Kurmelinde Quietschmops Zweites Abenteuer: Hennes und Moritz

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Kurmelinde Quietschmops Zweites Abenteuer: Hennes und Moritz
Kurmelinde Quietschmops
Zweites Abenteuer: Hennes und Moritz
- Leseprobe -
Eine Geschichte zum Lesen und Vorlesen
für Groß und Klein
von Rouven Rau
Friedlichhausen ist ein kleines und – wie der Name schon sagt – friedliches
Dörfchen am Ende der schmalen Eichelstraße, die dem Lauf der Eichel
von ihrer Mündung in die Nieda bis zu eben jenem Ort kurz vor der Quelle
der Eichel folgt. Die wenigen Häuser der Siedlung liegen zu beiden Seiten
der Eichel und werden durch eine steinerne Brücke miteinander verbunden.
Friedlichhausen ist eingebettet zwischen drei Höhenzüge, die in sanften
Schwüngen ins Tal hinab streben und an ihren Hängen viel Platz lassen für
ausgedehnte Ackerflächen, Obstgärten und Wälder. Von Norden her reicht
der Eichköppel bis unmittelbar an die ersten Häuser heran und auf seinem
letzten Ausläufer haben die Friedlicher – wie sich selbst gerne nennen –
ihre kleine Kirche errichtet. Von Westen schiebt sich der Weinberg an den
Ort heran, hat aber zwischen sich und dem Bachbett noch genug Platz gelassen für das Hofgut der Herren von Aue, die sich mit Stolz rühmen, diesen
entlegenen Flecken einstmals gegründet zu haben und ihren Weinbergen.
Sie führen zwar noch ihren Titel, aber ihre alten Rechte sind längst auf
den Herrn Bürgermeister Putzig und den Herrn Richter Gütlich übergegangen. Von Osten schließlich rahmt der Rotheberg das Örtchen zwischen sich
und seinen beiden kleineren Brüdern ein, und während jene um das Haupt
herum eher spärlich bewachsen sind, ist der Alte Rote – wie ihn die Friedlicher liebevoll nennen – dicht bedeckt vom Buchwald, der sich majestätisch
hinauf schwingt und sich schier endlos hinüber reckt nach Michelau und
Feuerbach. So bleibt nur noch der Süden frei und eben dort hinaus schlängelt sich
der Eichelbach begleitet von der Eichelstraße, die nach Schmitten führt.
Von einem azurblauen, wolkenlosen Himmel schien die Sonne auf
Friedlichhausen herab. Aber so recht freuen konnte sich keiner mehr über
das traumhafte Wetter. Wer immer konnte, verkroch sich vor der Hitze in
einem kühlen Winkel des Hauses und stöhnte über die qualvolle Glut.
Das neue Jahr hatte angefangen, wie das alte geendet hatte: mit Bergen
von Schnee. An soviel Schnee hatten sich nicht einmal die Alten erinnern
können. Erst im Laufe des März waren die letzten Schneereste endgültig
abgetaut. Am Ende desselben Monats hatte dann der große Regen begonnen und Stürme waren über das Land gefegt, die man eigentlich im Herbst
erwartet hätte. Zahlreiche Bäume und auch das Dach des Pfarrhauses
waren der Gewalt des Windes zum Opfer gefallen. Bis Mitte Mai hatte es
fast ununterbrochen geregnet – mal mehr, mal weniger – und die Bauern
hatten für die kommende Ernte das Schlimmste befürchtet.
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Aber gerade als die Verzweiflung – und die Nässe – am größten geworden
waren, da hatte die Sonne die Wolken einfach zur Seite geschoben und
seitdem hatte sie fast ununterbrochen geschienen. Anfang Juni hatten sich
noch alle über das wunderbare Wetter gefreut, aber schon am Letzten des
Monats hatten die ersten über die „Mörderhitze“ gewettert. Seitdem waren
noch einmal zwei Wochen vergangen und selbst den Schulkindern, die sich
ja eigentlich über Hitzefrei freuen sollten, war mittlerweile das Lachen vergangen.
Die Eichel, die in diesem Jahr schon mehrfach mit Hochwasser
gedroht hatte, war mittlerweile zu einem traurigen, fauligen Rinnsal
verkommen und die Dorfoberen – allen voran Bürgermeister Putzig – sahen
nun statt der Gefahr des kollektiven Ertrinkens die Gefahr des gemeinsamen
Verdurstens heraufziehen. Eindringliche Appelle zum sparsamen Umgang
mit dem kostbaren Nass waren die Folge gewesen, was jedoch an der
akuten Dürre nichts hatte ändern können.
Der ortsansässige Bauernverband hatte sich in seiner Verzweiflung
zunächst an die ortsansässige Wissenschaft in Gestalt des Apothekers
Paul Pille-Palle gewendet. Aber der konnte nicht helfen: Die künstliche
Erzeugung von Regen läge außerhalb seines Kenntnisbereiches und auch
die ersatzweise Verwandlung von Erde in Wasser entzöge sich seiner Macht.
