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Erster Teil: Einführung, Grundlagen und Grundsätze
Zivilgerichtliches Verfahrensrecht
JN (GOG, OGHG)
Erkenntnisverfahren
außerstreitiges
streitiges
Verfahren
Verfahren
AußStrG
ZPO (+ASGG)
Exekutionsverfahren
EO
Insolvenzverfahren
IO
Provisorialverfahren (eV)
§§ 378 ff EO
7. Internationales Zivilprozessrecht
7
Unter Internationalem Zivilprozessrecht versteht man all jene Normen, die
zivilprozessuale Tatbestände mit internationalem Bezug betreffen (vgl Mayr,
EuZPR Rz I/1 ff).
Wenn nicht nur das Zivilprozessrecht im engeren Sinn (oben Rz 2), sondern auch
andere (soeben erwähnte) zivilgerichtliche Verfahrensarten (zB Zwangsvollstreckungsoder Insolvenzrecht) erfasst werden sollen, so spricht man vom Internationalen Zivilverfahrensrecht.
Beim Internationalen Zivilprozessrecht handelt es sich zum Teil um nationales Recht (autonomes internationales Zivilprozessrecht; zB § 27a JN,
§ 291a ZPO), zum Teil um Völkerrecht (zB Haager Prozessübereinkommen;
siehe unten Rz 25) und zu einem immer wichtiger und umfangreicher werdenden Teil um Europarecht (siehe unten Rz 24). Letzteres Rechtsgebiet wird als
Europäisches Zivilprozessrecht bezeichnet.
Die hauptsächlichen Regelungsbereiche des Internationalen Zivilverfahrensrechts sind die inländische Gerichtsbarkeit und die internationale Zuständigkeit, die internationale Rechtshilfe (Beweisaufnahme und Zustellung), die
internationale Streitanhängigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen. Soweit diese Rechtsgebiete in den Rahmen dieses
Buches fallen, werden sie an den entsprechenden Stellen mitbehandelt (siehe
etwa Rz 112 ff oder Rz 179 ff).
Studienliteratur siehe unten Rz 26 sowie Fucik, Europäisches und internationales
Zivilverfahrensrecht. Ein Wegweiser, RZ 2011, 28 und Mayr, Grundbegriffe des Internationalen Zivilverfahrensrechts, JAP 2014/2015, 35.
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I. Einführung
B. Aufgaben und Zweck
Literatur: Baur, Zeit- und Geistesströmungen im Prozeß, JBl 1970, 445; Böhm,
Bewegliches System und Prozesszweck, in F. Bydlinski ua (Hrsg), Das Bewegliche
System im geltenden und künftigen Recht (1986) 211; Hagen, Die soziale Funktion des
Prozesses, ZZP 1971, 385; Kuderna, Soziale Funktion und soziale Elemente des Zivilprozesses, DRdA 1986, 182; Schoibl, Der Prozess als soziale Institution, in Rechtstheorie, Beiheft 6 (1984) 287; Stürner, Prozesszweck und Verfassung, in FS Baumgärtel
(1990) 545; Wassermann, Der soziale Zivilprozeß (1978).
Die Privatrechtsordnung regelt die Beziehungen zwischen (grundsätzlich) gleichrangigen Rechtssubjekten („cives inter se“). Aus ihr ergeben sich
Rechte und Pflichten für die Rechtsunterworfenen. Wird die (Privat-)Rechtsordnung nicht freiwillig eingehalten, so gibt das materielle Recht selbst idR
keine Antwort auf die Frage, wie der Berechtigte zu seinem Recht kommt:
Grundsätzlich könnte er entweder selbst sein Recht durchsetzen oder die Hilfe
eines Dritten in Anspruch nehmen.
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Bei der Selbsthilfe setzt sich regelmäßig das Recht des Stärkeren durch.
