Studienreise nach Istanbul, 22.

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Studienreise nach Istanbul, 22.
Studienreise nach Istanbul, 22.-29. Juni 2012
Exposés
Hochschule für Fernsehen und Film München
Abteilung VI Drehbuch – Lehrstuhl Creative Writing
INHALTSVERZEICHNIS
BERND BLASCHKE | Galata-Bridge
3
ELLA CIESLINSKI | DrachenNest
4
HANNAH GROSSMANN | Das Einhorn
6
CHIARA GRABMAYR | Pistaziengrün
7
FERDINAND ARTHUBER | Vom Suchen und Finden
9
ISABELLE BERTOLONE | Turkish Delight
11
DIANA ANDRIOTIS | So was wie Brüder
13
JULIUS GRIMM | Sprachbarriere
14
JACOB SCHREIER | Istanbul Steroid
15
KATRIN ARENDT | Halb und Halb
17
NICOLAI ZEITLER | Fieber
19
CHRISTIAN KRATZ | Die Farben von Istanbul
21
OSKAR LAUTERBACH I Ohne Titel
22
LAURA SCHÄFER | Tintenschwarz und Mandarinenrot
24
VIKTORIA CASSENS | Der Jazz der Freiheit
26
2
BERND BLASCHKE | Galata-Bridge
Murat, Mitte 30, kommt ursprünglich aus einem kleinen Dorf im Herzen der Türkei. Als er 14 war, zogen seine
Eltern nach Deutschland und nahmen ihn mit. Er tat sich schwer Deutsch zu lernen und so wurde er ein
Einzelgänger, er bekam viele schlechte Sachen in Deutschland mit, so dass er begann Deutschland zu hassen.
Er ging zum Militär, von seinem Vater gezwungen, kam aber nicht, wie von ihm beabsichtigt nach Deutschland
zurück, sondern blieb in der Türkei, Istanbul. Murat lebt in einer kleinen schäbigen Wohnung und besitzt ein
Motorrad. Er nahm sich einst eines kleinen Jungen an, den er wie ein großer Bruder beschützt, Kerem (10).
Zusammen nehmen sie Touristen aus. Murat verkleidet sich als Clown und lenkt die Leute ab, Kerem stiehlt den
Touristen ihre Wertsachen. Viel kommt nicht bei rum, aber sie können sich über Wasser halten. Da sie aber
Einzelgänger sind und nicht in einer Bande organisiert sind, müssen sie häufig die Orte wechseln, an denen sie
ihre Tour abziehen. Kerem bewundert die Gangster, die die Straße beherrschen, elegant und mächtig. Murat
meidet sie. Auch in anderer Hinsicht sind sie sehr verschieden. Während Murat stets schlecht über Deutschland
redet, träumt Kerem davon. Er hält es für das gelobte Land. Sie streiten sich häufig darüber, und über Geld.
Kerem will nicht akzeptieren, dass er arm ist.
Als Kerem eines Tages erwischt wird und die Polizei ihn festnimmt, kann Murat nicht viel tun, sonst würde er sich
verraten. Er weiß, dass Kerem nun in ein Waisenhaus kommen wird und an sich wäre das besser, aber er macht
sich große Sorgen um ihn. Jedoch kommt anstelle der Wohlfahrt ein Mann, der Kerem freikauft und ihn
mitnehmen will. Glücklicherweise oder unglücklicherweise sieht Murat das. Unter den Augen der Polizei schafft
es Murat, Kerem davon abzuhalten, mit dem Mann mitzugehen. Aber dadurch hat er sich diese Männer zu
Feinden gemacht. Murat bringt Kerem nach Hause. Am nächsten Tag traut er sich nicht als Clown aufzutreten,
da sie ihn sofort finden würden. Er fährt mit Kerem zum Strand, er muss nachdenken. Er weiß, er muss aus der
Stadt verschwinden. Aber diese Erkenntnis kommt zu spät. Die Männer finden ihn, nehmen Kerem mit und
versuchen Murat zu verprügeln. Doch Murat wehrt sich, wobei er einen Angreifer tötet. Er wird nun gesucht und
muss Kerem befreien. Ein langes Katz und Maus-Spiel folgt, in dem Murat die „halbe Unterwelt“ auslöscht. Dies
kann er nur tun, da ein Unterboss ihn als Waffe ausnutzt, um seine internen Feinde zu besiegen. Murat kann nur
töten, seinen Kerem retten, oder sterben. Er kann Kerem befreien und löst seine Schuld ein. Jedoch muss er
Istanbul verlassen. Kerem würde gerne nach Deutschland, aber Murat erklärt ihm, dass Leute wie sie nicht so
einfach nach Deutschland kommen: das ist teuer, er ist nicht sein Sohn ...
Aber er nimmt ihn raus aus Istanbul und fährt mit ihm in das Dorf, wo er aufgewachsen ist. Nach Deutschland
kann Kerem gehen, wenn er erwachsen wird, und so lange muss Murat auf ihn aufpassen. Sie wachsen als
Familie zusammen.
3
ELLA CIESLINSKI | DrachenNest
„Der Weg ist das Ziel.“
Berlin 2012. ALI ist 23, lebt in einer chaotischen 1-Zimmerwohnung und nennt sich selbst ALEX, weil er Ali zu
türkisch findet. Das Handy klingelt. Er kann es nicht finden, hebt Zeitschriften, Bierflaschen und Klamotten auf,
bevor er es schließlich unter einem Berg Pizzakartons hervorangelt. Es ist CLAUDIA, seine typisch deutsch
aussehende Mutter, der er nicht im Geringsten ähnlich sieht und zu der er kein gutes Verhältnis hat. Sie lädt ihn
zu einer deutsch-türkischen Lesung ein. Alex hält nichts von Türken und er versteht nicht, dass sich
ausgerechnet seine Mutter für die deutsch-türkischen Beziehungen einsetzen muss. Aber er willigt ein, weil er
Geld braucht und vielleicht gibt sie ihm ja welches.
Aber Geld gibt es nicht. Auf dem gemeinsamen Nachhauseweg streiten sich die Beiden, schon wieder. Dann wird
Claudia plötzlich vom Auto erfasst und stirbt im Krankenhaus an ihren Verletzungen.
Nach der Beerdigung findet Alex ein altes Tagebuch von Claudia, das ihm offenbart, dass seine Mutter vor seiner
Geburt einige Monate in Istanbul gelebt und sich dort verliebt hat, und dass sein Vater, den er nie kennen gelernt
hat, Türke ist. Türke. Aber im Tagebuch fehlen die letzten Seiten, es gibt keine Hinweise auf den Vater. Alex ist
wütend auf seine Mutter, auf seinen Vater, aber vor allem auf sich selbst, weil er sich insgeheim Vorwürfe macht,
dass er immer so abweisend und kalt zu seiner Mutter war. Er beschließt nach Istanbul zu gehen, um seinen
Vater zu finden.
Istanbul. Die ersten Tage in der fremden Stadt verlaufen frustrierend. Das Tagebuch benennt den Vater nur beim
Vornamen, NECIP, und das Haus in dem Necip damals gewohnt haben soll, ist jetzt verwahrlost. Alex ist genervt
von der Hitze, er versteht kein Wort Türkisch, er isst lieber bei McDonalds als Kebab und von den Menschen will
er nichts wissen. Und dann gerät er auch noch in eine Demonstration von konservativen Islamisten. Wegen
seines aggressiven Verhaltens kommt Alex fast in Schwierigkeiten, aber ihm kommt SERAP, eine
Gegendemonstrantin, zur Hilfe. Dabei geht Serap Alex nur bis zur Brust. Serap ist 26, auffällig hellhäutig und
zierlich, hat kurze schwarze Kringellocken, riesige grüne Augen und eine Sicherheitsnadel im Ohr und: sie spricht
Deutsch. Alex sieht so hilfebedürftig aus, Serap bemitleidet ihn. Er kann bei ihr unterkommen. Durch sie lernt er
eine Gruppe junger kemalistischer Aktivisten kennen und langsam beginnt sich seine anfängliche negative
Einstellung in Neugierde zu verwandeln. Er beginnt sogar Türkisch zu lernen.
Mit Serap zusammen geht er auf die Spuren seiner Mutter. Sie gehen den Orten und Menschen nach, die im
Tagebuch beschrieben sind und Alex entdeckt seine Mutter als eine starke und leidenschaftliche Frau, als eine
Frau, wie er sie nie kannte. Denn Seite für Seite des Tagebuchs erfährt er immer mehr über die Liebe zwischen
Mutter und Vater. Und wie er in die Liebesgeschichte seiner Eltern eintaucht, verliebt er sich in Serap und die
Liebesgeschichte seiner Eltern wird zu seiner Geschichte.
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Das DrachenNest, ein Liebesnest über den Dächern Istanbuls, ist einer der beschriebenen Orte im Tagebuch.
Hier haben sich Claudia und Necip immer getroffen. Jetzt treffen sich Serap und Alex im DrachenNest. Von hier
aus kann man nachts die vom Galata-Turm angeleuchteten Fledermäuse sich in fliegende Drachen verwandeln
sehen.
