Bartitsu im 21. Jahrhundert
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Bartitsu im 21. Jahrhundert
The Baker Street Chronicle Seite 14 1. Jahrgang · Nr. 1 Sherlock Holmes erklärte seinem Freund und Kollegen in „Das leere Haus“, daß er mit Hilfe von Bartitsu den Kampf gegen Professor Moriarty an den Reichenbachfällen überlebt habe. Von den Anfängen der alten Kampfkunst des Bartitsu anno 1899 bis zur heutigen Zeit liegen beachtliche 112 Jahre. Bartitsu im 21. Jahrhundert Ein Interview mit dem Kampfkunst-Experten und Bartitsu-Trainer Stefan Dieke Herr Dieke, wie kamen Sie dazu, den Kurs „Bartitsu, Selbstverteidigung für Gentlemen“ in Deutschland anzubieten? Seit Mitte der 90er Jahre beschäftige ich mich mit der ernsthaften Rekonstruktion vergessener Europäischer Kampfkünste. Zunächst lag dabei der Schwerpunkt auf der historischen Handhabung verschiedener Schwertformen vom Langen Schwert des 15. Jahrhunderts bis zum Militärsäbel im 19. Jahrhundert. Irgendwann kam dann der Spazierstock dazu und schließlich auch das englische Boxen des 18. und 19. Jahrhunderts. Da war der Schritt zum Bartitsu, welches sowohl Stockkampf und Boxen mit Tritten aus dem Savate und Wurf- und Hebeltechniken aus dem JiuJitsu vereint, nicht mehr so groß – zumal viele mittelalterliche Ringtechniken denen des JiuJitsu oft sehr ähnlich sind. Letztendlich war es ein naheliegender Schritt, ist Bartitsu doch auch für die Selbstverteidigung im 21. Jahrhundert geeignet – im Gegensatz zu all den Schwertkampfkünsten, mit denen ich mich beschäftige. Auf der anderen Seite wächst auch das allgemeine Interesse an Kampfkünsten. Dabei interessieren sich auch mehr und mehr Kampfkünstler aus asiatischen Stilen für verwandte Themen aus dem europäischen Kulturkreis. Was denken Sie persönlich: wie kam es zu dem Wiederaufleben des Bartitsu in jüngster Zeit? Meines Wissens waren es die Kampfkunsthistoriker Graham Noble und Richard Bowen, die das erste Licht ins Dunkel des ominösen ‚Baritsu‘ gebracht haben, mit dem Conan Doyle die Wiederauferstehung seines Meisterdetektives rechtfertigte. Holmes-Enthusiasten und Kampfkünstler fanden schließlich vor einigen Jahren über das Internet zusammen und die Ergebnisse der Recherchen von Noble und Bowen wurden einem größeren Personenkreis zugänglich gemacht. Schließlich machten sich sowohl Jiu-Jitsuka samkeit der Öffentlichkeit verschwunden. Denn nachdem Barton-Wright sich 1902 mit einem seiner Japanischen Jiu-Jitsu-Lehrer überworfen hatte, hatte er auch finanziellen Probleme. Zum einen war das Interesse an einer effektiven Selbstverteidigung, die als auch historische europäische Kampfkünstler an die praktische Umsetzung der dokumentierten Kampftechniken und die Rekonstruktion des vergessenen nicht direkt zu äußersten Mitteln greift, bei der Londoner feinen Gesellschaft scheinbar nicht so hoch, wie Barton-Wright das erwartet hatte. Andererseits fand Systems des ebenso in Vergessenheit geratenen Kampfkunstpioniers Edward William Barton-Wright. Wie hat sich diese alte Kunst der Selbstverteidigung im Laufe der Zeit – immerhin weit mehr als 100 Jahre – verändert? Wie gesagt, ist Bartitsu damals recht schnell aus der Aufmerk- rapiegeräte von wohl fraglicher Wirksamkeit entwickelte und betrieb. Erst Anfang des 21. Jahrhunderts wurde Bartitsu wieder „entdeckt“. In der Zwischenzeit wurde Bartitsu also nicht aktiv weiterentwickelt. Es gibt also keine Evolution des Bartitsu. Vielmehr ist vieles verloren gegangen. Was an Informationen noch erhalten ist, findet sich in einigen Zeitungsartikeln aus der den Jahren um 1900, in denen Barton-Wright und das Bartitsu der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Dort werden die elementaren Prinzipien des Systems genannt und Beispiele von Kampftechniken beschrieben. Heute ist es an modernen