Psychotherapie auch für Christen? - Advent

Transcription

Psychotherapie auch für Christen? - Advent
Ergänzendes Material zum
ADVENTECHO 2-2007
Psychotherapie auch für Christen?
WAS DIE BIBEL DAZU SAGT
„Ich bin der Herr, dein Arzt“ (2 Mo 15, 26) „Und Asa ... suchte auch in seiner Krankheit nicht
den Herrn, sondern die Ärzte.“ (2 Chr 16,12) Diese beiden alttestamentlichen Texte sind für
manche strenggläubigen Christen Grund genug für eine arzt- und medizinfeindliche Haltung. Die
gilt dann gleichzeitig und besonders für die Psychotherapie. Dabei übersehen sie, dass es auch im
Alten Testament eine zeitbedingte gegenwärtige Wahrheit gab, die sich veränderte. Zur Zeit der
Landnahme und in der Königszeit gab es in Ägypten und Mesopotamien nur Priesterärzte und
damit nur religiöse, götzendienerische Medizin. In der Zeit der Apokryphen trennten sich die
griechischen Ärzte von Magie und Mythos. Krankheiten waren für sie natürlich erklärbar. Ganz
deutlich beschrieb das der Vater der Medizin Hippokrates von Kos (460-377 v. Chr.) am Beispiel
der Epilepsie, die damals als heilig und von den Göttern geschickt galt. Seine Schrift „Über die
heilige Krankheit“ gilt als die Unabhängigkeitserklärung der Medizin von der Magie.
ERKENNTNISSE DES ARZTES JESUS SIRACH
Das apokryphe Buch Sirach wurde vielleicht einige Jahrzehnte später geschrieben. Der Autor
des Buches, Jesus Sirach, war vermutlich selbst Arzt. Er beschreibt auf teilweise amüsante Weise
die ärztliche Tätigkeit: „Gib dem Arzt die Ehre, weil du ihn brauchst; denn auch ihn hat der Herr
eingesetzt … Der Herr bringt auch die Heilmittel aus der Erde hervor. Ein vernünftiger Mensch wird
deshalb nicht zögern, sie zu gebrauchen … Der Apotheker mischt daraus die Arzneien, und der
Arzt benutzt sie, um den Kranken zu helfen und ihre Schmerzen zu lindern. So führt Gott sein
Schöpfungswerk weiter und gibt den Menschen auf der Erde Gesundheit.“ (Sirach 38, 1,4,7,8
GNB). Zur Zeit des Sirach war der Ärztemangel früherer Jahrhunderte offenbar vorbei. Es gab eine
hochstehende griechische Medizin. Bei Krankheit konnte man einen Arzt rufen – so man ihn
bezahlen konnte. Schon damals genossen Ärzte hohes Ansehen. Sirach beschreibt ein
Zusammenwirken von Gott (der die Heilmittel hervorbringt), dem Apotheker (der sie zubereitet)
und dem Arzt (der sie gezielt einsetzt). Und dann sagt Jesus Sirach etwas sehr Tiefsinniges: „So
führt Gott sein Schöpfungswerk weiter und gibt den Menschen auf der Erde Gesundheit.“ (V. 8)
Das klingt so, als ob Gott unsere Krankheiten nutzt, um sein Schöpfungswerk weiter wachsen zu
lassen und uns in unserer Entwicklung weiter zu bringen.
HEILKUNDE IM ALTEN UND NEUEN TESTAMENT
Im Neuen Testament wird in einem Nebensatz von vielen und teuren Ärzten berichtet (Mk
5,26). Der prominenteste Arzt des Neuen Testamentes war Lukas, der Begleiter (und Leibarzt?)
des kranken Paulus. Es war also zur Zeit des Neuen Testamentes üblich und keineswegs
„unbiblisch“, sich von Ärzten behandeln zu lassen. Vorher versuchte man es aber erst mit
Hausmitteln: Der ewig jugendliche Timotheus war wie Paulus ein kranker Mann, litt unter
psychovegetativen Beschwerden, hatte offenbar einen schwachen Magen. Paulus gibt ihm
deshalb den nicht ganz unproblematischen Rat: „Das heißt nicht, dass du nur Wasser trinken
sollst! Nimm ein wenig Wein dazu, um deinen Magen zu stärken; du bist ja so oft krank.“ (1 Tim 5,
23 GNB)
Psychische Erkrankungen waren im Alten Testament bekannt, wurden aber nur selten
beschrieben. Als David auf der Flucht vor Saul fürchtete, er könne am Hof des Philisterkönigs
Achisch erkannt werden, spielt er überzeugend „verrückt“ : „Er kritzelte auf die Torflügel und ließ
Speichel in seinen Bart laufen. Da sagte Achisch zu seinen Leuten: ‚Ihr seht doch, dass der Mann
ADVENTECHO 2/2007 – Psychotherapie auch für Christen?
