Sprachkontakte - Universität Konstanz

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Sprachkontakte - Universität Konstanz
Universität Konstanz, FB Sprachwissenschaft
Vorlesung: Einführung in die Linguistik, WS 2005/06
Sprachkontakte
Björn Wiemer
Inhalt:
1. Sprachkontakt-Forschung und ihre Bezüge zu anderen Teildisziplinen
2. Kontaktsituationen und Kontaktresultate
3. Fallbeispiele zu verschiedenen sprachlichen (strukturellen) Ebenen
4. Kontaktagglomerationen: Sprachbünde & Konsorten
5. Makro- und Mikro-Areale / Makro- und Mikro-Effekte
Skript 1
1. Sprachkontakt-Forschung und ihre Bezüge zu anderen Teildisziplinen
Man kann sagen, dass Sprachkontakt-Forschung sich allgemein mit den Auswirkungen des
Kontakts zwischen Sprechern verschiedener Sprachen (Dialekte etc., allgemein: von Lekten)
auf die phonologische, grammatische (morphosyntaktische) und/oder lexikalische Struktur der
betreffenden Sprachen (Lekte) beschäftigt. Sie untersucht damit eigentlich einen wesentlichen
Teil von Sprachwandel, seine Ursachen und Ausprägungen. Obwohl die Erfassung und
Beschreibung von Sprachkontakten (sowohl in struktureller wie in soziolinguistischer
Hinsicht) synchron erfolgen kann, müssen somit diachrone Aspekte stets berücksichtigt
werden.
Man spricht in der Regel von den kontaktierenden Sprachen als einer Erstsprache (L1) und
einer Zweitsprache (L2); die Struktur der L2 wird durch Interferenzen mit der L1 verändert:
(1a)
L1 × L2 → L2' .
Aber auch L1 selbst kann sich durch den Einfluß von L2 verändern:
(1b)
L1 × L2 → L1' .
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass sich aus L1 und L2 besondere Mischformen
ergeben:
(1c)
L1 × L2 → L1'×2' (bzw. L3).
Dies ist vor allem bei besonders extremen Bedingungen des Sprachkontakts der Fall. Ich
komme weiter unten auf die in (1a-c) skizzierten Kontaktsituationen zurück.
Als ein „Fernziel“ der Sprachkontakt-Forschung darf man weiterhin eine Typologie
(Klassifizierung) des Sprachkontakts ansehen, die auch (in begrenztem Ausmaße)
Voraussagen über den Verlauf struktureller Veränderungen in einer jeweils gegebenen
Kontaktsituation erlauben würde. Die Realisierung eines solchen Ziels ist aber noch längst
nicht in Sicht. Da es um eine Erfassung struktureller Auswirkungen des Sprachkontakts geht,
müssen theoretische Vorannahmen und Beschreibungsmodelle aus der deskriptiven Linguistik
zugrundegelegt werden, d.i. der Theorie zur Phonologie, Morphologie, Syntax,
Semantik/Pragmatik und des Lexikons natürlicher Sprachen. Einerseits ist die Beherrschung
1
solcher Grundlagen (bzw. die Vertrautheit mit entsprechenden Theorien) eine Voraussetzung
für eine sinnvoll betriebene Sprachkontakt-Forschung, andererseits ist gerade auch bei der
Untersuchung von Sprachkontakten darauf zu achten, dass die theoretischen deskriptiven
Voraussetzungen einheitlich sind (so z.B. bei der Bestimmung grammatischer vs.
lexikalischer Kategorien oder in Theorien des Lexikons, welche häufig wesentliche Teile der
Grammatik integrieren). Andernfalls gerät man in Gefahr, artifizielle Gegenüberstellungen zu
schaffen. Ferner ist es gerade beim Sprachkontakt (der Erklärung seiner Folgen) oft wichtig,
nicht so sehr auf abstrakte Muster sprachlicher Strukturen zurückzugreifen, sondern auf die
konkrete (phonetische, lineare etc.) Realisierung solcher Strukturen (vgl. dazu etwa Transfers
von phonetischen Assimilationsregeln, weiter unten illustriert anhand von Bsp. 12-17, oder
die Nachbildung sekundärer Präpositionen in Bsp. 22). Eine weitere unabdingbare
Voraussetzung der Erforschung von Sprachkontakten stellen empirische Methoden der
Datenerhebung und -auswertung dar, insbesondere Methoden der Feldforschung. (Hierbei
können Erkenntnisse und Vorgehensweisen der empirischen Sozialforschung von Nutzen
sein.)
In expliziter Form stellt Sprachkontakt-Forschung eine ausgesprochen junge Teildisziplin
dar. Obwohl Kontakte zwischen Sprachen (inkl. Dialekten) so alt sind wie die Menschheit
(d.i. so alt wie man distinkte Sprecherkollektive unterscheiden kann) und die ein- oder
gegenseitige Beeinflussung zwischen Sprachen seit mindestens 150 Jahren Gegenstand
wissenschaftlichen Interesses darstellt, hat es bis vor relativ kurzer Zeit keinen
Forschungszweig gegeben, der sich speziell auf die Beschreibung und Klassifizierung von
Sprachkontakten sowie deren Auswirkungen auf die Struktur von Sprachen konzentriert
hätte1. Von objektiven Schwierigkeiten in der Klassifizierung (und somit auch Beschreibung)
von Sprachkontakt-Situationen (d.i. von Schwierigkeiten, die in der Natur der Sache selbst
begründet liegen) soll im Verlauf der Vorlesungen noch die Rede sein.
Es sei betont, dass der Ausdruck ‘Sprachkontakt’ genau genommen ein Kürzel ist; gemeint
sind damit immer Kontakte zwischen Sprechern, die sich zweier oder mehrerer Lekte
bedienen, d.i. die in einem weiten Sinn zwei- bzw. mehrsprachig sind2. Wenn also im
weiteren von ‘Sprachkontakt’ die Rede ist, so sollte dabei im Auge behalten werden, dass die
strukturellen Besonderheiten, welche durch Sprachkontakt entstehen und welche ein
Ausdruck des Sprachwandels sind (und allein diese sollen hier im Zentrum der Ausführungen
stehen), im Grunde das sekundäre Produkt dynamischer Vorgänge ausmachen, welche durch
die kontinuierliche Konfrontation mehrsprachiger Sprecherkollektive entstehen.