Alex besucht ÖZAY, eine ehemalige Freundin seiner Mutter. Sie gibt ihm ein Buch, dass Claudia ihr damals zum
Lesen dagelassen hat. Sie habe es nie gelesen, sagt Özay, sie hätte sich nicht getraut zuzugeben, dass sie gar
nicht lesen kann. Alex schlägt das Buch auf, um ihr ein paar Zeilen vorzulesen und findet die herausgerissenen
Tagebuchseiten.
Und plötzlich zerbricht seine eben noch so heile Welt, denn die eng geschriebenen Wörter seiner Mutter
offenbaren ihm die bisher verborgene Vergangenheit.
Seine Mutter musste damals Hals über Kopf, schwer verletzt und schwanger Istanbul verlassen, weil Necip sie
beinahe zu Tode geschlagen hätte, nachdem er erfuhr, dass sie schwanger war. Necip war zum damaligen
Zeitpunkt der islamistischen Partei beigetreten.
Und Alex erkennt: Der konservative Islamist, der immer im Fernsehen spricht und gegen den Serap kämpft,
NECIP AKFIRAT, ist sein Vater.
Alex weiß nicht, was er tun soll. Er kann Serap nicht die Wahrheit sagen. Auf eigene Faust versucht er seinen
Vater zu kontaktieren, wird aber immer wieder von dessen Leibwächtern zurückgewiesen. Schließlich schafft er
es in Necips Haus einzudringen, wird aber in dem Moment, als er schon vor seinem Vater steht von den
Wächtern überwältigt und der Polizei ausgeliefert. Er kommt ins Gefängnis und hat keinen Kontakt zur
Außenwelt. Er ist allein in einer Zelle, der Boden ist schmutzig, die Wände beschmiert. Überraschend kommt ihn
Serap besuchen. Sie hat die Tagebuchseiten gefunden. Sie kämpft für ihn.
Nur wenige Tage später wird Alex ohne ein weiteres Wort freigelassen. Serap wartet schon auf ihn. Alex ist frei,
unter der Bedingung, dass er die Türkei verlässt.
Zusammen klettern Alex und Serap noch ein letztes Mal hoch ins DrachenNest. Alex zerreißt die
herausgerissenen Tagebuchseiten.
Schwarz.
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HANNAH GROSSMANN | Das Einhorn
Mira (24) kehrt im Sommer 1995 nach über 20 Jahren aus Duisburg in ihre Heimatstadt Istanbul zurück und
mietet sich eine kleine Wohnung mit Garten auf der Prinzeninsel. Schon durch kulturelle Austausche von
Deutschland aus mit der Türkei hat sie Kontakte in diese Kreisen, auch auf der Prinzeninsel und ist weiterhin
aktiv. Von den Inselbewohnern wird sie freundlich aufgenommen und Mira blüht sofort auf, was sich auch an
ihrem Äußeren bemerkbar macht. Mira ist in der Gemeinschaft akzeptiert, trägt aber auch eine gewisse
geheimnisvolle Aura mit sich. Manchmal sieht sie tagelang niemand und dann taucht sie wieder auf, als wäre
nichts gewesen.
Mira bekommt Besuch von ihrer besten Freundin aus Duisburg, die dort auch ihre Vermieterin war. Sie kennt
auch den wahren Grund, weshalb Mira zu ihren Kindheitswurzeln zurückgekehrt ist. Außer, dass die Ruhe auf
der Insel Miras Rheuma gut tut, leidet sie auch unter einer schweren Depression. Diese hat ihr, verbunden mit
der aufblühenden Ausländerfeindlichkeit nach der Wende, das Leben in Deutschland unmöglich gemacht.
Mira kämpft immer noch mit Albträumen und Wahnvorstellungen. Ihre größte Angst ist es, in ihrem eigenen
Schlafzimmer nachts zu verbrennen, da viele türkische Wohnungen in Deutschland in Brand gesetzt wurden.
Immer wieder durchlebt sie, dass sie in ihrem Zimmer, welches an drei Wänden mit Büchern vollgestellt ist,
verbrennt. Dabei hört sie die schreienden und lachenden Stimmen ihrer deutschen Schüler und Kollegen vom
Gymnasium, die die Brandstifter sind. Im Traum liegt neben ihrem Bett immer ein Märchenbuch, auf dem ein
Einhorn abgebildet ist, welches sie in ihrer Kindheit besaß, aber verloren hat. Kurz bevor das Feuer sie
verschlingt, endet der Albtraum. Die Ängste aus dem Traum beeinflussen immer noch ihre Realität. Deshalb hat
sich Mira mit einem aufwändigen Ritual angewöhnt, das Einschlafen heraus zu zögern.
Jana, Miras Freundin aus Duisburg, kommt auf der Insel an und sie verbringen märchenhafte Tage. Doch Miras
Stimmung fängt auf einmal an zu schwanken und sie erzeugt aus einer Laune heraus unnötige Konfrontationen.
Diese werden immer heftiger und erreichen den Höhepunkt, als Mira der Überzeugung ist, dass Jana zu Besuch
gekommen ist, um sie aus ihrer Wohnung zu vertreiben. Sie begründet ihre Anschuldigung mit einem
Zwischenfall, der sich noch in Duisburg ereignete. Jana hatte sie damals gebeten, ihren Namen vom Klingelschild
zu entfernen, da es eine Gefahr für die ganze Nachbarschaft darstellte. Es kommt zu einem großen Streit
zwischen den beiden Frauen und Jana kann für Miras Krankheit kein Verständnis mehr aufbringen. Sie geht noch
am selben Abend ins Hotel.
In dieser Nacht hat Mira denselben Albtraum wieder, doch diesmal geht er weiter. Sie sieht zu, wie sie in ihrem
Bett in Duisburg verbrennt und neben ihr das Märchenbuch aus ihrer Kindheit.
Am nächsten Morgen, auf dem Weg zum Bäcker, sieht sie in der Ferne am Ufer einen alten Mann, der ein
weißes Pferd mit bunten Decken und einem orange gefärbtem Schwanz, wie aus einem Märchen, an den Zügeln
mit sich führt.
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CHIARA GRABMAYR | Pistaziengrün
Gaziantep, Türkei an der Grenze zu Syrien. Mesut Ersek ist 20 Jahre alt. Er ist der einzige Sohn einer in
ärmlichen Verhältnissen lebenden Familie. Alle nennen ihn Mike, weil er ständig über Deutschland spricht.
Bereits als Kind hat er durch einen Spalt in der Kinotür deutsche Filme angeschaut. Seitdem ist es sein größter
Traum, nach Deutschland auszuwandern. An seinem Geburtstag erhält er den Einberufungsbefehl des Militärs.
Mike ist Pazifist. Ein Grund mehr, nun nach Deutschland zu gehen.
Als er die Entscheidung trifft, das Land zu verlassen und den Militärdienst zu verweigern, wird seine Mutter
schwer krank. Die einzige Möglichkeit Geld für die Behandlung aufzutreiben ist, den Militärdienst anzutreten.
Mike schläft mit neun anderen Jungen in einem dunklen und feuchten Raum ohne Fenster. Er ist unglücklich,
fühlt sich wie ein Schaf unter Wölfen. Er weigert sich, mit den andern zu rauchen oder sich Frauen aus dem Dorf
für eine Nacht in die Kaserne zu holen. Aus diesen Gründen wird er von den stärker gebauten Kameraden
herunter gemacht. Das Einzige was Mike interessiert, ist der Deutschländer.
Sinan ist ein in Deutschland geborener Türke, der abgeschoben und sofort vom Militär eingezogen wurde. Sinan
ist 22 und spricht kein Türkisch. Er leistet seinen Dienst als Pfleger auf der Krankenstation der Kaserne.
Die Syrer haben einen unbewaffneten türkischen Kampfjet, der durch internationalen Luftraum geflogen ist,
abgeschossen. Die türkische Armee erhält den Befehl, Truppen an der Grenze zu positionieren und für einen
Einsatz vorzubereiten. Mike hat Angst. Er möchte weder jemanden töten noch sterben. Getrieben von seinen
Ängsten, isst er einen Sack Pistazien, auf die er allergisch ist. Pusteln, Schwindelanfälle und Atemstillstände sind
die beinahe tödlichen Folgen.
Mike wacht in einem Licht durchflutetem Raum auf. Ein weißer Vorhang weht im Wind des Ventilators. Grüne
Augen, wie er sie noch nie zuvor gesehen hat, schauen ihn an. Sinan cremt seine Arme ein. Er befindet sich auf
der Krankenstation. Mike ist erleichtert und froh, dass er dem Einsatz an der Front entkommen ist. Er bedankt
sich auf Deutsch für die Behandlung bei Sinan. Anschließend wiederholt er die Worte auf Türkisch. Sinan ist
überrascht. Er spricht Mike nach. Mit jedem Wort, das sie einander auf ihren Sprachen beibringen, entsteht eine
Freundschaft. Gemeinsam erfinden sie Ausreden, damit Mike auf der Krankenstation bleiben kann. Die
körperliche Nähe durch die Behandlungen löst einige intime Momente aus. Keiner der beiden schreckt vor den
zärtlichen Berührungen zurück. Mit jedem Tag werden ihre Kontakte bewusster. Sinan fährt mit seinem Finger
vorsichtig über Mikes trockene Lippen. Er küsst Mike. Sie lieben sich.
