Das griechische Neue Testament

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Das griechische Neue Testament
Impulse
Das griechische Neue Testament
Professor Dr. Wilfrid Haubeck ist
Dozent für Neues Testament und
Griechisch an der Theologischen
Hochschule Ewersbach.
I
m Herbst dieses Jahres erschien die 28. Auflage des „Nestle-Aland“ bzw. des Novum Testamentum Graece. Es ist die wissenschaftliche
Handausgabe des griechischen Neuen Testaments.
Ihre Bedeutung für die Auslegung kann nicht
hoch genug eingeschätzt werden. Deshalb bietet
das Erscheinen der 28. Auflage Anlass, auf den
grundlegenden Stellenwert des griechischen
Grundtextes sowie seine Geschichte einzugehen.
Anfänge des griechischen
Neuen Testaments
Im Mittelalter lasen die Theologen das Neue Testament vor allem in der lateinischen Übersetzung,
der Vulgata. Keine Übersetzung kann jedoch den
Originaltext ganz zutreffend wiedergeben, da die
Begriffe in unterschiedlichen Sprachen eine andere Bedeutungsbreite besitzen und da jede Übersetzung zugleich eine Interpretation darstellt. Dadurch ergeben sich Veränderungen des ursprünglichen Textes. Das zeigt sich schon beim Vergleich
verschiedener deutscher Übersetzungen.
Als man im Zeitalter von Renaissance und
Humanismus zu den Quellen zurückkehrte,
sammelte Erasmus von Rotterdam (1466?-1536)
griechische Handschriften, um 1516 eine griechische Ausgabe des Neuen Testaments herauszugeben. Ihre Basis waren drei Handschriften
aus dem 12. Jahrhundert. Dieses griechische NT
wurde für fast 300 Jahre als Standardausgabe – als
sogenannter textus receptus − die Grundlage für
die Auslegung.
Von dieser Ausgabe ging auch Martin Luther
aus, als er das Neue Testament in die deutsche
Sprache übersetzte. Für ihn hatte es eine tiefe
theologische Bedeutung, dass Gott die griechische
Sprache erwählt hat, um uns sein Wort zu geben.
Deshalb sei es wichtig, Griechisch zu lernen, damit neues Licht auf das Neue Testament fällt, es
zuverlässig ausgelegt wird und das Evangelium
lauter und rein verkündigt wird.1
Wissenschaftliche Ausgaben
Einen wichtigen Einschnitt stellte 1898 die erste
Ausgabe des Novum Testamentum Graece durch
Eberhard Nestle dar. Für seine Ausgabe des griechischen Neuen Testaments legte er drei Editionen
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zugrunde, nämlich die von Tischendorf, Westcott/
Hort und Weymouth; letztere wurde seit 1901
durch die Ausgabe von Bernhard Weiß ersetzt.
Nestle verglich deren Textentscheidungen miteinander und wählte für seinen Text an den Stellen,
wo sich die Ausgaben unterschieden, diejenige
Variante, die von zwei Ausgaben bevorzugt wurde.
Dieses Verfahren wurde bis zur 25. Auflage von
1963 beibehalten.
Erst sein Sohn Erwin Nestle fügte der 13. Auflage von 1927 einen einheitlichen „kritischen Apparat“ bei, der die wichtigsten Lesarten und ihre Bezeugung in Handschriften, alten Übersetzungen
und Kirchenväterzitaten enthielt. Diese Angaben
waren jedoch nicht direkt aus den Primärquellen,
sondern allein aus den griechischen NT-Ausgaben
geschöpft. Erst als Kurt Aland in den Fünfzigerjahren in die Arbeit eintrat, wurden die Lesarten
bzw. Varianten im „kritischen Apparat“ für die
25. Auflage von 1963 anhand der griechischen
Handschriften überprüft und gegebenenfalls korrigiert.