Sprachkontakte setzen also bestimmte soziale Gegebenheiten und kommunikative Motive
voraus. Man könnte sie demnach auch nach diesen externen Bedingungen ordnen. Allerdings
ist es bislang offenbar nicht gelungen, mehr oder minder klare Korrelationen zwischen sozialkommunikativen Rahmenbedingungen des Sprachkontakts und seinen strukturellen
Auswirkungen zu ermitteln, so dass Aussagen zu soziolinguistischen, historischen und
sonstigen externen Bedingungen des weiteren eher nur als Hintergrund-Information erfolgen.
Zwei weitere Einschränkungen wären hier zu machen. Die eine betrifft das „Medium“ des
Sprachkontakts. Gesprochene Sprache wird hier als primäre Realisierungsform betrachtet,
geschriebene als sekundäre; dies nicht zuletzt auf einem historisch-anthropologischen
Hintergrund. Aus dieser Sicht spielen sich Sprachkontakte in unmittelbarer Kommunikation
(‘face to face’) ab, und ihre Resultate sind zunächst auf dieser Ebene zu beurteilen. Für eine
vollständige Erfassung von Sprachkontakt-Situationen (sowie entsprechend von
1
Vgl. dazu Oksaar (1996) im HSK-Band ‘Kontaktlinguistik’ und die Einleitung zu demselben.
Unter Umständen kann sogar die lediglich passive Beherrschung (das Hörverständnis) einer anderen Sprache
(eines anderen Lekts) zu einer Veränderung in der primär gesprochenen (beherrschten) Sprache führen.
2
2
Sprachkontakt-Produkten)
wäre
sicherlich
die
Berücksichtigung
schriftlicher
Kommunikationsformen erforderlich; doch diese werden hier bewußt vernachlässigt.
Die zweite Einschränkung bezieht sich auf das „soziale Format“: zu dauerhaften
(konventionalisierten) Veränderungen in der Sprachstruktur kann es nur kommen, wenn der
Sprachkontakt nicht individuell, sondern kollektiv ist, d.i. möglichst viele Sprecher
einbezieht, innerhalb derer okkasionelle Veränderungen zwischen einzelnen Sprechern
(welche tagtäglich geschehen) auch sozial expandieren (propagiert werden) können. In diesem
Sinne unterscheiden sich Sprachwandel-Prozesse, die durch Sprachkontakt entstehen, nicht
von spezielleren Sprachwandel-Prozessen (wie z.B. Grammatikalisierung). Berücksichtigt
werden kann also nur kollektiver, nicht individueller Sprachkontakt3.
Zu den folgenden linguistischen Teildisziplinen weist die Sprachkontakt-Forschung
(Kontaktlinguistik) nähere Bezüge auf:
1) Areallinguistik
Sie beschäftigt sich mit strukturellen Konvergenzen zwischen Sprachen (Lekten) in
geographisch zusammenhängenden Gebieten, unabhängig von sprachgenetischer
Zusammengehörigkeit. Konvergenzen werden dabei in der Regel über Sprachkontakte erklärt.
Sie führen oft zu einem arealen Bias, d.i. zu typologisch auffälligen strukturellen Merkmalen
(und deren Anhäufungen), welche nicht ohne Sprachkontakt über „genetische“ Grenzen
hinweg erklärt werden können. Dadurch ergibt sich auch eine enge Wechselwirkung mit der
Typologie.
2) Typologie
Ihr Ziel besteht in der Erfassung und Erklärung der Einheit in der Vielheit, d.i. der natürlichen
Sprachen zugrunde liegenden Muster des Ausdrucks kategorialer Unterscheidungen sowie der
Unterscheidung von Lautstrukturen, morphologischen Formen und syntaktischer Strukturen,
die übereinzelsprachlich festgestellt werden können. Die Typologie strebt auf empirischen
Weg eine Ermittlung von strukturellen und funktionalen Universalien an. Ein besonderes
Augenmerk gilt dabei Hierarchien und einseitig gerichteten Implikationen, die die allgemeine
Gestalt der Formel ‘Wenn A, dann B’ (aber nicht notwendig umgekehrt!) aufweisen. (Vgl.
das in Konstanz entwickelte Universals Archive und WALS 2005. Näheres dazu in der
Vorlesung von Frans Plank.) Idealiter kommt man dadurch zu Schlüssen über Merkmale
(Formen und deren Funktionen), welche in Sprachen nebeneinander auftreten können oder
welche einander sogar bedingen (d.i. in einem kausalen Zusammenhang stehen). Man gelangt
dabei auch zu Aussagen (Hypothesen) über allgemeine Kategorisierungsprinzipien in
Sprachen und über (synchrone und diachrone) Beziehungen zwischen Kategorien und ihren
Ausdrucksmustern (Konstruktionen, Paradigmen, Verteilungen).
Es gilt die „Nullhypothese“, daß bei sprachkontakt-bedingten Veränderungen diese
Prinzipien und Beziehungen eingehalten werden; es können aber auch typologisch auffällige
Kategorisierungen und/oder Ausdrucksformen auftreten – was dann Indizien gerade für
sprachkontakt-bedingte Veränderungen liefern kann. Als Hintergrund (Vergleichsgröße) dient
dabei ein jeweils entsprechend größeres Areal. Dieses ist entweder der ganze Erdball (wie
Typologen es generell ansetzen; vgl. Nichols 1992) oder ein Areal von kontinentalem,
subkontinentalem oder noch kleinerem Ausmaß (zu dieser Problematik vgl. Wiemer 2004
sowie noch die Abschnitte 4 und 5).
3
Vgl. eine analoge Unterscheidung zwischen ‘bilingualism’ und ‘bilinguality’ bei Hamers/Blanc (1989: 6).
3
3) Kreolistik
Kreolsprachen entstehen aus Pidgins. Letztere wiederum sind das Ergebnis extremer Formen
von Sprachkontakt, in welchen man – auf etwas vereinfachende Weise gesprochen – von
einer „lexifizierenden“ Sprache ausgehen kann, deren Grammatik in radikaler Art vereinfacht
ist (und damit dem isolierenden Typ entspricht, d.i. praktisch keine grammatischen
Morpheme aufweist) und am ehesten kognitiv privilegierten Diskursprinzipien gehorcht.
Pidgins entstehen, wenn Sprecherkollektive aufeinandertreffen, die sich gegenseitig nicht über
eine bereits bestehende Sprache verständigen können. In diesen Sinne sind Pidgins Sprachen
ohne Muttersprachler; sie können aber zum Ausgangspunkt für die Entwicklung einer
komplexeren und stärker konventionalisierten Grammatik (mit eigener Norm) werden, die
schließlich sogar standardisiert und zur Basis muttersprachlichen (d.i. eines natürlichen
Erstsprach-)Erwerbs werden könnte. Wenn das geschieht, spricht man von Kreolsprachen.
