Rationalitätskritik in Alfred Döblins Roman „Berge Meere und

Transcription

Rationalitätskritik in Alfred Döblins Roman „Berge Meere und
6
T.C.
EGE ÜNİVERSİTESİ
SOSYAL BİLİMLER ENSTİTÜSÜ
ALMAN DİLİ VE EDEBİYATI ANABİLİM DALI
RATIONALITÄTSKRITIK IN ALFRED DÖBLINS
ROMAN "BERGE MEERE UND GIGANTEN"
Yüksek Lisans Tezi
Canan AYHAN
Danışman: Doç. Dr. Nevzat KAYA
İZMİR - 2002
7
Vorwort
Ich möchte mich bei folgenden Personen, die eine wichtige Rolle bei der
Entstehung und Abfassung dieser vorliegenden Magisterarbeit gespielt
haben, herzlichst bedanken:
Zu allererst bedanke ich mich bei meinem Betreuer, Herrn Doz. Dr. Nevzat
Kaya, der mich mit großem Verständnis und stetiger Bereitschaft
unterstützt hat. Zu danken habe ich auch meinem Abteilungsleiter Herrn
Prof. Dr. Kasım Eğit, dessen Toleranz und Freizügigkeit ich besonders zu
schätzen weiß. Dann danke ich meiner Abteilung und meinen Freunden
Derya, Halit, Ferda, Sevinç, Levent, Aytekin und allen anderen, die ich
nicht mit Namen genannt habe, aber die mich in Zeiten, wo ich mich in
Streßsituationen wiederfand, stets verständnisvoll zu beruhigen wußten,
für eine bessere Stimmung sorgten und mich nicht allein ließen. Und
letztenendes danke ich meiner Familie, die ich immer an meiner Seite
wußte.
Canan Ayhan
Izmir, im August 2002
8
"Es gibt zweierlei Moderne, eine, die den Siegeszug
der Naturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert
und den damit verbundenen Fortschrittsglauben
beschreibt, und eine, die Umberto Eco definiert als
'Religiösität des Unbewußten, des Abgrunds, des
Fehlens der Mitte, des Absolut Anderen.'"
(Martin Roda Becher, zitiert nach Frederick A.
Lubich)
9
SIGLE
Alfred Döblin:
Berge Meere und Giganten
= BMG
10
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
6
1. Das Schwinden der Männlichkeit und matriarchale Reminiszenzen
10
2. Technologie- und Kulturkritik
31
3. Dionysischer Eros vs. Apollinischer Logos
56
Schlußbemerkung
72
Türkische Zusammenfassung (Türkçe Özet)
74
Bibliographie
77
11
12
Einleitung
"Rationalitätskritik" impliziert im Sinne der vorliegenden Problematik die
Kritik an einer einseitigen Betonung von Vernunftsdenken, wie sie
spätestens seit Immanuel Kant bis in die heutige Zeit praktiziert und
theoretisiert wird. Genau diese europäische Haltung wird von Friedrich
Nietzsche in seiner frühen Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik"1 angeprangert. Zu dieser Auffassung bemerkt Erkme
Joseph, daß nach Nietzsche die einseitige Betonung des rationellen
Aufklärungsgedankens sogar zur "Erkrankung" der europäischen Kultur
geführt habe.2
Somit
kann
folgendes
ausgesagt
werden:
Die
einseitig
betonte
Rationalität3 ist eine Domäne der abendländischen, d.h. westlichen
Zivilisation. Diese Rationalitätsauffassung sieht in der sie umgebenden
Natur "nur" Material, welches mit Hilfe dieses Vernunftsdenkens auf
opportunistische Art systematisiert und "rationalisiert", somit ausgenutzt
wird. Der Ursprung dieser Weltauffassung kann zugespitzt auch in dem
Befehl der männlichen Gottheit der Genesis gesehen werden, welcher den
gerade erschaffenen Menschen mit folgender Aufforderung konfrontiert:
"Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch
untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter
1
Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie.
vgl.: Erkme Joseph: Nietzsche im "Zauberberg", Frankfurt a. M. , 1996, S. 7.