Dies alles grenze doch mehr oder weniger an ein Wunder und dafür sei
eine andere Instanz zuständig. Mit diesen Worten hatte er vielsagend zum
Himmel aufgeblickt und die Hände wie zum Gebet gefaltet. Überhaupt,
hatte er ergänzend hinzugefügt, sei Regen nun einmal von Natur aus
etwas, das vom Himmel zur Erde käme. Enttäuscht war die Delegation
des Bauernverbandes abgezogen und hatte sich an den Herrn Pfarrer Selig
gewandt. Dieser erklärte sich sofort bereit, für die ortsansässigen Bauern
und natürlich auch die übrige Bevölkerung ein gutes Wort beim Lieben
Gott einzulegen.
Unterdessen verschärfte sich die Lage im Dorf immer mehr und das
öffentliche Leben kam unter der sengenden Sonne fast gänzlich zum
Erliegen. Wer nicht unbedingt arbeiten musste, blieb zu Hause und dort
möglichst im Keller. Die Schulferien waren verlängert worden und
die meisten Handwerker des Ortes hatten ihren Betrieb vorübergehend
eingestellt. Nur die Praxis von Herrn Doktor Äskulapius war bereits in den
frühen Morgenstunden gut gefüllt mit Patienten, die sich von der Hitze
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ganz besonders gepiesackt fühlten. Hausbesuche hatte der Herr Doktor auf
ein Minimum reduziert und seine Patienten empfing er ausschließlich in
seinem gut gekühlten Weinkeller. Ob die teilweise fast wundersame
Genesung der Hitzeopfer jedoch auf den Zuspruch des Herrn Doktor, die
angenehme Kühle des Weinkellers oder doch eher auf die Heilkraft eines
lieblichen 56er Saulheimer Ochsenbächle zurückzuführen war, wird auf
Ewig im Dunkel der Kellerstiege verborgen bleiben.
Verließ man Friedlichhausen in nördlicher Richtung, öffneten sich
hinter den letzten Häusern des Ortes die Drachenäcker. Eingerahmt von
der Eichel einerseits und dem Eichköppel andererseits erstreckten sie sich
bis hinauf an die Ausläufer des Dunkelwaldes und bildeten den nördlichen Bereich der Gemarkung Friedlichhausen. Ihren Namen hatten die
Drachenäcker von einer alten Sage. Diese wusste zu berichten, dass vor
unvorstellbar langer Zeit einmal ein Drache in einer Höhle unter dem Eichköppel gehaust habe. Über die Drachenäcker sei er jeden Morgen zum Bach
hinab gekrochen, um dort seinen Durst zu löschen, bis ihm und seinem
üblen Treiben ein tapferer Drachentöter ein Ende gesetzt hatte. Von der ehemaligen Behausung des Drachen war nur noch ein verfallener Torbogen und
ein kleiner Talkessel dahinter übrig geblieben. Dieser Talkessel war weit
über die Dorfgrenze als „Drachenloch“ bekannt. Der im Nachbarort Niedau
lebende Professor für Alte Geschichte im Ruhestand, Lobelius Lilie, hätte
jedem Interessierten zwar hieb- und stichfest belegen können, dass dieses
steinerne Zeugnis nichts mit einem Drachen zu tun hatte, aber niemand
wollte etwas von steinzeitlichen Kulturen und deren Begräbnisritualen
hören. Lieber lauschten die Leute Erzählungen von Schwert schwingenden
Rittern, schönen Prinzessinnen und Feuer speienden Drachen.
Nur einen Steinwurf von jenem sagenhaften Eingang zur Drachenhöhle
entfernt, saß Peter, der Schäfer, auf einem großen Findling und musterte
besorgt die tiefen Risse, die von der andauernden Dürre in die Äcker und
Felder gegraben worden waren. Trotz der sengenden Hitze trug er seinen
langen Mantel und auch den breitkrempigen Hut setzte er nur gelegentlich ab, um mit einem großen, rotkarierten Tuch die Schweißperlen vom
Gesicht zu wischen.
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Seine Schafe grasten rund um einige Apfelbäume, die nur spärlichen
Schatten boten. Viel zu fressen fanden sie nicht mehr, denn die Halme
waren ebenso dürr wie das Laub der Bäume, die ihre Äste traurig herab
hängen ließen, als wollten sie um Wasser betteln. Faul im Schatten einer
verwitterten Eiche lagen seine Hunde und verschliefen die Mittagshitze.
Drüben im Dorf schlug die Schulglocke gerade zwölf Mal.
Peter griff unter den Mantel, holte eine zerbeulte Feldflasche hervor und
trank einen kräftigen Schluck Wasser. Danach stand er auf, streckte sich
und schaute in die Runde. Der Wald zu seiner Rechten stand in majestätischer Stille und scheinbar unbeeindruckt von der Hitze. Aber bei genauerem
Hinsehen zeigten auch die uralten Buchen Anzeichen der wochenlangen
Dürreperiode: Ihre Zweige hingen schlaff herab und viele verdorrte Blätter
hatten sich bereits in das satte Grün der Baumkronen gemischt. Sein Blick
wanderte über die Felder zwischen Wald und Bachlauf und angesichts der
tiefen Risse legte er die Stirn besorgt in Falten. Er drehte sich weiter nach
links und folgte mit dem Blick dem Weg, der um den letzten Ausläufer des
Eichköppel herum zum Dorf zurückführte, als sich seine Miene aufhellte.
