Aura und Allegorie

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Aura und Allegorie
Aura und Allegorie
(6) Walter Benjamins
Bildtheorie
Professur Entwerfen und Architekturtheorie
Vertr.-Prof.Dr.-Ing. M.S. Jörg H. Gleiter
12. Dezember 2006 15:15 - 16:45
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Themen
A. Walter Benjamin: Aura
B. Walter Benjamin: Allegorie
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Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd. 1.2, Frankfurt/M. 1991
Sven Kramer, Benjamin und Adorno über Kunst in der
Massenkultur, in: Massenkultur. Kritische Theorien im
interkulturellen Vergleich, hrsg. v. Rodrigo Duarte, Oliver
Fahle, Gerhard Schweppenhäuser, Münster 2003, S. 21-41.
Sven Kramer, Walter Benjamin zur Einführung, Hamburg
2003
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A. Aura:
1. Definition der Aura (Aura natürlicher Gegenstände)
“An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder
einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt
die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.”
a.
Distanz. “Ornamentalen Umzirkung” … “einmalige Erscheinung einer Ferne,
so nah sie sein mag”.
b.
Echtheit und Einmaligkeit. Das “Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein
einmaliges Dasein an dem Orte”. “Die Aura ist an das Hier und jetzt
gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr.”
c.
Geschichtliche Zeugenschaft der Sache. “Eingebettetsein in den
Zusammenhang der Tradition”.
d.
“Die ursprüngliche Art der Einbettung des Kunstwerks in den
Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult.” … Traditionswert
bezieht sich unmittelbar auf den Kult, weil die ältesten Kunstwerke im “Dienst
eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen.
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2. Verfall der Aura heute (Moderne)
a.
durch die neuen Technologie werden die Dinge “näher gebracht“
b.
durch die Reproduktionstechniken verlieren sie ihre Einmaligkeit. Die
Dinge zeichnen sich durch Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit aus.
c.
Ablösung aus der Tradition. “Die Reproduktionstechnik … löst das
Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab.“
5
3. Mögliche Rettung oder letzte Manifestationen der Aura
a.
Rettung der Aura im 19. Jahrhundert und der beginnenden
Massenproduktion: Etui, Futterale, Schonbezüge, Überzüge
etc.
b.
Daguerrotypie: erste Fotographie (Metallplatten), nur
Einzelabzüge möglich.
c.
“In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den
Kultwert auf der ganzen Lnie zurückzudrängen.”
Menschenantlitz als letzte Domaine des Kultwerts.
d.
Das Schrumpfen der Aura des Film und des Schauspielers
wird kompensiert mit dem Starkult um den Schauspieler.
Künstlichen Aufbau der “personality” außerhalb des Alteliers.
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B. Die technischen Reproduktionsverfahren
1. Die Liquidierung des Traditionswertes
a. Emanzipation: Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks
emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von
seinem parasitären Dasein am Ritual.
b. Wandel des Kunstwerks vom Rückbezug auf das Ritual hin zur
Ausrichtung auf Reproduktion: “Das reproduzierte Kunstwerk
wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf
Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks.”
c. Nach dem die Maßstäbe der Echtheit versagen, ergibt sich eine neue
soziale Funktion der Kunst: “An Stelle ihrer Fundierung aufs
Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: auf Politik”.
d. Der Ausstellungswert verdrängt den Kultwert: „Indem das Zeitalter
ihrer technischen Reproduzierbarkeit die Kunst von ihrem
kultischen Fundament löste, erlosch auf immer der Schein ihrer
Autonomie.”
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2. Veränderungen von Produktion und Rezeption
a.
Veränderung der Produktion des Kunstwerks (maschinenvermittelt,
Filmmontage, aber auch in der Kunst: Dadaismus).
Montagecharakter, Ende des »schönen Scheins«
b.
Veränderung der Rezeption des Kunstwerks. Jeder heutige
Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden (russ.
Revolutionsfilm). Der Betrachter ist halb Fachmann.
c.
Unterschied zwischen Autor und Produzent löst sich tendenziell
auf. Der verliert seinen grundsätzlichen Charakter.
d.
Das Verhältnis der Masse zur Kunst verändert sich:
-
Rückgang der trad. gesellschaftlichen Bedeutung der
Kunst (Repräs.)
-
kritische und genießende Haltung des Publikums fallen
immer mehr zusammen
-
- Simultane Kollektivrezeption: massive Reaktionen: nicht
mehr individuell
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3. Veränderungen des Kunstwerks
a.
Es gibt nicht mehr einen einzigen Standpunkt: durch die
Montagetechnik. Multiperspektivismus.
b.
Der Apparat dringt in die Tiefe. Er gibt alle Distanz auf.
Intensivere Durchdringung der Wirklichkeit - im Gegensatz zur
apparatefreien Wirklichkeit der älteren Kunstwerke. Freilegung
der geheimen, bisher noch völlig neuen, verborgenen
Strukturen.
c.
Höhere Isolierbarkeit der Szenen (Montage) resultiert in
größere Analysierbarkeit. Betonung von Details:
Großaufnahme, Dynamit der Zehntelsekunde
d.
Psychol. Komponente: “an die Stelle eines vom Menschen
mit Bewußtsein durchwirkten Raums [tritt] ein unbewußt
durchwirkter” Raum: “vom Optisch-Unbewußten erfahren wir
erst durch sie [die Kamera], wie von dem TriebhaftUnbewußten durch die Psychoanalyse.”