3
Es ist verblüffend, zu sehen, über welche Bedeutungsebenen das Wortfeld Ratio verfügt. Die
Benutzung des Wortes Ratio an sich zeugt von der besprochenen Einseitigkeit, denn es bedeutet in
Form von "Ratio": Seinsursache (im Sinne von Kausalität), "rational": begrifflich faßbar,
"rationalisieren": straffen, zweckmäßiger Gestalten. Der Begriff "Rationalismus" faßt die ganzen
Definitionen noch einmal zusammen, wenn die Bedeutung erörtert wird: "Geisteshaltung, die das
rationale Denken als einseitige Erkenntnisquelle ansieht." Aus alledem wird ersichtlich, daß alles,
was mit "Rationalität" zusammenhängt, eine andere Auffassung nicht einmal in Ansätzen (wie die
Definitionen offen darlegen) duldet (vgl. Duden Band 5: Fremdwörterbuch, Mannheim u.a. 1990,
Artikel “Rationalität”.)
2
13
dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden
kriecht."4
Schon in der Bibel bzw. dem Alten Testament wird der Mensch als ein
Wesen dargestellt, welches mit der "Verfügungsgewalt" über die ganze
Natur ausgestattet ist. Somit ist "Natur" nicht eigenständiges Subjekt,
sondern wird zum Objekt reduziert, über welches das Subjekt "Mensch"
beliebig verfügen kann, d.h. es handelt sich bei dem Verhältnis MenschNatur nicht um eine partnerschaftliche Interaktion, sondern um einen
einseitigen Verbrauch der natürlichen Ressourcen von Seiten des
Menschen. Bei allen diesen einseitigen Annäherungen an die Natur
vergißt der Mensch, daß er selbst ein Teil von ihr ist. Alfred Döblin kritisiert
ähnlich wie Nietzsche diese menschliche "Überheblichkeit" wenn er in
seinen "Bemerkungen zu 'Berge Meere und Giganten'" folgendes äußert:
"So: diese Menschen, nichts weiter als eine Bakterienart auf der Rinde
der Erde, werden übergewaltig durch Gehirn und Geschicklichkeit. Sie
nehmen den stolzen herrischen Kampf mit der Erde selbst auf." 5
Hinter dieser Bakterienart, die "herrisch" den Kampf mit der Erde selbst
aufnimmt, verbirgt sich also, das männlich-logozentrische Weltbild, der
angegriffene Teil steht damit für das Weiblich-Erotische. Zu entnehmen
ist, daß der Logos eine dem Manne angehörige Tatsache ist. Mit der
Vernunft will er die Fesseln der Natur also die Grenzen seiner Nichtigkeit
brechen und sich als Individuum durchsetzen. Dafür stellt er sich gegen
das Natürliche. Wie die Natur wird demnach auch die Frau als ein Objekt
gesehen, die der männlichen Vernunft untergeordnet ist. Die Menstruation
und die körperliche Deformation bei der Schwangerschaft zeigen die
Gebundenheit der Frau an die Natur, von der sie sich nicht loslösen kann.
4
Die Bibel, Stuttgart, 1985, 1. Mose 1, 28.
Alfred Döblin: Bemerkungen zu 'Berge Meere und Giganten', in: Aufsätze zur Literatur, Olten
und Freiburg i. Br., 1963, S. 349.
5
14
Ihre Zyklen sind die Zyklen der Natur, somit ist auch ihr der Kampf
angesagt. Im Gegensatz dazu ist die männliche Vernunft linear; sie ist wie
ein errigierter Penis auf den Himmel verweisend. Der westliche Logos, der
diese starre Haltung in sich verbirgt, setzt allen Formen feste Grenzen.
Alles muß geplant verlaufen; unvorhergesehene Veränderungen sind
verhaßt. Wenn aber etwas aus der Kontrolle gerät, muß man darüber Herr
werden. In diesem Sinne wird die Frau als ein veränderliches Objekt, als
grotesk6 und fremd empfunden und weil sie mit der Natur unter einer
Decke zu stecken und genauso zügellos erscheint, ist der Kampf
unausweichlich.