Die herbeigeführte Lösung muss daher nicht unbedingt der materiellen Rechtslage entsprechen: Der Selbsthilfe Ausübende setzt das durch, was er an Rechten zu haben glaubt, mit den Mitteln, die er für notwendig erachtet, ohne dass
der Bestand dieser Rechte von dritter Seite geprüft worden wäre. Daher ist die
Selbsthilfe unerwünscht und grundsätzlich verboten (§ 19 ABGB): Der Staat
beansprucht für sich ein Gewaltmonopol. Um die Zivilrechtsnormen nicht
sanktionslos zu lassen, muss der Staat die Aufgabe der Selbsthilfe übernehmen
(Staatshilfe).
Darüber hinaus bedarf es zum Teil auch eines hoheitlichen Aktes, um privatrecht­
liche Rechtsverhältnisse zu begründen, abzuändern oder aufzuheben; zum Teil ist auch
nur der Bestand eines Rechtsverhältnisses strittig und soll daher autoritativ festgestellt
werden.
Der Zivilprozess ist als Erkenntnisverfahren (idR) eine notwendige Vorstufe zur staatlichen Rechtsdurchsetzung im Exekutionsverfahren. Der Staat
darf seine Gewalt grundsätzlich nicht schon allein aufgrund von Behauptungen des Rechtsschutzwerbers einsetzen; er würde sich sonst uU zum Handlanger des Unrechts machen. Vielmehr müssen vorerst in einem gesetzlich
geordneten Verfahren die von den Parteien aufgestellten Behauptungen und
Gegenbehauptungen geprüft, bewiesen und rechtlich gewürdigt werden. Auf
diese Weise werden mit den Mitteln der ZPO strittige Privatrechtsverhältnisse
geprüft und festgestellt (institutioneller Verfahrenszweck). Das Resultat des
Prozesses, die gerichtliche Entscheidung, bildet einen Exekutionstitel (§ 1 Z 1
EO), der dazu legitimiert, staatliche Hilfe zur Rechtsdurchsetzung in Anspruch
zu nehmen.
Damit das „Recht des Stärkeren“ nicht durch das „Recht des Klügeren“
bzw „des Reicheren“ ersetzt wird, sorgen Anleitungs- und Belehrungspflich
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Erster Teil: Einführung, Grundlagen und Grundsätze
ten, Verfahrenshilfe sowie Anwaltszwang im Prozess für (eine möglichst weitgehende) Chancengleichheit zwischen den Parteien.
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Da es nicht in der Willkür der staatlichen Organe liegen darf, ob, wann und
wem Rechtsschutz gewährt wird, räumt der im Verfassungsrang stehende Art 6
Abs 1 EMRK dem Einzelnen ein subjektives öffentliches Recht gegen den
Staat ein, den Justizgewährungsanspruch („Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache …“; siehe unten Rz 49).
Somit ergibt sich die Klagemöglichkeit (Anspruch auf staatlichen Rechtsschutz) aus dem öffentlichen Recht; auf sie kann nur gemeinsam mit dem
zugrunde liegenden privatrechtlichen Anspruch verzichtet werden (Unzulässigkeit eines umfassenden Rechtsschutzverzichtsvertrags bzw pactum de non
petendo); auch eine Abtretung der Prozessführungsbefugnis ohne gleichzeitige
Übertragung des materiellen Rechts ist unzulässig (siehe Rz 299).
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Der Zivilprozess soll ein rasches, einfaches und billiges (iSv kostengünstiges) Verfahren sein. Bei der privatrechtlichen Konfliktsituation handelt es sich
nach Franz Klein, dem Schöpfer der öZPO (siehe Rz 28), nicht um ein allein
die Beteiligten betreffendes Problem, sondern um ein die Allgemeinheit berührendes soziales Übel, das die Parteien Zeit, Geld und Nerven kostet, aufgrund
der Bindung von Ressourcen der Wirtschaft schadet und überhaupt das Klima
in der Rechtsgemeinschaft belastet. Somit dient die Beendigung des Konflikts
durch den Zivilprozess zum einen dem Interesse des Einzelnen an der Durchsetzung seiner Rechte, zum anderen dem Gemeinschaftsinteresse an Rechtsfrieden, Rechtssicherheit und der Bewährung der Rechtsordnung. Es entsteht
Klarheit darüber, was Recht ist und dass dieses nicht nur auf dem Papier steht,
sondern auch durchgesetzt wird.