Für den Deutschländer ist es nicht das erste Mal einen Mann zu lieben. Mike hingegen weiß nicht, wie er mit
seinen Gefühlen umgehen soll. Es fühlt sich richtig an. Jedoch überkommt ihn Panik, dass sie erwischt werden
könnten. Lange Gefängnisstrafen und Folter erwarten Homosexuelle beim türkischen Militär.
Gleichgeschlechtliche Liebe wird als Krankheit gesehen. Sinan möchte mit Mike nach dem Militärdienst zurück
nach Deutschland gehen. Er bittet ihn, an der Beziehung festzuhalten.
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Mike liegt in einem Schützengraben. Er hat sich gesund gemeldet, um an die Front versetzt zu werden. So will er
seinen Gefühlen entfliehen und die Beziehung zu Sinan beenden. Dieser will auf keinen Fall aufgeben. Er schickt
Mike liebevolle Emails. Mike versucht seine Sehnsucht zu unterdrücken. Er antwortet auf keine der Nachrichten.
Als er jedoch geschockt und verängstigt von einem Schusswechsel Verständnis und Geborgenheit sucht, ruft er
Sinan an. Sein Truppenführer betritt den Raum. Mike, ins Gespräch vertieft, bemerkt den Mann nicht. Der
Kommandant schleicht sich von hinten an ihn heran und belauscht sein Telefonat.
Mikes blutbefleckte Hose hängt an seinen Knöcheln. Sein Kopf liegt auf einem Stuhl. Mike starrt ins Leere. In
seiner Hand hält er eine Pistole. Daneben liegt sein Kommandant tot auf dem Boden.
Mike ist auf der Flucht. Sein Ziel ist Deutschland. Tagsüber versteckt er sich im Wald. Nachts rennt er bis zum
Morgengrauen Richtung Westen. Mike möchte sich unbedingt bei Sinan entschuldigen und ihn auf seine Flucht
nach Deutschland mitnehmen. Zu Spät. Laut klagende Frauen mit Kopftuch stehen bei einem Schuttberg. Die
Kaserne ist von einer Fliegerbombe zerstört worden. Sinan ist tot. Es gibt keine Überlebenden.
Berlin. Mesut Ersek, so ruft ihn die Oberschwester im Urban Krankenhaus, arbeitet als Pfleger.
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FERDINAND ARTHUBER | Vom Suchen und Finden
Maria (Mitte 40) ist alleinerziehend und lebt in Hamburg. Tochter Elena (Anfang 20) ist lange ausgezogen und
steht auf eigenen Beinen. Maria ist unglücklich mit ihrem Leben und ihrem tristen Bürojob. Zumindest glaubt sie
das. Sie beschließt den Kontakt zu einer alten Freundin aus Schulzeiten wieder aufzunehmen. (Sie hatten vor
einigen Jahren regen E-Mail-Verkehr). Die beiden haben gemeinsam an einer Kunsthochschule Malerei studiert.
Maria gab die Kunst auf und fing in einem Büro zu arbeiten an. Sie wird von der Deutsch-Türkin Seda (Anfang
40) nach Istanbul eingeladen. Seda ist Künstlerin geworden (geblieben) und lebt seit ca. 20 Jahren in Istanbul.
Sie will Maria helfen, eine kleine Auszeit zu nehmen und auf andere Gedanken zu kommen. Maria sagt sofort zu
und freut sich auf mehrere Wochen Istanbul. Maria wohnt bei Seda und findet sich schnell in den Freundeskreis
der Künstlerin ein. Sie ist begeistert und überrascht von den modernen und spannenden Menschen, die Sie
kennen lernt.
Maria fühlt sich frei und sucht den Kontakt in der schillernden Nachtwelt von Istanbul. Vernissagen, Abendessen
in Szenerestaurants und lange intellektuelle Gespräche in warmen Nächten. Maria blüht auf.
Eines Abends stellt Seda Maria den Anwalt Yilmaz (Ende 40) vor. Es funkt sofort zwischen den beiden. Yilmaz
spricht gut Deutsch, da die Kanzlei für die er arbeitet gute Kontakte nach Deutschland pflegt und er daher die
Sprache gelernt hat. Maria verlängert ihren Aufenthalt in Istanbul. Sie sieht plötzlich die Chance, ihrem Leben
neuen Wind einzuhauchen. Zwischen den beiden beginnt eine Romanze. Sie lernt Yilmaz als modernen,
weltmännischen Gentleman kennen und verliebt sich. Es vergehen einige Monate, bis Elena endlich der
Einladung ihrer Mutter folgt und für einige Tage zu Besuch kommt. Eines Abends offenbart ihr Maria, dass Sie
und Yilmaz eine gemeinsame Zukunft in Istanbul planen. Sie habe die Liebe ihres Lebens gefunden! Die
zunächst skeptische Elena unterstützt schließlich ihre Mutter. Sie lernt Yilmaz kennen und ist von ihm begeistert
und verspricht, regelmäßig in den Sommermonaten zu Besuch zu kommen.
Maria zieht bei Yilmaz ein und wird von Seda an eine Galerie vermittelt, in der sie halbtags arbeitet. Yilmaz
verdient gutes Geld und so genießen die beiden die Vorzüge des Szene- und Künstler-Daseins in Istanbul.
Es vergehen einige Monate und Maria hat sich perfekt eingelebt. Sie glaubt, endlich angekommen zu sein und
die verpassten Chancen der Vergangenheit wieder gut gemacht zu haben.
Eines Tages verliert Yilmaz völlig unerwartet seinen Job in der Kanzlei. Ihm wird zu Unrecht ein Betrugsfall in die
Schuhe geschoben, bei dem die Firma eine große Summe Geld ergaunert hat. Er verliert seine Zulassung.
Marias Gehalt reicht bei weitem nicht aus, das teure Apartment im Szene-Bezirk zu bezahlen. Yilmaz ist frustriert
und dazu zu stolz, einen kleinen Job anzunehmen. Er trifft einen alten Bekannten, der ihm eine kleine Wohnung
in einem armen, traditionellen Außenbezirk der Stadt anbietet. Der Bekannte ist das komplette Gegenteil der
hippen und europäisch eingestellten Menschen, mit denen die beiden sonst ihre Freizeit verbrachten. Der
Bekannte bietet Yilmaz an, ein lehrstehendes Teehaus zu übernehmen. Er sei genau der richtige Mann dafür.
Yilmaz und Maria willigen ein es zu versuchen. Beide sind überrascht von der Hilfsbereitschaft im Viertel. Alle
handwerklichen Dinge werden erledigt und die ersten Mieten für die kleine Wohnung streckt ihnen der Bekannte
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vor. Im Gegenzug soll Yilmaz ihn bei einigen juristischen Fragen beraten. Es geht um eine kleine Partei und man
sei auf der Suche nach einem Juristen. Die beiden machen sich in ihrer Not abhängig - willigen aber ein. Die
Treffen mit den alten Bekannten werden stetig weniger und zunehmend fühlen sich die beiden auch nicht mehr
willkommen. Ohne Geld scheinen sie nicht mehr "mitspielen" zu können. Zunächst ungläubig, aber dann aus
Trotz, brechen sie fast alle Kontakte ab. Maria trifft sich lediglich manchmal noch mit Seda, die sie davor warnt,
dass die Übergangslösung zu lange dauert. Maria zweifelt, da sie Seda nun nicht mehr wie früher zu tollen
Veranstaltungen mitnimmt. Und so bricht auch der letzte Kontakt zur alten Umgebung ab. Yilmaz und Maria
versuchen sich mit der Bar über Wasser zu halten. Yilmaz lässt sich zunehmend von dem alten Bekannten und
den Vorstellungen der Partei einnehmen. Er fühlt sich endlich wieder wertgeschätzt. Man legt ihm nahe, dass er
und Maria sich den Gepflogenheiten des Viertels anpassen sollen. Die blonde Maria müsse nicht in die Moschee
gehen, aber zumindest nicht mehr unverhüllt auf der Straße oder in der Bar auftreten. Maria fühlt sich von Yilmaz
bedrängt, willigt aber aus Liebe zu ihm ein. Sie bemerkt zunehmend eine Veränderung an ihm, redet sich aber
ein, dass sicher bald wieder andere Zeiten kommen würden. Es ist Sommer und Elena kommt zu Besuch. Sie ist
geschockt, wie der einst so wunderbare und respektvolle Yilmaz plötzlich mit ihrer Mutter umgeht. Er scheint
seinen Frust über die Entwicklung seines Lebens an ihr auszulassen. Zudem wird er in seinem Handeln von dem
Bekannten und seinen Freunden aus der Partei auch noch unterstützt. Die Situation ist Maria völlig aus den
Händen geglitten und Elena fleht ihre Mutter an wieder zurück nach Deutschland zu kommen. Die Meinung ihrer
Tochter war Maria immer am wichtigsten, doch nun entwickelt sich ein Streit. Maria wirft ihr vor, sie nicht
genügend zu unterstützen und versichert ihr, dass die Dinge sich bald wieder ändern werden. Elena reist früher
als geplant ab. Die Umstände spitzen sich zu. In den nächsten Monaten erkennt Maria Yilmaz nicht wieder. Er
verteufelt die verlogenen westlichen Kapitalisten im Land. Man müsse da etwas dagegen tun und sich zurück auf
traditionelle Werte besinnen. Yilmaz ist verbittert und beginnt Regeln für Maria aufzustellen. Maria weiß nicht
mehr weiter. Sie versucht den "alten" Yilmaz zurück zu holen und fängt eines Abends ein langes Streitgespräch
mit ihm an. Sie wirft ihm ihre Meinung zur Partei und deren Vorstellungen an den Kopf und droht damit ihn zu
verlassen. Sie liebe ihn zwar, könne aber so nicht weiter leben. Yilmaz verliert die Kontrolle und verpasst Maria
mehrere Ohrfeigen. Noch in derselben Nacht nimmt Maria Reißaus.