Man kann wohl zwei Hauptformen von Pidgins unterscheiden4: die verbreitetere Form
scheint diejenige gewesen zu sein, bei der eine europäische Prestigesprache (Portugiesisch,
Spanisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Niederländisch) von Einheimischen oder Sklaven
in entfernteren Weltgegenden als Lingua Franca akzeptiert werden musste. Die L1 der
Sprecher war dabei in der Regel nicht einheitlich. Der Erwerb der L2 (= der europäischen
Kolonialsprache) war sehr rudimentär; das lexikalische Material stammte aus dieser
Prestigesprache (sie wird deshalb auch als „lexifier language“ bezeichnet), es konnte dabei zu
einem großen Teil phonetisch verändert werden5. Eine solcherart rudimentäre Sprache wurde
den Kindern weitergegeben, und sie zwang auch die L1-Sprecher der Prestigesprache, sich im
Umgang mit den L2-Sprechern an diese Sprachform anzupassen. Mit der Zeit stellte sich so
ein Usus ein. Diese Art von Pidgins ist im wesentlichen eine Art linguistisches Produkt aus
der Kolonialzeit.
Die andere Form des Pidgins unterscheidet sich von der ersten vor allem aus
soziolinguistischer Sicht, nicht jedoch in ihren strukturellen Eigenheiten. Bei ihr gibt es kein
(oder nur ein wesentlich geringeres) Prestigegefälle zwischen den beteiligten
Kontaktsprachen, aus denen sich ein Pidgin ergibt; und es diente nicht als Input-Sprache für
den Spracherwerb einer nachfolgenden Generation (weshalb sich aus ihm auch kein Kreol
entwickelt). Zwei der bekanntesten Fälle sind das chinesisch-englische Pidgin, entstanden im
19. Jahrhundert in südchinesischen Hafenstädten, und das Russenorsk, ein russischnorwegisches Pidgin, gesprochen von Händlern um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
am europäischen Eismeer.
4) Soziolinguistik (inkl. Dialektologie)
Soziolinguistik wäre von der ‘Soziologie des Sprechens’ und der Ethnolinguistik
abzugrenzen. In ersterer geht es um die strukturellen, d.i. linguistisch erforschbaren
Manifestationen sozialer (sowie zum Teil auch biologischer) und kommunikativ bedingter
Unterschiede6 innerhalb größerer Sprecherkollektive, letztere sind dagegen eine Teildisziplin
der Soziologie bzw. der Ethnologie (vgl. dazu die Ethnologie des Sprechens als eigenen
Forschungszweig); sie gehen damit von anderen Ziel- und Akzentsetzungen aus. Im
„klassischen“ Sinne konzentriert sich die Soziolinguistik (vor allem im angelsächsischen
Raum) auf die Erforschung der Kovarianz zwischen sprachlichen (strukturellen) Variablen
und solchen Parametern wie Alter, Geschlecht und soziale Zugehörigkeit (vgl. Chambers
4
Zur Entstehung und den Arten von Pidgins und Kreolsprachen gibt es verschiedene, zum Teil divergierende
Standpunkte. Für gute Überblicke vgl. Bechert/Wildgen (1991: 129ff.), Thomason/Kaufman (1991: Kap. 7).
5
So stellt die Bezeichnung ‘Pidgin’ selbst eine Verballhornung von engl. business dar. Sie entstammt dem
chinesisch-englischen Pidgin aus dem 19. Jahrhundert, welches allerdings dem zweiten Haupttyp entspricht
(s.u.).
6
Sie wird auch als „sekulär“ bezeichnet. Als klassisches Beispiel einer solchen Arbeit kann man etwa auf Labov
(1972) verweisen.
4
1995: 17f.). Dialektologie stellt in diesem Sinne nur eine Teildisziplin der Soziolinguistik dar
(vgl. dazu Chambers/Trudgill 1980).
In anderen Traditionen (als der angelsächsischen) lässt sich hinter der Gegenüberstellung
von Soziolinguistik und Dialektologie oft noch eine (zumindest implizite) Unterscheidung
zwischen sozial bedingter Variation im städtischen Bereich (→ Soziolinguistik) vs. ländlichen
Bereich (→ Dialektologie) erkennen, welche aber zunehmend verschwindet. Man könnte
demnach auch sagen, daß – in Anlehnung an eine gängige Unterscheidung von Coseriu (1988:
25) – die Soziolinguistik sich primär mit diatopischer (= durch soziale Schichten bedingter)
Variation beschäftigt, die Dialektologie dagegen vorrangig mit diastratischer (= regional
differenzierter) Variation. Ursprünglich besitzt die Dialektologie ihre Wurzeln in der
historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts7 und diente nicht zuletzt
als „Materiallieferant“ für sprachgenetische Zusammenhänge, da man in Dialekten oft
archaische Züge entdeckte, welche bei der Rekonstruktion früherer Sprachzustände hilfreich
sein konnten.
Man kann sowohl Dialektologie (im engen, „diatopischen“ Sinne) wie auch Soziolinguistik
ebenso unter dem Gesichtspunkt von Sprachkontakten betrachten, und zwar sowohl
hinsichtlich Kontakten zwischen Varietäten einer Sprache wie auch über Sprachgrenzen
hinweg. Letzteres ist der geläufigere Fall, und er führt auch zu weniger
Abgrenzungsproblemen zwischen den beteiligten Varietäten.
5) Mehrsprachigkeit, Zweitsprach-Erwerb
Da Sprachkontakte (und damit verbundene sprachliche Veränderungen) über zwei- oder
mehrsprachige Sprecher erfolgen, sind die Berührungspunkte der Sprachkontakt-Forschung
mit Mehrsprachigkeit und Zweitsprach-Erwerb offensichtlich. Diese gehen aber in jedem Fall
über eine „Fehleranalyse“ hinaus. Vor allem deshalb, weil es aus der Sicht des Sprachkontakts
(und seiner strukturellen Folgen) unangemessen wäre, von „Fehlern“ zu sprechen. Man
könnte allenfalls von Abweichungen gegenüber einer jeweiligen Standardnorm einer der
Kontaktsprachen (Lekte) reden.
Spezielle Phänomene, die im Rahmen der Forschung sowohl zu Sprachkontakten als auch
zur Mehrsprachigkeit behandelt werden, sind das Code-Switching und sog.