Die Möglichkeit des staatlichen Rechtsschutzes wirkt somit einerseits repressiv (durch die Rechtsdurchsetzung im Einzelfall), andererseits präventiv
(als Ansporn zur freiwilligen Einhaltung der Rechtsordnung, weil der Schuldner weiß, dass der Gläubiger sein Recht auch zwangsweise durchsetzen könnte). Je besser der Zivilprozess (und das Exekutionsverfahren) in der Praxis
funktioniert, desto besser können diese Zwecke erfüllt werden.
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Zunehmend soll der Zivilprozess aber (nicht nur zur Entscheidung, sondern) auch zur Lösung privater Konflikte beitragen, da Rechtsstreitigkeiten
in bestimmten Bereichen häufig Resultat zwischenmenschlicher Spannungen
sind. Wird die wahre Konfliktursache nicht beseitigt, folgt schon bald ein weiterer Rechtsstreit. Daher soll der Zivilprozess auch Gelegenheit zu Dialog und
rationalem Diskurs bieten. So forciert der Gesetzgeber etwa in der vorbereitenden Tagsatzung (wieder stärker) die mündliche Verhandlung zwischen den
Parteien (selbst), und dort ist auch ein Vergleichsversuch vorgesehen (§ 258
Abs 1 Z 4 ZPO; Rz 741). Außerdem kann das Gericht in der gesamten mündlichen Verhandlung eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits versuchen (§ 204
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I. Einführung
Abs 1 ZPO; Rz 612). Da das Gericht aber oftmals nicht das geeignete Forum für
die Lösung dieser Konflikte ist, räumt das Gesetz auch ausdrücklich die Möglichkeit ein, die Parteien auf andere, besser geeignete Einrichtungen hinzuweisen. Darüber hinaus besteht nach § 433 ZPO die Möglichkeit, dass eine Partei
schon vor Einleitung eines Zivilprozesses den Antrag stellt, die gegnerische
Partei zum Zwecke eines Vergleichsversuchs vor das Bezirksgericht zu laden
(sog „prätorischer Vergleichsversuch“. Ein dabei erzielter Vergleich stellt einen (vorprozessualen) gerichtlichen Vergleich dar, der einen Exekutionstitel
bildet (§ 1 Z 5 EO). Näheres siehe bei Rz 609 ff.
Überhaupt hat in den letzten Jahrzehnten aus den verschiedensten Gründen
die Suche nach bzw die Beachtung von Alternativen zur Streiterledigung im
herkömmlichen „klassischen“ Zivilprozess eine verstärkte Bedeutung gewonnen.
C. Alternativen zum (klassischen) Zivilprozess
Literatur: Authried, Das Passagier- und Fahrgastrechteagenturgesetz (PFAG), ZVR
2015/121, 232; Bajons, Außergerichtliche Güteverfahren als Mittel der Prozessvermeidung und Konfliktlösung, ÖJZ 1984, 368; dieselbe, Mediation: Der Weg von einem
österreichischen Pilotprojekt bis zur EU-Mediations-Richtlinie, in FS Leipold (2009)
499; Eder, Alternative Streitbeilegung am Beispiel der „Schlichtung für Verbrauchergeschäfte“, Zak 2015/587, 324; Eidenmüller/Wagner (Hrsg), Mediationsrecht (2015);
Frauenberger-Pfeiler, Zur „Vollstreckbarmachung“ von Mediationsvereinbarungen, in:
Jahrbuch Zivilverfahrensrecht 2010, 237; Frauenberger-Pfeiler/Risak, Der prätorische
Mediationsvergleich, ÖJZ 2012/87, 798; Frössel, Die neue Verbraucherschlichtung –
Umsetzung in Österreich, Zak 2015/483, 264; Fucik, EU-MediatG und ZivMediatG –
ein Überblick, ÖJZ 2011, 941; Griss, Die Schlichtungsstelle für Verbrauchergeschäfte, VbR 2013, 36; Haft/Schlieffen (Hrsg), Handbuch Mediation3 (2016); Haidmayer,
Die neue Schlichtungsstelle für Verbraucherstreitigkeiten, ecolex 2013, 986; Hayungs,
ADR-Richtlinie und ODR-Verordnung, Zeitschrift für Konfliktmanagement 2013, 86;