3 Monate später in Deutschland. Maria hat eine kleine Wohnung in ihrer alten Heimatstadt gefunden und einen
Job in einer kleinen, kaum bekannten Galerie. Dort erledigt sie die Buchhaltung und kommt gut über die Runden.
Tagsüber in einem Bürogebäude. Yilmaz ist sichtlich angespannt, trägt einen Anzug. Er sitzt in einem
Besprechungsraum. Ihm gegenüber sitzen zwei Männer, die ihm abwechselnd Fragen zu seinem Lebenslauf und
seiner juristischen Ausbildung stellen. Die versichern ihm, dass in ihrer Firma keine krummen Dinger laufen. Es
wird gelacht, man heißt ihn in Hamburg herzlich willkommen und freut sich auf die Zusammenarbeit.
Es ist Abend. Yilmaz sitzt allein in einem kleinen 1-Zimmer-Apartment. Er nimmt das Telefon und wählt eine
Nummer. Er erkundigt sich nach einer Adresse in Hamburg. Er nennt Marias Namen. Freudig lässt er sich ins
Bett fallen.
10
ISABELLE BERTOLONE | Turkish Delight
Helena ist 19, studiert Kunst und möchte ein Auslandssemester in Istanbul machen.
Ihre Familie ist gegen den Auslandsaufenthalt. Zu gefährlich ist die Türkei für ein junges Mädchen. Aber Helena
möchte unbedingt raus aus dem reichen Elternhaus. Über das Internet hat sie auch schon ein erschwingliches
WG-Zimmer bei einem gewissen Ahmed gefunden. Er ist 26, Fotograf und hört sich über den E-Mail Kontakt
ganz nett an. Die erste Hürde ist schon gemeistert.
Der Abschied in Deutschland fällt nicht überschwänglich aus. Helena will stark sein. Ihre Mutter hat ihr bereits
Pakete mit Nahrungsmitteln vorausgeschickt. Als Helena in Istanbul landet, ist es heiß und stickig. Und sie
versteht kein Wort von dem, was der Taxifahrer ihr zu erzählen hat.
Die WG befindet sich in einem kargen Altbau. Als Helena klingelt, öffnet ihr eine ältere Frau, Esra (60), die Tür.
Ihre Augen und ihr Mund sind auffällig geschminkt, im toupierten Haar trägt sie ein rotes Tuch. In der Wohnung
ist es dunkel und kühl, die Einrichtung spartanisch. Ahmed lässt sich aufgrund eines Termins entschuldigen.
Die beiden Frauen trinken bitteren Tee und unterhalten sich auf Englisch. Helena wird das Gefühl nicht los, dass
Esra sich über sie amüsiert.
Am späten Abend kommt Ahmed nach Hause. Er ist angetan von Helena, begrüßt sie herzlich und schießt gleich
ein Foto von ihr.
Helena ist irritiert. Das kann unmöglich Ahmed sein. Er trägt ein ausgeleiertes Poloshirt, dazu eine kurze Hose
und einen Fischerhut. Seine Haare sind weiß, sein Bart ist orange gefärbt. Ahmed ist nicht 26, sondern 62.
Tippfehler, gibt er zu und lächelt.
Helena schweigt. Sie ist schockiert und müde zugleich, lässt alles geschehen. Als Esra sich verabschiedet hat,
holt Ahmed ein schweres Buch aus dem Regal. Helena soll es aufschlagen. Behaarte Frauen, die sich an
behaarte Männer pressen. Ahmed ist technischer Leiter für eine Enzyklopädie über Sex.
Später liegt Helena unglücklich im Bett und knabbert am Schwarzbrot ihrer Mutter. So hat sie sich ihre WG nicht
vorgestellt. Ein alter Sack. Noch älter als ihr Vater. Und eklig ist er auch noch. Aber zu Hause anrufen kann sie
nicht. Sie hat ja gesagt, alles sei geregelt.
Am nächsten Tag ist Ahmed verschwunden. Helena ist erleichtert. Sie macht sich auf den Weg zur Uni, in der
Hoffnung dort andere Erasmusstudenten zu treffen. Wen sie dort trifft, ist allerdings Esra, die dort arbeitet.
Diese lädt sie zu sich nach Hause ein. Esra bringt selbstgemachte Limonade und verschiedene Süßigkeiten auf
die Terrasse. Hier wachsen Hortensien, wohin man schaut. Alles ist liebevoll hergerichtet. Während sie sich über
die Uni unterhalten, zerteilt Esra das Gebäck in viele kleine Teile, aber scheint nichts davon zu essen. Helena
versucht sich zu zügeln. Tatsächlich zu essen, erscheint ihr plötzlich unangebracht.
Helena versucht, mehr über Ahmed herauszufinden. Aber Esra geht nicht weiter darauf ein. Nur, dass Esra und
ihn eine Leidenschaft für Plastikgold verbindet, lässt sie sich entlocken. Sie bringt Helena zur Straßenbahn.
In der Bahn steht ein junger Mann (20), Can. Er ist schmächtig und hat die Hände in den Taschen vergraben.
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Er beobachtet Helena. Sie trägt ein bodenlanges, schwarzes Kleid und hat ihre langen, schwarzen Haare im
Rücken locker zusammengebunden. Helena umgibt eine atemberaubende Aura. Sie scheint in Gedanken
versunken und bemerkt seine Blicke nicht.
Sie steigen zusammen aus der Bahn, aber Can verliert sie in der dichten, lauten Menge.
Gegenüber von ihrer Wohnung hält Helena plötzlich jemand von der Seite am Arm fest. Es ist Ahmed, der in
einem "Turkish Delight" Café draußen einen Tee trinkt.
Helena soll sich setzen. Ahmed erzählt ihr von der Geschichte der türkischen Süßspeisen, aber Helena scheint
abwesend. Erst ein übergewichtiges Ehepaar in bunten Shorts weckt ihre Aufmerksamkeit. Die Deutschen
stammeln verloren ein paar Worte Türkisch. Ahmed und Helena blicken sich an und grinsen.
Von ihrem Zimmerfenster aus kann Helena auf die Konditorei blicken. Can steht in weißer Arbeitskleidung oben
in der Backstube. Er nascht vom Blech, schaut sich um. Und sieht Helena direkt in die Augen.
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DIANA ANDRIOTIS | So was wie Brüder
Die Halbbrüder KENAN und FATIH sehen sich heute zum ersten Mal auf der Beerdigung ihres Vaters.
KENAN ist der Ältere, er ist 32 und lebt in Istanbul. Dort hat der Vater ihn und seine Mutter vor 28 Jahren
verlassen, als er nach Deutschland ging, um Arbeit zu finden. Er kehrte nicht zurück, sondern gründete später mit
einer Deutschen eine neue Familie, FATIHS Familie. KENAN hat seinem Vater nie verziehen, gleichzeitig war die
Sehnsucht nach dessen Anerkennung groß. Er lernte als Kind heimlich Deutsch, gegen den Willen der Mutter.
Bei den seltenen Besuchen des Vaters in Istanbul tat er alles, um dessen Gunst zu gewinnen. Doch er wusste,
da war noch dieser andere Sohn.
FATIH ist 25, er hat erst vor ein paar Tagen von seinem Halbbruder erfahren. Ihm wurde als er klein war immer
erzählt, dass der Vater auf Geschäftsreise in Istanbul sei. Er selbst durfte aber nie nach Istanbul fahren. Sein
Vater war ihm ein guter Vater, wenn er auch nie richtig zu ihm durchdringen konnte.