Kampfkünstlern, basierend auf diesen Beispielen und Ideen ein effektives Selbstverteidigungssystem zu re-konstruieren, welches sich im Einklang mit den überlieferten Quellen befindet. Dabei gibt es durchaus verschiedene Herangehensweisen und Schwerpunkte. In der Bartitsu-Society herrscht jedoch Konsenz, daß moderne Bartitsu-Rekonstruktionen neben den Quellen die BartonWright direkt zuzuordnen sind, auf zeitgenössische Quellen zum Jiu-Jitsu, Boxen, Savate und Stockkampf zurückgreifen können, um Lücken zu schließen. Natürlich müssen sich diese Lösungen im Einklang mit den Prinzipien Barton-Wrights befinden und ihnen nicht widersprechen. Yukio Tani, der besagte Jiu-JitsuLehrer, in William Bankier einen fähigen Manager und machte unter seiner Führung Jiu-Jitsu in Europa populär. Unterrichten Sie nach den klassischen Methoden von Edward William Barton-Wright, gibt es gar ein Regelwerk oder wurde ein solches in jüngster Zeit neu verfasst? Barton-Wright mußte schließlich die 4 Jahre zuvor gegründete Bartitsu School of Arms and Physical Culture schließen und bestritt von da an seinen Lebensunterhalt, indem er elektrische The- Wie genau vor über 100 Jahren trainiert wurde, ist leider nicht bekannt. Ich nutze auch beim Bartitsu das didaktische System, mit dem ich bereits bei der Vermittlung der historischen Fecht- The Baker Street Chronicle Sommer 2011 kunst gute Erfolge erreicht habe. Es ist so, wie ich es mir gewünscht hätte, trainiert zu werden: eine effektive Motorikschulung, in deren Rahmen die idealisierten Bewegungsabläufe einer Kampfkunst so verinnerlicht werden, daß sie zur intuitiven Reaktion werden. Dabei findet auch didaktischen Ansätze verschiedener Kampfkünste Verwendung, die ansonsten nichts weiter mit dem Bartitsu zu tun haben. Regeln gibt es im Bartitsu keine. Laut Barton-Wrights eigenen Worten ist Bartitsu eine ‚Kunst der Selbstverteidigung‘. In dieser Formulierung findet sich exakt mein Verständnis des Bartitsu wieder: es ist eine Mischung aus Kampfkunst und Selbstverteidigung – kein Kampfsport, bei dem es um Punkte, Wettkämpfe oder Regeln geht, sondern ein Selbstverteidigungssystem, bei dem auch Körperbeherrschung und Charakter entwickelt werden. Dementsprechend besteht kein Bedarf an Regeln im Bartitsu – nur an ein paar Absprachen, die das sichere Training potentiell gefährlicher Techniken ermöglichen. nen und welcher Personenkreis findet daran meistens Interesse? Die Teilnehmer kommen aus allen denkbaren Interessenskreisen. Es gibt dabei Leute, die sich vornehmlich für die Epoche interessieren, ebenso wie Kampfkünstler aus asiatischen Stilrichtungen, die mehr über die alte europäische Herangehensweisen an das Thema wissen wollen, und schließlich auch viele Leute, die wie ich aus den historischen europäischen Kampfkünsten kommen und Interesse an unbewaffneten Systemen bzw. dem Spazierstock haben. Sicher hat jeder schonmal einen Film gesehen, in dem das alte Boxen gezeigt wird, oft auf parodistische Art. Es wirkt befremdlich, weil es unseren heutigen Sehgewohnheiten widerspricht. Das ändert aber nichts an seiner Effektivität und Sinnhaftigkeit. Mir bereitet es immer wieder viel Freude, zu sehen, wie die Meinung der Seminarteilnehmer von kritisch-amüsiert zu fasziniert wechselt, sobald sie verstehen, warum man es so und nicht anders macht. Wie beschreiben Sie Ihr Zusammentreffen mit Tony Wolf, mit dessen Engagement Bartitsu im 21 Jhd. wieder im Gespräch ist? Wurden die Methoden des Bartitsu jemals praktisch angewendet bzw. besteht heute ein grundsätzliche Möglichkeit einer praktischen Anwendung? Wir haben uns vor Jahren in Kanada kennengelernt, wo wir beide als Dozenten bei einem großen Kampfkunst-Event für Schauspieler und Stuntleute engagiert waren. Tony war sicher einer der Ersten, die sich auf eine praktische Umsetzung