Seite 2 von 4
wahnsinnig ist! Warum bringt ihr ihn zu mir? Haben wir nicht schon Verrückte genug? Der soll sich
anderswo austoben. In meinem Haus hat er nichts zu suchen!’“ (1 Sam 21,13-16 GNB). Die hier
beschriebenen und von David gespielten Symptome lassen an Erkrankungen aus dem
schizophrenen Formenkreis denken: An einen katatonen Bewegungssturm oder an bizarres
psychotisches Verhalten, wie es bei der Hebephrenie, einer jugendlichen Form der Schizophrenie
vorkommt. Diese Symptome waren dem Philisterkönig offenbar bestens bekannt („Haben wir nicht
schon Verrückte genug?“).
Woher hatte David diese genauen Kenntnisse? Sicher nicht von Saul, seinem König,
Schwiegervater und unbarmherzigen Verfolger, denn der bot ganz andere Symptome. In 1 Sam 16
und 18 wird von der psychischen Erkrankung Sauls und von Davids Musiktherapie berichtet.
Obwohl der böse krankmachende Geist von Gott kam, wird beschrieben, dass Saul in seinem
Haus „wie ein Wahnsinniger“ (1 Sam 18,10) tobte. Das lässt an eine endogene Psychose aus dem
manisch depressiven Formenkreis denken, bei der es tiefe depressive Verstimmungen aber auch
gereizt getriebene Unruhezustände oder manische Verstimmungen mit Größenideen gibt.
Psychische Erkrankungen bzw. endogene Psychosen aus dem schizophrenen und dem
manisch-depressiven Formenkreis waren also bekannt (endogen: von innen heraus, ohne
erkennbare äußere Ursachen). Vielleicht hatte Jeremia eine (endogene) Jammerdepression. Die
schwere depressive Verstimmung Hiobs war eindeutig reaktiv, d.h. durch äußere Belastungen
bedingt. Beide wurden an die Grenzen der Belastbarkeit gebracht und verfluchten schon am
Anfang ihrer Leidenszeit den Tag ihrer Geburt. Endogene und reaktive Depressionen sind also auf
Anhieb nicht unterscheidbar. Dabei ist die richtige Diagnose wichtig: Eine endogene Depression
behandelt man heute vorwiegend medikamentös, eine reaktive Depression vorwiegend
psychotherapeutisch.
Ein Symptom psychischer Erkrankungen wird im Alten Testament relativ oft und ausführlich
beschrieben: die Suizidalität bzw. Selbsttötungsneigung. Man sollte nicht von Selbstmord reden,
weil darin die mittelalterliche Verurteilung mitschwingt, Selbsttötungsversuche waren lange Zeit
strafbar: in Preußen bis 1796, in Bayern bis 1813, in England bis 1961. Da weder das Alte noch
das Neue Testament ein Wort für Suizid, d.h. für Selbsttötung verwendete, wurde meist ohne
Wertung einfach nur die Tötungsart beschrieben: Saul stürzte sich in sein Schwert (1 Sam 31, 14); Ahitophel (2 Sam 17, 23) und Judas (Mt 27, 3-5) erhängten sich, König Simri verbrannte sich in
seinem Palast (1 Kön 16, 17-19). Bei Hiob und Elia geht es um die Beschreibung und Behandlung
der Suizidalität, wie wir sie auch heute noch kennen, das Buch Jona endet mit trotzigen
Todeswünschen. Die Verurteilung des Suizids fehlt in der Bibel.
