Leben im Angesicht des Todes – Bedeutung der letzten Lebensphase
Transcription
Leben im Angesicht des Todes – Bedeutung der letzten Lebensphase
1 Leben im Angesicht des Todes Herausforderung der letzten Lebensphase Franz-Josef Tentrup Das Thema dieser Veranstaltung lautet: „Sterben – Schicksal oder freie Wahl“. Ich möchte den Ausdruck „Sterben“ ersetzen durch „Leben im Angesicht des Todes“. Meinen Ausführungen möchte ich den Titel geben: „Leben im Angesicht des Todes – Herausforderung der letzten Lebensphase“. In meiner Tätigkeit auf der Palliativstation habe ich gelernt, dass Sterben nicht nur den Aspekt des Endes hat, sondern ein Stück Leben, ein wichtiges Stück Leben ist. Lassen Sie mich mit einem Gedicht von Erich Fried beginnen. Es heißt „Definition“. Definition Ein Hund der stirbt und der weiß daß der stirbt wie ein Hund und der sagen kann daß er weiß daß er stirbt wie ein Hund ist ein Mensch In diesem Gedicht zeigt Erich Fried die Bedeutung des Sterbens für die menschliche Existenz auf. Er geht sogar so weit, uns Menschen über unser Sterben zu definieren. Aber nicht nur über das Elend des Sterbens, über sein Ausgeliefertsein, über seine Kreatürlichkeit definiert er den Menschen. Er stellt ihn auch in seiner Größe dar. Er stellt ihn in seiner Fähigkeit dar, um das Sterben zu wissen, darüber sprechen und sich damit auseinandersetzen zu können. Über das Sterben zu sprechen, ist nicht leicht. Um leben zu können, um aktiv zu sein, um genießen zu können, verdrängen wir unser Sterben weitgehend. Wir sprechen nicht darüber. Was ist Sterben? Was passiert da mit uns? Möglicherweise haben wir es bei anderen als sehr schlimm miterlebt. Oder, wenn wir es noch nicht miterlebt haben, so haben wir doch bestimmte Ängste. Welche Befürch- 2 tungen, welche Fragen bedrängen uns, wenn wir an unser eigenes Sterben denken? Wir sollten diese Fragen stellen. Es sind auch die Fragen und Befürchtungen der Todkranken. Diese Fragen helfen uns, die Situation der Sterbenden zu spüren, die Bedürfnisse der Sterbenden zu erkennen. Sie helfen uns schließlich, die Ziele der Begleitung Sterbender zu definieren. Da ist zunächst einmal die Angst, dass das Sterben mit Schmerzen und mit anderen Beschwerden verbunden sein wird. Dieser Angst entspricht das Behandlungsziel der Beschwerdelinderung, das Behandlungsziel der Symptomkontrolle. Der Befürchtung, in der letzten Lebensphase total von anderen abhängig zu sein, begegnen wir mit der Beachtung und Sicherung der Autonomie Sterbender. Die Angst, im Sterben allein zu sein, lässt sich dadurch mildern, dass man die Kommunikation mit dem Todkranken fördert. Symptomkontrolle, Sicherung der Autonomie und Pflege einer wahrhaftigen Kommunikation sind Betreuungsziele für die letzte Lebensphase. Beschwerdelinderung Es gibt Symptome, die sich gut behandeln lassen, wie z.B. Schmerzen, Atemnot, Erbrechen. Dann gibt es wieder andere Beschwerden, wie Appetitlosigkeit, Kräfteverfall und unerträgliche Angst und Unruhe, die kaum oder gar nicht zu therapieren sind. Die zunehmenden Kenntnisse und Erfahrungen der Palliativmedizin lassen die Beschwerdelinderung heute realisierbarer erscheinen, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Sie erfordern allerdings auch eine hohe pflegerische und ärztliche Fachkompetenz. Symptomorientierte Behandlung bedeutet aber auch Konzentration der Behandlung auf die Beschwerden, nicht auf die Krankheit als solche. Es bedeutet, alle laufenden Maßnahmen daraufhin zu überprüfen, ob sie dem Patienten noch nutzen oder ob sie ihm vielleicht eher schaden. Dann müsste man im Einverständnis mit dem Betroffenen die eine oder andere Maßnahme einstellen. Autonomie Die zunehmende Schwäche vermehrt die Hilfsbedürftigkeit und erfordert einen erhöhten Betreuungsaufwand. Dies