Anne hat viel gelacht - Interview mit B. Elias

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Anne hat viel gelacht - Interview mit B. Elias
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Erinnerungen an Anne Frank
"Sie hat gelacht und gelacht"
Sie ist weltweit bekannt. Doch wir alle kennen sie nur von wenigen Schwarz-Weiß Fotos. Wie war Anne Frank
wirklich? Was für ein Mädchen war sie in glücklichen Kindertagen? Ein Gespräch mit ihrem Cousin Buddy Elias und
seiner Frau Gerti.
Gerti und Buddy Elias (Bild: Schick)
Herr Elias, Anne Frank wäre in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden. Hat sich in all den Jahren Ihre Erinnerung an sie verändert?
Buddy Elias: In England hat man zu ihrem 80. Geburtstag mit Hilfe einer Computeranimation eine alte Frau in einer Zeitung
abgebildet und darüber geschrieben: "So könnte Anne Frank heute aussehen." Das war furchtbar. Ich möchte mir Anne nicht
als alte Frau vorstellen, ich möchte sie so im Gedächtnis behalten, wie ich sie gekannt habe.
Wie war Anne Frank?
Buddy Elias: Sie war ein kleiner Wildfang, ein ganz liebes, entzückendes, intelligentes, spielfreudiges Kind - aber kein
Wunderkind. Sie war ein ganz normales Mädchen, wie jedes andere Kind auch. Sie hat allerdings schon immer geschrieben. Wir
haben viele Briefe von Anne bekommen. Darin hat sie von ihren Freunden erzählt, von der Schule.
Frau Elias, Sie haben vor ein paar Jahren Briefe und Dokumente nicht nur von Anne, sondern von der ganzen Familie Frank auf
dem Dachboden Ihres Baseler Hauses in der Herbstgasse gefunden. Wieso lagen die Sachen so lange unbemerkt auf dem
Speicher?
Gerti Elias: Naja, jeder hat etwas auf dem Dachboden abgelegt, aber keiner hat sich Gedanken gemacht, die Briefe und
Dokumente zu ordnen. Die Mutter von Buddy war die Schwester von Annes Vater, Otto Frank. Leni Frank hatte 1921 Erich Elias
geheiratet und war mit ihm und den Kindern Buddy und Stephan 1929 in die Schweiz gezogen, weil Erich dort eine Firma
aufbaute. Meine Schwiegermutter hat mir immer von der großen Familie und deren Zusammenhalt erzählt und ich habe mich
sehr geborgen gefühlt. Aber von den vielen Dokumenten wusste ich lange Zeit nichts. Wir waren so beschäftigt, Buddy war als
Schauspieler viel auf Reisen, ich führte das Antiquitätengeschäft. Und unsere Söhne, Oliver und Patrick, waren noch klein.
Manchmal war ich auf dem Speicher, aber ich hatte nie Zeit, mir die Schränke und Überseekoffer genauer anzuschauen.
Aber irgendwann hat Sie die Neugier gepackt
Gerti Elias: Ja. Und dann hat sich mir eine unglaubliche Welt eröffnet. In einem Schrank hingen herrliche Paillettenkleider, die
die Leni in den 20er Jahren getragen hat. Wie schön und elegant diese junge Frau in Frankfurt gelebt haben muss! Ich habe
eine Schachtel aus dem Schrank genommen, sie war mit Stoff überzogen und etwas wattiert, darinnen waren Briefe,
zusammengebunden mit Bändchen. Geschrieben war alles in Sütterlin, der altdeutschen Schrift.
Von wem waren diese Briefe?
Gerti Elias: Ich konnte mit den Unterschriften nichts anfangen, ich kannte die Namen nicht. Ich habe Buddy gefragt, aber er
wusste es auch nicht. Erst später haben wir rausgekriegt, sie stammten von Annes Urgroßmutter Cornelia. Trotzdem, ich bin
immer wieder auf den Speicher gegangen. Das ging so drei Jahre. Und eines Tages habe ich einen Brief gefunden, da hat es
klick in meinem Kopf gemacht. Es war ein Brief, den Annes Vater als Kind geschrieben hatte. Ich bin runter zu Buddy gelaufen
und habe gesagt: "Schau mal, hast du gewusst, welche Schätze da oben liegen?" Dann habe ich weitere Briefe gefunden, einen
beispielsweise von Albert Einstein an seinen Professor Alfred Stern, der auch zur Frank-Familie gehörte. Da haben sich immer
mehr Zweige der Familie geöffnet.