KENAN ist alleine zur Beerdigung nach Deutschland gekommen. Niemand kennt ihn dort, außer FATIH und
FATIHS Mutter, BIRGIT. BIRGIT kümmert sich herzlich um KENAN. FATIH hingegen weiß nicht, wie er diesem
Halbbruder gegenüber treten soll. Er fühlt sich von seinen Eltern hintergangen. Seine Welt, so wie er sie kannte,
existiert nicht mehr. KENAN sieht zum ersten Mal das Zuhause seines Vaters in Deutschland. Das Leben, an
dem er nicht Teil haben durfte. BIRGIT erklärt den Brüdern, dass in Deutschland nur die Trauerzeremonie
stattgefunden hat, die Asche soll aber in Istanbul begraben werden. KENAN soll gemeinsam mit FATIH die Urne
des Vaters nach Istanbul fahren. Das war sein letzter Wille. FATIH wehrt sich zunächst gegen diesen Wunsch,
willigt dann aber nach BIRGITS Flehen ein. Es beginnt ein Road-Trip, auf dem zunächst viel geschwiegen wird.
Die Brüder versuchen mit gebrochenem Türkisch und Deutsch die erdrückende Stille zu füllen. Drei Tage und
drei Nächte durch sechs Länder mit einem Fremden neben sich. Niemand will sagen, was gesagt werden muss.
Erst wird nur oberflächlich über den Vater gesprochen. Doch FATIH ist geladen. Er offenbart KENAN, dass er
Unterlagen des Vaters gefunden hat die bestätigen, dass er und KENANS Mutter nie geschieden wurden.
Außerdem hat er wohl alles aufgehoben, was er von KENAN hatte, Fotos, gemalte Bilder, Briefe usw. Wer war ihr
Vater überhaupt? Wie konnte er KENAN alleine lassen und FATIH all die Jahre belügen. Wen hat er geliebt? Das
Gespräch artet in einen Streit aus und in einen Unfall. Doch beide bleiben fast unversehrt. Nach dem Schock
nimmt der Trip eine Kehrtwendung. Er wird zum echten Abenteuer, denn der Unfall war nur eine von vielen
Prüfungen, die die Brüder bestehen müssen. Die größte ist jedoch die Erkenntnis, dass sie einander brauchen.
Am Anfang der Reise sind sie Fremde, am Ende so was wie Brüder.
13
JULIUS GRIMM | Sprachbarriere
Emre (13), Sohn einer türkischen Familie, ist schon sein ganzes Leben in Deutschland und spricht kein Wort
Türkisch.
Mit seiner Familie fährt er nach Istanbul in den Urlaub. Sein erster Türkei-Aufenthalt. Nach einigen trostlosen
touristischen Tagen trifft er auf Pinar (12), ein türkisches Bettelmädchen, das Holz-Jojos verkauft. Beim Versuch
sie anzusprechen, scheitert er kläglich. Pinar will nur ihr Jojo verkaufen und da Emre kein Geld hat, geht sie
weiter. Der Junge folgt ihr zu einem Kleinbus, in dem mehrere Kinder sitzen. In seinem Versteck beobachtet er,
wie das Mädchen geschlagen und beschimpft wird, da sie nichts verdient hat.
Emre lernt von seinem Vater die türkischen Grundwörter und luchst ihm noch ein wenig Geld ab. Gut vorbereitet
macht er sich auf die Suche nach Pinar. Nach einiger Zeit findet er sie endlich. Emre kauft ihr ein Jojo ab. Vor
ihren Augen stellt er sich damit bewusst doof an. Lachend erklärt Pinar Emre das Spielgerät. Eine Freundschaft
entsteht. Mit Hilfe von Zeitungen, Speisekarten und diversen Gegenständen lernt Emre Türkisch. Eines Tages
kommen die zwei an einen Busbahnhof. Auf einer Türkeikarte zeigt Pinar Emre ihre Heimat. Sie fordert Geld von
ihm für ein Ticket. Als Emre verneint, läuft sie weg. Emre schlüpft wieder in den langweiligen Touristenalltag
seiner Eltern. Abends sitzt er immer vor den Holz-Jojos. Eins von jedem Treffen mit Pinar. Als Emre eines
Abends mit seinen Eltern beim Essen sitzt, entdeckt er Pinar. Einsam und verlassen steht sie da und versucht
ihre Jojos zu verkaufen. Ohne Erfolg, sie verkauft nichts.
Zu Hause beschließt Emre seinen Game-Boy zu verkaufen. Mit dem Geld bricht er auf, um Pinar zu finden. Sie
fällt ihm glücklich in die Arme, gibt ihm einen Kuss auf die Wange und übergibt ihm ihre Halskette.
Pinar fährt zu ihrer Familie und Emre fährt zurück nach Deutschland.
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JACOB SCHREIER | Istanbul Steroid
Wir sehen ORHAN (22), DENIS (20) und EMRE (19), die mittags in Istanbul ankommen. Auf dem Weg vom
Flughafen ins Hotel halten sie bereits nach Apotheken Ausschau die Protein-Shakes in der Auslage haben, denn
Denis hat seinen Shaker vergessen. Orhans Onkel begrüßt die drei im Hotel und zeigt ihnen gleich den FitnessRaum mit Ausblick über die Stadt, er lacht ein wenig über ihr Türkisch, aber es geht. Nach dem Umziehen wird
gepumpt, im Studio ist außer ihnen niemand, so können sie über die mitgebrachten MP3-Player-Boxen den
neuen Headhunterz-Remix auf Anschlag hören.
Die Tage von Orhan, Denis und Emre sind gut durchgeplant, nach üppigem Frühstück wird vormittags trainiert,
nachmittags kann man sich auf der Dachterrasse bräunen und verschiedene After-Workout-Shakes probieren. Im
Fitness-Raum läuft laut Hardstyle und man posiert gegenseitig für Handyfotos. Mittags nutzen sie die goldene
Stunde, um gemeinsam ans Goldene Horn zu gehen und dort Dönerfleisch oder Fisch zu essen. Abends bietet
das Buffet im Hotel Omelette und Steak und nach ein paar abschließenden Übungen im Fitness-Raum, kann
man in der Bar gegenüber, die ebenfalls Orhans Onkel gehört, Shisha rauchen und Wodka-Bull trinken. Zu dritt
planen sie ihre erste Kur mit Steroiden, die direkt nach dem Urlaub starten soll. In der Türkei ist sämtliche
Apothekenware billiger, weshalb man sich abgesehen von den Roids und Tamoxifen auch mit dem üblichen
Whey und Casein, den Aminosäurenpräparaten und vielleicht auch Kreatin eindecken sollte. Und wenn UlabWare oder einfach Amphetaminmäßig was aufzutreiben ist, warum nicht.
Das Dönerfleisch ist schlechter als das, was Orhan und Denis aus Oberhausen gewöhnt sind und da beide große
Angst vor einer Lebensmittelvergiftung haben, beschließen sie, am zweiten Tag nur noch im Hotel zu essen.
Emre will lieber wieder an der Galata-Brücke essen, das rege Treiben, die Aussicht und die Gerüche dort haben
ihn beeindruckt, aber Orhan und Denis lachen ihn aus - die Schwuchtel - von wegen Gerüche; es stinkt am
Wasser einfach nach Fisch. Trotzdem gehen alle drei zusammen los, um die ersten Apotheken abzuchecken. In
der Apotheke spricht Orhan zwei Türken in ähnlichem Alter und mit ähnlicher Statur an. Alles kein Problem,
meinen MEHMET und NEDIM, sie könnten fast alle Präparate schnell und günstig besorgen, am besten, man
treffe sich noch am gleichen Abend im Tekyon-Club in Beyoglu. Orhan und Denis sind begeistert, wie günstig der
Stoff ist und wie cool die türkischen Pumper drauf sind. Zurück im Hotel starten sie hochmotiviert eine
Nachmittags-Session mit den neuen Shakes und dem voll aufgedrehten Drop out von Deepack.
Nach ausgiebigem Styling marschieren sie nachts über die immer noch überfüllte Istiklal-Straße zum Club. Der
Tekyon-Club ist voll, eng und laut. Muskeln und V-Ausschnitte, Haargel, Tribals und goldene Halsketten – die
Stimmung ist gut. Mehmet und Nedim haben abgesehen vom Primobolan alles besorgt und geben zusätzlich ein
paar Lines Pep aus. Emre tanzt, während Orhan und Denis das Geschehen mit ihren Wodka-Bulls von der Bar
aus betrachten. Sie wollen nicht allzu lange bleiben, um am nächsten Tag fit zu sein. Außerdem wollen sie
möglichst schnell Online gehen, um im Forum zu checken, ob die Androne, die ihnen verkauft wurden keine
Fakes sind. Emre bleibt noch, er tanzt und spricht Türkisch, er fühlt sich wohl unter seinen neuen Freunden. Am
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Klo zieht er mit einem von ihnen Pep, als dieser ihm in seine Hose greift, ihn gegen die Kabinenwand drückt und
ihm die Zunge in den Hals steckt. Emre stößt ihn weg, schlägt ihm ins Gesicht und stürzt aus der Toilette. Auf der
Tanzfläche holt ihn sein neuer Freund ein und sie treffen auf Mehmet und Nedim. Emre versucht zu erklären,
aber da hat er schon die erste Faust im Gesicht. Aus dem Club geprügelt, liegt er mit blutigem Gesicht auf dem
Kopfsteinpflaster. Von den Türstehern zurückgehalten, schreien ihn Mehmet und Nedim an, er solle sich
verpissen – Scheiß-Deutscher – und in Istanbul nicht mehr blicken lassen. Emre rafft sich auf und stolpert die
engen Gassen zum Goldenen Horn hinunter. Auf der Galata-Brücke schenkt ihm einer der Angler mitleidig eine
Flasche Wasser.