JESU PSYCHOTHERAPIE
Im Neuen Testament werden im Zusammenhang mit den Heilungen durch Jesus und seine
Jünger vielfältige Erkrankungen erwähnt. Dabei wird deutlich zwischen Kranken und Besessenen
unterschieden: Im Altertum vermutete man einen Zusammenhang zwischen epileptischen Anfällen
und dem Mondwechsel. Deshalb nennt der Vater des Kindes in Matthäus 17,15 seinen Sohn
mondsüchtig, bei Markus (Mk 9,17) und Lukas (Lk 9,39) nennt er ihn besessen. In Mt 4,24 wird
aber eindeutig unterschieden: „Man brachte Menschen zu ihm, die an den verschiedensten
Krankheiten litten, darunter auch Besessene, Epileptiker und Gelähmte, und er machte sie
gesund.“ (GNB). Auch wenn an mehreren Stellen der Heiligen Schrift Krankheiten und Seuchen
als Folgen der Sünde beschrieben werden (4 Mo 25; 5 Mo 28; 2 Sam 24) verwahrte sich Jesus bei
einem Blindgeborenen ausdrücklich gegen diese kurzschlüssige Erklärung seiner Jünger: „Seine
Blindheit hat weder mit den Sünden seiner Eltern etwas zu tun noch mit seinen eigenen. Er ist
blind, damit Gottes Macht an ihm sichtbar wird.“ (Joh. 9,1-7 GNB)
Im Alten und Neuen Testament findet sich viel Psychotherapeutisches, das man in der
Behandlung von Patienten nutzen kann: Angstzustände werden im Alten Testament sehr
eindruckvoll beschrieben (5 Mo 28, 15,64-67; Ps 22). Im Neuen Testament dagegen kommt Angst
nur in den Umschreibungen Bedrängnis, Drangsal, Trübsal vor. David bittet um die Vergebung der
„verborgenen Fehle“ (Ps 19,13) – ein Hinweis auf das Unbewusste der Psychoanalyse. An den
Pharisäern des Neuen Testaments werden zwanghafte Persönlichkeiten beschrieben. Der junge
Petrus ist ein klassisches Beispiel für Hysterie beim Mann. Paulus rät, die Weinenden nicht
aufzumuntern, sondern sich auf ihre Traurigkeit einzulassen (Röm 12,15). Der Mechanismus der
Projektion wird im Alten Testament bei Adam und Eva nach dem Sündenfall und am „Sündenbock“
ADVENTECHO 2/2007 – Psychotherapie auch für Christen?
Seite 3 von 4
beschrieben, im Neuen Testament in vielen Worten und Gleichnissen Jesu (z. B. Gleichnis vom
Schalksknecht, der Balken im eigenen Auge – Mt 7,3; Lk 6,42).
Jesus heilte die erstaunlich vielen Persönlichkeitsstörungen seiner Jünger nicht einfach so,
sondern durch langfristige Psychotherapie: liebevolle Einzelgespräche und jahrelange
Gruppentherapie (in Mk 3, 35 ist vom Kreis der Jünger die Rede. Vermutlich saßen die ersten
Christen in ihren Hausgemeinden – im Atrium – auch im Kreis, was u. a. die Wirkungskraft des
Urchristentums erklärt). So wurde aus dem Donnerskind Johannes der Jünger der Liebe und aus
dem ungestümen, unsicheren und oberflächlichen Kephas der altersweise Petrus. Die Bibel
beschreibt auch intensiven Widerstand und „Therapieversagen“: im Neuen Testament bei Judas,
im Alten Testament bei Elia und Jona. Man stelle sich das vor: die Offenbarung Gottes und das
persönliche Gespräch mit ihm bewirkt bei beiden Propheten (zunächst) nichts! Das kann auch
heute noch Psychotherapeuten bei Misserfolgen trösten.
FROMME NEUROSEN?
1955 veröffentlichte der Berliner Arzt Dr. Eberhard Schaetzing in der frommen „Monatsschrift
für Seelsorge, Psychotherapie und Erziehung“ (Wege zum Menschen) einen Aufsatz mit dem Titel:
„Die ekklesiogenen Neurosen“. Mit diesem unseligen Begriff meinte Schaetzing eigentlich sexuelle
Impotenz und Frigidität im kirchlichen Bereich. Leider hat diese angebliche Neurosenform zur
Diffamierung des christlichen Glaubens geführt (was Schaetzing als frommer Mann nicht wollte).
Außerdem ist dieser Begriff eine neurosenpsychologische und sprachliche Unmöglichkeit. Hier
wurde mit großem Eifer und wenig Sachverstand zu schnell und zu eingleisig gedacht. Man kennt
ja auch keine matrigenen (mutterbedingten) oder patrigenen (vaterbedingten) Neurosen.