Um die Biegung des Weges, der an seinem Standort vorbei die
Drachenäcker durchmaß, kamen zwei Gestalten auf ihn zu, die er nur zu
gut kannte. Die eine davon trug ein luftiges rot-weißes Sommerkleid, weiße
Socken und weiße Sandalen und am Arm einen Korb. Die andere war in ein
dickes – bei dieser Hitze sehr ungemütliches – Fell gekleidet und die fast
bis zum Boden hängende Zunge zeigte nur zu deutlich, dass die gemütliche,
pummelige Bernhardinerdame schwer mit der Hitze zu kämpfen hatte.
„Hallo, hallo“, meinte Peter zu sich selbst und winkte, „wenn das mal
nicht Kurmelinde Quietschmops und Wautzelinde Wuff sind.“
Das zehnjährige, naseweise Mädchen mit Stupsnase, blonden Haaren
und grau-blau-grünen Augen winkte zurück und erhöhte das Tempo, so
dass Wautzelinde schnell zurückfiel.
„Hallo, Peter“, rief sie schon von Weitem.
„Holla, Kurmelinde! Mach nur langsam bei dieser Hitze, ich lauf schon
nicht weg!“ Mit diesen Worten ging Peter ihnen entgegen.
Etwas außer Atem erreichte ihn Kurmelinde und er nahm ihr den Korb
ab. Gemeinsam gingen sie zurück in den Schatten, wo das Mädchen kurz
verschnaufte.
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„Das soll ich dir von der Oma bringen, Peter“, erklärte sie noch
etwas atemlos und schlug das Tuch zurück, mit dem der Inhalt des Korbes
bedeckt gewesen war. Zum Vorschein kam ein Dutzend frisch gebackener
Waffeln, daneben standen eine Dose mit Puderzucker und eine Flasche mit
kaltem Pfefferminztee. Peter lachte schallend.
„Hätte ich doch gestern Abend meinen Mund gehalten, aber nein! Als
deine Oma von Waffeln erzählt hat, geriet ich ins Schwärmen und zufällig
sind heute ein paar davon für den alten Peter übrig geblieben.“
Er kicherte vor sich hin und schüttelte den Kopf. „Die gute Oma. Und
ihr beide musstet trotz der Hitze bis zu den Drachenäckern laufen mit dem
schweren Korb.“
„O, das macht doch nichts“, winkte Kurmelinde ab, „das machen wir
doch gerne.“
„Na, ich glaube, das beurteilt Wautzelinde etwas anders“, stellte der
Schäfer fest, als die Bernhardinerdame hechelnd angetrottet kam und sich
grußlos in den Schatten legte.
„Hallo, Wautzelinde“, grüßte er, erhielt als Antwort aber nur ein
atemloses „Hrmpf!“.
„Siehst du“, meinte er zu Kurmelinde, die besorgt zu ihrer Freundin
schaute.
„Ich wollte sie ja gar nicht mitnehmen, aber du kennst sie ja. Sie könnte
ja etwas verpassen.“
Peter grinste. „Na ja, das wird schon wieder. Meine vier Racker sind
heute auch nicht zu sehr viel zu gebrauchen.“
Er nahm eine Waffel, bestreute sie dick mit Puderzucker, faltete sie
kunstvoll und – haps, haps – war sie in seinem Mund verschwunden. Nur
ein breiter, weißer Rand rund um seine Lippen zeugte noch vom Schicksal
der Waffel.
„Hmmm! Köftlich!“
Der ersten Waffel folgten innerhalb kürzester Zeit noch vier weitere,
die Peter genüsslich mit Tee hinabspülte. Dabei schaute er verträumt in die
Gegend und ließ ab und zu ein „Köftlich!“, „Wumberbar!“ oder „Grofartig!“
erklingen. Kurmelinde schaute ihm lächelnd zu und fragte sich gerade, wie
viele Waffeln Peter wohl noch in Tee ertränken würde, als der aufsprang
und über die grasenden Schafe blickte. Wieder und wieder huschten seine Augen über die Herde, wobei sein Gesicht einen immer besorgteren
Ausdruck annahm.
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„Das gibt’s doch nicht“, brummelte er und wischte seinen Puderzuckermund an seinem Taschentuch ab.
„Was ist?“
„Da fehlen zwei!“
Kurmelinde stand ebenfalls auf und begann die Schafe zu zählen,
gab es jedoch bald auf. Alle sahen irgendwie gleich aus und wenn sie
irgendwo in der Mitte angelangt war, wusste sie nicht mehr genau, ob sie das
nächste Schaf schon gezählt hatte oder nicht. Für Peters geübtes Auge jedoch
war es ein Leichtes, die Schafe in kürzester Zeit mehrfach zu zählen – das
Ergebnis jedoch gefiel ihm überhaupt nicht.
„Zwei fehlen“, knurrte er und schaute sich um.
„Weißt du wer?“
„Klar! Meine beiden Spezis – Hennes und Moritz!“
„He! Paul, Günter, Arno, Sebastian!“ rief er, zu seinen Hunden
gewandt.