Anhand der von Vernunft geprägten Disziplinen, Wissenschaft und
Technologie, will man die Natur künstlich rekonstruieren. Somit bezweckt
man das Elixier des ewigen Lebens zu finden. Mit diesen sich
fortentwickelnden positivistischen Disziplinen will der westliche Mensch
den Gott und Schöpfer spielen. Die jegliche Produkion für das
Konsumwesen, immer fortschreitende Entwicklungen in Forschung und
die neuesten Erfindungen in der Gentechnik sind die sichersten Daten, die
dieses Ziel veranschaulichen. Einerseits wird die Forschung des "Klonens"
weitergeführt, welches mit dem Klonen des Schafes Namens "Dolly"7
angefangen
hat,
andereseits
wird
die
neueste
Forschung
einer
"künstlichen Gebärmutter"8 zur Schau gestellt. Man schreitet auf dem Weg
zur „Unsterblichkeit“ immer weiter voran in dem man eben künstlich die
Natur nachahmt. Freuds These, die die Frau mit dem „Penisneid“
beschuldigt, widerspricht diesen Entwicklungen, eher kann davon
gesprochen werden, daß nicht die Frau den Mann, sondern daß der Mann
die schöpferische Kraft der Frau und der Natur beneidet, dabei kann man
also von „Gebärmutterneid“ sprechen. Dieser männliche Logozentrismus,
wie oben aufgezeigt, hat die Absicht, die Rolle des weiblichen Prinzips
aufzulösen.
6
vgl. Nevzat Kaya: Der Gott des Grotesken. Eine literaturanthropologische Studie, Izmir, 2000, S. 2.
http://www.aerztezeitung.de/docs/2001/11/29/216a2301.asp?cat=/medizin/gentechnik/klonen
8
http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/99537
7
15
Diese Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, Alfred Döblins Roman "Berge
Meere und Giganten" aus diesen aktuellen Blickwinkeln zu "lesen", wobei
die Verflechtung mit "klassischen" Texten auf keinen Fall zu kurz kommen
soll. In die Interpretation soll die Tradition der abendländischen
Rationalitäts- und Zivilisationskritik einfließen.
16
1. Das Schwinden der Männlichkeit und matriarchale Reminiszenzen
Ein Blick auf die europäische Literatur des letzten Dezenniums des
19. und des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts erinnert hinsichtlich der
weiblichen Figuren an ein matriarchales Panoptikum: Zu den gängigsten
Motiven gehören im Fin de siècle9 neben der femme fragile die femme
fatale, die männermordende Frau, deren populärste Ausformungen sich
zwischen der Oscar Wilde'schen "Salome" und Alfred Kubins "Melitta"
bewegen. Auch kann durchaus behauptet werden, daß sich hinter Lene,
der Frau des Bahnwärter Thiel in der gleichnamigen Novelle von Gerhart
Hauptmann, eine archaische "Überfrau" versteckt. Es ist sicherlich keine
Übertreibung zu behaupten, dass diese Form der "Diskussion ums Weib"10
eine der spezifischsten Eigenheiten dieses Zeitalters darstellt. Auch der
zeitgenössischen Kritik bleibt dieser Tatbestand nicht verborgen:
"Das Überweib ist eine wahre Landplage der modernen Dichtung
geworden."11
Ein äußerst misogyner Diskurs zeichnet diese erwähnte "Diskussion" aus:
Frauen werden als Mängelwesen deklassiert und die zeitgenössische
Wissenschaft wird nicht müde, auf allen Gebieten diese "Mängel" ausfindig
zu machen, um somit dieselben "beschreiben" zu können. Als Gallionsfigur
dieser wissenschaftlichen Tätigkeit könnte Sigmund Freud fungieren, der
nach Schlesier
"(...) nicht müde (wird) zu versichern, daß Weiblichkeit Kastriertheit, die
Frau ein kastrierter Mann sei."12
9
Vgl. Nevzat Kaya: Motive und ihre Darstellungsmöglichkeiten im Fin de siècle.
Unveröffentlichte Dissertation, Ege Üniversitesi, Sosyal Bilimler Enstitüsü, Izmir, 1997.
10
Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, Ffm., 1979, S. 43.
11
Leo Berg: Der Übermensch in der modernen Literatur, München u.a., 1897, S. 209.
12
Renate Schlesier: Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud, Ffm., 1990, S. 36.