Hopf, Das Zivilrechts-Mediations-Gesetz, ÖJZ 2004/3, 41; Huber-Mumelter/Mumelter, Schlichten statt Richten, ZfRV 2009/24, 165; Katzenmeier, Zivilprozess und außergerichtliche Streitbeilegung, ZZP 2002, 51; Keiler, APF – die Agentur für Passagierrechte in Österreich, Zak 2015/614, 344; Kloiber, Die Mediations-Richtlinie und ihre
Umsetzung in Österreich, ZfRV 2011, 119; Lust, Zu Sinn und Unsinn der Verbraucherschlichtung am Beispiel Telekom, Zak 2015/588, 328; Mayr, Rechtsschutzalternativen
in der österreichischen Rechtsentwicklung (1995); derselbe (Hrsg), Öffentliche Einrichtungen zur außergerichtlichen Vermittlung von Streitigkeiten (1999); derselbe, Die
Mediationsgesetze von Österreich und Liechtenstein, LJZ 2008, 90; derselbe, Neuigkeiten bei der außergerichtlichen Streitbeilegung in Österreich, in FS Barta (2009) 245;
derselbe, Die Europäische Mediationsrichtlinie und Österreich, in König/Mayr (Hrsg),
Europäisches Zivilverfahrensrecht in Österreich II (2009) 137; derselbe, Aktuelle Entwicklungen und Probleme bei den Rechtsschutzalternativen, in FS Simotta (2012) 375;
Mayr/Schmidt, Gesetzlich geregelte Alternativen innerhalb und außerhalb des Zivilprozesses in Österreich, ZVglRWiss 1987, 227; Mayr/Weber, Europäische Initiativen
zur Förderung der alternativen Streitbeilegung, ZfRV 2007, 163; Perner/Völkl, Conciliation, Mediation, ADR, ÖJZ 2003/28, 495; Pirker-Hörmann/Gabriel (Hrsg), Option
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Erster Teil: Einführung, Grundlagen und Grundsätze
Schlichtung – Eine neue Kultur der Konfliktlösung (2014); Rechberger (Hrsg), Der
Notar und die konsensuale Streitbeilegung (2002); derselbe, Schlichtungsverfahren in
Japan und Österreich, in FS Ishikawa (2001) 409; Scheuer, Regelungen zur Mediation
in Österreich nach Umsetzung der Mediations-Richtlinie, in: Jahrbuch Zivilverfahrensrecht 2011, 197; dieselbe, Vollstreckbarer Mediationsvergleich und neue Regelungen
für grenzüberschreitende Mediationsverfahren, Zak 2011, 147; dieselbe, Zum Stand der
Mediation in Österreich, Zeitschrift für Konfliktmanagement 2012, 21.
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Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der (staatliche) Zivilprozess nur
ultima ratio (also das letzte Mittel) sein soll, um einen Konflikt auszutragen.
Einer gütlichen Einigung der Parteien ist häufig – aber durchaus nicht immer –
der Vorzug zu geben; das Gericht soll regelmäßig nur im „Notfall“ über eine
Privatrechtsstreitigkeit mittels Hoheitsakt entscheiden.
Möglichkeiten, einen staatlichen Zivilprozess durch ein anderes Konfliktlösungsmodell zu vermeiden, gibt es viele. Diese Rechtsschutzalternativen
werden in den letzten Jahren (auch) vom österreichischen (und vom europäischen) Gesetzgeber nicht zuletzt aus Gründen der Gerichtsentlastung vermehrt
gefördert. Solange sie den Rechtsschutz suchenden Parteien (nur) als freiwillige (zusätzliche) Alternativen zur Wahl gestellt werden und sie den Zugang
zu den ordentlichen Gerichten nicht (unverhältnismäßig) erschweren oder den
Rechtsweg gar (endgültig) ausschließen, ist dagegen nichts einzuwenden. Es
obliegt dann eben den (informierten) Parteien zu entscheiden, welche der verschiedenen Rechtsschutzmöglichkeiten für ihren Konflikt die geeignetste Austragungsform darstellt. Bedenklich wäre es jedoch, wollte man den Parteien
andere Rechtsschutzformen (faktisch oder rechtlich) aufzwingen.
