Übersetzung als Auseinandersetzung I: Heinrich Heine

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Übersetzung als Auseinandersetzung I: Heinrich Heine
Übersetzung als Auseinandersetzung I: Heinrich Heine
Die Geschichten aus der Reihe „Übersetzung als Auseinandersetzung“ sollen in erster Linie
für diejenigen interessant sein, die beide Sprachen – Deutsch und Russisch – können.
Wahrscheinlich auch für diejenigen Deutschen, die gerade mit dem Russischlernen anfangen
und sich trotzdem sofort in die Feinheiten dieser unglaublich poetischen Sprache vertiefen
möchten. Oder auch für diejenigen, die gar kein Russisch können, es auch nicht lernen
wollen, aber dabei Geschichten mit Gedichten lieben und sich mit dem deutschen Teil
durchaus begnügen würden. Oder für diejenigen Russen, die sich für die deutsche Sprache
und für die deutsche Dichtung interessieren. Oder… wer weiß? Gottes Wege sind
unerforschlich, und so sind auch die Wege der Poesie…
Die Loreley in sieben Sprachen
Die Loreley, bekannt als Fee und Felsen,
ist jener Fleck am Rhein, nicht weit von Bingen,
wo früher Schiffer mit verdrehten Hälsen,
von blonden Haaren schwärmend, untergingen.
Wir wandeln uns. Die Schiffer inbegriffen.
Der Rhein ist reguliert und eingedämmt.
Die Zeit vergeht. Man stirbt nicht mehr beim Schiffen,
bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt.
So verhöhnt Erich Kästner in seinem 1932 geschriebenen Gedicht „Der Handstand auf der
Loreley“ den alten Loreley-Mythos sowie das Loreley-Gedicht von Heinrich Heine: ein
Turner, der auf der Loreley über dem Rhein einen Handstand macht, kommt allein beim
Gedanken an Heines Gedicht ums Leben:
Er stand, verkehrt, im Abendsonnenscheine.
Da trübte Wehmut seinen Turnerblick.
Er dachte an die Loreley von Heine.
Und stürzte ab. Und brach sich das Genick.
Eine recht merkwürdige Situation: der eine berühmte deutsche Satiriker des 20. Jahrhunderts
verspottet den anderen berühmten deutschen Satiriker des 19. Jahrhunderts, und das geschieht
wie ausgerechnet ein Jahr vor der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Berliner
Opernplatz, während der sowohl die Bücher von Kästner als auch die von Heine von
Studenten und Professoren ins Feuer geworfen wurden, was Erich Kästner mit eigenen Augen
gesehen hat. Eine bittere Ironie des Schicksals…
Diese grausame Geschichte sowie unzählige kontroverse Diskussionen über die „wahre“
Bedeutung des Loreley-Gedichtes waren mir nicht bekannt, als ich mit 14 Jahren diese
Ballade in der Schule lernen musste. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte immer Spaß daran,
Gedichte sowohl in meiner Muttersprache Russisch als auch in der Fremdsprache Deutsch
auswendig zu lernen, den Spaß, der von meinen Klassenkameraden nicht unbedingt geteilt
wurde: jedes Mal, wenn wir im Fach Deutsch Gedichte lernen mussten, kam es zu heftigen
Protesten. Eine bemerkenswerte Ausnahme war die Loreley von Heinrich Heine – dieses
Gedicht wurde aus dem mir unbekannten Grund von allen akzeptiert und gerne gelernt. Dabei
hat sich niemand – im Unterschied zu Goethes Über allen Gipfeln – für eine russische
Nachdichtung interessiert.
Aber die gibt es! Als ich im Sommer 2010, von der bösen Realität fliehend, in die Poesie
eingetaucht bin, konnte ich etwa 10 russische Loreley-Übersetzungen finden. Dennoch wollte
ich mein deutsches Lieblingsgedicht, welches ich einst als Schüler sogar vertont habe, noch
einmal selbst übersetzen. Wenn man aber die elfte Nachdichtung liefern will, muss man sich
eine besondere Begründung dafür einfallen lassen. Es war allerdings nicht sehr kompliziert.
