„Ein neues Leben“

Transcription

„Ein neues Leben“
Anna Hoehne, Klasse P 22
Zweiter Preis im Schreibwettbewerb 2013/14
des OSZ Wirtschaft und Sozialversicherung
„Ein neues Leben“
Ich weiß nicht, wie lange ich schon in diesem Gefängnis sitze, manchmal glaube ich, schon immer.
Selbst wenn ich mich anstrenge und stundenlang konzentriert versuche, nur einen Funken von
Erinnerungen hervorzurufen, ich kann mich einfach nicht mehr entsinnen, wie es außerhalb dieser
Mauern aussieht.
Es vergingen unzählige Tage und ich wurde langsam depressiv. Meine Mitgefangenen setzten mir
schwer zu und Verstauchungen und Schmerzen im Rücken, weil ich mich in meiner kleinen Zelle nicht
bewegen konnte, waren keine Seltenheit.
Da ist es wieder, dieses Surren und Brummen. Laute Stimmen. Ein neuer, endloser Tag beginnt.
Ich öffnete meine Augen und das grelle Licht dieser merkwürdigen kleinen Sonnen, die mein
Gefängnis beleuchteten, blendeten mich. Ich merkte sofort, dass irgendetwas anders war. Dieses
komische Gefühl und dann ganz plötzlich die Gewissheit, ich war nicht allein. Ich weiß nicht, warum
ich mir in diesem Moment so sicher war, aber es gab keinen Zweifel. In mir wächst ein neues Leben
heran. Wie konnte das nur passieren? Ich habe keinen Partner und bin schon so lange hier.
Seit ich zurückdenken kann, war Sie da, ich spürte Ihre Wärme. Hörte Ihr Herz schlagen, vernahm
jeden Ihrer Atemzüge. Ich fühlte mich so unendlich wohl und wusste, hier kann mir nichts geschehen.
Ich glaube, sie hat sofort gemerkt, dass ich da bin. Manchmal redete sie stundenlang mit mir. Erzählte
von grellen Lichtern, von den Wärtern, die sie gefangen hielten, von der Welt da draußen.
Mit jedem Tag liebte ich ihn mehr, meinen kleinen Sohn. An diesen einsamen Tagen, an denen ich
früher lethargisch in meiner Zelle gelegen hätte, begann ich nun mit ihm zu reden. Ich erzählte ihm
alles, was ich wusste, auch wenn das nicht viel war. Ich beschrieb meine Zelle, die Wärter, ja sogar
meine Mithäftlinge. Ich begann Ihn zu verehren, ohne dass ich ihn je gesehen hätte. Ich wusste, dass
er ein Teil von mir ist und das genügte, um ihn bedingungslos zu lieben.
„Mama“, woher ich dieses Wort kenne, das weiß ich nicht, aber es war das Erste, was mir einfiel, als
ich sie das erste Mal sah. Ich habe lange gebraucht, um meine Augen zu öffnen, denn die Sonnen von
der mir schon so viel erzählt wurden, waren so grell, dass es wehtat, sobald ich versuchte, meine Lider
zu öffnen. Nach einigen Minuten gewöhnte ich mich an das Licht und dann war Sie da. Zärtlich legte
Sie Ihren Kopf auf meinen Rücken und sprach leise mit mir.
Es war das überwältigendste Gefühl, was mir je zu Teil wurde. Das erste Mal in diese kleinen braunen
Augen zu sehen, seine Stimme zu hören und ihn zu füttern. Ich werde nie vergessen, wie er mich
angesehen hat. In diesem Augenblick war mein Leben perfekt und ich wollte diesen Moment für
immer in meinem Herzen haben. Wo ich mich befand, war nicht mehr wichtig. Das Einzige, was noch
zählte, war er.
Aus dem Augenwinkel sah ich plötzlich meine Wärter. Bis jetzt kamen Sie immer nur zu mir, um mir
mein Essen zu geben, manchmal schlugen sie gegen die Gitter und lachten, wenn ich panisch
aufsprang. Es kam auch schon mal vor, dass einer der Wächter aus Langeweile anfing, uns zu
schlagen, aber das war selten. Heute kamen gleich drei von ihnen zielgerichtet auf mich zu. Sie
öffneten mein Gefängnis und ich konnte es kaum glauben. Bin ich endlich frei? Darf ich meinen Sohn
außerhalb dieser Mauern aufziehen?
Meine Mama stand auf und ich merkte, wie Sie sich freute. Nun bemerkte auch ich die drei Gestalten,
die unmittelbar vor unserem Bett standen. Plötzlich streckte einer von ihnen eine lange Stange zu mir
aus und ein Strick legte sich um meine Kehle. Die beiden anderen hielten meine Mama mit langen
Stangen auf Abstand und dieser böse Mensch zerrte mich aus dem Bett. Weg von meiner Mama.
Ich schrie so laut ich nur konnte. Ich versuchte zu Ihr zu kommen aber schon bald bekam ich keine Luft
mehr und gab auf. Das war das letzte Mal, dass ich meine Mama sah.
„Sperr ihn zu den anderen Viechern da vorn in den Stall! Der LKW kommt Sie morgen holen!“
Nun lag ich hier, zusammen mit vielen anderen Kindern, denen soeben das Gleiche widerfahren war
und weinte. Irgendwann muss ich vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Ich wurde von einem tiefen
Grollen geweckt und grelle Lichter blendeten mich. Viele dieser bösen Wesen waren plötzlich hier und
leiteten uns mitten in das Maul des Ungetüms. Dort, umgeben von Dunkelheit, wartete ich. Viele
Stunden vergingen. Ich war hungrig und weinte. Wo ist meine Mama? Warum darf ich nicht zu ihr?
Irgendwann hörte das Grollen auf und das Monster bewegte sich nicht mehr. Sein Maul ging auf und
erneut ging es in ein Gefängnis. Mein Bein tat schrecklich weh und ich konnte kaum laufen. Überall
war Gedränge und alle schrien und rannten sich gegenseitig um. Ein kleiner Junge lag auf dem Boden
und wurde von den anderen einfach überrannt. Ich hatte Angst. Ob meine Mama hier auf mich
wartet? Sie kommt bestimmt, um mich zu retten.
Ich wusste, dass ich Ihn nie wiedersehen würde. Zu oft hatte die alte Frau davon erzählt, doch ich
wollte Ihr nie glauben schenken. Jetzt stand ich in meinem neuen Zimmer. Lautes Brummen tönte
von den kalten Maschinen, die Sie an mir befestigt hatten. Erst stehlen Sie mir mein Kind und nun
auch noch sein Essen, dachte ich mir, während die Traurigkeit mich übermannte. Was habe ich ihm
angetan?
Nie wieder wollte ich ein neues Leben in diese Welt entlassen, das schwor ich mir und weinte.
Meine Mama ist nicht hier. Ich rief nach ihr, suchte überall nach ihrem Gesicht.
Das Letzte, was ich sah, waren die blauen Augen meines Mörders. Während ich zu Boden sank, rief
ich noch einmal nach ihr. MAMA!
Sie war das Einzige was ich in diesem Leben hatte. Mein kurzes Leben.

Documents pareils