Die verschiedenen Möglichkeiten der außergerichtlichen (alternativen) Streitbeilegung werden häufig unter dem englischen Oberbegriff „Alternative Dispute Resolution“ oder abgekürzt „ADR“ zusammengefasst.
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Eine klassische Alternative zum staatlichen Zivilprozess ist das Schiedsverfahren: Die Parteien können vereinbaren, dass das Erkenntnisverfahren
nicht vor einem ordentlichen (staatlichen) Gericht, sondern vor einem privaten Schiedsgericht stattfinden soll (§§ 577 ff ZPO; siehe dazu Rz 1261 ff).
Darin liegt zwar eine weitgehende Verdrängung, aber doch kein vollständiger
Verzicht auf staatlichen Rechtsschutz, da der Schiedsspruch auf Antrag einer
Partei (Aufhebungsklage gem § 611 ZPO) von einem staatlichen Gericht auf
bestimmte, besonders schwerwiegende Mängel hin überprüft und bei deren
Vorliegen beseitigt wird.
Das Schiedsverfahren darf nicht mit einem Schlichtungsverfahren verwechselt werden. Ersteres dient nämlich in erster Linie der (privaten) Streitentscheidung und – ungeachtet der Möglichkeit, auch im Schiedsverfahren einen (Schieds-)Vergleich abzuschließen oder mediative Elemente einfließen zu lassen – nicht einer einvernehmlichen
Streitbeilegung.
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Charakteristisch für ein Schlichtungsverfahren ist es hingegen, dass ein neutraler Dritter (das Schlichtungsorgan) einen unverbindlichen (Vergleichs- oder)
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I. Einführung
Schlichtungsvorschlag macht, der jedoch nur dann (als privatrechtlicher Vergleich) verbindlich wird, wenn ihn die Streitparteien akzeptieren. Man muss unterscheiden, ob ein solcher Schlichtungsversuch im Gesetz obligatorisch vor der
Beschreitung des ordentlichen Rechtswegs vorgeschrieben ist oder ob er bloß
fakultativ zur Auswahl gestellt wird. Zu beachten ist jedoch, dass ein genereller
Ausschluss des Zugangs zu den Gerichten durch Schlichtungsstellen (wie auch
immer diese bezeichnet werden) unzulässig und (im Bereich der civil rights –
siehe Rz 50) auch verfassungs- (EMRK-) widrig ist. Schlichtungsverfahren
können somit maximal den Zeitpunkt, ab dem gerichtliche Hilfe begehrt werden kann, hinausschieben.
Eine obligatorische Streitschlichtung ist insb im Vereinsrecht vorgesehen: Vereine müssen in ihren Statuten eine Regelung über die Art der Schlichtung von Streitigkeiten aus dem Vereinsverhältnis aufweisen (§ 3 Abs 2 Z 10
VerG 2002). Für Rechtsstreitigkeiten aus dem Vereinsverhältnis steht der
Rechtsweg erst nach Abschluss des vereinsinternen Schlichtungsverfahrens
bzw 6 Monate ab Anrufung der Schlichtungseinrichtung (sog „Vereinsgericht“) offen (§ 8 VerG 2002; siehe auch Rz 110 und 480).
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Seit dem ZivRÄG 2004 (BGBl I 2004/91, Art III) ist auch im Bereich des
Nachbarrechts (für Streitigkeiten nach § 364 Abs 3 ABGB betreffend den
Entzug von Licht oder Luft durch fremde Bäume oder Pflanzen) zwingend
ein vorprozessualer Streitbeilegungsversuch vorgeschrieben. Dieser kann in
einem prätorischen Vergleichversuch (siehe Rz 12), einem Schlichtungsverfahren vor einer anerkannten Schlichtungsstelle oder einer Mediation durch
einen eingetragenen Mediator (siehe Rz 20 f) bestehen. Erst nach dem Scheitern einer gütlichen Streitbeilegung oder nach dem (fruchtlosen) Ablauf einer
Frist von drei Monaten (ab Beginn des Beilegungsversuchs) ist eine Klage bei
Gericht zulässig.