Mir ist nämlich aufgefallen, dass jeder Übersetzer versucht hat, in seiner Version das Metrum
des Originals etwas zu verbessern, das heißt, zu vereinheitlichen – zu diesem Zweck wurden
einige Zeilen verlängert, die anderen verkürzt. Ein Beispiel. Die neunsilbige Struktur der
ersten Zeile – Ich weiß nicht, was soll es bedeuten – wiederholt Heine in den Anfangszeilen
der vierten und der sechsten Strophe: Sie kämmt es mit goldenem Kamme und Ich glaube, die
Wellen verschlingen. In den anderen drei Strophen sind die Anfangszeilen hingegen
achtsilbig. Wenn Sie neugierig genug sind und bereit wären, die Silben in den anderen Zeilen
des Loreley-Gedichtes zu zählen, würden Sie sofort feststellen, dass Heine in der metrischen
Struktur seines Meisterwerkes bei weitem nicht immer konsequent bleibt – muss auch nicht
unbedingt sein. Aber es ist nicht uninteressant zu verfolgen, wie der aus meiner Sicht beste
russische Loreley-Übersetzer Wilhelm Lewik die ungerade metrische Struktur des Originals
gleichmäßig macht. So sieht z.B. die dritte Strophe bei Heine und bei Lewik aus:
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.
Там девушка, песнь распевая,
Сидит на вершине крутой,
Одежда на ней золотая
И гребень в руке золотой.
Haben Sie schon die Silben gezählt? Dann sollten Sie zum folgenden Ergebnis kommen: im
Original haben wir die Struktur 7-6-8-7, das heißt, bei den Parallelzeilen 1-3 und 2-4 stimmt
die Silbenzahl nicht überein. Anders ist in der russischen Nachdichtung: die erste und die
dritte Zeilen haben je 9 Silben, die zweite und die vierte – je 8, also 9-8-9-8. Diese Art
„Korrektur“ finde ich eigentlich durchaus zulässig, zumal die gleichmäßige Struktur der
russischen Version den Grundrhythmus des Originals beibehält und auch viel besser zum
Singen passt – sowohl zu der berühmten Melodie von Friedrich Silcher wie auch zu meiner
fast niemandem bekannten Vertonung. Aber auf der anderen Seite schien mir die
Herausforderung interessant zu sein, bei meiner eigenen Nachdichtung der Loreley die
Silbenzahl des Originals genau beizubehalten und dabei ganz korrekt den Inhalt
wiederzugeben. Daraus ist folgendes geworden:
Loreley (Heinrich Heine, 1823)
Лорелея (übersetzt am 25.10.10)
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
dass ich so traurig bin
ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Не знаю я, что происходит,
Что так душа грустна:
Из головы не выходит
Старая сказка одна.
Die Luft ist kühl, und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein
der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.
Прохладно, день угасает,
Покоем Рейн объят,
На горной вершине тает
Мерцающий закат.
Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar,
ihr goldnes Geschmeide blitzet,
sie kämmt ihr goldenes Haar.
Там дева молодая,
Сидит – прекрасней роз,
Убранством златым сверкая
И златом дивных волос.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
und singt ein Lied dabei
das hat eine wundersame,
gewaltige Melodei.
Их гребнем златым поправляя,
Там песнь поёт она,
Вся прелесть в ней неземная
И сила заключена.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf, in die Höh.
Гребец в своей лодке малой
Безумной тоской объят:
Совсем не глядит на скалы,
Лишь ввысь устремлён его взгляд.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lorelei getan.
Я знаю, волна, свирепея,
Поглотит гребца и чёлн;
Под пение Лорелеи
Вечный найдёт он сон.
