Medienrohstoff Gerichtsurteil 24-h
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Medienrohstoff Gerichtsurteil 24-h
VPOD Zentralsekretariat Beat Ringger Birmensdorferstr.67 Postfach 8279 8036 Zürich [email protected] +41 (0)44 266 52 24 www.vpod.ch Die Gesundheitsgewerkschaft Medienrohstoff Wegweisendes Gerichtsurteil Erfolgreiche Klage einer polnischen 24-Stunden-Betreuerin Agata J. ist die erste 24-Stunden-Betreuerin, die vor Gericht ging zur Klärung der Frage, wie ihre Arbeit rund um die Uhr zu entschädigen ist. Das Netzwerk Respekt@vpod hat sie dabei unterstützt. Das Urteil des basel-städtischen Zivilgerichts liegt nun vor und ist ein voller Erfolg für Agata und ihre Kolleginnen. Es stellt insbesondere klar, dass auch die Rufbereitschaft rund um die Uhr entschädigt werden muss – im Fall von Agata mit dem halben Stundenlohn. Das Urteil ist definitiv rechtskräftig. Respekt@vpod wurde im Juni 2013 gegründet zur Vernetzung der Care-Migrantinnen, um ihnen eine Stimme zu geben und um sie zu unterstützen in ihrer Auseinandersetzung um rechtmässige Arbeitsbedingungen. Rund 50 Care-MigrantInnen sind mittlerweilen Mitglied von Respekt@vpod. Die gewinnorientierten Spitexfirmen kassieren für eine 24-Stunden-Betreuung zwischen 8000 und 14‘000 Franken. Die Betreuerinnen aus Polen, Rumänien, der Slovakei etc. erhalten davon einen Lohn zwischen 1200 und 4000 Franken. Bezahlt werden in der Regel 42 Stunden in der Woche , obschon die Frauen an sieben Tagen rund um die Uhr für die betreute Person die Verantwortung tragenund überwiegend im Haushalt anwesend sein müssen. Die Klage von Agata J. richtete sich gegen eine Personalverleihfirma. Die beklagte Firma bestritt vor Gericht, dass es sich um eine 24-Stunden-Betreuung gehandelt habe. Als „Beweis“ legte die Firma Arbeitsrapporte vor, in denen lediglich 42 Stunden vermerkt worden waren. Doch es erwies sich, dass Agata J. gegen ihren Willen genötigt worden war, solch unvollständige Rapporte auszufüllen – ein überaus stossendes Vorgehen, das leider auch von vielen andern Firmen angewandt wird. Als erstes musste das Gericht also klären, ob es sich tatsächlich um eine Betreuung rund um die Uhr und an sieben Tagen in der Woche gehandelt hatte. Mehrere Zeuginnen und Zeugen aus dem Umfeld des betreuten Klienten (u.a. dessen Arzt) bestätigten, dass dieser auch nachts sowie an den Wochenenden auf Pflege und Betreuung angewiesen war, und dass Agata in der Wohnung des Klienten wohnen musste und nur einmal in der Woche für gerade mal vier Stunden abgelöst wurde. Für das Gericht war damit erwiesen, dass es sich um eine 24-Stunden-Betreuung handelte, und dass die beklagte Firma davon Kenntnis gehabt haben musste. Weiter stellte sich dem Gericht die Frage, wie viele Stunden Agata täglich gearbeitet hatte. Agata hatte in einer Liste die verschiedenen Tätigkeiten und die dafür aufgewendete Zeit aufgezeichnet. Die Liste wurde vom Personalverleiher nicht in Frage gestellt. Anhand dieser Liste ergab sich eine tägliche Arbeitszeit von 9 Stunden, die teilweise auch nachts erbracht wurde. Während der übrigen Stunden stand Agata jederzeit für Arbeitseinsätze zur Verfügung. Die rechtlich massgebende Frage lautet, ob das Arbeitsgesetz im vorliegenden Fall anzuwenden ist VPOD Schweizerischer Verband des Personals öffentlicher Dienste SSP Syndicat suisse des services publics SSP Sindacato svizzero dei servizi pubblici SSP Sindicat svizzer dals servetsch publics Seite 2 von 2 oder nicht. Das Arbeitsgesetz ArG regelt die minimalen Schutzbestimmungen für Arbeitnehmende. Das Gericht