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Eine Verpflichtung zur Durchführung eines (vorprozessualen) Schlichtungsverfahrens für Streitigkeiten unter Berufskollegen besteht ferner in manchen Berufsordnungen, etwa nach § 16 Ziviltechnikerkammergesetz 1993, § 94 Ärztegesetz 1998, § 54
Zahnärztekammergesetz, § 87 Wirtschaftstreuhandberufsgesetz.
Im Bereich der fakultativen Schlichtungseinrichtungen bestand früher
ein nahezu unüberschaubarer Wildwuchs von Schlichtungseinrichtungen, die
zum Teil ohne gesetzliche Grundlage auf freiwilliger Basis von gewissen Organisationen (insb Berufskammern) zur Erledigung von (imageschädigenden)
Streitigkeiten ohne Befassung der staatlichen Gerichte geschaffen wurden. Zunehmend wurden aber auch (nicht zuletzt zur Entlastung der Gerichte) vom
Gesetzgeber außergerichtliche Schlichtungs- (bzw Vermittlungs-)verfahren
eingerichtet. Der entscheidende Impuls für eine grundsätzliche gesetzliche Regelung kam (wieder einmal) von der EU, die den Mitgliedstaaten in mehreren
Rechtsakten die Einrichtung einer außergerichtlichen Streitbeilegung vorgeschrieben hat.
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Erster Teil: Einführung, Grundlagen und Grundsätze
Neben mehrerer Rechtsakten im Bereich des Verkehrs- und Transportrechts ist hier
insb die Richtlinie vom 21. 5. 2013 über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten (ADR-Richtlinie; ABl L 2013/165, 63) und die Verordnung vom 21. 5.
2013 über Online-Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten (ODR-Verordnung;
ABl L 2013/165, 1) zu nennen.
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Zentrale Rechtsgrundlage in Österreich ist das neue BG über alternative
Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten (Alternative-StreitbeilegungGesetz – AStG; BGBl I 2015/105), das (iW) am 9. 1. 2016 in Kraft getreten ist.
Es regelt das von den Stellen zur alternativen Streitbeilegung (sog AS-Stellen)
durchzuführende Verfahren zur alternativen Beilegung von Streitigkeiten über
Verpflichtungen aus einem entgeltlichen Vertrag zwischen einem in Österreich
niedergelassenen Unternehmer und einem in Österreich oder in einem EWRVertragsstaat wohnhaften Verbraucher.
Alternative Streitbeilegung wird in § 3 AStG definiert als jedes Verfahren, das von
einer AS-Stelle durchgeführt wird und das darauf abzielt, den Parteien eine Lösung
vorzuschlagen oder diese mit dem Ziel zusammenzubringen, sie zu einer gütlichen Einigung zu veranlassen.
Anerkannte AS-Stellen sind gem § 4 AStG:
1. die Schlichtungsstelle der Energie-Control Austria,
2. die Telekom-Schlichtungsstelle der Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH,
3. die Post-Schlichtungsstelle der Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH,
4. die Agentur für Passagier- und Fahrgastrechte (gem dem Passagier- und Fahrgastrechteagenturgesetz – PFAG; BGBl I 2015/61),
5. die Gemeinsame Schlichtungsstelle der Österreichischen Kreditwirtschaft,
6. der Internet Ombudsmann,
7. die Ombudsstelle Fertighaus,
8. die Schlichtung für Verbrauchergeschäfte.
Wesentlich ist, dass das die Einleitung und die Teilnahme an einem Verfahren freiwillig ist. Die Parteien können das Verfahren auch in jedem Stadium
abbrechen (§ 12 Abs 2 AStG).