17
Wenn Weiblichkeit Kastriertheit ist, so entpuppt sich das Patriarchat als
Vertreter einer vollkommenen "Ordnung", deren oberstes Gebot es ist,
diese Ordnung zu erhalten. Wenn diese das Patriarchat erhaltende
Männlichkeit schwindet, so ist dieses Schwinden mit Freuds "Kastration"
gleichzusetzen: Nicht umsonst verkündet Frederick A. Lubich für das
Zeitalter der Jahrhundertwende
"(...) ein Gespenst geht um in Europa, und es heißt Magna Mater."13
Ein Gespenst, das der fortschrittsgläubigen männlichen "Kultur" Angst
einflößt: Die Untersuchung "Das Böse ist eine Frau" von Bram Dijkstra
trägt den bedeutungsvollen Untertitel "Männliche Gewaltphantasien und
die Angst vor der weiblichen Sexualität"14. Die Frau scheint auf
archetypische Art der männlichen Kultur feindlich gesonnen zu sein. Auf
die Spitze wird diese Ansicht von Stanislaw Przybyszewski gebracht. In
der folgenden Passage wird die (bewußte und/oder unbewußte) Ansicht
einer ganzen Generation, zu welcher zweifellos auch Alfred Döblin zählt,
zur Sprache gebracht:
"Ich sah in endlosem Aufbau die ganze Kultur zum Himmel ragen, und
weit und breit lagen die Fundamente meinem Auge sichtbar: die
Herrschaft des Weibes - das Matriarchat. (...) Aus allen Rahmen meiner
Bilder tauchte das Weib hervor, der kosmische Weltwille, die Allmutter,
die Herrscherin: Mylitta, die babylonische Hure, die niemals ein
Verlangen stillte, die den Begnadeten den Flammen preisgab - Isis, die
ein Sonne in unbefleckter Empfängnis gebar: kein Sterblicher hat ihr die
Röcke hochgehoben! Isis, die Mutter der Könige, Gattin des Mondstiers,
13
Frederick A. Lubich: Thomas Mann Der Zauberberg. Spukschloß der Großen Mutter oder Die
Männerdämmerung des Abendlandes, in: DVjs, Nr. 4, 1993, S. 730.
14
Bram Dijkstra: Das Böse ist eine Frau. Männliche Gewaltphantasien und die Angst vor der
weiblichen Sexualität, Hamburg, 1992.
18
die heilige Kuh, die Königin der ganzen Erde - Athene, die niemals die
Dunkelheit des Mutterschoßes sah, geboren aus dem lichten Gefilde des
Gehirnes - Die heilige Jungfrau der teutonischen Wälder, in der sich
Odins Schöpferwille offenbarte - (...) Hohn dir, alter Jahväh -warum
hast du gelogen, als du sprachst: in Schmerzen wirst du deine Kinder
gebären, unter dem Willen deines Mannes wirst du stehen und er wird
dich unterjochen - Hohn dir, Hohn! Denn über alles Seiende, trotz deiner
Worte, herrscht das Weib! - "15
Eine phallisch in den Himmel ragende männliche Kultur, die ihrem
archaischen Fundament - dem mythischen Matriarchat - bewußt wird, ist
das Erbe der misogynen abendländischen Kulturgeschichte. Nach Erich
Neumann handelt es sich bei dieser Bewußtwerdung um nichts anderes
als das Archetyp der Großen Mutter, die zwei (gegensätzliche)
Elementarcharaktere in sich vereinigt: das der fruchtbaren und das der
furchtbaren Großen Mutter16. In ambivalenter Weise vereinigt dieser
Archetyp sowohl den lebensspendenden (positiver Elementarcharakter),
als
auch
den
lebensvernichtenden
bzw.
hemmenden
(negativer
Elementarcharakter) Aspekt des Großen Weiblichen. Camille Paglia
bemerkt in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Weiblichen und der
abendländischen Kultur folgendes. Sie bezeichnet die Denker des
klassischen Athen als die ersten Aufklärer, da für sie Geschichte
gleichzusetzen ist mit Fortschritt und somit die Geburt der Zivilisation aus
der Barbarei ermöglicht wird. Die Errichtung der Zivilisation ist nur durch
Aussparung des Weiblichen möglich:
15
Stanislaw Przybyszewski: Vigilien, in: Studienausgabe in acht Bänden und einem
Kommentarband, Band 1: Erzählungen 1, Paderborn, 1990, S. 50ff.
16
Vgl. Erich Neumann: Die Große Mutter. Ein Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des
Unbewußten, Zürich u.a., 1997 (11. Aufl.), S. 123ff.
19
"Pech für die Frauen, wenn das Ideal der athenischen Demokratie (...)
einen Sieg über die Macht des Weiblichen voraussetzt."17
Auch im Roman dienen Frauenfiguren dazu, um die kulturelle Regression
bzw. das, was Paglia mit den Worten "Der Himmelskult stürzt in den
Erdkult zurück."18 umschreibt, zu indizieren. Das im Roman eine Zeit der
Revolutionen und Umbrüche bevorsteht, ist in erster Hinsicht an den sich
wandelnden Geschlechterrollen ersichtlich: Männer verlieren an der
(kulturbringenden) Kraft, während Frauen "erstarken".
