Seele gebrachten Patienten des Analytikers Freud: „Nun spricht Röntgen jedoch nicht von Durchsichts-, sondern von Schattenbildern. (...) Denn die Schatten zeigen, daß es um das Phänomen der Dichte geht: Die Dinge werden nicht, wie in der herkömmlichen Fotografie, als http://archive.torseidel.de Powered by Joomla! Generated: 15 January, 2017, 23:07 torseidel 3 perspektivische Oberflächenerscheinungen fixiert. (...) Wollte man den Vorgang anthropomorphisieren, so wäre eher der Tastsinn als der Sehsinn aufzurufen.(...) Unter dem Gesichtspunkt der Strahlungsqualität transformiert die Röntgenfotografie Fühlbares in Visualität. (...) Das Traumbild (bei Freud, W.H.) ist für diesen Prozeß – Bewegung, Durchgang, Anhäufung, Besetzung – paradigmatisch: Auch wenn der Traum sich als reine Visualität zu geben scheint, seine verteilten Intensitäten zeigen, daß er über unterschiedliche Verdichtungen verfügt. (...) Auch der Traum ist also ein Dichte-Bild. (...) Es zeigen sich am Ende des 19. Jahrhunderts Ströme und Wellen, die die Nacht, die Dunkelheit, die Opazität durchdringen. Traumtheorie, Kino, Röntgentechnik – ihr Gemeinsames haben sie darin, daß Apparate den Raum mit Energie anfüllen, die Bildeffekte zu erzeugen vermögen. Man entdeckt, konstruiert, benutzt Energien, die die Dinglichkeit auflösen. Ab dem Jahre 1895 wird sichtbar, daß die Extensivität von der Intensität abgelöst wird.“ [9] So verbinden sich auf verschiedenen Ebenen unsere lang angelagerten, in die Betrachtung mitgebrachten Bilder mit den vorgefundenen, physisch greifbaren dieser Ausstellung und der sie hinterfangenden, verborgen bleibenden Sammlung. Einerseits sind sie fotorealistische Dokumentationen Lebender, die, wenn man sie mit dem kenntnisreichen Blick von Medizinern sieht, verstopfte Nebenhöhlen oder andere Krankheiten preisgeben, somit uns Heutigen eher trivial und als Teil der Alltagskultur entgegentreten, wenn auch der abgegrenzten der medizinischen Versorgung. Für die nur visuell und ikonografisch geleiteten Betrachter andererseits jedoch geschieht Verwirrendes, es überlagern sich die Ebenen, in denen unsere perspektivisches Verstehen gewohnten Augen nach eindeutiger räumlicher Trennung von vorn und hinten suchen – und doch nur ein Übereinander sich durchdringender Dichtezonen finden. Dabei sind die Gesichtszüge eingegangen in die Darstellung der Schädel- und Gesichtspartien, visuell ununterscheidbar fallweise von vorn oder von hinten aufgenommen (hierauf weisen den Kundigen kyrillische Buchstaben auf manchen der Filme hin). Die ortlosen Ansichten bilden sich aus wolkigen Flächen, verstärkt durch das Eigenleben der von Mikroben veränderten Gelatineschichten [10] – so verliert sich im fotografischen Bild ganz gegen unsere Erwartungen die Physiognomie der Personen. Ihr Aussehen bleibt unserer Wahrnehmung entzogen und unserer Vorstellung überlassen, als wären sie in medizinischer Weltsicht objektiviert worden zu Menschen an sich, wie Durchschnittsbilder, zu anthropologischen Konstanten [11]. 