Das AStG enthält insb Regelungen über die Verfahrensvoraussetzungen, die Verfahrenskosten, die Verfahrensdauer, die Vertraulichkeit, den Lösungsvorschlag, die Beendigung des Verfahrens und die Verjährungshemmung (§§ 12 bis 18 AStG).
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Eine weitere, in letzter Zeit sehr populär gewordene Methode der alternativen Streitbeilegung ist die Mediation (oder Vermittlung). Sie hat in Österreich
(schon relativ frühzeitig) durch das Zivilrechts-Mediations-Gesetz eine gesetzliche (Rahmen-)Regelung erfahren (BGBl I 2003/29).
Inhalt dieses Gesetzes sind insb die Voraussetzungen und das Verfahren für die Eintragung von Personen in die Liste der eingetragenen Mediatoren sowie die Rechte und
Pflichten dieser Mediatoren.
§ 1 ZivMediatG definiert die Mediation als eine auf der Freiwilligkeit der
Parteien beruhende Tätigkeit, bei der ein fachlich ausgebildeter, neutraler Vermittler (der Mediator) mit anerkannten Methoden die Kommunikation zwischen den Parteien systematisch mit dem Ziel fördert, eine von den Parteien
selbst verantwortete Lösung ihres Konfliktes zu ermöglichen.
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II. Rechtsquellen
Der Unterschied zwischen Schlichtung und Mediation liegt somit insb in der Intensität der „Einmischung“ des neutralen Dritten: Schlichtungsorgane spielen eine aktivere Rolle bei der Lösungsfindung, während bei der Mediation die Parteien selbst die
Konfliktlösung erarbeiten sollen.
Bedeutsam ist insb, dass während eines Mediationsverfahrens (durch einen
eingetragenen Mediator) die Verjährung sowie sonstige Fristen zur Geltendmachung der von der Mediation betroffenen Rechte und Ansprüche gehemmt
werden (§ 22 ZivMediatG). Eingetragene Mediatoren sind zur Verschwiegenheit und Vertraulichkeit verpflichtet (§ 18 ZivMediatG) und dürfen in einem
Zivilprozess nicht als Zeugen über dasjenige, was ihnen im Rahmen der Mediation anvertraut oder sonst bekannt wurde, vernommen werden (§ 320 Z 4
ZPO; siehe Rz 827).
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Gesetzlich vorgesehen ist eine Mediation in Österreich in § 15a Berufsausbildungsgesetz, §§ 14 ff Behindertengleichstellungsgesetz sowie § 7k Abs 1 Behinderteneinstellungsgesetz und in Art III Zivilrechts-Änderungsgesetz (siehe Rz 17).
Eine (weitere) Aufwertung der Mediation bedeutet es, dass seit dem 1. 5.
2011 über den Inhalt der in einem Mediationsverfahren über eine Zivilsache erzielten schriftlichen Vereinbarung vor jedem Bezirksgericht ein gerichtlicher –
und damit vollstreckbarer (Rz 609 ff) – (prätorischer; siehe oben Rz 12) Vergleich geschlossen werden kann (§ 433a ZPO).
Auf europäischer Ebene ist 2008 die sog Mediationsrichtlinie (ABl L 2008/136,
3) erlassen worden, die bis zum 21. 5. 2011 in den Mitgliedstaaten umzusetzen war.
Österreich hat dafür ein eigenes EU-Mediations-Gesetz geschaffen (BGBl I 2011/21),
das (nur) für grenzüberschreitende Streitigkeiten in Zivil- und Handelssachen gilt.
II. Rechtsquellen
Literatur: BMJ/Lewisch/Rechberger (Hrsg), 100 Jahre ZPO. Ökonomische Analyse des Zivilprozesses (1998); König/Mayr (Hrsg), Europäisches Zivilverfahrensrecht in
Österreich (2007); Bd II (2009); Bd III (2012); Bd IV (2015); Mayr (Hrsg), 100 Jahre
österreichische Zivilprozeßgesetze (1998).
Von seiner Rechtsnatur her wird das Zivilprozessrecht (obwohl es der
Durchsetzung des Zivilrechts dient) zum öffentlichen Recht gezählt, da es
nicht die Beziehungen zwischen gleichgestellten Personen regelt, sondern zwischen dem Gericht und den Parteien.