„Ausländerregister“ (eng. „foreigner talk“ u.ä.). Auf das Code-Switching komme ich noch
zurück. Unter einem Ausländerregister versteht man in der Regel eine Varietät einer Sprache
Lx (z.B. des Deutschen), die aufgrund unvollständigen L2-Erwerbs in grammatischen
Kernbereichen (sowie eines relativ rudimentären Wortschatzes) zu gegenüber der
Standardnorm dieser Sprache stark vereinfachten Strukturen führt. Diese Strukturen gleichen
in Extremfällen denen eines Pidgin (s.o.). In ihnen fehlen vor allem morphologische
Markierungen innerhalb von Wortformen (Kasus- oder Tempusendungen u.ä.) und
Funktionswörter (Artikel, Konjunktionen, Präpositionen etc.), und die lineare Gliederung der
Äußerung (Abfolge der Wortformen) richtet sich nach sprachübergreifenden pragmatischen
Regeln der Topic-Comment-Regelung. Vgl. dazu folgende Beispiele:
(2)
meine Dorf Malatya gehen, Malatya Zug nehmen und weg, Berlin kommen und hier
wohnen
(zit. aus: Dittmar/Kuhberg 1988: 315)
(3)
jaa, misc zä gec güüdcrabfärdig)q l
(= Ja, da müssen Sie zur Güterabfertigung nach L. gehen.)
(zit. aus: Jakovidou 1993: 60)
(4a) ich nicht komme Deutschland – Spanien immer Bauer arbeite
7
Darin gleicht sie der Typologie.
5
(4b) ich alleine – nicht gut
(4c) dieses Jahr Winter gut, nicht kalt, nicht Schnee, verstehst du – immer fort, Zement fort;
vielleicht Schnee, vielleicht kalt, Zement nicht fort – keine Arbeit
(zit. aus: Dittmar 1982: 22f.)
Ähnlich wie bei Pidgins tritt beim „foreigner talk“ die Erscheinung auf, dass kompetente L1Sprecher („Muttersprachler“) sich einer solchen Sprechweise anpassen und damit auch zur
Verfestigung einer derartig simplifizierten Grammatik beitragen (vgl. dazu u.a. Jakovidou
1993).
2. Kontaktsituationen und Kontaktresultate
Halten wir noch einmal eines fest. Die Geschichte der Menschheit (und damit auch der
Sprachen) zeigt: Mehrsprachigkeit ist die Regel, Einsprachigkeit die Ausnahme!
2.1. Externe Bedingungen und Voraussetzungen des Erwerbs der L2
• Substrat vs. Adstrat / Superstrat
Häufig wird zwischen Sub-, Super- und Adstrat nur unter einer soziolinguistischen
Perspektive unterschieden: das Substrat stellt dann die Lx der Sprechergemeinschaft dar, die
sozial untergeordnet sind, das Superstrat die Ly der Sprechergemeinschaft, die sozial
übergeordnet (dominant) ist, und ein Adstrat wäre der Einfluß einer Lz, deren Sprecher in
keiner sozial (politisch, ökonomisch) klaren Position zu den Sprechern der Lx stehen (z.B.
weil sie die Sprache eines geographisch benachbarten Volksstammes ist). Dabei wird
angenommen, dass die Ergebnisse des Einflusses von Substraten einerseits und bei Super- und
Adstraten andererseits identisch sein können. In der Tat zeigt sich jedoch, dass die Richtung
des sprachlichen Einflusses von unmittelbarer Relevanz für das Ergebnis des Sprachkontakts
ist und Sub- vs. Superstrat nicht bloß komplementäre (konverse) Ausdrücke für dasselbe sind.
Substrate setzen immer einen Sprachwechsel voraus: die Sprecher von Lx wechseln (oft im
Laufe weniger Generationen) zu Ly als Primärsprache. Dadurch verändert sich die Struktur
von Ly in anderer Art als dann, wenn Lx von seinem Super- oder Adstrat Ly nur durch „soziale
Dominanz“ oder „nachbarschaftliche Beziehungen“ beeinflusst werden würde8. Im letzteren
Fall lässt sich allgemein von Entlehnung reden. Nach Breu (1994: 46) können wir diesen
Unterschied schematisch wie folgt darstellen:
(5)
Kontakttypen:
Adstrat / Superstrat
= Entlehnung
(→ Spracherhalt)
Lx ← Ly ⊃ Lx'
Substrat
= Spracherwerb
(→ Sprachwechsel)
Lx → Ly ⊃ Ly'
Dazu folgende Beispiele:
(i) Der Verlust der morphologischen Kasus im Balkanslavischen (Breu 1994: 45f.):
Die slavischen Sprachen Bulgarisch und Makedonisch haben – im Gegensatz zu den
restlichen slavischen Sprachen – ihre Kasusformen verloren. Syntaktische Relationen von
Nominalphrasen werden nunmehr nur noch über endungslose Substantive mit Präpositionen
ausgedrückt, so wie dies im Englischen oder den romanischen Sprachen auch der Fall ist.
Diese Innovation gegenüber dem Altbulgarischen (sowie dem Gemeinslavischen) ist durch
ein romanisches Substrat auf dem Balkan erklärbar. Nach dem Untergang des Römischen
Reiches sind auf dem Balkan vulgärlateinische Varietäten entstanden, bei denen die
8
Im Zusammenhang damit geht Lx in der Regel gänzlich verloren, bei einer Super- oder Adstrat-Situation ist
dies nicht zwingend der Fall.
6
ehemaligen morphologischen Kasus des Lateinischen durch Präpositionalkonstruktionen
ersetzt worden sind. Dieser Prozeß war bereits in vollem Gange, als die Slaven auf dem
Balkan erschienen (nach dem 6. Jh. n. Chr.). Deren Sprache (= Ly) wurde von den
Romanischsprachigen erlernt, allerdings in einer Form, die den morphologischen Eigenheiten
der vulgärlateinischen Varietäten entsprach. Schließlich erfolgte auch ein Sprachwechsel,
infolge dessen das Romanische (= Lx) „vergessen“ wurde.
Anders dagegen im Fall des Moliseslavischen in Süditalien. Vereinfacht gesprochen stellt
das Moliseslavische eine Nachfolgeform eines kroatischen Dialekts dar, der vor über 400
Jahren im dalmatinischen Hinterland gesprochen wurde. Sprecher dieses Dialekts wanderten
nach Süditalien (in das Hinterland von Brindisi) aus, erhielten untereinander ihre Sprache (=
Lx), unterlagen aber mit der Zeit immer stärker Einflüssen des örtlichen Italienischen, später
auch des Standarditalienischen (= Ly). Obwohl aber das Italienische (als gewissermaßen eine
Fortsetzung vulgärlateinischer Formen auf der Appeninen-Halbinsel) keine morphologischen
Kasus aufweist, ist das moliseslavische Kasussystem nicht verlorengegangen. In diesem Fall
hat kein Sprachwechsel stattgefunden, der italienische Einfluß auf das Moliseslavische kann
als Adstrat qualifiziert werden. Vgl. dazu einen tabellarischen Vergleich der Kasussysteme:
Tabelle 1:
‘(ein) Dorf’
Nom. Sg.