Von der Dekadenz des Patriarchats oder der "Männerdämmerung" des
Abendlandes sind in erster Linie die weißen (und somit abendländischwestlichen) Menschen betroffen:
"Und es war ein sonderbares Geschick, das damals die eisernen weißen
Volksstämme traf: ihre Fruchtbarkeit ließ nach. Während ihr Hirn zu
immer glänzenderen Taten vordrang, verdorrte die Wurzel. Gleichmäßig
sanken im Laufe der Jahrzehnte bei den europäischen Völkern die
Kinderzahlen." (BMG, 19)
In diesem Abschnitt Döblins sind sehr viele philosophische und literarische
Intertexte vorhanden und diese Tatsache zeugt von der immensen
Tiefenstruktur des Textes, denn die "eisernen" weißen Volksstämme sind
die Erben der Römer, das "eiserne" Volk, welches mit Waffengeklirr die
ganze Welt erobert hat. Die Römer symbolisieren hier aber auch die
Expansion der europäischen Kultur, welcher sich die ganze Welt
unterworfen hat. Gleichzeitig sind die Römer dasjenige Volk, welches dem
westlichen Kulturkreis das Römische Recht hinterlassen hat: eine
juristische
Manifestation
kulturbringende
17
18
und
des
europäischen
-schaffende
Eigenschaft
Camille Paglia: Masken der Sexualität, München, 1995, S. 131.
ebd.
Patriarchats,
dermaßen
dessen
überhand
20
genommen hat, welches sich in dem übermäßig entwickelten Gehirn
offenbart: im Gegensatz dazu leiden die der chtonischen Natur geweihten
Organe des Unterleibs: die Geschlechtsorgane funktionieren nicht wie sie
sollten. Im Rahmen der Dichotomie zwischen Kopf und Unterleib fungiert
jedoch auch Goethes Ballade von den "Grenzen der Menschheit" im Sinne
eines Menetekels als Intertext:
"(...) Denn mit Göttern/Soll sich nicht messen/Irgend ein Mensch./Hebt
er sich aufwärts/Und berührt/Mit dem Scheitel die Sterne,/Nirgends
haften dann/Die unsichern Sohlen,/Und mit ihm spielen/Wolken und
Winde.
Steht
er
mit
festen,/Markigen
Knochen/Auf
der
wohlgegründeten/Dauernden Erde,/Reicht er nicht auf,/Nur mit der
Eiche/Oder der Rebe/Sich zu vergleichen. (...)"19
Hier wird auf den Gegensatz zwischen dem nach den Sternen greifenden
und sich gottähnlich auffassenden, wissenschaftlich-rationellen Menschen
und dem seinen tierischen Instinkten verfallenen Menschen eingegangen.
Im Zusammenhang mit dem Zitat von Döblin ergeben sich äußerst
aufschlußreiche Parallelen intertextueller Natur: die besagte übermäßig
rationelle Entwicklung macht aus den Menschen des westlichen
Kulturkreises
Gehirnwesen,
die
zu
immer
"glänzenderen
Taten"
aufbrechen; das entspricht dem Goethe'schen Griff nach den Sternen und
das impliziert auch die Katastrophe der Menschheit, denn nach Goethe
haften
jedoch
die
Sohlen
nicht
mehr
sicher
auf
der
"wohlgegründeten/Dauernden Erde": der Mensch verliert jeglichen Bezug
zur Natur, deren Teil er im Grunde nach wie vor ist. Bei Döblin wird das mit
der "verdorrte(n) Wurzel" versprachlicht. Der Verlust der Beziehung zur
19
Johann Wolfgang von Goethe: Grenzen der Menschheit, in: Wulf Segebrecht (Hrsg.): Gedichte
und Interpretationen. Klassik und Romantik, Stuttgart, 1984, S. 23.
21
Natur zeigt sich in den zurückgehenden Kinderzahlen und in der Impotenz
der (weißen) Männer.