4 Kulturhistorisch verknüpft, verbinden sich diese Strahlungsschatten mit dem Wissen um die Strahlungen des Universums, vom unvorstellbar Großen wie vom unvorstellbar Kleinen, in kosmologischen Dimensionen moderner Weltbilder: Die von Torsten Seidel moderat bearbeiteten und dann ins Riesige vergrößerten Röntgenbilder von anonymisierten Soldaten der Roten Armee erscheinen vor solchem Hintergrund allein schon in der bedeutungsvoll aufgeladenen Technizität des Abbildungsverfahrens als Allegorien der Moderne. Schließlich, aus den intendierten Nutzanwendungen und naturwissenschaftlicher Theorie emanzipiert, finden sich die Aufnahmen in der Kunstgeschichte ein. Hier zählt die Auswahl einer vergleichsweise geringen Zahl von Aufnahmen aus dem Gesamtbestand des Hellerauer Röntgenfundes, nach subjektiven Kriterien des Künstlers, hier zählt ihre Bearbeitung hin zum Bild, zählt das Auslöschen der nur noch in Spuren ahnbaren Namensschildchen, zählt der Medienwechsel von den fotografischen Filmen zum elektrisch-körperlosen Datensatz und dessen leicht beeinflußbarem Ausdruck. Derart in neue Zusammenhänge (de)kontextualisiert, aktiviert die Arbeit „Portraits of this mortal coil“ unsere bewußten oder unbewußten InnenBilder. Sie gemahnen ikonografisch etwa an Edvard Munchs „Der Schrei“. Oder sie schlagen von ihrem Format und im Wissen einer fiktiven Detailgenauigkeit Brücken zum malerischen Fotorealismus der 70er Jahre oder den überlebensgroßen fotografischen Porträts etwa von Thomas Ruff, v.a. aber lenken Bearbeitung und Formate den Bildbestand zum Porträt als Gattung und unseren hiermit verbundenen, individualisierenden Lesarten. Wenn auch nach wie vor als gewissermaßen innere Physiognomien eine herkömmliche Darstellung und Beurteilung der Oberflächen nach Ähnlichkeit oder Ausdruck verweigern, verbinden sich doch die verfahrensbedingten Haltungen und Abbildungsverhältnisse, die hellen und dunklen Flächen, die scharf gestellten Ebenen und verschwimmend abgebildeten Partien zu Chiffren, zu Mimiken und Gesten existentieller Not, schreiend und gequält, als goyasche Phantasmen oder solche von Francis Bacon evozierend. Es erscheint die dunkle Seite der Aufklärung und ihrer Lichtmetaphorik. In solcher Ambivalenz von ästhetischer Deformation des Körpers im Bild, objektiver Aufzeichnung für pragmatische Zwecke, von dokumentierendem Abbild und assoziativ aufgeladenem Bedeutungsbild kehren die abgezogenen sowjetischen Soldaten wieder nach Hellerau zurück – diesmal öffentlich, nicht mehr vom Leben der DDR-Bürger bewußt ferngehalten wie einst, doch auch als Relikte des Kalten Kriegs, dem sie ebenso zugehören http://archive.torseidel.de Powered by Joomla! Generated: 15 January, 2017, 23:07 torseidel wie seinem Nachleben. In der Installation des rohen Raums und mit Leuchtbahnen dramatisch 5 erhöht, als Revenants in bildhaften Abstraktionen erfahren sie eine schattenhafte, doch gerade hierin umso intensivere Rückkehr ins Festspielhaus. Dessen Halle erscheint einmal mehr als Tempel untergegangener Riten, in dem allerlei Geister umgehen – erlöste wie unerlöste [12]. 