Als ich mit meiner russischen Loreley-Übersetzung fertig war, wollte ich wissen, in welche
weiteren Sprachen dieses berühmte deutsche Gedicht übersetzt wurde. Und da habe ich viel
Interessantes entdeckt! Neu war es mir zum Beispiel, dass der amerikanische Schriftsteller
Mark Twain 1880 Heines Meisterwerk auf Englisch nachgedichtet hat. Übrigens, war die
Loreley von Heinrich Heine das erste deutsche Gedicht überhaupt, welches in eine asiatische
(japanische) Sprache übersetzt wurde.
Außerdem habe ich Heines Loreley auf Spanisch, Französisch, Italienisch, Schwedisch,
Holländisch und Ukrainisch gefunden. Aber was kann man mit all dem Schatz machen, wenn
man die meisten dieser Sprachen nicht beherrscht? Damals bereitete ich gerade einen deutschrussischen musikalischen Lyrik-Abend mit dem Titel „Geschichten mit Gedichten“ vor, und
da kam mir die Idee, durch die zahlreichen Loreley-Übersetzungen auch weitere Sprachen
zum Klingen zu bringen. Allerdings musste ich, um diese Idee verwirklichen zu können,
einige muttersprachliche Rezitatoren finden. Aber wo findet man sie?
Natürlich an der Hochschule für Künste Bremen! Die Studentin der Hochschule, die Geigerin
aus Weißrussland Anna Markova, die auch im Übrigen einen wesentlichen Beitrag zur
Veranstaltung „Geschichten mit Gedichten“ geleistet hat, hat über ihre literaturbeflissene
Freundin aus Minsk eine schöne Loreley-Übersetzung ins Weißrussische gefunden, welche
sie selber vortragen wollte. Ihre Studienkolleginnen Masami Yokoyama und Sang-Ah Lee
(beide Pianistinnen) hat Anna für die japanische und koreanische Version gewonnen. Ein
Freund von mir, der chilenische Gitarrist Manuel Fuenzalida hat die spanische Übersetzung
übernommen, und die Blockflötistin Melinda Havasi-Kiss hat sich bereit erklärt, das LoreleyGedicht in ihrer Muttersprache – Ungarisch – vorzutragen und, wie alle anderen
Musikerinnen und Musiker, ein Stück auf ihrem Instrument zu spielen. Mit solchen Menschen
konnte ich meinen Traum verwirklichen, im Rahmen der Veranstaltung „Geschichten mit
Gedichten“ das Publikum unseres Kultursalons mit einer kleinen mehrsprachigen literarischmusikalisch-theatralischen Loreley-Show aufzuwarten.
Angefangen hat die Loreley-Show mit einem doppelten Rätsel. Die junge japanische Pianistin
Masami Yokoyama hat Heines Gedicht auf Japanisch vorgetragen, und das Publikum musste
erraten, was für ein Gedicht das war und in welcher Sprache. Die Sprache wurde sofort
erkannt, das Gedicht konnte allerdings niemand erraten (zumal in der ersten japanischen
Übersetzung der Name Loreley gar nicht vorkommt). Als ich die Loreley im Original zu
rezitieren begann, erschien die die Loreley darstellende Geigerin Anna Markova, kletterte auf
den als Gipfel des Berges dekorierten Sessel und kämmte sich tatsächlich mit goldenem
Kamme und sang ein Lied dabei. Nachdem ich dann meine russische Übersetzung vorgestellt
hatte, wurde das Loreley-Gedicht auf Ungarisch, Spanisch, Koreanisch und Weißrussisch von
den genannten Musikerinnen und Musikern in ihren Muttersprachen vorgetragen, wobei das
Publikum die Aufgabe bekommen hat, die Sprachen zu erkennen. Unglaublich, aber wahr:
alle Sprachen wurden richtig genannt! Eine besondere Fremdsprachenkompetenz wurde dabei
nicht von Linguisten, sondern von einer Pflegeschwester aus der Ukraine demonstriert. Zum
Schluss der mehrsprachigen Loreley-Show wurde von Anna Markova (Violine) und Masami
Yokoyama (Klavier) die Komposition „Loreley“ von Oxana Sivova aufgeführt.