Herr Elias, reden wir noch mal über Ihre Erinnerungen an Anne. Sie sind vier Jahre älter als Anne und lebten damals mit Ihren
Eltern in Basel, während Anne mit den Eltern und der Schwester in Amsterdam lebte. Wie oft haben Sie sich getroffen?
Buddy Elias: Die Franks waren vor dem Zweiten Weltkrieg noch öfter bei uns in der Schweiz, vor allem in den Schulferien.
Was haben Sie mit Anne gespielt?
Buddy Elias: Kaspertheater zum Beispiel, ich hatte so ein Theater mit einem Krokodil, einer Großmutter und einem Kasper.
Das Krokodil wollte die Großmutter auffressen, und der Kasper hat dann das Krokodil erledigt. Darüber hat sich Anne sehr
amüsiert. Einmal hat sie mich gebeten, ich soll an den Kleiderschrank von der Omi gehen, ein Kleid, einen Hut und die Schuhe
von der Omi anziehen und sie nachahmen. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie ich in einem Kleid von der Omi ausgesehen
habe. Das war ganz Annes Linie, sie hat gelacht und gelacht. Alles mit Theater hat sie fasziniert. Kurz vor ihrer Verhaftung
1944 hat sie noch mitbekommen, dass ich Schauspieler geworden bin. Sie hat sicher gehofft, dass ich berühmt werde. Und
heute bin ich stolz, dass sie berühmt geworden ist.
Auf welchem Weg hat Anne das erfahren, sie war zu dieser Zeit ja schon in ihrem Versteck?
Buddy Elias: Sie hat es von einem Angestellten Otto Franks erfahren, der die Versteckten im Hinterhaus in der Amsterdamer
Prinsengracht mitversorgt hat. Mein Vater korrespondierte mit diesem Mann.
Wir alle kennen Anne Frank nur von wenigen Schwarz-Weiß-Fotos.
Buddy Elias: Sie hatte wunderschönes schwarzes Haar. Darauf war sie sehr stolz. Es muss entsetzlich für sie gewesen sein, als
sie im KZ kahl geschoren wurde.
Und ihre Augen?
Buddy Elias: Sie hatte wunderschöne grau-grüne Augen. Und einen etwas breiten Mund, der war nicht unbedingt so schön,
aber sehr lustig. Ihre Ausstrahlung war sehr positiv.Welche Kleider trug sie?
Buddy Elias: Sie legte immer großen Wert auf ihr Äußeres, machte immer ihre Nägel und pflegte sich sehr. Sie legte mehr
Wert auf ihr Äußeres als ihre Schwester Margot, die fast noch hübscher war als Anne.
Herr Elias, Ihre Mutter, Leni Elias, hat einmal geschrieben: "Buddy ist sprunghaft, egoistisch, intelligent, künstlerisch begabt,
oberflächlich, aber auch seelengut... und ähnelt damit sehr Anne."
(Buddy Elias lacht)
War es ungerecht, was Ihre Mutter über Sie und Anne schrieb?
Buddy Elias: Nein, nein. Das traf es schon ganz gut.
Sie fühlten sich Anne also näher, obwohl deren Schwester Margot nur ein Jahr jünger war als Sie?
Buddy Elias: Margot war ein sehr ernstes Mädchen und hat immer gelesen. Ich sehe es noch heute vor mir: Ich spiele mit
Anne, und Margot sitzt im Erker am Fenster und liest. Margot war hochintelligent und immer die Beste in der Schule.
Kurz bevor sich die Franks in Amsterdam verstecken mussten, hatten Sie noch eine Postkarte von Annes Vater Otto erhalten.
Dann brach der Kontakt ab.
Buddy Elias: Ja - und meine Eltern hofften, dass sich die Franks versteckt hielten. Wir haben uns alle große Sorgen gemacht
und immer wieder haben wir darüber gesprochen. Nach dem Ende des Kriegs haben wir erfahren, dass Otto Frank am 5. Juli
1942 entschieden hatte, die Familie in das vorbereitete Versteck zu bringen. Einen Tag zuvor hatte Margot die Aufforderung
erhalten, sich zu melden, um in ein Arbeitslager gebracht zu werden. An diesem 5. Juli 1942 schrieb er auch noch die Postkarte
an uns und alle - Edith, Anne, Margot und er - hatten unterschrieben. Darauf stand, dass wir verstehen sollten, dass die Franks
aus Amsterdam nicht mehr mit der I. - wir nannten unsere Großmutter Alice Frank nur die I. - korrespondieren könnten. Das
war das letzte Lebenszeichen, das wir bekommen haben.