Gen. Sg.
Dat. Sg.
Akk. Sg.
Ins. Sg.
Vergleich von Kasussystemen bei Substrat- vs. Adstrateinfluß
altbulg.
gradъ
grada
gradu
gradъ
gradomъ
moliseslav.
grad
(do) grada
gradu
grad
s gradom
italienisch
(≅ vulgärlatein.)
[un] paese
di [un] paese
a [un] paese
[un] paese
con [un] paese
bulg. (‘Stadt’)
grad
na grad
na grad
grad
s grad
(ii) Der Ausdruck der Possession durch eine adessive Konstruktion im Russischen:
Slavische Sprachen besitzen, wie die meisten anderen europäischen Sprachen auch, ein Verb,
welches allgemein zur Angabe des Besitzes und der Zugehörigkeit verwendet wird, d.i. ein
habere-Verb; vgl. russ. imet’, tschech. mít usw. (< gemeinslav. *iměti, imati). Im Russischen
wird dieses Verb aber sehr eingeschränkt verwendet, und zur Angabe des Besitzes
(Zugehörigkeit) dient eine Konstruktion mit der adessiven Präposition u ,bei’ (+ GEN); vgl. die
russische Konstruktion (6) gegenüber etwa der polnischen (7), welche derjenigen in den
germanischen und romanischen Sprachen (mit einem habere-Verb) entspricht:
(6)
russ. U
bei
menja
ich.GEN
gripp (tarelka supa, brat, den’gi, stipendija).
Grippe.NOM
(7)
poln. Mam
grypę (talerz zupy, brata, pieniądze, stypendium).
haben.1.SG.PRS Grippe.AKK
,Ich habe Grippe (einen Teller Suppe, einen Bruder, Geld, ein Stipendium).’
Russisch bildet die nordöstliche Peripherie der slavischen Sprachlandschaft. Es wird auf
einem Gebiet gesprochen, welches relativ spät (erst ca. ab dem 7. Jh. n. Chr.) von Slaven
besiedelt wurde und auf welchem zuvor bereits finno-ugrische Völkerschaften lebten. Die
Konstruktion mit u+GEN (s. Bsp. 6) entspricht der possessiven Konstruktion in diesen
Sprachen; aller Wahrscheinlichkeit nach entstand sie durch den Sprachwechsel
ostseefinnischer (= Lx) Sprecher zum Russischen (nördlichen Ostslavischen = Ly).
7
(iii) Das „hot news“-Perfekt des irischen Englisch:
Für das irische Englische sind Konstruktionen belegt, die den Nachzustand einer Person nach
einem bestimmten Ereignis bezeichnen. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Present Perfect
wird diese Konstruktion nicht mit have gebildet (She has sold the boat.), sondern mithilfe
einer Gerundialform (auf -ing) und der Präposition after; vgl.
(8)
She’s after selling the boat. (= She has just sold the boat.)
Als Komplement der Präposition kann auch ein gewöhnliches Substantiv stehen, z.B.
(9)
He’s after the flu. (= He just had the flu.)
(Vgl. Heine/Kuteva 2005:102 mit weiteren Angaben.)
Im Keltischen – darunter auch im Irischen – sind solche Konstruktionen an der Tagesordnung.
Ihr Eindringen ins Englische in Irland darf im Zusammenhang mit einem Sprachwechsel der
ursprünglich irisch (= Lx) sprechenden Bevölkerung zum Englischen (= Ly) bewertet werden.
Es handelt sich also auch hier um ein Substrat.
(iv) Prädikative Possession bzw. existenzielle Kopula:
Von einem (vermutlich ebenso keltischen) Substrat darf man bei der französischen
Konstruktion il y a (+ NP) ausgehen. Hier wurde das Possessionsverb avoir ,haben’ zu einem
Teil einer Kopula-Konstruktion, die die Existenz eines Referenten ausdrückt, welcher auf
diese Kopula folgt.
Wenn nun allerdings im alemannischen Deutschen statt der standarddeutschen KopulaKonstruktion es gibt (+ NP) eine analoge Konstruktion es hat (+ NP) verwendet wird, dann
handelt es sich hier um ein Adstrat. Denn es findet kein Sprachwechsel statt; die Lx (=
Deutsch) wird nur durch Einfluß einer Ly (= Französisch) verändert.
• soziolinguistische Dominanz, Sprecherzahl
Im allgemeinen lässt sich sagen, dass soziale Variablen verhältnismäßig wenig Voraussagen
darüber erlauben, welcher Art die strukturellen Ergebnisse des Sprachkontakts sein werden.
Als einigermaßen zuverlässig erweisen sich in dieser Hinsicht anscheinend nur die
Proportionen der Sprecherzahlen der Kontaktsprachen zueinander: je mehr Sprecher der
Sprache Lx gegenüber einer deutlich kleineren Anzahl von Sprechern einer Ly existieren,
desto wahrscheinlicher ist es, dass nur Ly von Lx beeinflusst wird. Nehmen wir weiter an, dass
Lx in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens funktioniert, Ly dagegen nur im
privaten Bereich seiner primären Sprecher (L1-Sprecher). Damit korreliert gewöhnlich die
Erscheinung, dass die L1-Sprecher von Ly zugleich Lx sprechen, die L1-Sprecher von Lx
jedoch in aller Regel nicht Ly. Die kollektive Zweisprachigkeit ist dadurch asymmetrisch, und
im allgemeinen werden immer mehr Sprecher von Ly zu Lx übertreten (bis in einer der
Folgegenerationen kein Sprecher mehr Ly aktiv beherrscht). Damit wird der Einfluß von Lx
auf Ly zu einem Adstrat (oder Superstrat).