Von dieser Unfruchtbarkeit scheinen jedoch die (weißen) Frauen nicht
betroffen zu sein, denn
"Die Frauen taten, was sie mochten, und mit geringerem Sentiment als
die Männer. Sie hatten zur Wut der weißen Männer keinen Sinn für die
Weißen, sondern mischten sich unter die Fremden. Die Männer
verpönten die in den Tropen gewöhnliche Verbindung mit Farbigen,
aber die Frauen entwichen ihnen, taten im Lande, was die Männer in
den Tropen getan hatten." (BMG, 35)
Im Gegensatz zu den weißen Männern ist also den weißen Frauen ihr
Bedürfnis nach Sexualität erhalten geblieben: aus dem vorher Gesagten
bedeutet das, daß den Frauen die Verbindung zur Natur niemals
verlorengegangen ist. Ihre Bedürnisse befriedigen sie mit farbigen
Menschen, "(d)en stinkigen Afrikanern" (BMG, 30) von denen es im
Roman heißt:
"Dem Gesindel, dessen Kraft worin liegt? In den Lenden. In den Hoden
der Männer, im Bauch der Weiber." (BMG, ebd.)
Die auf den ersten Blick rassistisch erscheinende Feststellung entpuppt
sich
jedoch
als
folgerichtige
Konsequenz:
den
Völkern
der
"unterentwickelteren" Regionen der Erde ist ihre "Fruchtbarkeit" erhalten
geblieben. Die weißen Frauen "paaren" sich mit den besagten
"Afrikanern". Daraus erfolgt die Parallele zwischen Männern der
unterentwickelten Länder und den weißen Frauen: Die weißen Frauen
22
offenbaren sich somit für ihre weißen Männer als "die nahe Fremde"20 und
präfigurieren mit dieser ihrer Eigenschaft den langsamen aber sicheren
Umschwung in Richtung des negativen Elementarcharakters des oben
erwähnten
Großen
Weiblichen:
das
logozentrische
Prinzip
wird
unterminiert von exotisch-orientalisch anmutenden (und somit erotischen)
Elementen. Ohne Zweifel fungiert hier die Frau als das der Natur nicht
entfremdete Geschlecht, die aus diesem Grund von der Dekadenz des
Patriarchats nicht betroffen ist. Camille Paglia bemerkt zu dieser
Problematik folgendes:
"Die Gleichsetzung von Frau und Natur ist der heikelste und
anfechtbarste Punkt in dieser historischen Gedankenkette. War diese
Gleichsetzung je zulässig? Ist sie es heute noch? Die meisten
feministischen Leserinnen werden sich dagegen wehren. Ich denke
jedoch, sie ist kein Mythos, sondern entspricht der Wirklichkeit."21
Diese Auffassung scheint auch Alfred Döblin zu vertreten, denn in Bezug
auf die vom patriarchal-logozentrischen System "domestizierten" Frauen
bemerkt er folgendes. Bei den Frauen, die sich mit den Fremden mischen,
handelt
es
sich
um
"gewöhnliche"
Frauen.
Es
gibt
aber
auch
andersgeartete Frauen:
"Die stärkeren, die Organisatorinnen, die mächtigen Herrinnen und
Schöpferinnen von Riesenanlagen, die geschickten und waghalsigen
weiblichen
Experimentatoren,
die
kräftigen
großen
muskulösen
Menschen mit den langen Schritten und den prüfenden harten Zügen
bildeten unter sich die Vorstellung aus, eine überlegenere Rasse zu sein.
Sie zogen sich dahin zurück, wo sie vor einem erneuten Sturz sicher
20
Sigrid Weigel: Die nahe Fremde - das Territorium des 'Weiblichen'. Zum Verhältnis von
'Wilden' und 'Frauen' im Diskurs der Aufklärung, in: Thomas Koebner u.a. (Hrsg.): Die andere
Welt. Studien zum Exotismus, Berlin, 2000, S. 171-199.
21
Camille Paglia: S. 21.
23
waren; sie wurden die Avantgarde des Kampfes für die aufgeblühte,
riesenhaft entfaltete und sich entfaltende Technik. Wenig Mutterliebe
sahen sie; wenig Mutterliebe konnten sie geben." (BMG, 35)
Hinter dieser Art von Frauen, die sich für "eine überlegenere Rasse" hält,
ist als Intertext die Verwandlung der fruchtbaren Muttergöttin in eine dem
Manne als Hilfskraft dienende und von allen ihren chtonischen
Eigenschaften gereinigte patriarchale Dienerin enthalten, die sich in der
klassischen Mythologie als Athene manifestiert. Sie zeichnet sich durch
Affinität zu männlicher Technologie aus. Zu ihren Lieblingen gehören
intelligente und kluge Männer wie Odysseus.