Aber es gibt tatsächlich PsychotherapiepatientInnen, die ihre eigentlichen Schwierigkeiten
hinter frommen Sprüchen oder Bibeltexten verstecken. Meiner Erfahrung nach ändert sich erst
etwas, wenn diese Patienten merken, dass sie es mit einem gläubigen, „bibelfesten“ Therapeuten
zu tun haben. Mit ihm können sie das bisherige fromm abwehrende Spiel nicht treiben. Und fortan
ist eine geordnete Psychotherapie mit Selbsterfahrung, Beziehungsklärung und
Konfliktbearbeitung möglich, und die Patienten merken zu ihrem Erstaunen, wie viel sie – durch
ihre Konflikte behindert – in Gottes Wort missverstanden haben. Denn durch die Psychotherapie
ändert sich nicht nur die Wahrnehmung der Familienangehörigen und der übrigen
Beziehungspersonen, sondern auch das Gottesbild wird verändert. Viele sagen dann: „Der Vater
ist ganz anders“ und „du sollst dir kein festes Gottesbild machen“ – d.h. ihr Gottesbild geht wird
offener und ist geprägt von kindlichem Vertrauen Gott gegenüber.
Siegmund Freud wird immer wieder in diesem Zusammenhang als Kronzeuge gegen die
ekklesiogenen Neurosen zitiert: In seiner Schrift „Die Zukunft einer Illusion“ (1927) beschreibt er
die Ähnlichkeiten zwischen Zwangshandlungen und religiösen Riten und kommt zu dem Schluss,
alle Religionen seien kollektive Zwangsneurosen. Das ist nur halb richtig – es gilt m. E. nur für die
Gesetzesreligionen, für die werkgerechten Pharisäer, aber nicht für die herrliche Freiheit der
Kinder Gottes (die Freud offenbar nie kennen gelernt hat). Am Schluss seiner Argumentation
begründet Freud auf wenig freundliche Weise, warum seiner Meinung nach die Frommen weniger
Neurosen haben: „Es stimmt dazu auch gut, das der Frommgläubige in hohem Grade gegen die
Gefahr gewisser neurotischer Erkrankungen geschützt ist; die Annahme der allgemeinen Neurose
überhebt ihn der Aufgabe, eine persönliche Neurose auszubilden.“
Meine Erfahrungen und die wenigen Untersuchungen, die es zu dieser Frage gibt, bestätigen
die Vermutung Freuds: Psychische, vor allem neurotische Erkrankungen sind in unseren
Gemeinden nicht häufiger als in der übrigen Bevölkerung. Und adventistische Patienten sind nicht
schwieriger zu behandeln als andere. Allerdings sollten sie nicht versuchen, nichtchristliche
Therapeuten durch Bibelzitate zu verwirren, und Therapeuten sollten nicht versuchen, ihnen den
Glauben samt Heilsgewissheit wegzutherapieren (siehe Freud).
HILFT PSYCHOTHERAPIE?
Zum Schluss noch die Frage: Hilft Psychotherapie? Kurze Antwort: Ja! Längere Antwort: Im
Zentralinstitut für psychogene Erkrankungen in Berlin wurden von 1953 bis 1963 umfangreiche
Untersuchungen zu dieser Frage durchgeführt. Sie ergaben, dass Psychotherapiepatienten vor der
ADVENTECHO 2/2007 – Psychotherapie auch für Christen?
Seite 4 von 4
analytischen Behandlung doppelt so hohe Krankheitskosten, nach der Therapie nur noch halb so
hohe Krankheitskosten wie die Berliner Durchschnittsbevölkerung verursachten.
Diese Zahlen waren für die Krankenkassen so eindrucksvoll, dass sie ab 1968 die Kosten für
die ambulanten analytisch orientierten Psychotherapieverfahren übernahmen, seit 1988 auch für
die Verhaltenstherapien. Die Erfolge waren und sind etwa so hoch, wie im Jüngerkreis Jesu: 80 bis
90 Prozent.
Dr. Wolfgang Scherf
hat zwei Söhne und drei Enkel. Er arbeitete 30 Jahre ambulant und in der Klinik als ärztlicher
Psychotherapeut.

Documents pareils