Ob sich dagegen in Lx ein Substrat aus Ly finden wird, hängt offenbar am ehesten von der
M e n g e der noch verbleibenden Ly-Sprecher ab. Im Zusammenhang damit spielt es ferner
eine Rolle, wie hoch der Anteil an z w e i s p r a c h i g e n Lx-Ly-Sprecher aus beiden (allen)
Teilen der „Kontaktgemeinschaft“ ist. Schließlich sollte noch darauf verwiesen werden, dass
sich u.U. ein dritter Faktor darauf auswirkt, ob sich in Lx ein Substrat aus Ly festsetzt,
nämlich: das T e m p o des Sprachwechsels von Ly zu Lx, gemessen z.B. anhand der Anzahl
von Generationen, die der Sprachwechsel von einsprachigen Ly-Sprechern zu einsprachigen
8
Lx-Sprechern braucht. Dieser Faktor ist in der Praxis aber von den beiden anderen schlecht
isolierbar, und er zeitigt in Abhängigkeit von bestimmten (noch näher zu klärenden)
Umständen genau entgegengesetzte Wirkung. Denn man kann zwei (genau entgegengesetzte)
Fälle beobachten:
(a) je größer die Menge der zweisprachigen Ly-Sprecher und je s c h n e l l e r der
Sprachwechsel (über die Generationen) von Ly zu Lx (vor dem Verschwinden von Ly),
desto wahrscheinlicher ist es, dass sich in Lx ein Substrat aus Ly bildet. Vgl. dazu das
phonotaktische Beispiel in (12-17) aus Punkt (iii).
(b) je größer die Menge der zweisprachigen Ly-Sprecher und je l a n g s a m e r der
Sprachwechsel (über die Generationen) von Ly zu Lx (vor dem Verschwinden von Ly),
desto wahrscheinlicher ist es, dass sich in Lx ein Substrat aus Ly bildet. Vgl. dazu als
Beispiele ex negativo (d.i. zum Fehlen eines Substrats) die Punkte (i-ii) und als
Beispiele ex positivo (d.i. zum Auftreten eines Substrats) die Beispiele (10-11) in
Punkt (iii).
− Beispiele:
(i) Die noch Sorbisch sprechenden Obersorben in Sachsen sind alle zweisprachig
obersorbisch-deutsch, es gibt aber praktisch keine (ortsansässigen) Deutschen, die auch
Obersorbisch sprechen. Die deutschen Adstrat-Einflüsse auf das Obersorbische sind massiv,
von der Phonetik bis zur Syntax (s. 2.2). Von einem umgekehrten Einfluß des Obersorbischen
auf das Deutsche kann dagegen nicht die Rede sein.
(ii) Analoges gilt für die Moliseslaven in Süditalien in bezug auf das Italienische (auf die
örtlichen Dialekte wie auch umso mehr in bezug auf das Standarditalienische).
In diesen beiden Fällen ist die Zahl der Ly-Sprecher gegenüber den einsprachigen LxSprechern äußerst gering (und sie wird immer geringer), und der Sprachkontakt mit dem
Deutschen bzw. Italienischen hat kontinuierlich über Jahrhunderte angedauert. Ein
entsprechendes slavisches Substrat im Deutschen bzw. Italienischen fehlt.
(iii) Im ostslavisch-baltischen Kontaktgebiet (Weißrußland—südöstliches Litauen—
südöstliches Lettland) erfolgte seit nahezu 1000 Jahren eine sukzessive, langsame
Assimilation einer baltischsprachigen Bevölkerung durch eine (ost)slavischsprachige. Das
Baltische und (über seine Vermittlung) das Ostseefinnische (z.B. Estnische) hat im Slavischen
dieses Gebiets in einigen Erscheinungen der Morphologie und Syntax ein Substrat
hinterlassen. So z.B.
− das nominativische Objekt (aus dem Ostseefinnischen)
(10a) Litauisch
Reikia
šienas
grėbti
nötig_sein.PRS.3 Heu.NOM.M harken.INF
,Man muß (jetzt) Heu harken.’
(10b) Lettisch
Pieniņš
ēst
nederēja
Milch.NOM.M
essen.INF NEG.geeignet_sein.PRS.3
,Die Milch eignet sich nicht zum Essen.’ (,Man kann/soll diese Milch nicht essen.’)
(10c) Russisch um Pskov-Novgorod
Mne
nado
sobaka
s
soboj
ich.DAT nötig_sein.INDEKL Hund.NOM mit sich.INS
,Ich muß den Hund mitnehmen.’
(,Für mich ist es nötig, den Hund mit mir zu nehmen.’)
vzjat’
nehmen.INF
9
(10d) Finnisch
Minun täytyy
kirjoittaa
kirje
ich.GEN nötig_sein.PRS.3 schreiben.INFI Brief.NOM
,Ich muß einen Brief schreiben.’ (,Für mich ist es nötig, einen Brief zu schreiben.’)
− eine Präposition mit der Bedeutung ‘hinter’ zur Markierung der Basis der Komparation
(aus dem Litauischen):
(11a) Litauisch
Jis
yra
mandag-esn-is
už
höflich:KOMP:NOM.SG.M hinter
er.NOM COP.PRS.3
,Er ist höflicher als sie.‘
(wörtl. ,... hinter ihr‘)
ją
sie.AKK
(11b) nordwestliches Weißrussisch
brat
malože za
mn’e
Bruder.NOM jünger hinter ich.AKK
,(Mein) Bruder ist jünger als ich.’
(11c) Russisch der Altgläubigen in diesem Kontaktgebiet
latyskij
jazyk
legč´
lettisch.NOM.SG.M
Sprache.NOM.SG.M einfacher
,Lettisch ist einfacher als Deutsch.’
za
hinter
n’ameckij
deutsche.AKK.SG.M
(11d) Polnisch in diesem Kontaktgebiet (sog. ‘polszczyzna kresowa’, nördl. Variante)
u
a
on
młód-sz-y
za
mnie
und er.NOM jung:KOMP:NOM.SG.M hinter ich.AKK
,Er ist jünger als ich.’
Diesen Erscheinungen lässt sich ein ganz anderes Substrat gegenüberstellen. Und zwar ein
solches, welches sich infolge eines Sprachwechsels vom Litauischen (= Ly) zum Polnischen
bzw. zum Weißrussischen (= Lx) ergeben hat, der ab der Mitte des 19. Jahrhunderts
ausgesprochen schnell, d.i. innerhalb von 2-3 Generationen abgelaufen sein muß. Dieses
Substrat ist phonetisch, genauer: phonotaktisch, da es die Assimilationsregeln für
Konsonantengruppen genau dort betrifft, wo Litauisch sich vom Ostslavischen (u.a. dem
Weißrussischen) und dem Polnischen unterscheidet. Vgl. dazu zunächst die folgenden
Ausführungen:
Alle beteiligten Sprachen (Varietäten) unterscheiden palatale und velare Konsonanten. In
den slavischen Sprachen führt diese Unterscheidung zu klaren phonologischen Oppositionen
(mit unterschiedlicher Anzahl der so entstehenden Phonem-Paare). Im Litauischen ist der
phonologische Status dieser Unterscheidung dagegen nicht ganz so eindeutig. Auf jeden Fall
unterscheiden sich die Assimilationsregeln innerhalb von Konsonantengruppen: treten
litauische Konsonanten in Gruppen auf, werden sie jeweils allesamt regressiv nach dem
palatalen vs. velaren Charakter des letzten Konsonanten assimiliert, und dieser variiert
danach, ob ein vorderer Vokal [i, e, E] oder ein hinterer (mittlerer) [a, o, u] folgt (s. Bsp. 12).