6 Anmerkungen * Der vorliegende Text ist die erweiterte Fassung der Rede, die der Verfasser zur Eröffnung der Ausstellung „Portrait of this mortal coil“ von Torsten Seidel, kuratiert von Friederike Meyer, am 8. November 2003 im Festspielhaus Hellerau gehalten hat. Der Gestus der Ansprache wurde in Grundzügen belassen. [1] Gottfried Jäger: Bildgebende Fotografie, Köln 1988, S. 203 [2] Abb. In Michel Frizot: Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 280 [3] Technisches Museum Wien: 100 Jahre Röntgen. Grundlagen und Anwendungen, Wien 1996, S. 1. [4] vgl. Wolfgang Hesse (Hg.): Hermann Krone. Historisches Lehrmuseum für Photographie. Experiment. Kunst. Massenmedium, Dresden 1998, Tafel 137 „1896. Graphische Darstellung durch Röntgenstrahlen“; vgl. auch: Andreas Krase (unter Mitwirkung von Wolfgang Hesse): „Timeline of photography“, www.iapp.de/krone/timeline/index.htm. Krone setzte sich in seinen eigenen Veröffentlichungen auch mit anderen unsichtbaren Strahlungen, dem „dunklen Licht“, auseinander, wie etwa der zwei Jahre später vom Ehepaar Curie entdeckten Radioaktivität. [5] Jäger a.a.O. [6] Kunsthalle Krems: Supplement zu: Im Reich der Phantome, Krems 1998, S. 15. [7] vgl. Andreas Fischer (Hg.): Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Stuttgart 1997 (Dank für den Hinweis an Rolf Sachsse, Bonn/Krefeld). Einen Überblick über die Theorien und Praxen der Fotografie okkulter Phänomene vermitteln auch Daniel Tyradellis: Der Kosmos. Die neue Wahrnehmung des Menschen, in: Nicola Lepp, Martin Roth, Klaus Vogel (Hg.): Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1999, S. 174-203 sowie Michel Frizot: Das absolute Auge. Die Formen des Unsichtbaren, in: Ders. (Hg.): a.a.O., S. 273-291; für die Integration von Röntgenaufnahmen historischer Kunstwerke in Konzepte zeitgenössischer Kunst beispielhaft Goyas „Die Alten“ bei: Sigmar Polke. Photoworks. When pictures vanish, Zürich, Berlin, New York 1995, No. 105; zur Röntgenfotografie im musealen Gebrauch vgl. Joseph Riederer: Röntgenfotografie. Im Dienst der kunst- und kulturgeschichtlichen Forschung, in: Rundbrief Fotografie N.F. 14, S. 31-36. [8] Hierzu insbesondere Clément Chéroux: Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen. Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Andreas Fischer a.a.O., S. 11-22. [9] Gunnar Schmidt: 1895: Freud | Röntgen. Mit einem Nachtrag zu Hermann Krone, in: Wolfgang Hesse, Timm Starl (Hg.): Der Photopionier Hermann Krone. Photographie und Apparatur. Bildkultur und Phototechnik im 19. Jahrhundert, Marburg 1998, S. 167-176, hier S. 173. [10] vgl. zum Zelluloid als Bildträger und über Gelatineemulsionen als Fraß-Materialien von Mikroben in künstlerischen Arbeiten: Petra Lange-Berndt: Zelluloid, in: Monika Wagner u.a. (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002, S. 243-247. [11] vgl. Michel Frizot: Der Körper als beweisstück. Eine Ethnografie der Unterschiede, in: Ders. (Hg.) a.a.O., S. 259-271, bes. Francis Galton: Zusammengesetzte Porträts mittels überlagerter Aufnahmnen, Versuch eines allgemeingültigen Kriminellen-Porträts, 1883, S. 266. [12] vgl. hierzu auch die Überlegungen zu (Schlemihlschen) Schatten und Fotografie als Museum/Mausoleum bei: Hubertus von Amelunxen: Hermann Krones Lehrtafeln zur Geschichte ..., in: Wolfgang Hesse (Hg.): Hermann Krone (wie Anm. 2, S. 17-20), der auch das bekannte Marxsche Diktum aus „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ in Bezug auf Fotografie reflektiert, „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“. Wolfgang Hesse, Dresden, zu Torsten Seidels „Portraits of this mortal coil“ im Festspielhaus Hellerau erschienen in photo.dresden.de, Rundbrief Photographie http://archive.torseidel.de Powered by Joomla! Generated: 15 January, 2017, 23:07