des Bartitsu eingelassen haben. Was er an Bartitsu gezeigt hat, hat mich motiviert, Bartitsu aktiv zu erforschen. Was fasziniert Ihre Teilnehmer des Gentlemen-Kurses, eine solch alte Verteidigungsart zu erler- In einem Interview aus dem Jahre 1950 erklärt Barton-Wright, dass es bei dem Streit mit Yukio Tani zu Handgreiflichkeiten gekommen sei und sich Bartitsu als überlegen gegenüber Tanis JiuJitsu erwiesen habe. Da die sozialen Probleme der Zeit um 1900 in einer Metropole wie London besonders ausgeprägt waren, ist die Wahrscheinlichkeit, daß es zu praktischen Anwendungen des Bartitsu gekommen ist, recht groß. Aufzeichnungen darüber sind mir jedoch nicht bekannt. Allerdings wüßte ich auch nicht, wer Interesse daran gehabt haben sollte, solche Sachverhalte aufzuzeichnen. Schließlich liegt es nicht in dem Interesse der Medien, über Alltägliches zu berichten. „Verteidiger wehrt Angreifer ab!“ ist einfach keine Schlagzeile. Auch heute werden ja nur extreme Fälle von Selbstverteidigung publik: entweder hat die Selbstverteidigung nicht funktioniert und der Angegriffene wird zumindest schwer verletzt oder ein vermeintlich unterlegener Verteidiger wehrt erfolgreich einen oder mehrere als überlegen wahrgenommene Angreifer ab. Alltägliche Selbstverteidigungshandlungen hingegen werden bestenfalls im Rahmen von Polizeiakten dokumentiert – und auch da dürfte der Stil, mit dem der Verteidiger sich gewehrt hat, kaum verzeichnet werden. Die Relevanz des Bartitsu im frühen 20. Jahrhundert läßt sich vielleicht daran ermessen, daß viele der SelbstverteidigungsExperten dieser Zeit von BartonWrights Ideen geprägt wurden, so daß sie sie an ihre Schüler weitergaben und in ihren Büchern veröffentlichten. Viele dieser Experten haben zuvor in Barton-Wrights Schule in London trainiert. Da es sich beim Bartitsu um ein Selbstverteidigungssystem handelt, ergibt sich die Möglichkeit bzw. der Bedarf zur praktischen Anwendung damals wie heute immer dann, wenn man angegriffen wird. Viele Techniken des Bartitsu sind einfach und effizient. Durch das Training lernt man, mit dem Streß einer solchen Situation umzugehen. Und auch wenn der Spazierstock heute nicht mehr zur üblichen Herrengarderobe gehört, ist er auch im 21. Jahrhundert ein probates Hilfsmittel, welches man problemlos bei sich haben kann. Buchempfehlungen von Stefan Dieke: The Bartitsu Compendium Volume 1: History and the Canonical Syllabus Volume II: Antagonistics von Tony Wolf erhältlich bei www.lulu.com Alle Einnahmen aus diesen Büchern kommen der Bartitsu-Gesellschaft zugute! Seite 15 Stefan Dieke ...ist mit mehr als 15 Jahren Erfahrung in der Erforschung, dem Training und der Vermittlung historischer europäischer Kampfkünste ein international gefragter Experte in Sachen historische Fechtkunst. Die Schwerpunkt der Arbeit des studierten Historikers liegen auf den deutschsprachigen Quellen des Spätmittelalters und der Renaissance sowie auf dem Säbel bzw. Broadsword des 18. und 19. Jahrhunderts. Immer wieder wird er eingeladen, sein Wissen bei Veranstaltungen im In- und Ausland an Kampfkunstinteressierte, aber auch an Stuntmen und Schauspieler weiterzugeben, so z.B. in Kanada, Australien, Singapur und den USA. Seit 2006 betreibt er in Wuppertal die ‚Alte Kampfkunst‘, eine Schule für historische europäische Kampfkünste Seminare 18./19. Juni 2011 Bartitsu *Spazierstock* – La Canne Vigny 02./03. Juli 2011 *Säbel/Broadsword* des 18. u. 19. Jahrhunderts 16./17. Juli 2011 *Bartitsu* – Selbstverteidigung für Gentlemen Für alle genannten Seminare gilt: Kosten: 130,- Euro Dauer: Sa.+So., 10.30–16.30 Uhr; davon jeweils eine 1 Stunde Mittagspause | Einlass ab 10.00 Uhr Ort: Alte Kampfkunst, Paradestraße 57a, 42107 Wuppertal Detaillierte Informationen sowie das Anmeldeformular finden Sie auf www.alte-kampfkunst.de!