Stadtverwaltung Kelsterbach: "Irgend jemand muss es tun"
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Stadtverwaltung Kelsterbach: "Irgend jemand muss es tun"
Stadtverwaltung Kelsterbach: "Irgend jemand muss es tun" Serap Cileli engagiert sich gegen Zwangsverheiratungen. "Irgend jemand muss es tun" Das Thema Zwangsverheiratungen stand im Mittelpunkt eines Vortrags- und Diskussionsabends, zu dem die Frauenbeauftragte der Stadt Kelsterbach, Waltraud Engelke, in die Stadt- und Schulbibliothek geladen hatte. Die Autorin Serap Cileli hielt im November 2005 einen Vortrag, in dem sie Fakten, Erfahrungen und Einschätzungen in bezug auf die Zwangsverheiratung von Frauen aus dem moslemisch geprägten Kulturkreis darstellte. Im Anschluss entspann sich eine zweistündige lebhafte Diskussion zwischen der Frauenaktivistin Cileli und den Zuhörern. Cileli stammt aus der Türkei, lebt seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland und wurde von ihrer Familie gegen den eigenen Willen zur Heirat im Herkunftsland gezwungen. Als sie aus der Ehe und vor der Familie flüchtete, war sie Bedrohungen ausgesetzt und die Familie brach jeden Kontakt zu ihr ab. Serap Cileli, inzwischen mit einem Ehemann ihrer Wahl verheiratet, engagiert sich seither wider die Zwangsehe, erinnert an die Opfer von sogenannten Ehrenmorden und bietet solchermaßen Bedrohten Hilfe an. In ihrem Buch ?Wir sind Eure Töchter, nicht Eure Ehre? schildert sie ihre Erfahrungen. Für ihren Einsatz ist sie kürzlich mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Serap Cileli stellte zu Beginn ihres Vortrages klar, dass es das Phänomen der Zwangsverheiratungen nicht allein in der islamisch geprägten Kultur gebe. Ein patriarchaler Ehrenkodex, der Frauen benachteilige oder unterdrücke, sei auch bei anderen Kulturen und Religionen anzutreffen. Allerdings häuften sich UN-Studien zufolge die Fälle in islamischen Ländern. Und sie wolle unterstreichen, so Cileli, dass ihrer Einschätzung nach die Mehrheit der türkischen Frauen durch ungerechte Traditionen in ihrer Würde und Freiheit beschnitten werde. ?Ehre ist die Wertskala in der Männerhierarchie und die Frau die Trägerin der Familien- und Männerehre, sie hat sie durch Keuschheit zu bewahren. Der Patriarch muss das sexuelle Verhalten seiner Frauen kontrollieren, seine Stellung in der Gesellschaft ist davon abhängig. Der Verlust der Familienehre bedeutet den sozialen Tod, der Druck von außen, die Ehre wieder herzustellen, ist groß. Die Ehre des türkischen Mannes steht höher als sein Leben, nichts als der Tod kann die befleckte Ehre wieder herstellen?, beschreibt Cileli den problematischen Ehrenkodex. Die daraus resultierenden Folgen, die Cileli schildert, sind drastisch: Junge Mädchen lebten in einem ständigen Zwiespalt zwischen den Regeln, die das konservative Elternhaus setze, und der deutschen Umwelt. Zudem seien sie einer ständigen Kontrolle durch Familie, Verwandte oder auch nur Nachbarn ausgesetzt. Die starke emotionale Bindung führe außerdem dazu, dass Versuche, sich abzunabeln, scheiterten. Um die ?Unbeflecktheit? beweisen zu können, ließen sich manche junge Bräute für viel Geld ihr Jungfernhäutchen operativ wieder herstellen, falls es aus welchen Gründen auch immer gerissen ist. Sexueller Missbrauch in der Familie passiere ebenfalls häufig, und Sex in einer durch Zwang zustande gekommenen Ehe sei nichts anderes als Vergewaltigung. Verheiratet würden auch schon Minderjährige ? wenn auch nicht offiziell, nicht amtlich. 1 Stadtverwaltung Kelsterbach: "Irgend jemand muss es tun" Frauen, die sich der rigiden Bevormundung entzögen, müssten nicht selten mit Verfolgung durch die eigene Familie und den Ehemann oder gar mit dem Tod rechnen, berichtet Cileli. Auf ihrer Homepage www.serap-cileli.de wahrt sie das Andenken von Opfern sogenannter Ehrenmorde. ?Die Opferliste ist unheimlich lang?, sagt Cileli und betont, dass es ihr wichtig ist, deren Namen, Gesichter und Geschichten vor dem Vergessen zu bewahren. Daneben steht die praktische Hilfe für Mädchen und Frauen, denen sie zuhört, die sie berät, zur Seite steht und konkrete Hilfe über Frauenhäuser und andere Hilfseinrichtungen und Organisationen organisiert. 200 Mädchen und Frauen sowie 20 Jungen und Männer hat sie in den vergangenen zehn Jahren so betreut. Dieses Engagement ist für die Frauenaktivistin alles andere als ungefährlich, rückt sie doch immer wieder selbst in den Fokus von Rache suchenden Familien und Ehemännern. Und auch eine konservative türkische Zeitung habe massiv Stimmung gegen sie gemacht, berichtet sie. So verlässt sie aus Sicherheitsgründen das Haus nur noch in Begleitung. Doch im Einsatz für unterdrückte Frauen nachzulassen kommt für sie nicht in Frage: ?Einer muss es ja tun?. Serap Cileli macht den Wunsch nach Macherhalt der Männer im patriarchalen System verantwortlich für den Fortbestand des geschilderten Ehrenkodexes. Aufklärungsarbeit in Schule und Familie sei notwendig, um dies zu überwinden, meint Cileli. Aber auch Zivilcourage und konkrete Hilfe, ?hinsehen, ob Hilfe benötigt wird, und handeln.? Außerdem warnt sie davor, den Begriff der Toleranz falsch zu verstehen: ?Respekt vor fremden Kulturen heißt nicht, alles zu tolerieren.? Das Buch von Serap Cileli, ?Wir sind Eure Töchter, nicht Eure Ehre?, ist in der Kelsterbacher Stadt- und Schulbibliothek in deutscher und türkischer Sprache ausleihbar. (aw) 2