In den slavischen Kontaktsprachen findet eine solche Assimilation nur in ganz begrenztem
Ausmaß statt. Sie betrifft im wesentlichen nur /s/ vor palatalem /t'/: /st → /s't'/ (z.B. russ. most
,Brücke.NOM’ → o mostè.LOK [mas't'e] ,über die Brücke (erzählen)’), im Polnischen auch /s/
vor /n'/ (z.B. rosnąć ,wachsen.INF’ → rośnie ,er/sie wächst’). Ansonsten aber richtet sich
lediglich der letzte Konsonant in seiner Palatalität vs. Velarität nach der vorderen vs. hinteren
(mittleren) Artikulation des folgenden Vokals (s. Bsp. 13). Vgl. dazu die folgenden Beispiele:
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(12) Litauisch
smulkmena [smul'k'm'ena] ,Kleinigkeit’ → palatale Gruppe
smulkus [smulkus] ,klein’ (NOM.SG.M) → velare Gruppe
vs. smulki [smul'k'i] ,klein’ (NOM.SG.F)
→ palatale Gruppe
kirpti [k'ir'p't'i] ,Haare schneiden’ (INF) → palatale Gruppe
vs. kirpo [k'irpo] ,er/sie schneidet Haare’ → velare Gruppe
Baltijos [bal't'ijos] jūra ,Ostsee’
(13) Russisch
Baltijskoe [balt'ijskaje] more ,Ostsee’
aber auch tol’ko [tol'ka] ,nur’
vzgljad [vzgl'at] ,Blick’
→ palatale Gruppe
→ velares [l] + palatales [t']
→ palatales [l'] + velares [k]
→ velare [v, z, g] + palatales [l']
rediska [r'ed'iska] ,Radieschen’ (SG)
und rediski [r'edisk'i] ,Radieschen’ (PL)
→ velares [s] + velares [k]
→ velares [s] + palatales [k']
redko [r'etka] ,selten’ (Adverb)
und redkij [r'etk'ij] ,selten’ (NOM.M.SG)
→ velares [t] + velares [k]
→ velares [t] + palatales [k']
Mit anderen Worten: die regressive Stimmton-Assimilation in litauischen
Konsonantengruppen erfolgt nach phonotaktischen Gesichtspunkten, während sie in den
slavischen Kontaktsprachen (weitestgehend) nach einem morphologischem Prinzip erfolgt
(bzw. eben nicht erfolgt, s. obige Beispiele).
Die litauische Regel ist in die betreffenden slavischen Varietäten „importiert“ worden, als
es zu einem rapiden (und massenweisen) Übertritt aus dem Litauischen kam (s.o.). Und diese
phonotaktische Eigenart hat sich in ihnen so lange gehalten, wie sich der Übertritt vom
Litauischen in diese slavischen Varietäten weiter vollzogen hat und die entsprechenden
Sprecher noch genügend (zumindest passive) Kenntnisse des Litauischen besaßen. (Heute ist
diese Erscheinung offenbar praktisch verschwunden.) Vgl. dazu folgende Belege aus dem
Weißrussischen (14) und dem lokalen Polnischen (15-17) aus der Zeit von 1900 bis ca. 1970:
(14) ra?b’íta ,zerschlagen’ (vgl. russ. [razb'ita])
(15)
vs.
na bavel'n'e [bavel'n'e] tkałam ,ich habe auf Baumwolle gewebt’
standardpoln. bawełna [bavewna]9 ,Baumwolle’ (NOM.SG.F)
vs.
peln'in'k'i [pel'n'in'k'i] ,voll’ (NOM.SG.M, deminutiv)
standardpoln. pełny [pewn"] ,voll’ (NOM.SG.M)
vs.
červu¾ona vas'il'k'i [vas'il'k'i] p'ijo ,sie trinken (Tee aus) roten Kornblumen’
standardpoln. vas'iłka [vas'iwka] ,Kornblume’ (NOM.SG.F)
(16)
(17)
Ein sich hier anschließendes Problem bestünde in der Frage, ob und wie lange ein jeweiliges
Substrat sich in der betreffenden Sprache (hier Lx) hält. Eine derartige Frage ist bislang, so
weit ich sehe, noch nirgends explizit gestellt worden. Provisorisch darf man annehmen, dass
9
Im Polnischen (zumindest dem Standard) stehen [w] und [l] in morphonologischer Opposition. [w] leitet sich
etymologisch aus velarem [l] her, während [l] dem palatalen [l'] des Ostslavischen entspricht.
11
phonetische Einflüsse sich weniger gut halten werden als solche, die grammatische
Kernbereiche (in Morphologie und Syntax) betreffen.
2.2. Arten des sprachlichen Transfers
Man kann zwischen folgenden Arten des sprachlichen Transfers unterscheiden (vgl.
Heine/Kuteva 2005: 2; Weinreich 1968 [1953]: 29ff.):
(i) Laute und Lautkombinationen
− Beispiele:
• Das gerade angeführte Beispiel einer litauischen phonotaktischen Regel als Substrat in
slavischen Kontaktsprachen.
• Nicht selten „importiert“ eine Sprache Lx aus einer anderen Sprache Ly über
Lehnwörter neue Laute, welche mit der Zeit das Phoneminventar von Lx erweitern.
Das geschieht gewöhnlich, wenn die Zahl der Entlehnungen mit den entsprechenden
Lauten zunimmt. So ist z.B. dem frühen Slavischen und dem Baltischen der Laut [f]
fremd gewesen. Er ist relativ spät durch massive Entlehnungen (aus dem Dt., Latein.
etc.) Bestandteil der jeweiligen Standardsprachen geworden.
Entsprechendes gilt z.B. für den Laut [Z] im Deutschen, der erst durch
Entlehnungen wie Dschungel, Journal u.ä. Eingang gefunden hat.
(ii)
Bedeutungen (inkl. grammatische Funktionen) oder Kombinationen von Bedeutungen /
Funktionen
− Beispiele:
(a) lexikalische Bedeutungen (Lehnübersetzungen, Neologismen etc.)