Kurmelinde musste lachen, denn Peter hatte seine Hunde nach den
Dorfobrigkeiten benannt: Paul wie Bürgermeister Paul Putzig, Günter wie
Richter Günter Gütlich, Arno wie Gutsherr Arno von Aue und Sebastian
wie Pfarrer Sebastian Selig. Auf ihre Frage, warum er das getan habe, hatte
er lapidar geantwortet: „Damit die hohen Herren mal auf mich hören.“
Die Hunde hoben die Köpfe und sahen Peter erschöpft an.
„Euch ist wohl nicht zufällig aufgefallen, dass Hennes und Moritz weg
sind, oder?“ fragte Peter mit einem ätzenden Unterton, der Kurmelinde
gewaltig ärgerte.
„Dir ist es doch auch nicht gleich aufgefallen“, gab sie zu bedenken.
„Jaaah“, gab Peter gedehnt zu, „schon gut, schon gut.“ Und zu seinen
Hunden gewandt, fuhr er fort: „Macht euch auf die Socken und bringt die
Rumtreiber zurück, ihr Schnarchsäcke!“
Die vier Schäferhunde erhoben sich mühsam und trotteten mit
hängenden Köpfen davon. Ein wenig taten sie Kurmelinde leid, aber noch
mehr Sorgen machte sie sich um die beiden verlorenen Schafe, die hier
irgendwo herumirrten.
Als die vier außer Sicht waren, setzten sich die beiden und Wautzelinde,
die offenbar keine Lust auf Schafejagen hatte, gesellte sich zu ihnen.
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„Beim nächsten Mal bind’ ich die beiden an einem Baum fest“,
brummelte Peter und widmete sich der nächsten Waffel.
„Sind die beiden schon öfter abgehauen?“
„Kla! Bei jeber Gelebenheib mabben bie Ärber.“ Er kaute nachdenklich
zu Ende und fügte dann hinzu: „Hennes und Moritz haben mich in den
letzten beiden Jahren schon mehr Nerven gekostet als alle anderen Schafe
in den letzten zehn Jahren zusammen.“ Er nahm den Hut ab, deutete auf
eine kahle Stelle mitten auf dem Kopf und fügte hinzu: „Ganz zu schweigen
von den Haaren!“
Kurmelinde lachte. „So schlimm?“
„Schlimmer“, nickte Peter und spülte seinen Kummer mit einem großen
Schluck Tee herunter.
Es dauerte zehn Minuten, zwanzig, eine halbe Stunde, dann kehrten die
vier Hunde erschöpft und zerzaust zurück.
„Und?“ fragte Peter, den das Warten völlig zermürbt hatte.
„Nichts, Sch...Scheff“, jappste Sebastian und sackte zusammen.
„Wo habt ihr gesucht?“
„Bis zur Platte“, hechelte Arno und fiel neben Sebastian zu Boden.
„Habt ihr auch gründlich gesucht?“
„Jeden Stein umgedreht“, stieß Günter hervor, ehe er zusammenbrach
und nach Luft schnappend liegen blieb.
„Und jeden Dornenbusch durchstöbert“, ergänzte Paul, in dessen Fell
noch immer abgebrochene Dornen steckten.
Peter war aufgesprungen und blickte in die Richtung, aus der seine
Hunde gerade zurückgekehrt waren. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe
herum. Schließlich hatte er einen Entschluss gefasst:
„Ich geh selbst suchen. Ihr bleibt hier und bewacht die Herde, klar?“
„Jaaa“, stöhnten die Hunde.
„Ich komme mit“, rief Kurmelinde und folgte dem Schäfer.
Wautzelinde hob nicht einmal den Kopf, als die beiden sie alleine neben
dem leeren Weidenkorb liegen ließen. Sie träumte von Schnee, Massen von
Schnee und Dauerfrost.
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Peter und Kurmelinde folgten noch ein Stück dem Feldweg, der zum
Drachenloch führte. Der Schäfer brummelte wütend vor sich hin und
das Mädchen hatte Mühe, mit den weit ausgreifenden Schritten des hoch
gewachsenen Mannes mitzuhalten.
Nach einiger Zeit schwangen sich rechts und links von ihnen die
Ausläufer des Eichköppel empor und zwängten den Weg so ein, dass der
mehr und mehr zu einem Trampelpfad wurde. Die Luft wurde feucht und
stickig und die Geräusche des Waldes und der Wiesen wurden gedämpft,
bis sie vollständig unter einer dunstig-schwülen Glocke, die sich über den
Ort zu stülpen schien, verloren.
„Unheimlich hier“, schnaufte Kurmelinde und schloss zu Peter auf, der
stehen geblieben war und den Blick nach allen Seiten schweifen ließ, um
ein Zeichen der beiden Vermissten zu finden.
„Das ist ein sehr alter Ort“, gab Peter zu bedenken, „voller Rätsel und
Geheimnisse. Er mag es nicht, wenn sich jemand hier aufhält.“
Trotz der schwülen Hitze überlief es Kurmelinde kalt.
Peter wischte das schweißnasse Gesicht an einem Taschentuch ab und
ging dann langsam weiter.
Der Pfad schlängelte sich nun zwischen zwei lotrecht aufragenden
Felsen dahin, auf denen sich nur noch vereinzelt ein bisschen Moos und
hier und da ein Farn behaupten konnten. Vollständige Stille umfing sie und
der Geruch von Fäulnis stieg in ihre Nasen.