Vor allen Dingen gemahnt die fehlende Mutterliebe, die sie nicht
weitergeben können an diese Göttin der archaischen und klassischen
Antike, von der behauptet wird, daß sie "die apollinische Antwort auf das
Problem der jedem Mann nachlaufenden Frau"22 sei. Und mit diesen
Eigenschaften vertritt sie das logozentrische Prinzip, ist sie doch nichts
anderes als die göttliche Tochter Vernunft. Athene, ursprünglich eine
Manifestation der ursprünglichen Großen Göttin in ihrem Aspekt als
Weisheitsgöttin, erfährt eine Transformation ohnegleichen. Von der
olympischen Athene wissen wir, daß sie zur gehorsamen Tochter des
Zeus wurde, die sogar aus seinem Haupt entsprang, denn im Patriarchat
konnte Weisheit nur männlichen Ursprungs sein.23
Daraus
folgt
die
"Vermännlichung"
der
besagten
Frauen
ohne
"Mutterliebe", denn sie haben genausowenig wie Athene, die dem
väterlichen Haupt entsprang, eine Mutter. Sie sind die "Mütter" von
technologischen Errungenschaften und Maschinen. Sie werden sogar mit
diesen identifiziert. Eine ähnliche Gleichsetzung haben wir in dem
populärsten Roman des europäischen Fin de siècle, namentlich in Joris-
22
23
Camille Paglia: S. 132.
Vgl. Heide Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros, München, 1993, S. 44.
24
Karl Huysmans' "A Rebours".24 Die Gemeinsamkeit besteht nicht nur darin,
daß technologische Errungenschaften mit einer Frau gleichgesetzt
werden, sondern diese dieselbe rassistische Note aufweisen wie bei Alfred
Döblin, d.h. die heutigen "unmütterlichen" Fotomodells werden von diesem
besagten literarischen Topos von der "angepaßten patriarchalischen Frau"
vorweggenommen. Der Natur wird vorgeworfen, die Frau überhaupt kreiert
zu haben:
"Und vor allem jenes ihrer (gemeint ist die Natur, C. A.) Werke, das am
köstlichsten sein soll, dessen Schönheit nach aller Ansicht am
ursprünglichsten und vollkommensten ist: die Frau. Hat der Mann nicht
seinerseits ganz allein ein lebendiges künstliches Wesen geschaffen, das
ihr hinsichtlich plastischer Schönheit reichlich ebenbürtig ist? Gibt es
hienieden ein in den Freuden des Fleisches erzeugtes und aus den
Schmerzen der Gebärmutter entstandenes Wesen, dessen Modell, dessen
Typ glänzender und blendender ist als jener der beiden Lokomotiven, die
auf den Linien der Nordbahn fahren?"25
Bei der einen Lokomotive handelt es sich um "eine herrliche Blondine mit
schriller Stimme"26, bei der anderen um "eine stattliche und düstere
Brünette"27: alles rationalisierte Frauen, vor allem ist ihre Natur
"wegrationalisiert", indem die Distanz zur Natur durch den anderen
(nämlich
technischen
und
nicht
natürlichen)
Zeugungs-
und
Geburtsvorgang unterstrichen und dadurch bekräftigt wird. Und dieser
Kreationsvorgang, welcher parthenogenetisch nur von männlicher Seite
erfolgt, schließt den Kreis, welcher sich kulturhistorisch um die Göttin
24
Vgl. Nevzat Kaya: "Tellurische" Rationalitätskritik. Zur Weiblichkeitskonzeption in Alfred
Döblins Berge Meere und Giganten, in: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Bergamo 1999,
Bern, 2002, S. 131.
25
Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich, Zürich, 1986, S. 84ff.
26
ebd. S. 85.
27
ebd.
25
Athene rankt. Somit manifestiert sich die Dekadenz des Patriarchats in
dem
dem
Text
eingeschriebenen
Mythologem
von
Athene
und
unterstreicht somit unsere These, daß durch diese Gleichsetzung alle
Stadtschaften, die im Roman vorkommen, dem klassischen Athen
entsprechen, welche für die Blütezeit der klassischen Antike, somit auch
für die Glanzzeit des Patriarchats steht.
Die Auflösung dieser männlichen Ordnung (die von Athene symbolisiert
wird) liegt in zwei anderen mythischen Gestalten beschlossen, die eine
zentrale Position in diesem Rahmen einnehmen. Bei der einen Figur
handelt es sich um die sogenannte Melise von Bordeaux, bei der anderen
um Venaska, von der das Heil für die Menschheit ausgeht. Meines
Erachtens bestätigen diese zwei weiblichen Figuren die These von Johann
Jakob Bachofens "Das Mutterrecht"28 (1861), wonach sich patriarchal
erschöpfte Kulturen sich erneut matriarchalen Utopien öffnen würden.