• dt. realisieren: Als Lehnbedeutung (Neologismus ohne formale Veränderung oder
Neubildung) hat in den letzten Jahren die Verwendung dieses Verbs im Sinne von
gewahr, bewußt werden zugenommen. Dieser Neologismus stellt eine Interferenz aus
dem Englischen dar. Vgl.
(18) ... schließlich hatten wir realisiert2, dass es für eine Eingabe zu spät war.
Vgl. dagegen die ältere Bedeutung (mit den Synonymen verwirklichen und umsetzen):
(19) Hanspeter hat seine Pläne realisiert1.
•
Zu ähnlichen Lehnbedeutungen vgl. die Angleichung der Bedeutung(en)
moliseslavischer Wörter (Substantive, Verben, Adverben) an das umgebende
Italienische (= Adstrat) bei Breu (2003: 358-362).
•
Lehnübersetzungen beruhen auf der gliedweisen (Morphem-für-Morphem)
Übersetzung eines fremdsprachlichen Vorbilds, wodurch eine Neubildung entsteht.
Beispiele dafür gibt es wie Sand am Meer. Solche Nachbildungen betreffen vor allem
Komposita (Zusammensetzungen mehrerer Stämme); vgl. etwa
(20) dt. Schnell|zug→ tschech. rychlo|vlak (rychlo ,schnell’ + vlak ,Zug’ < vléci ,ziehen’)
dt. Welt|anschauung → poln. świato|pogląd, russ. miro|vozzrenie
12
dt. Schiff|bau → russ. korable|stroenie
(korabl’ ,Schiff’10 + stroenie ,Bauen’ < stroit’ ,bauen’)
Auch Zusammensetzungen von Präfixen mit Stämmen finden sich dabei häufig; vgl. etwa
(21) lat. con|scientia (→ franz. con|science ?) → russ. so|znanie ,Bewusstsein’
(in allen Fällen morphologisch wörtl. ,Mit-Wissen’)
dt. Über|gewicht → lit. virš|svoris
russ. sverch- (< s ,von (herab)’ + verch ,oberer Teil’) als Äquivalent zu dt. über- bzw.
griech. hyper- (z.B. sverch-estestvennyj ,über-natürlich’).
Das macht die Abgrenzung des Transfers lexikalischer Bedeutungen gegenüber
grammatischen Funktionen natürlich schwieriger.
(b)
grammatische Funktionen
• In vielen Sprachen gibt es neben primären Präpositionen auch sekundäre, d.i. solche
Präpositionen, die aus Präpositionalphrasen mit Substantiven, aus Kasusformen von
Substantiven oder aus infiniten Verbformen entstanden sind. Vgl. z.B. dt. wegen (<
Weg.GEN), infolge, aufgrund, während oder auch eng. in front of, because (< *by
cause (of)), during. Bei einem entsprechend intensiven Sprachkontakt können solche
„neuen“ Präpositionen relativ leicht nachgebildet werden. So auch im
Moliseslavischen, welches nach dem Vorbild des (umgangssprachlichen) Italienischen
verfährt; vgl. etwa
(22) zgora storce
auf Tisch.GEN
,auf dem Tisch’
zgora ist eine Kontraktion aus z gore ,vom Hügel, Berg’ und stellt eine Nachbildung des
süditalienisch-dialektalen ngoppa wörtl. ,auf der Kuppe’ dar (Antonietta Marra, Walter Breu
pers. Mitteilung), welches ebenso als sekundäre Präposition mit der Bedeutung ,auf’
verwendet wird. (Zu diesem Vorgang genereller vgl. Breu 2003: 365f.)
(iii) Form:Funktions-Einheiten oder Kombinationen solcher Einheiten
Hierbei handelt es sich immer um den Transfer von Morphemen aus einer Sprache in eine
andere.
− Beispiele:
(a) lexikalische Bedeutungen
• Im Moliseslavischen werden gelegentlich auch Präpositionen direkt aus dem
Italienischen entlehnt. Sie regieren dabei den Genitiv (so wie in der Regel auch
sekundäre Präpositionen, vgl. etwa Bsp. 22); so etwa sendza ,ohne’ (← ital. senza)
(vgl. Breu 2003: 366).
• In vielen europäischen Sprachen sind „Präfixoide“ lateinischer oder griechischer
Herkunft geläufig. Vgl. etwa die Morpheme super, extra, hyper u.ä., die sowohl als
präfixale Elemente auftreten können (dt. supermodern, hyperschnell) oder auch als
10
Dies ist seinerseits eine (viel ältere) Entlehnung aus dem Griechischen (korab- ,Schiff’).
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isolierte Morpheme in prädikativer Funktion (so etwa poln. To jest super! ,Das ist
super !’).
(b)
grammatische Funktionen
• Die Eskimo-Sprache Aleutisch (nach den Aleuten-Inseln, Beringmeer) wurde im 19.
Jahrhundert so stark vom Russischen beeinflusst, dass die finiten Verbformen (inkl.
Imperativ) die ursprünglichen Endungen der Verbformen komplett ersetzt haben. Vgl.
dazu das Paradigma gemäß der Darstellung in Thomason/Kaufman (1988: 234f.)11;
Bering Aleut (dieselbe Sprache vor dem Kontakt, gesprochen auf den Nachbarinseln)
wird als Vergleich für den Zustand der Formen vor dem Kontakt mit dem Russischen
mitangeführt:
(23)
(iv) syntaktische Relationen, insbesondere Wortstellungsphänomene
− Beispiele:
• Das Obersorbische hat (sowohl in der kodifizierten Standardsprache wie auch der real
gesprochenen Umgangssprache) die „Klammerstellung“ deutscher Verben bei
zusammengesetzten Tempora übernommen. Vgl. etwa
obersorbische Standardsprache
(24) Ja
sym
tu
ich.NOM AUX.PRS.1.SG DEM.AKK.SG.F
,Ich habe das Buch gelesen.’
11
knihu
Buch.AKK.SG.F
čitał
gelesen.NOM.SG.M
Die Autoren berufen sich ihrerseits auf eine Arbeit von Menovščikov.
14
Die Partizipialform čitał könnte nur unter extrem diskurspragmatischen Gründen nach vorne
(direkt hinter das Auxiliar sym) verschoben werden, ansonsten ist die Klammerstellung mit
dem Auxiliar ebenso zwingend wie im Deutschen (vgl. *Ich habe gelesen das Buch). Keine
andere slavische Varietät kennt eine derartig obligatorische Regel in der Wortfolge.
(v)
alle denkbaren Kombinationen von (i) bis (iv)
15