führt, besonders im Krankenhaus oder in einer Pflegeeinrichtung, für den Patienten nicht selten zu einem Verlust an Autonomie. Die Leistungen einer Einrichtung (Mahlzeiten, Körperpflege, Mobilisierung) richten sich nicht unbedingt nach den Wünschen der Patienten. Vielmehr werden die Patienten den zeitlichen Vorgaben der Einrichtung angepasst. Im häuslichen Milieu droht eine andere Art von Autonomieverlust. Wenn man einem Menschen jede Mü- 3 he, jede Anstrengung ersparen will, wenn man besser als er selbst weiß, was gut für ihn ist, macht man ihn zu einem Kind. Übermäßige Fürsorge kann Autonomie beeinträchtigen. Zur Wertschätzung und Wahrung von Autonomie gehört es, einen unheilbar kranken Patienten über die Entwicklung und die Prognose seiner Erkrankung zu unterrichten. Wie weit er die Möglichkeit einer solchen Information wahrnimmt, bleibt seiner persönlichen Entscheidung überlassen. Ein Bilanzgespräch zwischen Patient und Arzt, eventuell im Beisein von Angehörigen, kann die Grundlage für die Planung des weiteren Vorgehens sein. Möglicherweise macht ein Patient aber auch von seinem Recht Gebrauch, bestimmte, an sich sinnvoll erscheinende Maßnahmen wie z.B. eine weitere Diagnostik, eine Bluttransfusion oder eine künstliche Ernährung abzulehnen. In jedem Fall trägt ein Einbeziehen des Patienten dem Recht auf Selbstbestimmung Rechnung. Es respektiert seine Würde. Kommunikation Kommunikation mit einem Todkranken ist nicht leicht. Worüber soll man reden? Die Erinnerung an Vergangenes macht traurig. Die Gegenwart ist von Leid geprägt. Die Zukunft bietet kaum eine Perspektive. Man findet keinen positiven Gesprächsinhalt. Aber auch die todgeweihten Patienten machen es ihren Gesprächspartnern nicht leicht. Frau Kübler-Ross hat schon vor Jahren Verhaltensweisen beschrieben, wie sie für Todkranke und Sterbende typisch sind. Sie nennt Leugnen und Verdrängen der Wahrheit, Zorn und Wut, Verhandeln und Feilschen, wo es nichts mehr zu gewinnen gibt, sowie depressives Abwenden und Verweigern. All diese Reaktionen sind im normalen Alltag ein hinreichender Grund, Kommunikation auf ein Minimum zu begrenzen. Sie sind ein Grund, Kommunikation sogar irgendwann abzubrechen. Das Wissen um diese Reaktionsweisen macht es erträglicher und zumutbar, Kommunikation mit Todkranken zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Wir sollten dies für uns als Betreuer beachten. Wir sollten es aber auch den wichtigsten Kommunikationspartnern, den Angehörigen, vermitteln. Nur wenn wahrhaftige Kommunikation gelingt, wird ein Sterbender sich nicht allein fühlen. Qualität des Lebens im Angesicht des Todes Sterben ist nicht leicht. Für den Todkranken ist es möglicherweise der härteste und beschwerlichste Teil des Lebens. aber ich möchte es nicht dabei belassen, nur die Härte, das Elend der letzten Lebensphase anzusprechen, das Leiden, die Hilfsbedürftigkeit, die Einsamkeit, Ich möchte 4 auch von dem Potential ,von den Chancen sprechen, die das Leben im Angesicht des Todes bietet. Nun könnte man mir vorhalten: Woher nehme ich, woher nimmt jemand, dessen Leben nicht unmittelbar bedroht zu sein scheint, - woher nehme ich das Recht und die Kompetenz, etwas über Chancen am Lebensende zu sagen? Ist es nicht anmaßend, über Chancen einer Situation zu reden, die ich am eigenen Leibe noch nicht erfahren habe, - zu reden in einem Augenblick, in dem manch ein Sterbender gerade sehr leiden mag. Trotzdem bekenne ich mich dazu, neben dem Elend des Sterbens auch die Chancen der letzten Lebensphase darzustellen. Ich durfte in den vergangenen Jahren viele Menschen in ihren letzten Lebenswochen und –monaten begleiten. Etliche von ihnen haben mir gesagt oder gezeigt, dass das Leben in Angesicht des Todes trotz aller Belastung eine besondere Qualität aufweist, Besonderes