Zwischen den Felsen war der Sommerhimmel nur noch direkt über
ihnen zu erkennen, während der Pfad sich weiter in den Schatten des
Eichköppel wand.
Peter blieb unvermittelt stehen. Die Felsen traten hier etwas
weiter auseinander und machten Raum für eine Wegkreuzung, in deren
Mitte ein Hinkelstein stand, in dessen Oberfläche unzählige, fremdartig
anmutende Schriftzeichen eingeritzt waren. Herr Professor Lilie hatte an diesem
Menhir, wie er ihn nannte, seine wahre Freude, bei Kurmelinde steigerte
sein Anblick nur das beklommene Gefühl, das sie schon den ganzen Weg
über begleitet hatte.
Folgte man dem Weg, den sie gekommen waren, geradeaus weiter, dann
erreichte man nach vielleicht fünfzig Schritten wieder die Drachenäcker.
Sehnsüchtig blickte Kurmelinde in diese Richtung, wo es hell wurde und
freundlich. Nach rechts bog ein weiterer Pfad ab, der sich nach wenigen
Metern zwischen den Felsen verlor – dunkel, feucht und unheimlich.
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Peter überlegte kurz, kniete nieder und begutachtete den Boden,
dann seufzte er und ging den dunklen Pfad weiter. Kurmelinde wäre am
liebsten umgekehrt, aber Neugierde und Abenteuerlust ließen sie dem Schäfer
folgen.
Der Pfad wand sich durch die Felsformationen rechts und links und
war stellenweise so schmal, dass selbst Kurmelinde mit den Schultern
beidseitig anstieß. An diesen Stellen hatte sich Peter seitwärts gedreht und
sich weiter geschoben.
So ging es weiter, bis das Gestein Platz machte, der Pfad wieder
breiter und zu einem richtigen Weg wurde, den sie nebeneinander
beschreiten konnten. Am Ende des Weges, denn der war tatsächlich eine
Sackgasse, ragte eine Art Felsentor auf und Peter blieb stehen.
„Das ist das Drachentor“, erklärte er, aber Kurmelinde hatte es sich
schon fast gedacht. Zu viele Geschichten hatte ihr die Oma bereits über
diesen sagenhaften Ort erzählt.
Das Felsentor bestand aus zwei einzelnen, nach innen gebogenen
Felsenfingern, die sich rechts und links des Weges erhoben, sich dann
einander entgegen streckten, den Weg überspannten und in etwa vier
Metern Höhe fast berührten. Ähnliche Zeichen, die auch den Hinkelstein
der Wegkreuzung geziert hatten, bedeckten die Steine von ihren Sockeln
bis hinauf zu den Spitzen.
„Sind das wirklich Buchstaben?“, fragte Kurmelinde und ihre Stimme
war nur ein dumpfes Flüstern an diesem düsteren Ort.
„Allerdings“, bestätigte Peter und blickte in den Talkessel, der sich
hinter dem Drachentor öffnete und vielleicht zwanzig Meter im
Durchmesser umfasste. Er war von allen Seiten von steilen Felsen
eingerahmt und in seiner Mitte befand sich ein kleiner Tümpel. Am oberen
Ende der Felsen krallten sich Bäume an die Felskante und manche von
ihnen waren im Laufe der Jahrzehnte hinabgestürzt, als Stürme sie über
den Rand geworfen hatten oder weil die Felskante zu ihren Füßen weg
gebrochen war.
„Das ist das Drachenloch“, erklärte der Schäfer fast feierlich und schritt
andächtig unter dem zerbrochenen Torbogen hindurch in den Talkessel.
„Ist das nicht gefährlich hier?“
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„Wir beide sind vermutlich im Umkreis von einem Kilometer die größte
Gefahr für alle anderen Lebewesen“, meinte er brummig und ging weiter.
Kurmelinde verstand nicht so ganz, was er damit sagen wollte, folgte
ihm aber eilig.
Peter war kaum an dem Teich angelangt und hatte den Boden inspiziert,
da schrie er auch schon auf:
„Hab ich’s doch gewusst! Diese Faulenzer! Diese Halunken! Oh, wartet
nur, wenn ich euch erwische!“
Kurmelinde, die etwas ängstlich die Felsen mit ihrem dichten Moosbewuchs und den störrischen Flechtenbärten bestaunt hatte, erschrak sich
fürchterlich beim Aufschrei des Schäfers.
„Peter, was ist denn?“
„Sie sind hier gewesen und die anderen natürlich nicht!“
Er kniete neben dem Teich und in dem schlammigen Boden konnte
Kurmelinde undeutliche Spuren erkennen, die Peter fachkundig
begutachtete.
„Wer war hier und wer nicht?“
„Hennes und Moritz waren hier und die anderen vier Vierbeiner nicht“,
erklärte er, während er gebückt um den Teich lief.
„Aber es waren noch andere hier“, fügte er hinzu, kniete nieder und
berührte mit der Nase fast den Boden, als er noch eine weitere Spur
erkundete.
„Wer?“
„Das weiß ich leider auch nicht, aber sie sind hier weg gegangen. Und
ich weiß jetzt, worauf ich achten muss.“
Peter erhob sich und machte sich auf, den unheimlichen Talkessel und
den sumpfigen Teich zu verlassen.