Die zentrale Rechtsquelle bildet das Gesetz vom 1. 8. 1895, RGBl 113, über
das gerichtliche Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (Zivilprozessordnung – ZPO). Sie steht seit dem 1. 1. 1898 in Österreich in Geltung, ist
jedoch bereits vielfach, in letzter Zeit insb durch die Zivilverfahrens-Novelle
(ZVN) 2009 (BGBl I 2009/30) und die Budgetbegleitgesetze 2009 und 2011
(BGBl I 2009/52 und BGBl I 2010/111), abgeändert worden (siehe unten
Rz 27 ff). Eine weitere größere Zivilprozess-Novelle (betreffend die sog
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Erster Teil: Einführung, Grundlagen und Grundsätze
„Sammel-“ oder „Gruppenklagen“) ist schon seit längerer Zeit geplant (siehe
Rz 31 und 335).
Die ZPO wird ergänzt durch das BG vom 7. 3. 1985, BGBl 1985/104, über
die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit (Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz –
ASGG). Die Besonderheiten dieses Verfahrens werden im XIX. Teil dieses
Buches (Rz 1215 ff) näher behandelt.
Regelungen über die Ausübung der Gerichtsbarkeit und die Zuständigkeit
der ordentlichen Gerichte in bürgerlichen Rechtssachen enthält die Jurisdiktionsnorm (JN; RGBl 1895/111).
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Zur Jurisdiktionsnorm und zur Zivilprozessordnung gibt es spezielle Einführungsgesetze (EGJN und EGZPO), die (heute weitgehend überholte) Übergangsbestimmungen und in den Hauptgesetzen übersehene Regelungen enthalten (RGBl 1895/110 und
1895/112).
Vorschriften über die Besetzung, innere Einrichtung und Geschäftsordnung der Gerichte enthält das Gerichtsorganisationsgesetz (GOG; RGBl 1896/217). Ergänzend
dazu regelt eine (vielfach novellierte) Verordnung aus dem Jahr 1951 (BGBl 1951/264)
die Geschäftsordnung für die Gerichte I. und II. Instanz (Geo). Die Organisation des
Obersten Gerichtshofs hat im OGH-Gesetz (OGHG; BGBl 1968/328) eine eigenständige Regelung gefunden.
Das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG; BGBl 1930/1) enthält einige grundlegende
Bestimmungen über die Gerichtsbarkeit (Art 82 ff), die auch für das Zivilprozessrecht
Bedeutung haben (siehe unten Rz 33 ff).
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Wie bereits erwähnt (oben Rz 7), gewinnt das europäische Recht auch im
Bereich des Zivilprozessrechts immer mehr an Bedeutung. Zu nennen sind
hier in erster Linie folgende Rechtsakte:
• VO (EG) Nr 44/2001 vom 22. 12. 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit
und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und
Handelssachen (ABl L 2001/12, 1; EuGVVO oder Brüssel I-VO), die seit
dem 10. 1. 2015 durch eine Neufassung abgelöst worden ist (VO [EU] Nr
1215/2012 vom 12. 12. 2012 [ABl L 2012/351, 1 idF ABl L 2014/163, 1;
EuGVVO 2012 oder Brüssel Ia-VO).
Sie hat das – noch auf staatsvertraglicher Basis beruhende – Brüsseler Übereinkommen (EuGVÜ) abgelöst (siehe Rz 57).
• VO (EG) Nr 2201/2003 vom 27. 11. 2003 über die Zuständigkeit und die
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in
Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung (ABl L 2003/338, 1; EuEheKindVO, EuFamVO oder Brüssel IIa-VO).
Sie wird Brüssel IIa-VO genannt, weil sie am 1. 3. 2005 die frühere Brüssel II-VO
(ABl L 2000/160, 19) abgelöst hat.
• VO (EG) Nr 1896/2006 vom 12. 12. 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens (ABl L 2006/399, 1 idF ABl L 2015/341, 1; EuMahnVO; dazu näher Rz 702 ff).
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