Medienrohstoff Gerichtsurteil 24-h

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Medienrohstoff Gerichtsurteil 24-h
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Die Gesundheitsgewerkschaft
Medienrohstoff
Wegweisendes Gerichtsurteil
Erfolgreiche Klage einer polnischen 24-Stunden-Betreuerin
Agata J. ist die erste 24-Stunden-Betreuerin, die vor Gericht ging zur Klärung der Frage, wie ihre
Arbeit rund um die Uhr zu entschädigen ist. Das Netzwerk Respekt@vpod hat sie dabei
unterstützt. Das Urteil des basel-städtischen Zivilgerichts liegt nun vor und ist ein voller Erfolg für
Agata und ihre Kolleginnen. Es stellt insbesondere klar, dass auch die Rufbereitschaft rund um die
Uhr entschädigt werden muss – im Fall von Agata mit dem halben Stundenlohn. Das Urteil ist
definitiv rechtskräftig.
Respekt@vpod wurde im Juni 2013 gegründet zur Vernetzung der Care-Migrantinnen, um ihnen
eine Stimme zu geben und um sie zu unterstützen in ihrer Auseinandersetzung um rechtmässige
Arbeitsbedingungen. Rund 50 Care-MigrantInnen sind mittlerweilen Mitglied von Respekt@vpod.
Die gewinnorientierten Spitexfirmen kassieren für eine 24-Stunden-Betreuung zwischen 8000 und
14‘000 Franken. Die Betreuerinnen aus Polen, Rumänien, der Slovakei etc. erhalten davon einen
Lohn zwischen 1200 und 4000 Franken. Bezahlt werden in der Regel 42 Stunden in der Woche ,
obschon die Frauen an sieben Tagen rund um die Uhr für die betreute Person die Verantwortung
tragenund überwiegend im Haushalt anwesend sein müssen.
Die Klage von Agata J. richtete sich gegen eine Personalverleihfirma. Die beklagte Firma bestritt
vor Gericht, dass es sich um eine 24-Stunden-Betreuung gehandelt habe. Als „Beweis“ legte die
Firma Arbeitsrapporte vor, in denen lediglich 42 Stunden vermerkt worden waren. Doch es erwies
sich, dass Agata J. gegen ihren Willen genötigt worden war, solch unvollständige Rapporte
auszufüllen – ein überaus stossendes Vorgehen, das leider auch von vielen andern Firmen
angewandt wird. Als erstes musste das Gericht also klären, ob es sich tatsächlich um eine
Betreuung rund um die Uhr und an sieben Tagen in der Woche gehandelt hatte. Mehrere
Zeuginnen und Zeugen aus dem Umfeld des betreuten Klienten (u.a. dessen Arzt) bestätigten,
dass dieser auch nachts sowie an den Wochenenden auf Pflege und Betreuung angewiesen war,
und dass Agata in der Wohnung des Klienten wohnen musste und nur einmal in der Woche für
gerade mal vier Stunden abgelöst wurde. Für das Gericht war damit erwiesen, dass es sich um eine
24-Stunden-Betreuung handelte, und dass die beklagte Firma davon Kenntnis gehabt haben
musste. Weiter stellte sich dem Gericht die Frage, wie viele Stunden Agata täglich gearbeitet hatte.
Agata hatte in einer Liste die verschiedenen Tätigkeiten und die dafür aufgewendete Zeit
aufgezeichnet. Die Liste wurde vom Personalverleiher nicht in Frage gestellt. Anhand dieser Liste
ergab sich eine tägliche Arbeitszeit von 9 Stunden, die teilweise auch nachts erbracht wurde.
Während der übrigen Stunden stand Agata jederzeit für Arbeitseinsätze zur Verfügung. Die
rechtlich massgebende Frage lautet, ob das Arbeitsgesetz im vorliegenden Fall anzuwenden ist
VPOD
Schweizerischer Verband des
Personals öffentlicher Dienste
SSP
Syndicat suisse des
services publics
SSP
Sindacato svizzero dei
servizi pubblici
SSP
Sindicat svizzer dals
servetsch publics
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oder nicht. Das Arbeitsgesetz ArG regelt die minimalen Schutzbestimmungen für Arbeitnehmende.