Sie erreichten die Wegkreuzung, wandten sich nach rechts und dem
jenseitigen Ausgang der Felsen zu.
Es war, als träte man durch eine Tür, die sich auf die Wiesen im
Talgrund der Eichel öffnete und die Hügelausläufer hinter sich ließ. Mit
einem Schlag empfing sie die brüllende Hitze des Tages und vergessen war
der schwüle Dunst des dunklen Weges. Flirrend waberte die Luft über den
Drachenäckern.
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Nach links fiel die Landschaft sanft zum Bachbett der Eichel ab,
während die Wiesen nach rechts ebenso sanft zur Flanke des Eichköppel
hinauf wanderten.
Die Felsen, durch die sie eben gekommen waren, lagen hinter ihnen
wie eine Mauer, reichten zum Bach hinab und verloren sich zwischen den
Eichen und Buchen nach rechts.
„Weißt du jetzt, wo die beiden sind?“, fragte Kurmelinde, nachdem
Peter einen Moment verharrt hatte, um die Wiesen intensiv zu
begutachten.
„Es gibt da unten eine Furt und ich vermute, dass wir da mehr erfahren
werden.“
Tatsächlich erfuhren sie im zertretenen Schlamm, der das
schmale Rinnsal des Baches umgab mehr, als ihnen lieb sein konnte: Die
Spuren von zwei Lämmern konnte Peter eindeutig identifizieren, dazu die
merkwürdigen Spuren, die er schon am Teich gesehen hatte, aber nicht
einordnen konnte. Weniger Probleme hatte er allerdings mit der dritten Art
von Spuren, die er nun fand. Wölfe, mindestens fünf an der Zahl!
„Die Spuren sind nicht älter als zwei Stunden“, stellte Peter fest. „Sie
können noch nicht weit sein.“
Er erhob sich und schaute sich um. Durch das hohe Gras, führte eine
sehr deutliche Spur von der Furt weg Richtung Wald.
„Ich muss mich beeilen!“
„Und ich?“
„Du gehst zurück zum Dorf und holst Hilfe. Am besten den Jäger Krachbumm. Und schick mir Sebastian und Arno her. Die beiden anderen sollen
die Herde näher ans Dorf führen.“
In diesem Moment erscholl von jenseits des Baches eine Stimme:
„Hallo!“
Peter wandte sich um und stieß ein erfreutes „Holla!“ aus, als er den
Herrn Krachbumm erkannte, der eben hinter einer Buschreihe jenseits des
Baches hervortrat. Zwei weitere Gestalten folgten ihm.
Kurmelinde winkte, als sie die anderen erkannte: Herr Reineke, der
dreibeinige Fuchs und Frau Rehrück, das scheue Reh.
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Die drei brauchten sich nicht sehr anzustrengen, um das schmale Rinnsal der Eichel zu überspringen – Herr Krachbumm musste sogar nur einen
langen Schritt machen.
Es gab ein kurzes Hallo zwischen den Freunden, die sich teilweise schon
lange nicht mehr gesehen hatten.
„Aber was führt euch denn hierher?“, wollte Kurmelinde schließlich
wissen.
„Oh, Frau Rehrück und ich kamen vom Eierberg herab, haben eine Rast
gemacht und sind dann zu den Drachenäckern hinab. Auf halbem Weg
hierher haben wir Herrn Krachbumm getroffen.“, erklärte Herr Reineke
und Frau Rehrück nickte bestätigend.
„Und ich bin die Alte Straße von Rod herunter gekommen und wollte zu
den Drachenäckern“, ergänzte Herr Krachbumm. „Seit einigen Tagen sehe
ich Wolfsspuren sehr nah am Dorf, das macht mir Sorgen. Aber warum hast
du deine Herde alleine gelassen, Peter?“
„Wegen zwei Ausreißern, die vermutlich den Wölfen begegnet sind,
deren Spuren du gesehen hast.“, erklärte Peter und erzählte vom
Verschwinden der beiden Lämmer und ihrer bislang erfolglosen Suche.
Er zeigte auch allen die Spuren im weichen Schlamm der Furt.
„Das sieht nicht gut aus, Herr Peter“, murmelte der Fuchs und
schnupperte.
„Fünf Wölfe und einen davon kennen wir alle sehr gut.“
„Isegrim?“, fragte Krachbumm.
„Genau der“, bestätigte Herr Reineke.
„Herrje, herrje“, seufzte Frau Rehrück.
„Aber was machen die so dicht am Dorf?“, wollte Kurmelinde wissen.
„Die Trockenheit. Jeder Tümpel ist bei dieser Dürre ein wahres
Paradies. Und wer Durst hat, fragt nicht lange, wo das Wasserloch liegt“,
erläuterte der Jäger, nahm den Hut vom Kopf und tupfte den Schweiß mit
einem lodengrünen Taschentuch ab.
Herr Reineke nickte bestätigend und fügte hinzu: „Drüben jenseits
des Eierbergs gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen zwei Wildschweinrotten. Die Dürre treibt viele in die Verzweiflung.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist“, murmelte Kurmelinde
erschrocken und schaute betroffen das schmale Band der Eichel an.