auch im positiven Sinne. Im Blick auf diese Patienten sehe ich eine Verpflichtung, das weiterzugeben, was ich von ihnen lernen durfte. Ich möchte fragen: Bietet die letzte Lebenszeit in ihrer Eigenart, in ihrer Besonderheit, in ihrer Einzigartigkeit – bietet diese Zeit neben allem Leiden nicht doch auch Chancen, wie sie sonst keine andere Phase unseres Lebens bietet. Lassen Sie mich fünf besondere Kennzeichen der letzten Lebensphase benennen. Und lassen Sie mich dann fragen, welche Chancen daraus folgen. • • • • • Sterben zeigt Grenzen auf Sterben ist Abschied Sterben bedeutet Bilanz Sterben ist Befreiung Sterben ist Erwartung Sterben zeigt Grenzen auf Welche Grenzen erfahren wir? Als begrenzt erfahren wir vor allem unsere Zeit. Die Zeit, die uns noch verbleibt. Die uns geschenkt ist, uns gehört. Unsere Zeit, ein wertvoller Besitz. Ein Besitz, den wir nutzen und gestalten können. Ein Besitz, den wir anderen schenken können. Zeit bedeutet Leben. Zeit bedeutet Möglichkeit zum Erleben. Erleben ist Begegnung. Begegnung mit Natur, mit Kunst, mit anderen Menschen. Pati- 5 enten fragten mich: „Wird dies der letzte Herbst mit seinen Früchten sein, die ich noch schmecke?“ Sie sagten: „Die Rosen haben dieses Jahr besonders schöne Farben“ Sie fragten, ob sie noch einmal eine Kunstausstellung, einen Film besuchen dürften. Und wenn sie dann davon berichteten, waren sie zwar erschöpft, aber, so sagten sie, es habe sich gelohnt, es sei besonders beeindruckend gewesen. Sie drängten auf den Besuch eines Freundes noch in dieser Woche. Sie drängten, weil es nächste Woche vielleicht schon zu spät dafür sei. Ein Patient, der, den baldigen Tod vor Augen, noch einmal an die französische Atlantikküste reiste, schrieb in sein Tagebuch: „Das Meer. – Etwas zum letzten Mal zu sehen ist fast so schön und überwältigend wie beim ersten Mal.“ Das Bewusstsein, dass die verbleibende Zeit begrenzt ist, steigert die Qualität und die Intensität des Erlebens. Ein Stück Genuss, ein Stück Glück, das in dieser Form nur der letzten Lebensphase eigen ist. Sterben ist Abschied Abschied tut weh. Abschied bedeutet Trennung. Umso schmerzhafter, wenn es ein Abschied für immer ist. Das ist die eine Seite, und die sei nicht bestritten. Gleichzeitig gibt es aber auch eine andere Seite. Im Abschied spürt man Nähe, - vielleicht mehr denn je. Denken Sie an den Abend vor der Abreise nach einem langen Aufenthalt bei guten Freunden. Sie können, um den Schmerz zu verdrängen, sich zurückziehen und die Koffer packen. Sie können den Abend aber auch gemeinsam verbringen, sich hinsetzen, noch einmal lange miteinander sprechen. Dieser Abend könnte in Ihrer Erinnerung später einer der wichtigsten Teile des gesamten Aufenthalts gewesen sein. Dies Beispiel lässt uns ahnen, was bei einem bewusst gelebten und erlebten letzten Abschied geschieht. Abschied geht in die Tiefe. Abschied lässt Nähe spüren. Der endgültige Abschied noch mehr. Sterben bedeutet Bilanz Wenn man eine Aufgabe erfüllt hat, zieht man eine Bilanz. So auch am Lebensende. Auch wenn viele nicht über den Tod sprechen mögen: Unter den Palliativpatienten ist mir kaum jemand begegnet, der nicht eine Rückschau auf sein Leben gehalten hätte. Negatives kam ebenso zur Sprache wie Positives. Häufig gab es ein Gefühl der Dankbarkeit für das Gute, das man empfangen hatte, für das Glück, das einem widerfahren. Eigenartigerweise waren anhaltende Verbitterung und Zorn über das zurückliegende Leben relativ selten. Als ungerecht empfand man allenfalls den bevorstehenden Tod. Selbst Patienten mit einem schweren Schicksal verlieren sich nicht unbedingt in Klagen. Sie äußern eher Genug- 6 tuung darüber, wie sie die Schwierigkeiten ihres Lebens gemeistert haben. Ich denke an eine Frau, die zu Kriegsende aus Ostpreußen