Inzwischen habe ich Heines Loreley in verschiedenen weiteren Sprachen gefunden, aber
bevor ich eine neue mehrsprachige Loreley-Show machen werde, möchte ich dem
interessierten Publikum ein anderes weltberühmtes deutsches Gedicht in 51 Sprachen
präsentieren – „Über allen Gipfeln“ von Goethe.
„Neuer Frühling“
Heines Gedichtzyklus „Neuer Frühling“, der aus 44 kurzen Gedichten mit dem
vorangestellten Prolog besteht, wartet mit manchen feinen Leckerbissen auf, die in schlichter
und zugleich bildhafter und ausdrucksstarker Sprache von Frühling und Liebe erzählen. Hier
sind vier schöne Beispiele:
In dem Walde sprießt und grünt es
Fast jungfräulich lustbeklommen;
Doch die Sonne lacht herunter:
Junger Frühling, sei willkommen!
Leise zieht durch mein Gemüt
Liebliches Geläute.
Klinge, kleines Frühlingslied,
Kling hinaus ins Weite.
Nachtigall! auch dich schon hör ich,
Wie du flötest seligtrübe,
Schluchzend langgezogne Töne,
Und dein Lied ist lauter Liebe!
Kling hinaus, bis an das Haus,
Wo die Blumen sprießen,
Wenn du eine Rose schaust,
Sag, ich laß sie grüßen.
Der Schmetterling ist in die Rose verliebt,
Umflattert sie tausendmal,
Ihn selber aber, goldig zart,
Umflattert der liebende Sonnenstrahl.
Sterne mit den goldnen Füßchen
Wandeln droben bang und sacht,
Daß sie nicht die Erde wecken,
Die da schläft im Schoß der Nacht.
Jedoch, in wen ist die Rose verliebt?
Das wüßt ich gar zu gern.
Ist es die singende Nachtigall?
Ist es der schweigende Abendstern?
Horchend stehn die stummen Wälder,
Jedes Blatt ein grünes Ohr!
Und der Berg, wie träumend streckt er
Seinen Schattenarm hervor.
Ich weiß nicht, in wen die Rose verliebt;
Ich aber lieb euch all:
Rose, Schmetterling, Sonnenstrahl,
Abendstern und Nachtigall.
Doch was rief dort? In mein Herze
Dringt der Töne Widerhall.
War es der Geliebten Stimme,
Oder nur die Nachtigall?
Es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass die meisten Gedichte aus dieser Sammlung
mehrmals in Musik gesetzt wurden. Ein Favorit ist unter den Komponisten das kleine Gedicht
„Leise zieht durch mein Gemüt“ – ich habe neulich eine Liste mit 170 (!) Vertonungen
gesehen. Vor ein paar Jahren habe ich bei YouTube Mendelssohns Lied zu diesem Gedicht
entdeckt, welches ich noch als Schüler auf meine Art und Weise (im Unterschied zur heiteren
C-Dur-Version von Felix Mendelssohn Bartholdy im intimen E-Moll) vertont hatte. Die
Melodie zu „Sterne mit den goldnen Füßchen“ (die kaum vollständige Liste der diesen Vers
vertonten Komponisten enthält 29 Namen) kam mir im März 2012, und um dieselbe Zeit habe
ich ein kleines Gedichtchen aus der Sammlung „Neuer Frühling“ ins Russische übersetzt, das
unter der Ziffer XVIII steht (und das übrigens auch viel – über 50 Mal – vertont wurde):
Mit deinen blauen Augen
Siehst du mich lieblich an,
Da wird mir so träumend zu Sinne,
Daß ich nicht sprechen kann.
Глядят на меня с любовью
Твои голубые глаза,
Наполнив все чувства мечтами,
О коих сказать нельзя.
An deine blauen Augen
Gedenk’ ich allerwärts; –
Ein Meer von blauen Gedanken
Ergießt sich über mein Herz.
Твои глаза голубые
Везде вспоминаю я; –
И морем лазурных мыслей
Полна душа моя.

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