Warum ist Otto Frank mit seiner Familie in den Niederlanden geblieben? Gab es nie Überlegungen, sie in die Schweiz zu holen?
Buddy Elias: Die Familie war sehr glücklich in Holland. Alles lief zur Zufriedenheit bis zum Einmarsch der Deutschen. Ab da
waren die Grenzen zu und sie hatten keine Möglichkeit mehr, in die Schweiz zu kommen.
1945 erfuhren Sie, was tatsächlich geschehen war: Die Franks waren verraten worden, am 4. August 1944 von der SS aus dem
Hinterhaus in der Prinsengracht 263 abgeholt und ins KZ verschleppt worden. Anne und Margot starben in Bergen-Belsen an
Typhus, Mutter Edith starb in Auschwitz, nur Vater Otto konnte aus dem Vernichtungslager Auschwitz lebend zurückkehren
Buddy Elias: wir waren entsetzt. Unsere Großmutter, die Mutter von Otto, war total verzweifelt; sie hat nur noch geweint. Wir
auch. Es war einfach unbegreiflich. Meine Familie war durch und durch deutsch! Alle meine Onkels hatten im Ersten Weltkrieg
gekämpft. Sie waren für Deutschland an der Front gewesen, mein Vater auch. Meine Mutter und meine Großmutter waren im
Lazarett als Krankenschwestern. Und wir in Basel fragten uns immer wieder, warum wir das große Glück gehabt hatten, sicher
in der neutralen Schweiz zu sitzen, während die anderen leiden und sterben mussten.
Ihre Großmutter, Alice Frank, wollte nicht, dass Annes Tagebuch veröffentlicht wird. Sie fürchtete, dass es zu intim sei und die
Menschen es nicht begreifen würden.
Buddy Elias: Aber es war Annes Traum, dass etwas, was sie geschrieben hat, veröffentlicht wird. Sie schrieb auch Märchen
und Essays. Sie wollte zwar ursprünglich nicht, dass ihr Tagebuch veröffentlicht wird, sie wollte einen Roman auf der Basis ihres
Tagebuchs schreiben. Aber dazu ist sie ja leider nicht mehr gekommen. Otto Frank erfüllte den Traum seiner Tochter. Nach
dem Krieg gab er das Tagebuch verschiedenen Leuten zum Lesen, alle sagten: "Otto, das musst du veröffentlichen."
Und die Verlage standen Schlange?
Buddy Elias: Im Gegenteil. Kein Verleger wollte es haben.
Warum?
Buddy Elias: Sie haben alle gesagt, ein Buch aus dem Krieg interessiert niemanden mehr. Erst als der niederländische
Historiker Jan Romein, der das Tagebuch auch gelesen hatte, es in einer Zeitung als einzigartiges Stück Zeitgeschichte lobte,
fand sich ein niederländischer Verleger. Doch auch der wollte nur Auszüge; sie wurden gedruckt in einer Auflage von 1500
Exemplaren. Heute liegt die verkaufte Auflage bei 50 Millionen - in 80 Sprachen.
All die Jahre haben Sie vom Leben und Schicksal Ihrer Cousine und auch von dem vieler anderer Familienmitglieder erzählt: in
Schulen, bei Gedenkveranstaltungen. Haben Sie denn viel Neues über Ihre Großfamilie erfahren aus den vielen Briefen und
Dokumenten, die Ihre Frau gefunden hat?
Buddy Elias: Ich wusste zwar immer, dass ich aus einer weitverzweigten Familie stamme, aber ich kannte kaum Einzelheiten.
Gerti Elias: Für mich war es eine Sensation, denn die Menschen wurden in ihren Briefen plötzlich lebendig. Zum Beispiel die
Mutter von Annes Großvater Michael Frank. Sie schreibt in einer ungelenken Schrift und mit vielen Rechtschreibfehlern und
doch ganz hinreißend an ihre künftige Schwiegertochter, sie sei so glücklich, dass ihr Sohn Michael endlich eine Frau gefunden
habe. Unglaublich, diese Liebe!Herr Elias, wie ist es, wenn Sie Frankfurt besuchen?