Wir sehen die Sonne aufgehen, Emre setzt sich auf den Boden und trinkt. Die Möwen kreischen, die ersten
Straßenverkäufer schieben ihre Wagen über die Brücke und weiter draußen zieht ein Kreuzfahrtschiff vorbei.
Emre schließt die Augen, es geht ein leichter Wind und kurz versetzt, einer nach dem anderen, stimmen die
Muezzine den Ruf zum Gebet an. Nachdem der letzte Muezzin verstummt ist, öffnet Emre die Augen, er lächelt,
steht auf und geht zum Hotel. Dort angekommen, überprüft er die Tür zum Fitness-Raum, sie ist offen, er legt
sich auf die Bank und drückt.
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KATRIN ARENDT | Halb und Halb
Istanbul mitten im Sommer: Die deutsch-türkische Sängerin CERAN (38) aus Berlin-Kreuzberg kehrt in ihre
Heimatstadt zurück, um ihrer Schwester beizustehen, die nach einem schweren Unfall im Krankenhaus liegt.
Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern begegnet Ceran einigen Familienmitgliedern, die sie zurückhaltend
begrüßen. Da ihre Sehnsucht nach der Familie und die Freude der Rückkehr ansteckend auf alle Umstehenden
wirken, wird das Wiedersehen bald herzlicher.
Im Hause des Schwagers übernimmt Ceran einige kleinere Aufgaben und ist bemüht, sich in die ungewohnten
Strukturen einzufinden. Das türkisch-moderne, sehr islamisch geprägte Leben ist ihr längst fremd geworden.
Selbst die drei kleinen Kinder ihrer Schwester sind ihr wenig vertraut. Sie unterlässt aber keine Anstrengungen,
um sich in die neu gewonnene Familie einzupassen. So hat sie mit ihrer offenen, liebevollen Art die Kinder bald
für sich gewonnen. Doch trotz aller Bemühungen eckt Ceran als geschiedene, alleinstehende Frau mit westlichkulturellem Hintergrund sowohl in der Familie, als auch außerhalb immer wieder an. Sie lacht zu laut, ihr Blick ist
zu direkt und ihre Kleidung nicht angebracht.
Ein befreundeter Musiker lädt sie zum Abendessen im Kreis seiner Freunde in das Stadtviertel Beyoğlu ein. Eine
sehr lebendige und extravagante Gruppe von „Rückkehrern“, Deutsch-Türken, Künstlern und Schauspielern trifft
sich bei ihm. Ceran wird freundlich, aber nicht wirklich herzlich willkommen geheißen. Die deutsch-türkische
Fotografin SERENAD (35) führt die Diskussion an. Es geht um mangelnde Pressefreiheit, korrupte
Wirtschaftsbeziehungen und die Armenien-Problematik. Cerans Ansichten wirken zu unentschlossen, ihr Lachen
zu verhalten und ihre Kleidung zu farblos. Der einzige, mit dem sie sich sofort versteht, ist CAN (31) - ein
Transvestit mit schillerndem Äußeren und einer sehr empfindsamen und authentischen Art.
Für Ceran wird es zunehmend schwieriger, mit der Familie umzugehen, nachdem sie die Gemeinschaft in
Beyoğlu kennengelernt hat. Aber auch in der Künstlergruppe ist sie nicht wirklich angekommen. Sie pendelt
zwischen den beiden Welten und passt weder in die eine, noch in die andere wirklich hinein. Nur mit Can
verbringt Ceran einige ausgelassen-freundschaftliche Momente, wobei sie nicht nur die Begeisterung für Musik
teilen, sondern auch die feine humorvolle Art mit dem Leben umzugehen.
Als Can wegen angeblicher Prostitution verhaftet wird, ändert sich alles. Es ist allgemein bekannt, dass im
Gefängnis mit Transvestiten sehr hart umgegangen wird. Die Gruppe aus Beyoğlu setzt sich aktiv für die
Freilassung des Freundes ein. Auch Ceran beteiligt sich, wenn auch weniger resolut. Damit riskiert sie
Schwierigkeiten mit der Familie, die sich immer mehr vor ihr verschließt. Bei einem Krankenhausbesuch bei der
Schwester bedrängt diese Ceran, sich von den Freunden abzuwenden. Innerlich zerrissen zwischen der Familie
und ihrer Überzeugung gerät Ceran einen kurzen Moment ins Straucheln. Durch einen heftigen Streit mit
Serenad besinnt sie sich jedoch wieder und setzt sich erneut für den Freund ein.
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Mit der Künstlergruppe protestiert Ceran vor der Polizeibehörde und zögert nicht, öffentlich für ihren Freund
einzustehen. Dabei geht sie weit über sich hinaus und verhält sich nicht länger angepasst. Ihre Ansichten und ihr
verändertes Verhalten sorgen für heftige Streitigkeiten in der Familie. Selbst die Kinder ihrer Schwester nehmen
Abstand, was sie sehr verletzt.
Die Gruppe von Beyoğlu verkleinert sich aufgrund der Hindernisse, auf die sie stößt: Freunde und Familie stellen
sich in den Weg, die öffentliche Meinung schlägt ihnen hart entgegen und schreckt auch vor gewalttätigen
Übergriffen nicht zurück. Auch Ceran muss einiges einstecken, lässt sich nun aber nicht mehr von ihrem
Vorhaben abbringen. Gemeinsam mit Serenad setzt sie sich durch – jede der beiden ungleichen Frauen auf ihre
eigene Weise. Schließlich kommt es zum Bruch zwischen Ceran und ihrer Familie. Sie wird nach einem üblen
Streit aus der Wohnung der Schwester geworfen.
Mit großen Anstrengungen erreichen Ceran und Serenad schließlich, dass Can entlassen wird. Er ist stark
mitgenommen und versucht die jüngsten Erlebnisse von sich zu schieben. Ceran entscheidet sich, Istanbul
wieder zu verlassen, da sie aufgrund all der Erlebnisse dort nicht leben will. Sie bittet Can mit ihr zu kommen. Er
will sich jedoch nicht von seinen Freunden und seinem Leben in Beyoğlu trennen, obwohl er mit weiteren
Schwierigkeiten rechnen muss. Ceran reist zurück nach Berlin. Die Familienbande sind gekappt.
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NICOLAI ZEITLER | Fieber
Andreas, 26, sitzt im Flugzeug nach Istanbul. Dort lernt er den 35jährigen Ali kennen. Dieser kommt ursprünglich
aus der Türkei, lebt aber in Berlin seitdem er 13 ist. Beide verstehen sich auf Anhieb und tauschen ihre Nummern
aus.
Andreas verbringt den Nachmittag alleine in Istanbul. Er hat sich auf seinen Urlaub vorbereitet, geht zum Bazar,
handelt, lässt sich nicht über den Tisch ziehen. Abends trifft er sich mit Ali und sie gehen in eine Bar. Über Ali mit
seiner offenen und liebenswerten Art lernen sie andere Deutsch-Türken kennen. Sie laufen durch die Straßen,
folgen jemandem in ein dunkles Viertel, durch Hinterhöfe. Andreas ist misstrauisch, versteht kein Türkisch. Er
lässt sich aber darauf ein. Sie kommen in eine Bar-Gegend, dort wird getanzt. Ali ist irgendwann verschwunden.
Andreas stürzt sich aber mit einer Frau weiter ins Nachtleben. Er geht mit ihr in eine andere Bar, verliert sie dort
aber. Im Morgengrauen läuft er über die Galatabrücke zum Hotel.
Am nächsten Mittag ist er mit Ali zum Tee verabredet. Während Andreas noch schwer verkatert ist, merkt man Ali
nichts an vom gestrigen Abend. Auf Andreas' Frage, was Ali arbeite, wechselt dieser freundlich das Thema.
Andreas äußert den Wunsch aufs Land zu fahren und dort die türkische Kultur kennenzulernen. Ali erzählt, dass
er sowieso Verwandtschaft im Landesinneren hat und bietet ihm an, gemeinsam dort hinzufahren.
Im Auto fahren sie durch die Gebirge und Wüsten von Zentralanatolien. Sie haben eine Landkarte und
irgendwann wird deutlich, dass sie die Orientierung verloren haben. Ali lässt es sich nicht anmerken und Andreas
spricht es deswegen auch nicht an. Sie halten in einem kleinen Dorf. Alis Türkisch wird dort nicht gut verstanden,
es gibt Kommunikationsschwierigkeiten.
Die Hitze wird drückender und bei einem Zwischenstopp fällt Andreas mit einem Mal um.
Er wacht in einer kleinen schäbigen Hütte auf. Er hat hohes Fieber und muss sich übergeben. Er hat sich einen
Virus eingefangen. Sie müssen erst einmal in der Hütte bleiben. Er schläft immer wieder ein, die Zeit streicht
vorbei. Er bekommt nur Bruchstücke mit, wie Ali versucht sich mit den Dorfbewohnern auf Türkisch zu
unterhalten und es zu einem Streit kommt.