vertrieben worden war. Sie sprach während ihrer letzten Lebenswochen häufig über die Flucht mit vier kleinen Kindern. Eines verstarb unterwegs. Sie erinnerte sich weniger an die Schrecken der Verfolgung und das Chaos der Flucht. Sie erinnerte sich eher daran, wie es ihr gelungen war, durchzukommen, und sie war stolz darauf. Bilanz heißt auch, seine Angelegenheiten zu ordnen und geordnet weiterzugeben. Erstaunlich oft träumen Todkranke, dass sie ihre Sachen sortieren, um sie in einen Koffer zu legen. Sie möchten in Phasen der Desorientiertheit aufstehen, um den Schrank aufzuräumen. Wenn man feststellt, dass noch bestimmte Dinge zu regeln sind, mag das zunächst belasten. Wenn dann aber alles erledigt ist, wenn alles seine Ordnung hat, führt dies zu einer tiefen Zufriedenheit. Ich hatte Gelegenheit, so etwas mitzuerleben mit dem Seniorchef einer Firma. Der alte Herr hatte aus kleinen Anfängen ein großes Unternehmen aufgebaut. Er hielt immer noch alle Fäden in der Hand und fand das auch unbedingt erforderlich. Er war nervös und relativ unleidlich bis zu dem Tag, als er sich entschloss, seinen Sohn in die Geheimnisse der Firma einzuweihen. Dies geschah in langen abendlichen Sitzungen und wurde gut zu Ende geführt. Als ich ihn später zu Hause besuchte und auf seine Ruhe und Ausgeglichenheit ansprach, sagte er mir: “Warum muß ich unheilbar krank werden, um endlich meinen Frieden zu finden?“ Ich könnte viele Beispiele nennen, wie unter dem Eindruck des bevorstehenden Todes aufgeschobene Entscheidungen getroffen, Eheschließungen vollzogen, Erbschaften geregelt oder Streitigkeiten beigelegt wurden, und wie dies zu einer inneren Ruhe bei den betroffenen Patienten führte. Innerer Friede als Chance speziell der letzten Lebensphase. Sterben ist Befreiung Ein Patient der Palliativstation schilderte sein Leben und seine momentane Situation folgendermaßen: „Ich habe den Eindruck, große Teile meines Lebens im Bauch eines Schiffes verbracht zu haben. Es war viel los. Ich habe die Wellen gespürt. Ich habe Bewegung gespürt. Ich habe die Fahrt gespürt. Jetzt stehe ich an der Reling des Schiffes. Ich sehe das Licht und die Weite, und das ist wunderbar. Ich schaue aber auch in die Tiefe, und das ist schrecklich und macht Angst.“ Diese Beschreibung trifft sehr gut die Situation am Lebensende. Die Tiefe, der schreckliche Abgrund sind nicht weg zu diskutieren. Sie sind Realität und machen Angst. Gleichzeitig ist da aber auch das Licht, die Klarheit und die Weite. Was bedeutet das? Es heißt, dass Menschen in der letzten Lebensphase einen besonders guten Blick haben. Sie sind in der Lage, das We- 7 sentliche vom Nebensächlichen zu unterscheiden. Sie können dies auch äußern, da sie keine Rücksicht mehr nehmen müssen. Sie müssen niemandem mehr etwas beweisen. Diese Freiheit von Abhängigkeit und Verpflichtungen ermöglicht ihnen Erkenntnisse und Aussagen, von denen wir im normalen Leben noch weit entfernt sind. Den Tod vor Augen, stehen sie über den Dingen. Nicht jeder, nicht dauernd, aber manch einer, immer wieder einmal, für eine kurze Zeit. Dann hat die Angst, das Leid, der Schmerz sie wieder. Diese Momente und Zeiten der Gelassenheit, der Abgeklärtheit, der Konzentration auf das Wesentliche sind etwas Außerordentliches. Es sind die Zeiten, wo die Sterbenden uns beschenken, wo wir von ihnen lernen können. Die Sterbenden als unsere Lehrer. Weisheit als Chance am Lebensende. Sterben ist Erwartung Selbst wenn wir davon ausgehen, dass mit dem Tod alles zu Ende ist, wird uns immer wieder der Gedanke beschäftigen, was uns mit dem Sterben denn eigentlich erwartet, und man kann sich dessen kaum erwehren: Kommt nicht doch etwas danach? Viele Menschen aller Kulturen und Religionen tragen Bilder in sich, was danach sein könnte. Oft sind es