Buddy Elias: Ich weiß, dass ich von hier komme, ich bin ja hier geboren. Und in meinem Hinterkopf tickt auch noch was.
Was denn?
Buddy Elias: Ich liebe Fußball und bin Fan von unserem FC Basel. Aber ich verfolge die deutsche Bundesliga und da gucke ich
jedes Mal, was die Eintracht macht.
Und, sind Sie zufrieden?
Buddy Elias: Nach der Eröffnung der Bundesliga ging es mit der Eintracht sehr gut. Jetzt sieht es nicht mehr so rosig aus. Aber
ich habe ganz große Hoffnung, dass die Eintracht wieder zulegt.
Erinnern Sie sich auch an das Frankfurt der 20er Jahre, als Sie noch hier lebten und Anne ein Baby war?
Buddy Elias: An manches. Mein Bruder Stephan und ich, wir haben mal Anne in ihrem Kinderwagen ausgefahren. Und Sie
wissen ja, wie Jungen sind. Wir haben ein wahnsinniges Tempo vorgelegt und haben eine Kurve nicht gekriegt, der Wagen
kippte um und Klein-Anne lag auf dem Bürgersteig. Wir haben sie aufgehoben, wieder in den Wagen gepackt. Von dem kleinen
Unfall hat niemand etwas erfahren.
Frau Elias, wann hatten Sie die Idee, die Briefe und Dokumente nicht nur selbst zu nutzen, sondern die Geschichte der Familie
Frank in einem Buch zu veröffentlichen?
Gerti Elias: Mit der Zeit fand ich es unverantwortlich, dass dieser Schatz bei uns auf dem Estrich vergammeln sollte. Es war da
oben immer sehr heiß. Es ist ein Wunder, dass die Briefe und Dokumente überhaupt noch in diesem guten Zustand waren. Der
Anne-Frank-Fonds hat einen Historiker beauftragt, die Sachen auf unserem Estrich zu katalogisieren. Er kam fast zwei Jahre
zwei Mal die Woche zu uns. Am Ende hatte er die Briefe, Bilder, Fotos und Dokumente in Schachteln verpackt, die,
aneinandergestellt, elf Meter ergaben. Alles ist nach Amsterdam ins Anne-Frank-Haus gebracht und dort digitalisiert worden.
Später habe ich vom Fonds den Auftrag bekommen, ein Buch über die Familie zu schreiben. Dafür habe ich insgesamt 10.000
Seiten bearbeitet, um das Wichtigste und Wesentlichste chronologisch heraus zu filtern. Die Schriftstellerin Mirjam Pressler
schrieb dann mit dem von mir zusammengestellten Material und unserer Unterstützung das Buch "Grüße und Küsse an alle".
Kehrt das jüdische Mädchen Anne Frank, das in seinem Leid und Tod zu einer Ikone des 20. Jahrhunderts geworden ist, jetzt in
den Schoß seiner Familie zurück?
Gerti Elias: Ja, das glaube ich schon. Anne hat für alle wieder sichtbar ihren Platz in ihrer Familie eingenommen; sie bleibt
einzigartig, aber sie ist nicht allein. Sie ist geborgen in einer großen Familie. Und diese Familie lebt!
Interview: Katharina Sperber
Zu den Personen
Bernhard (Buddy) Elias, geboren 1925 in Frankfurt am Main, ist Anne Franks letzter noch lebender Verwandter. 1929, kurz nach Annes
Geburt, war er zwar mit seinen Eltern von Frankfurt nach Basel gezogen, sah Anne aber dennoch regelmäßig. Er ist Schauspieler und hat
in zahlreichen deutschen TV-Filmen mitgespielt. Seit 1965 ist er mit der Schauspielerin Gerti Wiedener, geboren 1933, verheiratet. Sie
fand auf dem Dachboden des gemeinsamen Hauses in Basel tausende Fotos, Dokumente und Briefe der Familie Frank und deren
Verwandtschaft. Das Material ist die Grundlage eines neuen Buches.
"Grüße und Küsse an alle" , das Buch über die Familie von Anne Frank, ist im Fischer Verlag Frankfurt erschienen. Die Autorin Mirjam
Pressler stellt es gemeinsam mit Buddy und Gerti Elias am morgigen Donnerstag, 22. Oktober, um 20 Uhr im Frankfurter Literaturhaus
vor.
Fotostrecke: Das kurze Leben der Anne Frank