Das Wiener Fingerspitzengefühl

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Das Wiener Fingerspitzengefühl
derStandard.at | Politik | EU | Meinung
27. Juni 2006
17:59 MESZ
Javier Solana ist der
Hohe Vertreter für die
Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik
der EU.
Das Wiener Fingerspitzengefühl
Ein Resümee unter dem Eindruck einer neuen Einigkeit und Entschlossenheit Kommentar der anderen von Javier Solana
Der österreichische EU-Vorsitz war reich an außenpolitischen
Herausforderungen, ob im Balkan, im Atomstreit mit dem Iran oder in der
Förderung des Nahost-Friedensprozesses. Ein Resümee unter dem Eindruck
einer neuen Einigkeit und Entschlossenheit.
Der Weg der Europäischen Union durch das Jahr 2005 war durch einige
spektakuläre Schlaglöcher geprägt. Die Ablehnung des Verfassungsvertrages
durch Referenden in Frankreich und den Niederlanden haben uns kräftig
durchgeschüttelt. Das Gefühl einer gegenseitigen Entfremdung zwischen der
Politik und den Menschen wurde deutlich spürbar. Ein Jahr danach hat
Österreich, wie ich meine, erfolgreich und mit viel Beson 2. Spalte nenheit die
Agenda der Union auf Bereiche gelenkt, in denen ein klarer Mehrwert der EU
erlebbar wird.
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zählt zu den Bereichen,
in denen die EU einen für die Menschen spürbaren Unterschied machen kann.
Beim Blick über den Tellerrand hinaus wird immer wieder klar, dass es in der
Welt einen großen Bedarf an einer aktiven, kohärent und wirksam handelnden
EU als eine Art "Kraft des Guten" gibt.
Menschen in Ländern, die unter Krisen und Kriegen leiden müssen, können
nicht darauf warten, bis wir die Frage nach unserer institutionellen Zukunft
abschließend beantwortet haben. Diesen Menschen zu helfen, und zwar ihnen
schnell zu helfen, ist unsere Pflicht. Und wenn wir es schaffen, als
stabilisierender Faktor zu wirken und Menschen wieder Hoffnung und eine
Perspektive zu geben, erhöht das unsere eigene Glaubwürdigkeit als globaler
Akteur.
Ich bezeichne dies als "Legitimität durch Handeln". Das zu Ende gehende erste
Halbjahr 2006 wird uns als ein Semester in Erinnerung bleiben, das an
außenpolitischen Herausforderungen besonders reich war. Eine bislang
unerreichte Dichte an derartigen Aufgaben hat Österreich während der Zeit
seines EU-Vorsitzes zu bewältigen gehabt.
Ich nehme nur einen Monat heraus, stellvertretend für alle anderen: Allein der
Jänner war geprägt durch einen Streit um Gaslieferungen zwischen Russland
und der Ukraine, die schwere Erkrankung des israelischen Premierministers
Sharon, den Tod von Kosovo- Präsident Rugova, den Wahlsieg der Hamas bei
den palästinensischen Wahlen, den Beginn der Auseinandersetzung um die so
genannten "Moham med-Karikaturen" und die Zuspitzung der Situation rund
um das iranische Nukleardossier – um nur einige Beispiele zu nennen.
Alle mit an Bord
Zu den Hauptaufgaben einer EU-Präsidentschaft, in Zusammenarbeit mit dem
Hohen Vertreter für die GASP, gehört das Streben nach Einmütigkeit unter den
25 EU Mitgliedern in außenpolitischen Fragen – also das Herausarbeiten eines
Konsenses. Außenministerin Ursula Plassnik hat immer großen Wert darauf
gelegt, alle 25 Mitgliedstaaten an Bord zu haben.
Ich habe sie in diesen Bemühungen unterstützt, schließlich soll kein
Mitgliedsland das Gefühl haben, unter die Räder zu kommen. Österreich ist mit
viel Fingerspitzengefühl an die Sache herangegangen. Dies erscheint mir
wichtig und richtig. Wir können sagen, dass die EU heute, zum Ende dieses
Halbjahres, eine Schlüsselrolle bei den wichtigen globalen außenpolitischen
Herausforderungen spielt. Und: die EU geht heute mit großer Einigkeit an diese
Aufgaben heran. Das war nicht immer so.