Dann ist Ali auf einmal weg. Andreas kann nicht herausfinden, wo er ist, da die anderen ihn nicht verstehen.
Andreas wird sehr dünnhäutig, die Hitze ist zu belastend, er lässt sich aus über die Hygiene, bekommt eine
regelrechte Wut auf das ganze Land.
Nach zwei Tagen ist Ali wieder da. Zwar mit einer Begründung für sein Fernbleiben, aus Andreas bricht es aber
heraus. Er macht Ali Vorwürfe. Er hat erwartet, dass Ali sich um ihn kümmert, dieser sei verantwortlich für ihn und
müsse für ihn ausnahmslos da sein. Er glaubt ihm nicht, dass dieser sich so gut auskennt, wie dieser immer
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vorgibt, und fragt Ali was er überhaupt von ihm wolle, warum er die Reise mit ihm mache. Er glaube ihm nicht
dessen altruistische Beweggründe.
Ali versteht nicht, was er meint, blockt ab im Unverständnis.
Andreas ist wieder gesundet und sie fahren gemeinsam weiter. Beide schweigen über das Thema.
Alis Verhalten Andreas gegenüber ist anders geworden. Man merkt Unsicherheit bei ihm, er wirkt beengt und
unfrei in seinem Versuch, es Andreas Recht zu machen.
Sie machen Halt im Morgengrauen. Die Frage liegt in der Luft, wie es weitergeht.
Andreas will sich entschuldigen für seinen Ausbruch. Ali geht darauf nicht ein. Er will davon nichts hören.
So steigen beide gemeinsam ins Auto und fahren weiter.
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CHRISTIAN KRATZ | Die Farben von Istanbul
Nach dem Tod ihres geliebten Großvaters fällt Elisa (24) per Zufall sein Tagebuch in die Hände, in dem er sehr
detailliert die Geschehnisse und Erfahrungen seiner langjährigen Doktorandenzeit Ende der 50er Jahre in
Istanbul schildert. Elisa muss feststellen, dass ihr Großvater, obwohl er schon verheiratet war, eine Liebschaft mit
einer jungen Türkin hatte. Das Idealbild des Großvaters ist zerbrochen und Elisa fasst den Entschluss nach
Istanbul zu fliegen, um sich mit Hilfe des Tagebuchs auf die Spuren des Mannes zu begeben, von dem sie
dachte, ihn so gut gekannt zu haben.
In Istanbul angekommen, ist sie zunächst erschlagen von den Eindrücken der Stadt. Sie begibt sich auf die Spur
des Großvaters, erlebt selbst die Orte, die er so detailliert in seinem Tagebuch beschreibt. So entdeckt sie auch
die kleine Jazzbar, die die Zeit seit den 50er Jahren unbeschadet überstanden hat. Dort lernt sie Mehmeth (31)
kennen, der ihr mit der Suche nach den Spuren des Großvaters und seiner Geliebten hilft. Mehmeth zeigt Elisa
Orte, die kaum ein Tourist jemals sehen wird. Immer wieder erkennt Elisa die Orte und Farben aus den Zeiten
ihres Großvaters wieder. Sie genießt die Momente mit Mehmeth in vollen Zügen. Sie vergisst den Groll auf ihren
Großvater und kann sich der Stadt und dem Augenblick voll und ganz hingeben.
Durch einen Wink des Schicksals trifft Elisa auf die ehemalige Geliebte ihres Großvaters, die ihr die Geschichte
erzählt, die damals vorgefallen ist. So erfährt Elisa von Esra (60), dass sie kurz nach der Abreise von Elisas
Großvater erfahren hat, dass sie schwanger ist. Ihre damaligen Lebensumstände ließen es für sie aber
unmöglich zu, ein Kind zu ernähren und großziehen zu können. Stattdessen wurde entschieden, das Kind nach
Deutschland zu bringen. Elisas Großvater beichtet die Affäre seiner Frau gleich nach der Ankunft und in
Einvernehmen aller wird das kleine Mädchen nach der Geburt nach Deutschland gebracht und von Elisas
Großeltern großgezogen. Elisa zieht die logischen Schlüsse – es kann sich bei dem kleinen Mädchen nur um ihre
Mutter handeln.
Elisa kommt mit dieser Erkenntnis und tausend wundervollen Erfahrungen nach Deutschland zurück. Über die
Vorkommnisse vor 50 Jahren in Istanbul wird nie wieder ein Wort verloren. Zwischen Großmutter und Enkelin
besteht eine stille Übereinkunft. Elisas Mutter wird nie etwas von der Geschichte erfahren.
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OSKAR LAUTERBACH
Tim ist 30 und erfolgreicher Businessmann. Glattrasiert, klassisch elegant, ordentlich, westlich. Er präsentiert und
redet dabei von Sinuskurven, führt Statistiken, Grafiken und Ergebnisse auf. Sehr logisch, geordnet, gut
vorbereitet, deutsch. Die Investoren sind begeistert und der Vorstandsvorsitzende Gerhard, eine Vaterfigur für
Tim, lobt ihn. Am Tag drauf beordert er ihn in sein Büro. Er hat ihn ausgewählt die türkische Dependance in
Istanbul aufzubauen. Was? Warum er? Er würde doch seine Vorgeschichte kennen. Ja, die kennt Gerhard, aber
er spräche nun mal die Sprache und der türkische Markt ist wichtig. Sie brauchen einen guten Mann dort. Die
Sprache spricht er seit 20 Jahren nicht mehr beteuert Tim. Außerdem schafft er das nicht. Nein! Er lehnt ab. Erst
als Tims Kollege und Kontrahent Max in den Vorstand berufen werden soll, eine Stelle, die er sich insgeheim
erhofft hatte, willigt er ein. Unter der Bedingung, dass er gehen kann, sobald die Türken eingearbeitet sind und
dann Vorstandsmitglied wird. Ein gewaltiger Karriereschritt. In Istanbul ist Tim zunächst sehr zurückgezogen. Er
weigert sich auf die extrovertierten Türken oder ihre Kultur einzulassen und spricht nur das Nötigste auf
gebrochenem Türkisch. Immer, wenn er eine Fahne oder ein türkisches Fußballtrikot sieht, ist er von einer
nostalgischen Melancholie erfüllt, die für uns zunächst mysteriös bleibt. Im Beruf gestaltet sich aber alles viel
schwieriger als erwartet und weil er nirgendwo einen Fuß in die Tür kriegt, und auch seine Mitarbeiter sich von
dem „Deutschländer“ nicht viel sagen lassen, wird er gezwungen sich mit den Menschen auseinanderzusetzen.
Alles funktioniert hier über networking. Mit Hilfe einer Deutschtürkin namens Alev fasst er langsam Fuß und
kommt auch ihr persönlich immer näher. Es dauert nicht lang, bis die beiden im Bett landen. Sie erzählt ihm von
einem Mogul, der die Lösung vieler Probleme bedeuten könnte. Tim hatte schon von der Firma gehört und ist
begeistert, dass er jetzt über Alev einen persönlichen Kontakt hat. Sie soll ein Treffen arrangieren. Das Meeting
kommt zustande und bei dem Anblick des Megamoguls ist Tim völlig perplex. Er kennt ihn. Er entschuldigt sich
für eine Minute und macht sich auf dem Klo frisch. Fuck, er muss jetzt durchhalten. Ganz der Profi, zieht er seine
Arbeit durch und hat das Interesse der potentiellen Partner geweckt. Ein paar Tage später beginnt Tim den Mogul
zu beobachten. Er sieht ihn mit Frau und Kind und ist bei diesem Anblick den Tränen nahe. Er konfrontiert ihn,
wobei rauskommt, dass der Mogul Tim mit 13 verstoßen hat, als rauskam, dass er nicht sein leiblicher Vater ist.
Somit war Tim, der eigentlich Timur heißt plötzlich kein Türke mehr sondern ein Deutscher. Sein „Vater“ ist nicht
begeistert ihn zu sehen. Man merkt ihm den gekränkten Stolz an und von nun an legt er ihm beruflich Steine in
den Weg. Auch wenn es ihn innerlich zerreißt, stellt er sich der Situation und bekämpft seinen Vater an der
Arbeitsfront. Mit Erfolg, was nur mit der Hilfe von einigen Verbündeten, die man inzwischen als seine Freunde
bezeichnen kann, möglich ist. Das Projekt ist geglückt und er kann zurück nach Deutschland. Es heißt Abschied
nehmen.
Zurück in seiner alten Welt wird er in den Vorstand berufen, wie versprochen, aber es erfüllt ihn nicht mit Glück,
so wie er es erwartet hatte. Kleinigkeiten im Alltag zeigen, dass er sich verändert hat. Zum Beispiel, wenn eine
Frau ihn anschnauzt, weil er bei Rot über die Straße geht. Die deutsche Ordnung und Spießigkeit, der er selbst
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verfallen war, geht ihm jetzt auf die Nerven. Schlussendlich geht er zurück nach Istanbul und zurück zu Alev.