gute Bilder, Bilder der Ruhe, des Friedens, der Freude. Das Bild des Ozeans, der den Fluss unseres Lebens aufnimmt. Das Bild von dem Haus mit den vielen Wohnungen. Das Bild von dem großen Fest des Wiedersehens. Es gibt aber auch das schlimme Bild des strafenden Richters, ein Bild, das in unserem christlichen Kulturkreis lange Zeit überbetont und zur Disziplinierung der Menschen missbraucht wurde. Die Verkündigung hat sich geändert, aber, so ist meine Erfahrung mit manchem Sterbenden, die vergangenen Zeiten wirken auch heute noch nach und belasten bis zur Verzweiflung. Trotzdem: Die guten Bilder, die Hoffnung überwiegt, und sie verfestigt sich in vielen Fällen im Laufe des Sterbeprozesses bis hin zur Gewissheit. Eine 70jährige Frau, Mutter von fünf Kindern, gab mir ein Bild, das ich Ihnen weitergeben möchte. Sie sagte: „Im Sterben wird es mir gehen wie meinen Kindern bei der Geburt. Es kostet viel Kraft. Es wird sehr eng werden. Aber dann kommt das strahlende Licht und alles wird gut und schön sein. Bilder der Hoffnung. Hoffnung als Chance am Lebensende. Sterbende als Träger unserer Hoffnung Ich habe versucht, ausgehend von typischen Kennzeichen der Situation Sterbender, Ihnen die Chancen am Lebensende darzustellen. Sie wür- 8 den mich gründlich missverstehen, wenn Sie nun meinen, Sterben sei leicht, angenehm, wunderbar. Sterben bedeutet, und zwar ganz massiv, Angst und Leiden. Mir ging es darum, die positiven Aspekte nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Ich wollte Ihnen zeigen, dass die begrenzte Zeit zur intensiven Wahrnehmung führt, dass die Abschiedssituation Nähe und Tiefe bringt, dass die Lebensbilanz ein Gefühl der Dankbarkeit und Genugtuung hervorruft, dass die Freiheit zur Gelassenheit und zum Blick auf das Wesentliche führt und dass schließlich die Hoffnung ihren Platz hat. Wir sollten diese besonderen Chancen am Lebensende erkennen. Wir sollten Sorge tragen, dass sie nicht in der Angst, im Schmerz und im Leid des Sterbens untergehen. Zur Bestätigung meiner Aussagen möchte ich zum Schluß einige Äußerungen bekannter Persönlichkeiten zitieren, die im Angesicht des Todes gelebt und diese Situation beschrieben haben. Der Philosoph Lucius Annaeus Seneca war Lehrer und lange Zeit Ratgeber des römischen Kaisers Nero gewesen. Als er den Kaiser kritisierte, befahl ihm dieser, sich das Leben zu nehmen. Die in einem Brief an seinen Freund Lucilius geäußerten Gedanken zu Sterben und Tod zeigen die Abgeklärtheit und Würde eines Philosophen am Ende einen erfüllten Lebens: ... Denn wie das Alter der Jugend folgt, so der Tod dem Alter. Wer den Tod ablehnt, lehnt das Leben ab. Denn das Leben ist uns nur mit der Auflage des Todes geschenkt: es ist sozusagen der Weg dorthin. Es wäre Wahnsinn, ihn zu fürchten: man fürchtet nur das Ungewisse, das Gewisse erwartet man....Bereit zum Scheiden, genieße ich gerade deshalb das Leben – ich lege kein sonderliches Gewicht darauf, wie lange es noch möglich ist. Vor Eintritt des Alters war ich darauf bedacht, in Ehren zu leben – jetzt im Alter, in Ehren zu sterben. Das bedeutet: gern zu sterben ... (L.A. Seneca, Briefe an Lucilius) Der französische Essayist Michel de Montaigne hatte immer gewünscht, der Tod möge ihn im Garten beim Kohlpflanzen ereilen. Er bereitete sich frühzeitig und gründlich auf einen plötzlichen Tod vor. In seinen Essais befasste er sich mehrfach mit dem Thema Tod und Sterben. Schließlich starb er nach einem Schlaganfall im Kreise seiner besten Freunde. Der Text aus seinem Essai „Philosophieren heißt sterben lernen“ erklärt, welches Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit jemand erwirbt, der sich zu Lebzeiten mit seinem Sterben auseinandersetzt: 9 ... Es ist ungewiß, wo der Tod unser wartet; erwarten wir ihn überall. Die