bejahte die ArG-Unterstellung aus mehreren Gründen. Der Personalverleiher verfolgte ein kommerzielles Interesse. Er hatte den Arbeitsvertrag von einer privaten Spitexfirma übernommen, deren Unterstelllung unter das ArG unbestritten war. Im Weiteren verwies auch der Rahmenarbeitsvertrag des Personalverleihers auf das Arbeitsgesetz für alles, was im Vertrag nicht explizit geregelt war. Damit war klar, dass der Personalverleiher als Betrieb dem ArG unterstellt ist. Überdies bestätigte das Gericht zusätzlich die Unterstellung des konkreten Arbeitsverhältnisses unter das ArG, weil es sich . um eine Tätigkeit in fremder Arbeitsorganisation und damit in persönlicher Unterordnung gehandelt habe. Laut Arbeitsgesetz – und das ist im vorliegenden Fall entscheidend – gilt die gesamte Zeit, in der sich dich eine abhängig beschäftigte Person zugunsten ihres Arbeitgebers zur Verfügung halten muss als Arbeitszeit. Dies bedeutet, dass Agata J. für 140 Stunden pro Woche entlöhnt werden muss. Allerdings sagt das Arbeitsgesetz nicht, in welcher Höhe die Rufbereitschaft zu entschädigen ist. Das Bundesgericht argumentiert in einem diesbezüglichen Entscheid, der Lohn sei abhängig vom Interesse des Arbeitgebers an der Rufbereitschaft und davon, in welchem Ausmass die Angestellten die Zeit für eigene Tätigkeiten nutzen können. Im Falle von Agata’s Rufbereitschaft ging das Gericht davon aus, dass das Interesse des betreuten, stark hilfsbedürftigen Klienten an der Rufbereitschaft als hoch einzustufen sei. Da Agata möglichst rasch Hilfe leisten musste, ging das Gericht von einer starken persönlichen Einschränkung aus. Nicht nur das soziale Leben von Agata sei eingeschränkt gewesen, sondern sie habe permanent unter Druck gestanden, weil sie nachts jederzeit mit einem Abruf rechnen musste. Die Qualität der Zeit, die Agata für persönliche Angelegenheiten nutzen konnte, stufte das Gericht als gering ein. Da die Abrufe andererseits nicht sehr häufig und die einzelnen Einsätze eher kurz waren und Agata den Bereitschaftsdienst immerhin in einem eigenen Zimmer leisten konnte, hielt das Gericht eine Entschädigung mit dem halben Stundenlohn für angemessen. Die Anwendung des Arbeitsgesetzes bedeutet zudem, dass Zuschläge für die Überstunden, für die Nacht- und Sonntagsarbeit bezahlt werden müssen und dass die Höchstarbeitszeit und die Ruhezeiten eingehalten werden müssen. Die arbeitszeitlichen Verletzungen des Arbeitgesetzes werden jedoch nicht zivilgerichtlich verfolgt, sondern müssen von den kantonalen Arbeitsämtern konstatiert und sanktioniert werden. Zusätzlich zum Arbeitsgesetz gilt in diesem Fall auch der Gesamtarbeitsvertrag Personalverleih. Er ist massgebend für den Stundenlohn und die Berechnung der Überstunden. Das Basler Zivilgericht hat für Agata eine Lohnnachzahlung von rund 17‘000 Franken zugesprochen für drei Monate Arbeit. Das Urteil wirft eine Reihe von weiteren Fragen auf, die der VPOD zusammen mit den betroffenen Care-MigrantiInnen, den Behörden und verhandlungsbereiten Arbeitgebern nun angehen wird. So beschränkt das Arbeitsgesetz die zulässige wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 50 Stunden in der Woche. 24h-Betreuungsdienste dürfen demnach nicht von einer einzigen Person erbracht werden. Das Urteil ist in grosser Erfolg für alle Care-Migrantinnen und -Migranten, die über eine Firma in Privathaushalten arbeiten. Respekt@vpod bereitet derzeit eine Klagewelle vor. Sechs weitere Klagen sollen demnächst eingereicht werden. Zudem bietet Respekt@vpod weiteren Betroffenen Unterstützung an. 13.3.15 BR