Auch wenn er kein Türke ist, ist er hier seiner wahren Identität näher als jemals zuvor.
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LAURA SCHÄFER | Tintenschwarz und Mandarinenrot
CEM (24) hat seine Schwester umgebracht. Ein Ehrenmord, für den sein Vater lebenslänglich im Gefängnis
gesessen hätte. Acht Jahre hat der damals noch minderjährige Cem dafür im Gefängnis gesessen, abgeschoben
in die Türkei, aus der sie damals nach Deutschland ausgewandert waren als Cem fünf war.
Cem wird entlassen, steht jedoch noch unter Bewährung und darf Istanbul nicht verlassen. Getrieben von seinen
Schuldgefühlen schafft er es nicht, hier, in der Fremde eine Identität aufzubauen. Cem lebt mit den Möwen auf
den Dächern. Er wird immer mehr in die abenteuerlichen Erinnerungen an die Kindheit mit seiner Schwester in
den Gassen Istanbuls gezogen und versucht in dieser heilen Welt, in der die geliebte Schwester noch lebt, seine
Schuld zu vergessen.
Gegenüber von Cems Ruhedach zieht die junge Schauspielerin SHIRIN (23) ein. Sie ist wie Cem in Deutschland
geboren und nun auf der Suche nach Arbeit nach Istanbul gekommen. Beharrlich versuchen beide die
permanente Gegenwart des anderen zu ignorieren. Während Cem amüsiert lauscht, wie sie ihre Rolle als
Prinzessin am osmanischen Königshof probt, betrachtet sie den absonderlichen Penner vom Dach nebenan
schon bald als stumme Gesellschaft in der Stadt, in der sie ganz auf sich allein gestellt ist. Trotzdem pflanzt sie
vorsorglich eine Reihe Mandarinenbäumchen als Sichtschutz vor ihr Fenster.
Nachdem Cem eines Abends eingreift, als Shirin von einem Kollegen belästigt wird, stehen sich die beiden
erstmals direkt gegenüber. Cem ist wie paralysiert von der Tatsache, dass Shirin seiner Schwester mehr als
ähnlich sieht.
Von diesem Tag an folgt Cem Shirin überall hin. Er glaubt an einen Fluch oder eine Prüfung seiner Schwester
aus dem Totenreich und daran, dass er nur Vergebung erlangen kann, wenn er ihr irgendwie hilft. Shirin versteht
das falsch und versucht ihn auf jede nur erdenkliche Art los zu werden.
Ungewollt erfährt Cem, dass Shirins Leben alles andere als heil ist. Von ihren Schauspielkollegen wird sie, die
frigide Fremde, ausgeschlossen und gemobbt, besonders jetzt, nachdem sie dem Hauptdarsteller EROL (30)
eine Abfuhr erteilt hat. Zurück nach Deutschland traut sie sich jedoch nicht, hier warten ihre Eltern mit viel zu
hoch gesteckten Erwartungen an sie. Da sie Cem nicht los wird, aber auch keine Gefahr von ihm auszugehen
scheint, vertraut sie sich dem stummen Obdachlosen an. Auch Cem öffnet sich nach und nach und erzählt ihr
von seiner Kindheit in Istanbul und seiner Schwester, der sie so ähnlich sieht. Umso unmöglicher wird es ihm, sie
jemals in seine Vergangenheit einzuweihen. Die Klatschpresse entdeckt das ungleiche Paar für sich und schon
bald haben sie den Ruf eines verkappten Liebespaares weg. Shirins Karriere erhält dadurch einen Sprung nach
vorn. Cem hingegen sieht die Kindheitserinnerungen mit seiner Schwester nicht mehr und glaubt an ein gutes
Zeichen.
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Doch dann, als Shirin erneut handgreiflich von Erol belästigt wird, tickt Cem aus und schlägt ihn nieder. Er wird
von der Polizei aufgegriffen und Shirin erfährt so von seiner unschönen Vorgeschichte im Gefängnis. Trotzdem
gibt sie ihm ein Alibi, damit er nicht zurück ins Gefängnis muss. Die Presse ist entsetzt und Shirin verliert durch
diese Rufschädigung ihren Job.
Cem wird von Shirin aus ihrer Welt ausgegrenzt und zieht sich daraufhin zurück in seine Fantasiewelt, die immer
alptraumhaftere Züge bekommt. Schließlich glaubt er, nur noch im Tod Erlösung zu finden. Er stürzt sich von
einer Brücke über dem Bosporus, doch diesmal ist es Shirin, die ihm zur Hilfe kommt und hinterher springt. Halb
tot sieht er sie unter Wasser damit kämpfen, ihn wieder an die Oberfläche zu zerren; Bilder, die sich mit denen
des Mordes an seiner Schwester vermischen. Dann schnappen beide endlich nach Luft.
Natürlich landet Shirins Heldentat wieder in der Presse und ihr negatives Image wird in eine Märtyrerstory
verwandelt. Die Hauptrolle in einem großen Kinofilm in Deutschland wird ihr angeboten. Cem und Shirin
sprechen sich in der Nacht vor ihrem Abflug auf Cems Dach aus. Cem glaubt, von ihr erlöst worden zu sein.
Shirin ist unsicher distanziert, überantwortet ihm jedoch ihre Wohnung und die Pflege ihrer
Mandarinenbäumchen. Vielleicht wird es Cem hier gelingen ein neues Leben anzufangen und vielleicht wird sie
sich eines Tages nach Istanbul zurück sehnen…
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VIKTORIA CASSENS | Der Jazz der Freiheit
Istanbul, 1970. Dilara Engin(18 Jahre) ist eine aufgeschlossene, weltoffene Türkin. Sie liebt Jazzmusik, liest
gerne – vor allem europäische Literatur – und liebt französisches Essen. Sie hat einen großen Wissens- und
Freiheitsdrang.
Ihre Eltern sind zwar offen, lieben aber die türkische Kultur. In ihrem Umfeld wir die türkische Tradition gefeiert,
das tolle Esse gelobt, die schöne Sprache betont. Doch alles was Dilara sieht, sind die störenden Blicke der
Männer, das Angegrabschtwerden und das Unfreisein.
Nachdem sie fast vergewaltigt wird, ist klar, sie will weg. Sie hört von den Hilfsarbeitern, die nach Deutschland
reisen und ergreift die Chance. Zwei Tage vor der Abfahrt stirbt ihr einziger Bekannter aus Deutschland, jetzt wird
sie dort ganz alleine sein. Im dreckigen Arbeiterwohnheim im Ruhrgebiet angekommen, erkrankt sie schnell an
Hepatitis. Unter Quarantäne, isoliert, ist Schreien ihr einziges Kommunikationsmittel. Katrin (24 Jahre), eine nette
Krankenschwester, hat Mitleid mit Dilara und bringt ihr abends Deutsch bei.
Nach der Genesung braucht Dilara eine Wohnung. Sie zieht zu Katrin, die ihr bei der Orientierung in der neuen
Stadt und bei der Arbeitssuche hilft. Obwohl sie mit einer Schreibmaschine umgehen kann, wird sie nur auf ihre
Herkunft reduziert. Zunächst arbeitet sie in einer Fabrik, schafft es aber, sich mit viel Fleiß hochzuarbeiten.
In der Nacht wird Dilara plötzlich ins Krankenhaus gerufen. Sie soll dolmetschen. Doch der sich vor Schmerzen
krümmende Türke Achmed, beschimpft sie, statt für ihre Hilfe dankbar zu sein. Sie sei ungläubig, soll sich
schämen, sie sei eine schlechte Türkin, eine schlechte Frau. Sie ist wie versteinert, auch in der Fremde kann sie
vor der Heimat nicht fliehen.
Im Alltag hat sie immer wieder mit Missverständnissen zu kämpfen. Sie hilft einer jungen Türkin im Supermarkt
und es stellt sich heraus, dass Dilek (30 Jahre) Achmeds Frau ist. Sie kann kein Deutsch, ist sehr unglücklich im
fremden Land und mit ihrem Mann. Durch Gespräche und heimlichen Deutschunterricht hilft Dilara Dilek sich
Stück für Stück zu emanzipieren. Nach einer großen Konfrontation mit Dileks Mann, beschließt diese sich
scheiden zu lassen. Die beiden Frauen ziehen mit Katrins Hilfe in eine gemeinsame Wohnung. Durch Gespräche
mit anderen türkischen Frauen, die von der Sensation hören, realisiert Dilara, dass sie ihre Herkunft nicht
verändern kann, sondern lernen muss mit ihr umzugehen.
Um das Leben in der Fremde gemeinsam zu verbessern, treffen sich Dilara und ein paar aufgeschlossene
Türkinnen regelmäßig in einer Jazzbar, um sich auszutauschen, ihr Deutsch zu verbessern, zu tanzen, das
Leben zu genießen. Und frei zu sein. Endlich kann Dilara sorgenfrei die Tanzaufforderung des netten jungen
Deutschen, Klaus (24 Jahre), annehmen. Sie lächelt.
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