Besinnung auf den Tod ist Besinnung auf die Freiheit. Wer sterben gelernt hat, der hat das Dienen verlernt. Sterben zu wissen, befreit uns von aller Unterwerfung und allem Zwang. Das Leben hat keine Übel mehr für den, der recht begriffen hat, dass der Verlust des Lebens kein Übel ist ... (M. de Montaigne, Essais) Ein junger Mann, Mitte 20, schrieb vor gut 200 Jahren an seinen Vater: Mon très chèr Père… Da der Tod (genau zu nehmen) der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes! Und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat, mir die Gelegenheit (Sie verstehen mich) zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennenzulernen. Ich lege mich nie zu Bette, ohne zu bedenken, dass ich vielleicht (so jung als ich bin) den anderen Tag nicht mehr sein werde – und es wird doch kein Mensch von allen, die mich kennen, sagen können, dass ich im Umgang mürrisch oder traurig wäre. Und für diese Glückseligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie von Herzen jedem meiner Mitmenschen ... (W.A. Mozart, Briefe) Diesen Brief schrieb Wolfgang Amadeus Mozart. Mozart ist der beste Beweis dafür, dass der Tod als täglicher Begleiter dem Leben nicht die Dynamik nehmen muß, sondern dass das Leben dadurch nur gewinnen kann. Den Tod allerdings als „Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit“ anzusehen, dürfte nur wenigen außergewöhnlichen Persönlichkeiten vorbehalten sein Ein letztes Zitat stammt von Peter Noll. Peter Noll war ein bekannter Professor für Strafrecht, zunächst in Mainz, später in Basel und Zürich. Man rühmte an ihm vor allem seine nüchtern-rationale Argumentationsweise und seine Fähigkeit, eine Situation unbestechlich und präzise zu analysieren. Er erfuhr im Dezember 1981, dass er an einem schnell wachsenden Blasentumor litt. Eine ihm vorgeschlagene Operation lehnte er wegen der geringen Erfolgsaussichten ab und wegen der vermutlich hohen Einschränkung der Lebensqualität. Auf Bitten seines Freundes, des Schriftstellers Max Frisch, führte er dann neun Monate lang bis einige Wochen vor seinem Tod ein Tagebuch, ein beeindruckendes Zeugnis zum Einfluß des bevorstehenden Todes auf das noch verbleibende Leben. Peter Noll schreibt: 10 ... Wir leben das Leben besser, wenn wir es so leben, wie es ist, nämlich befristet. Dann spielt auch die Dauer der Frist kaum eine Rolle, da alles sich an der Ewigkeit misst. ... Nicht nur die Christen, sondern besonders die Nichtchristen, von Seneca bis Montaigne bis, wenn Sie so wollen, zu Heidegger, waren der Meinung, dass das Leben mehr Sinn habe, wenn man an den Tod denkt, als wenn man ihn beiseite schiebt, verdrängt. Ich habe erfahren, dass das alles stimmt. ... Was soll sich denn ändern im Leben, wenn wir an den Tod denken? Vieles, nicht alles. Wir werden ein weiseres Herz gewinnen, wie der Psalmist sagt. Wir werden sorgfältiger umgehen mit der Zeit, sorgfältiger mit den anderen, liebevoller, wenn Sie so wollen, geduldiger – und vor allem freier. ... Ich kann Ihnen sagen, weil ich es in den letzten Monaten erlebt habe, dass der Gedanke an den Tod das Leben wertvoller macht ... (P. Noll, Diktate über Sterben und Tod) Soweit die Zitate, die, vielleicht besser, als ich es konnte, verdeutlichen, was ich unter „Chancen am Lebensende“ verstehe. Nichts ist gewisser als die Tatsache, dass wir sterben werden. Ich hoffe für mich und wünsche Ihnen – ich wünsche uns allen, dass wir uns dem Sterben stellen, vielleicht schon jetzt, spätestens aber, wenn es sich mit einer unheilbaren Krankheit oder auf andere Weise ankündigt. Nur wenn wir lernen, mit dem Gedanken an unser Lebensende umzugehen, werden wir der Herausforderung gerecht. Nur dann werden wir vielleicht auch die positiven Aspekte und die Chancen der letzten Lebenszeit erfahren können.