Die Verdrängung des Kultwertes ist nicht ersatzlos. Sie resultiert in
der psychologischen Vertiefung des wirkungsästhetischen
Aspektes der Kunst. Das Ritual und der Kult wird ersetzt durch das
Optisch-Unbewußte, das eng verbunden ist mit dem Triebhaft9
Unbewußten.
C. Politische Relevanz/emanzipierende Potential
1. Politische Utopie
a. “Rücksichtslose Vernichtung der Aura, denen sie mit den Mitteln der
Produktion das Brandmal einer Reproduktion aufdrückt.”
b. In der Reproduzierbarkeit: Öffnung der Kunst für die Massen. Die Kunst
wird nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt.
– Schock und taktile Qualität des Kunstwerks. “tiefgreifende
Veränderungen der Apperzeption” (Dadaismus, dann Film: Montage,
Schnitte, Wechsel der Orte und Szenen für neue
Wahrnehmungszusammenhänge.)
– Massenweise Rezeption. “Die Masse ist eine Matrix”
– Übergang von der Kontemplation zur beiläufigen, zerstreuten
Rezeption. “Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege
der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit” … eben nicht
Intellektuell, analysierend, sondern taktil.
c. In der Reaktion der Kunst auf die Technik entwickelt der Mensch
ein neues Verhältnis zur Technik. In der Kunst eignet sich der
Mensch die Technik quasi kulturell an.
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Themen
A. Walter Benjamin: Aura
B. Walter Benjamin: Allegorie
Gianlorenzo Bernini, Vierströmebrunnen
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A. Walter Benjamins Allegorietechnik
1. Der Allegoriker reißt ein Element aus der Totalität des
Lebenszusammenhangs heraus, isoliert es, beraubt es
so seiner Funktion. Die Allegorie ist wesenhaft
Bruchstück.
2. Der Allegoriker fügt die so isolierten
Realitätsfragmente zusammen und stiftet dadurch Sinn.
3. An Bedeutung kommt der Allegorie das zu, was der
Allegoriker in sie hineinlegt.
4. Die Allegorie stellt Geschichte als Verfall dar, „in der
Allegorie [liegt] die facies hippocratica [das Totengesicht]
der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter
vor Augen“
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Kurt Schwitters, Kots
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B. Die zwei ästhetischen Ebenen des Kunstwerks
a. Produktionsästhetik
- materialästhetische Seite (Herausbrechen der
Fragmente) und
- Werkkonstitution (Zusammenfügen der Materialien,
Sinnsetzung)
b. Rezeptionsästhetik
- Melancholie des Produzenten,
- pessimistische Geschichtserfassung durch den
Produzenten
- Interpretation der Fragmente durch den Rezipienten
Benjamins Allegoriebegriff kombiniert produktionsästhetische wie
auch wirkungsästhetische Aspekte im modernen avantgardistischen
Kunstwerk.
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C. Das organische und das
nicht-organische Kunstwerk
1. Def. des organischen Kunstwerks
a. entsteht aus einer konkreten
Lebenssituation
b. Das Material wird wie etwas Lebendiges
behandelt. (konkreten Situation)
c. Werk ist Träger einer konkreten
Bedeutung
d. Das Material wird als Ganzheit behandelt
Der traditionelle Künstler arbeitet in der
Absicht, ein lebendiges Bild der Totalität
des Lebens zu geben, selbst im
Ausschnitthaften, verleiht er den Dingen
einen konkreten Sinn.
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C. Das organische und das
nicht-organische Kunstwerk
2. Def. des nicht-organischen
Kunstwerks
a. Das Material ist nur Material, es wird
aus seinem Gesamtzusammenhang
gerissen.
b. Der Avantgardist sieht nur leere
Zeichen, denen er Bedeutung gibt
c. Der Avantgardist gibt den Fragmenten
erst in der Behandlung und
Kombination mit anderen seine
Bedeutung.
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Kurt Schwitters: Kots 1930
Leonardo da Vinci: Mona17Lisa
A.Funktionswandel der Allegorie in der Moderne
a. Das barocke Jenseits wird abgewertet zugunsten einer
Weltbejahung, die jedoch als gebrochene Welt.
b. gleichzeitig wird die fragmentierte Welt “Ausdruck der
Angst vor einer übermächtig gewordenen Technik“
c. Das avantgadistische Kunstwerk offenbart seine
Produktionsbedingungen und macht diese zum Inhalt.
d. es bricht mit dem Schein der Totalität.
Allegorie nach Benjamin stellt Geschichte als
Naturgeschichte d.h. als schicksalhafte Geschichte des
Verfalls dar.
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Die Werkkonstitution des avantgardistischen, nichtorganischen Kunstwerks
a.
Die Einzelteile sind fragmentiert und autonomer, unabhängiger
vom Ganzen.
b.
Keine klar vorgegebene Intention, aber auch keine eindeutige
Interpretation …
c.
Der Künstler tritt zurück und die Werkkonstitution tritt hervor;
wie das ganze gemacht ist.
d.
Dem Rezipient kommt eine neue, wichtige Rolle zu bei der
Sinnsetzung.
Das avantgadistische Kunstwerk offenbart seine
Produktionsbedingungen und macht diese zum Inhalt. Es soll
nicht als natürliches, sondern als künstlerisches, als Artefakt
erkennbar sein. Es bricht mit dem Schein der Totalität und des
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Natürlichen.
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James Stirling, Staatsgalerie Stuttgart, 1977-83
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Kurt Schwitters
El Lissitzki
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