Die 26. Auflage von 1979 bildete einen grundlegenden Neuansatz, indem auf der Basis der
inzwischen gesammelten Handschriften geprüft
und entschieden wurde, welche Lesart wahrscheinlich ursprünglich war. Das Ziel ist, den
„Urtext“ − besser den Ausgangstext − wiederzugewinnen, der in den ersten Sammlungen neutestamentlicher Schriften um 100 n.Chr. gestanden
hatte.
Bis heute konnten im Institut für neutestamentliche Textforschung in Münster viele Handschriften gesammelt und ausgewertet werden. Die
ältesten sind die Papyri, die in Großbuchstaben
(Majuskeln) auf Papyrus geschrieben wurden und
die ihre Vorlage getreu wiedergegeben haben; meistens sind allerdings nur kleinere Textabschnitte
erhalten. Die 28. Auflage des Nestle-Aland führt
127 Papyri auf, deren älteste Fragmente im ersten
Viertel des 2. Jahrhunderts n.Chr. entstanden
sind. Die sogenannten Majuskeln − bisher über
300 − sind in Großbuchstaben auf Pergament
geschrieben; die ältesten und besten, die das Neue
Testament fast vollständig enthalten, stammen
aus dem 4. Jahrhundert (Sinaiticus und Vaticanus). Außerdem gibt es über 2800 Minuskeln
(in Kleinbuchstaben), die bis ins 9. Jahrhundert
zurückreichen.
Schon daran wird deutlich, dass die Basis
für einen zuverlässigen griechischen Text des
Neuen Testaments heute eine ganz andere ist als
zurzeit von Erasmus und Luther. Wir können
so weitestgehend den ursprünglichen Text des
Neuen Testaments rekonstruieren, auch wenn
Impulse
an einzelnen Stellen Unsicherheiten bleiben, die
theologisch jedoch nicht relevant sind.
Verbesserungen der 28. Auflage
des Nestle-Aland
Im Institut für neutestamentliche Textforschung
wird auch an einer Editio Critica Maior (ECM)2
gearbeitet. In dieser großen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments werden alle Lesarten
aus den Handschriften aufgeführt. Bisher ist
sie nur für die katholischen Briefe (Jak, 1-2Petr,
1-3Joh, Jud) erschienen und hat in diesen Briefen
zu einer Neubewertung bisheriger Entscheidungen hinsichtlich des ursprünglichen Textes
geführt. Gegenüber der 27. Auflage wurde der
Text an 34 Stellen geändert. Wo eine Entschei-
dung nicht möglich war, werden nun zwei Lesarten als gleichrangig angegeben. Der „Apparat“
wurde grundlegend überarbeitet und klarer
strukturiert. Die Verweisstellen am Textrand
sind erweitert und verbessert. Außerdem werden
die synoptischen Parallelen klarer dargestellt.
Insgesamt ist die 28. Auflage so ein noch besseres Arbeitsmittel für Exegeten geworden.
Die für 2013 geplante digitale Ausgabe der
28. Auflage wird wichtige Ergänzungen bieten:
Transkriptionen aller Papyri und der wichtigsten
weiteren Handschriften, Verknüpfung mit Originalabbildungen, Erklärung der Abkürzungen
und Handschriftenkennzeichen (Sigla) durch
Pop-up-Fenster sowie Suchfunktionen und Wörterbucheinträge.
Der griechische Text von Mt 4,20 - 5,6
1 Martin Luther, An die
Ratsherrn aller Städte
deutschen Landes, dass
sie christliche Schulen
aufrichten und halten
sollen (1524).
2 Novum Testamentum
Graecum – Editio Critica Maior Band 4: Die
Katholischen Briefe, hg.
von Barbara Aland u.a.,
2. rev. Auflage Stuttgart
2012.
Verweisstellen; Verweise auf Parallelberichte
in anderen Evangelien sind fett gedruckt.
Der „kritische Apparat“ nennt Textvarianten wichtiger biblischer Manuskripte.
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