Denken wir nur an die unterschiedlichen Reaktionen angesichts der Krise am
Balkan vor knapp 15 Jahren. Ein hohes Maß an innerer Geschlossenheit und
Entschlossenheit verstärkt unsere Glaubwürdigkeit und gibt uns nach außen
mehr politisches Gewicht. Ich möchte stellvertretend drei außenpolitische
Bereiche erwähnen, nämlich den Balkan, das Nukleardossier Iran und den
Nahost-Friedensprozess.
Der Balkan liegt in unmittelbarer Nachbarschaft der EU: Er liegt mitten in
Europa. Aus diesem Grund trägt die EU eine besondere Verantwortung diesem
Teil unseres Kontinents gegenüber. Das Projekt der Stabilisierung des Balkans
muss uns gelingen. Ein Scheitern hätte gravierende Auswirkungen. Es bedarf
bedeutender Anstrengungen auf beiden Seiten, damit dieses gemeinsame
Vorhaben zu einer dauerhaften Erfolgsgeschichte wird.
Während des österreichischen EU-Vorsitzes wurde die "Europäische
Perspektive" des Balkans von den EU-Außenministern am 11. März in der so
genannten "Salzburger Erklärung" bekräftigt. Wir dürfen insbesondere die
jungen Leute am Balkan in ihrer Hoffnung auf eine sichere und friedvolle
Zukunft nicht enttäuschen. Und: Wenn sich unsere Nachbarn auf uns verlassen
können, bringt das auch den größtmöglichen Stabilitätsgewinn für uns selbst.
Was den Iran betrifft, haben am 1. Juni haben die Außenminister der fünf
ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und Deutschlands gemeinsam mit
mir in Wien über ein Anreizpaket beraten, das eine diplomatische Lösung des
umstrittenen iranischen Nukleardossiers ermöglichen soll. Dieses Treffen hat
dank tatkräftiger logistischer Unterstützung Österreichs stattgefunden. Ich habe
am 6. Juni diese "Wiener Initiative" als Paket der iranischen Führung in Teheran
präsentiert.
Es enthält eine Reihe von sehr attraktiven Anreizen zur Zusammenarbeit. Ich
glaube, die Menschen im Iran verdienen einen Platz im Herzen der
internationalen Staatengemeinschaft – und nicht einen Platz draußen, in der
Isolation. Ich appelliere daher an die iranische Führung, unser attraktives, gut
durchdachtes und faires Angebot anzunehmen.
Änderung von Hamas
Die Bemühungen um eine friedliche Lösung im Nahen Osten bilden seit jeher
einen Schwerpunkt der Außenpolitik. Österreich hat dabei auch bereits in
vergangenen Jahrzehnten eine wichtige Rolle gespielt. Außenministerin Ursula
Plassnik und ich haben mehrmals im Format des so genannten "NahostQuartetts", gemeinsam mit Kommissarin Benita Ferrero-Waldner, UNGeneralsekretär Kofi Annan, US-Außenministerin Condoleezza Rice und
Russlands Außenminister Sergej Lawrow über Lösungsmöglichkeiten beraten.
Meine Botschaft ist dabei: Unser Ziel ist nicht ein Scheitern der
palästinensischen Regierung, sondern eine Änderung von Hamas. Eine Aner 6.
Spalte kennung des Existenzrechts Israels sowie von bestehenden Abkommen
und ein Ende der Gewalt sind Grundlagen für eine politische Lösung des
Problems. Meine Botschaft ist aber auch: Unilateralismus kann keinen
dauerhaften Frieden schaffen. Ich bin daher davon überzeugt, dass Gespräche
von Ministerpräsident Olmert und Präsident Abbas der richtige Weg sind.
Das Streben nach einer friedlicheren, besseren Welt ist die vordinglichste
Aufgabe der europäischen Außenpolitik. Europäische Integration ist vor allem
ein Projekt des Friedens und der Solidarität.
Der Grund dafür liegt in unserer eigenen Geschichte. Frieden, Sicherheit und
Stabilität sind uns heute zur Normalität geworden. Dies war jedoch nicht immer
eine Selbstverständlichkeit – und ist es in vielen Ländern der Erde auch heute
noch nicht. Dieses Friedensprojekt in vielen verschiedenen Weltregionen
erfolgreich vorangetrieben zu haben, gehört zu den wesentlichsten
Errungenschaften der zu Ende gehenden österreichischen EU-Präsidentschaft.
(DER STANDARD, Printausgabe, 28.6.2005)
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