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„In manchen Gebieten gibt es nur noch ein Wasserloch für hunderte
Tiere“, sagte Frau Rehrück, „wenn es nicht bald regnet, wird das ein ganz
schrecklicher Sommer.“
Betroffene Stille trat ein, die Peter schließlich durchbrach.
„Am Wetter können wir nichts ändern, aber wir können Hennes und
Moritz aus den Klauen dieser Schurken befreien, bevor ihnen etwas
Schlimmes passiert!“
Da war alle trübe Betroffenheit wie weg geblasen und hatte mutiger Tatkraft Platz gemacht und die fünf Freunde machten sich auf zu einem neuen
Abenteuer, das sie zunächst vom Bachlauf weg und zum Waldrand am Fuße
des Eichköppel hin führte.
Hatten sie im hohen Gras die Spur der Übeltäter noch sehr deutlich vor
sich gesehen, so wurde es unter den Bäumen doch deutlich schwieriger.
Aber immerhin wanderten sie nun im Schatten der Bäume, was ein wenig
Abkühlung brachte.
Herr Reineke, der ein ganz ausgezeichneter Fährtenleser war, führte sie
an, ihm folgten Peter, Kurmelinde und Frau Rehrück, während Herr Krachbumm den Schluss bildete.
Sie folgten einem alten Wildpfad, den scheinbar auch die Wölfe
genommen hatten und der sich unter den hohen Buchen entlang
schlängelte. Kurmelinde konnte nicht genau sagen, wie lange und wie
weit sie schon gegangen waren, als Herr Reineke unvermittelt anhielt und
Zeichen gab. Peter hockte sich ab, drehte sich um und legte den Zeigefinger
über die Lippen. Kurmelinde nickte und gab das Zeichen weiter. Außer
dem gelegentlichen Rauschen des Laubes war nichts mehr zu hören. Peter
winkte erneut und deutete nach hinten. Schon kurz darauf kroch Krachbumm in seine Richtung.
Kurmelinde musste sich wundern, wie dieser große, breitschultrige
Mann mit seinen schweren Stiefeln und dem Gewehr es schaffte, sich so
lautlos zu bewegen.
Sie hatten sich seit einiger Zeit leicht bergan bewegt und wenn
Kurmelinde nach vorne schaute, konnte sie sehen, dass sich weiter in
ihrer Marschrichtung ein Hügelkamm befand, über den der Weg hinüber
und dann scheinbar in eine Senke führte.
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Herr Reineke hatte diesen Kamm als erster erreicht, darüber hinweg
gespäht und hatte sich dann zurück gezogen. So hockte er nun etwa zwei
Meter unterhalb des Kammes, während die beiden Männer sich kriechend
auf ihn zu bewegten.
Die Dämmerung hatte sich mittlerweile über den Wald gelegt und die
Stimmen des Tages waren zusehends verstummt. Eine kühlere Brise wehte
zwischen den Stämmen hindurch.
Gerade in dem Moment, als Peter und Krachbumm den Fuchs
erreichten, ertönte von jenseits des Hügelkammes ein schrilles Signal. Eine
Art Trompete oder Fanfare, hoch und klar erklang der Ton und wehte auf
dem noch immer warmen Abendwind unter den Bäumen entlang. Dann
noch ein Signal, etwas leiser, etwas weiter weg, eine Antwort auf den ersten
Ton offensichtlich, denn im nächsten Moment brach unterhalb des Hügelkammes ein Tumult los, den die fünf Lauscher diesseits des Kammes sehr
deutlich hören konnten: überraschte Schreie, metallenes Klirren, dumpfes
Ploppen, als ob man Steine gegen einen Mehlsack würfe. Dann kamen
schmerzerfüllte Rufe, schrille, wortähnliche Fetzen einer fremden Sprache,
wieder Schreie, dann Stille.
Überrascht schauten sich die Abenteurer an.
„Was war das denn?“, fragte einer den anderen und erntete nur
Schulterzucken.
Schließlich war es der Fuchs, der zum Hügelkamm schlich und darüber
hinaus spähte.
„Oh“, staunte er, „kommt schnell her!“
Die anderen rappelten sich auf und eilten zu ihm. Als sie durch die Farnblätter spähten, sahen sie – nichts!
Die Senke, in der noch vor kurzer Zeit die Wölfe mit ihren Gefangenen
gelagert hatten, war leer.
„Das schauen wir uns genauer an“, meinte Herr Reineke und war im
nächsten Moment über den Hügelkamm hinweg.
Die anderen rafften sich auf und folgten ihm.
„Da sind wieder diese merkwürdigen Spuren, die ich nicht zuordnen
kann“, stellte Peter fest und Herr Reineke setzte dazu:
„Den Geruch der Fremden habe ich auch noch nie gewittert.“
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„Sie sind aber wohl bewaffnet“, meinte Kurmelinde und hob einen etwa
fünf Zentimeter langen Gegenstand auf.
„Ein Pfeil“, befand Herr Krachbumm, „ein winziger Pfeil.“
„Herrje, herrje!“
„Sie sind in dieser Richtung abgezogen und scheinbar waren sie schwer
beladen, denn ihre Fußabdrücke sind hier tiefer als noch auf der anderen
Seite“, befand der Fuchs, nachdem er die Senke umrundet hatte.