Das Gericht bejahte die ArG-Unterstellung aus mehreren Gründen. Der Personalverleiher verfolgte
ein kommerzielles Interesse. Er hatte den Arbeitsvertrag von einer privaten Spitexfirma
übernommen, deren Unterstelllung unter das ArG unbestritten war. Im Weiteren verwies auch der
Rahmenarbeitsvertrag des Personalverleihers auf das Arbeitsgesetz für alles, was im Vertrag nicht
explizit geregelt war. Damit war klar, dass der Personalverleiher als Betrieb dem ArG unterstellt ist.
Überdies bestätigte das Gericht zusätzlich die Unterstellung des konkreten Arbeitsverhältnisses
unter das ArG, weil es sich . um eine Tätigkeit in fremder Arbeitsorganisation und damit in
persönlicher Unterordnung gehandelt habe.
Laut Arbeitsgesetz – und das ist im vorliegenden Fall entscheidend – gilt die gesamte Zeit, in der
sich dich eine abhängig beschäftigte Person zugunsten ihres Arbeitgebers zur Verfügung halten
muss als Arbeitszeit. Dies bedeutet, dass Agata J. für 140 Stunden pro Woche entlöhnt werden
muss.
Allerdings sagt das Arbeitsgesetz nicht, in welcher Höhe die Rufbereitschaft zu entschädigen ist.
Das Bundesgericht argumentiert in einem diesbezüglichen Entscheid, der Lohn sei abhängig vom
Interesse des Arbeitgebers an der Rufbereitschaft und davon, in welchem Ausmass die Angestellten
die Zeit für eigene Tätigkeiten nutzen können. Im Falle von Agata’s Rufbereitschaft ging das
Gericht davon aus, dass das Interesse des betreuten, stark hilfsbedürftigen Klienten an der
Rufbereitschaft als hoch einzustufen sei. Da Agata möglichst rasch Hilfe leisten musste, ging das
Gericht von einer starken persönlichen Einschränkung aus. Nicht nur das soziale Leben von Agata
sei eingeschränkt gewesen, sondern sie habe permanent unter Druck gestanden, weil sie nachts
jederzeit mit einem Abruf rechnen musste. Die Qualität der Zeit, die Agata für persönliche
Angelegenheiten nutzen konnte, stufte das Gericht als gering ein. Da die Abrufe andererseits nicht
sehr häufig und die einzelnen Einsätze eher kurz waren und Agata den Bereitschaftsdienst
immerhin in einem eigenen Zimmer leisten konnte, hielt das Gericht eine Entschädigung mit dem
halben Stundenlohn für angemessen.
Die Anwendung des Arbeitsgesetzes bedeutet zudem, dass Zuschläge für die Überstunden, für die
Nacht- und Sonntagsarbeit bezahlt werden müssen und dass die Höchstarbeitszeit und die
Ruhezeiten eingehalten werden müssen. Die arbeitszeitlichen Verletzungen des Arbeitgesetzes
werden jedoch nicht zivilgerichtlich verfolgt, sondern müssen von den kantonalen Arbeitsämtern
konstatiert und sanktioniert werden.
Zusätzlich zum Arbeitsgesetz gilt in diesem Fall auch der Gesamtarbeitsvertrag Personalverleih. Er
ist massgebend für den Stundenlohn und die Berechnung der Überstunden. Das Basler Zivilgericht
hat für Agata eine Lohnnachzahlung von rund 17‘000 Franken zugesprochen für drei Monate
Arbeit.
Das Urteil wirft eine Reihe von weiteren Fragen auf, die der VPOD zusammen mit den betroffenen
Care-MigrantiInnen, den Behörden und verhandlungsbereiten Arbeitgebern nun angehen wird. So
beschränkt das Arbeitsgesetz die zulässige wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 50 Stunden in der
Woche. 24h-Betreuungsdienste dürfen demnach nicht von einer einzigen Person erbracht werden.
Das Urteil ist in grosser Erfolg für alle Care-Migrantinnen und -Migranten, die über eine Firma in
Privathaushalten arbeiten. Respekt@vpod bereitet derzeit eine Klagewelle vor. Sechs weitere Klagen
sollen demnächst eingereicht werden. Zudem bietet Respekt@vpod weiteren Betroffenen
Unterstützung an.
13.3.15 BR