„Sie tragen die Wölfe?“, staunte Kurmelinde.
„Offensichtlich“, murmelte Herr Reineke.
„Aber, wer sind ‚Sie‘?“, sprach Frau Rehrück das aus, was alle anderen
schon länger dachten.
„Ich habe keine Ahnung“, gab der Fuchs zu und Krachbumm zuckte mit
den Schultern.
„Wir werden es nur erfahren, wenn wir ihnen folgen“, mahnte Peter,
„wir können Hennes und Moritz nicht im Stich lassen. Und selbst die Wölfe
tun mir im Moment leid.“
So ging die Verfolgung weiter.
Sie waren der breiten Spur der Fremden gefolgt und zu ihrer aller Überraschung wieder zum Ausgangspunkt ihres Marsches gekommen: an den
Waldrand oberhalb der Furt über die Eichel, wo sie sich am späten Nachmittag getroffen hatten.
Mittlerweile war eine bläuliche Dämmerung über die Drachenäcker
gefallen und die Bäume hatten sich in schwarze Nachtgewänder gehüllt.
Am Himmel regierte ein silberner Halbmond eine unzählige Schar von
Sternen. Hinter dem Sternbild des Wilden Hasen sprang der Große Fuchs
her, aber auch in hunderttausend Jahren noch würde der Hase schneller sein.
Der himmlischen Jagd schaute die Jungfrau zu, neben ihr der Narr, darüber
räkelte sich die Langohrige Katze. Und über allen thronte der Große Hirte
mit seinem Stab, das Zentralgestirn des sommerlichen Nachthimmels.
Doch unsere Freunde hatten keine Zeit, sich den Schönheiten des
Abendhimmels oder den Stimmen der Nacht zu widmen, denn noch immer
war ihre Jagd nicht beendet. Noch immer hatten sie die seltsamen Fremden
nicht eingeholt. Noch immer befanden sich Hennes und Moritz in deren
Gewalt.
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„Sie ziehen scheinbar zum Drachenloch“, stellte Peter fest. Und
tatsächlich lief die breite Spur der Fremden schnurgerade auf den Felsenausgang zu, aus dem er und Kurmelinde am Nachmittag wieder aus den
Felsen hervor auf die Wiesen oberhalb der Furt getreten waren.
„Das hätten wir einfacher haben können“, brummte Peter, als sie den
Hinkelstein an der Wegkreuzung erreicht hatten. Die Spur der Verfolgten
führte nach links zum Drachenloch.
„Wir hätten einfach nur warten brauchen, bis sie hierher zurück
gekommen wären“, fügte er hinzu und schloss den Schirm seiner Blendlaterne wieder. Sofort drängte die feuchte Finsternis von allen Seiten auf
sie ein.
„Wer konnte das schon wissen“, gab Kurmelinde zu bedenken.
„Sollten wir unsere Suche nicht lieber morgen fortsetzen, Peter?“, fragte
Krachbumm vorsichtig und erhielt sofort eine böse Antwort vom Schäfer:
„Nein! Ich werde nicht rasten und ruhen, bis ich die beiden gefunden
habe! Das wäre ja noch schöner! Wer weiß, in welcher Gefahr die beiden
sind! Aber ihr könnt ja gehen.“
Natürlich wollte keiner die beiden Lämmer im Stich lassen und so bogen
sie also nach links ab und erreichten bald den Torbogen und das dahinter
liegende Drachenloch. Immer wieder ließ Peter seine Laterne aufleuchten,
um den Weg zu erhellen.
Als sie am Tümpel angelangt waren, beleuchtete er die umliegenden
Felsen.
„Da!“, rief er aufgeregt. „Ein Tor im Fels!“
Und tatsächlich! Dort, ziemlich genau gegenüber des Felsentores, das
sie durchschritten hatte, klaffte eine etwa zwei Meter hohe und halb so
breite Öffnung im ansonsten massiven Felsen.
Noch bevor irgendjemand eine Warnung hatte rufen können, waren
Peter, Krachbumm und Herr Reineke durch das Felsentor hindurch.
„Herrje, herrje“, murmelte Frau Rehrück, als die Dunkelheit sie
einhüllte. Das Tor war sogar jetzt noch als gähnender Schlund im Felsen
sichtbar.
„Herrje, herrje!“, rief das Reh aufgeregt und Kurmelinde stieß einen
erschrockenen Laut aus.
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Im nächsten Moment fiel etwas Schweres von oben auf sie herab,
Kurmelinde spürte einen stechenden Schmerz im Arm, dann wurde
sie plötzlich ganz schläfrig. Sie wollte noch um Hilfe rufen, aber dann
wurde es auch schon dunkel in ihrem Kopf. Weder sie noch Frau Rehrück
merkten, wie sie hochgehoben und in das Tor getragen wurden.
Es knirschte, rasselte, ächzte, dann war der Schlund geschlossen.
- Ende der Leseprobe! Sie wollen wissen, wie es weitergeht?
Geplanter Veröffentlichungstermin für diese Geschichte ist Ostern 2015,
dann auch wieder mit Illustrationen.
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