Die Frauen im Roman zeichnen sich "durch den nicht nachlassenden
Kampf (...) um die Vorherrschaft" (BMG, 41) aus:
"Bei zahllosen Männern dieser Periode bestand schon voll die Neigung
vor den Weibern den Rückzug anzutreten." (BMG, 41)
Erst die sexuelle Freiheit, die die Frauen erlangt haben, dann auch auf
politischer Ebene: hier wird Bachofens regressive Utopie von der
Etablierung
der
Weiberherrschaft
literarische
Wirklichkeit.
Es
ist
erstaunlich, daß die Döblin-Forschung diese Problematik bis jetzt nicht
aufgegriffen hat, zumal sich der rezeptionsästhetische Zusammenhang
geradezu aufdrängt:
28
Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten
Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Basel, 1948.
26
"Und am raschesten entarteten die Frauen. Gigantische Figuren gab es
um diese Zeit unter ihnen, großartig in Wollust und Herrschsucht."
(BMG, 42)
Zu den herausragendsten Figuren dieser Epoche zählt Melise von
Bordeaux, ein Weib
"(...) in dessen Adern Nigritierblut floß, gemischt mit dem der
italienischen und westfranzösischen Landschaft (...)" (BMG, 42)
Hier wird wieder zweifellos die Tatsache angesprochen, daß es sich bei
dieser Frau um keine apollinische Figur handelt, sie ist weder blond noch
blauäugig: Camille Paglia vertritt hierzu folgende Auffassung:
"Das apollinische Licht verlieh meiner Ansicht nach der Blondheit neue
Bedeutung und gab Europa eines seiner rassistischen Motive (...)"29
Allein schon durch diese Äußerlichkeit ist Melise von Bordeaux
kulturhistorisch einzuordnen: ihr Körper ist dialogisch, d.h. sie ist ein
Mischling, aus der apollinischen Perspektive gesprochen, es handelt sich
bei ihr um einen Bastard, somit stellt sie eine Feindin des männlichen
Systems der Athene dar und gehört somit zu der dionysischen Seite. Da
aber Melise von Bordeaux quasi den Einbruch in das apollinische Vakuum
darstellt,
zeichnet
sie
eine
ungeheure
Regression
in
ihren
Verhaltensweisen aus: Das, was das antike Griechenland als "barbarisch"
bezeichnete und was nach und nach zu einem Begriff reduziert wurde,
dessen
Benutzung
die
Abwertung
von
fremden
(primitiven
und
archaischen) Sitten und Gebräuchen konnotiert, wird unter der Herrschaft
dieser Melise Wirklichkeit. Sie repräsentiert dem Wandlungskreis des
Großen Weiblichen von Erich Neumann zufolge die Göttinnen Kali, Hekate
29
Camille Paglia: S. 100.
27
und die Gorgo. Somit steht sie für die Todesmysterien und sorgt für
Krankheit, Auslöschen, Tod und Zerstückelung: Melise von Bordeaux
entpuppt sich dieser archetypischen Analyse zufolge als die Große Mutter
in ihrem absolut negativen Aspekt als "Furchtbare Mutter".30
Diese Melise ist eine selbsternannte Königin, die sogar ihre Priesterinnen
in den Stand von Göttinnen erhoben hat. Sie hat die Gewohnheit, religiöse
Feiern ihr zu Ehren in der eigens dafür errichteten Kathedrale zu
zelebrieren:
"Es waren die starken Männer, die schönen schlanken weißen, Gatten
und braune Jünglinge, üppige strotzende Mädchen und Frauen, die sie
zu sich nahm und von der Erde verbannte. War eine tiefe Seligkeit, die
Melise empfand, ihr Zepter zur Seite der Priesterin gebend, wenn sie den
Mann, das Weib empfing, umarmte. Wie es sich wand, warm weich; sie
wußten nicht, waren sie begnadigt oder verurteilt. Aber sie waren
begnadigt. Die Königin zog sie an sich, war aufgestanden. Drückte die
Gesichter an ihre Arme, die offenen schweren Brüste. Ihre Hände glitten
an den Gesichtern Schultern Leib Schenkeln entlang. Sie berührte
liebkosend die Heimlichkeiten der Leiber . Die Priester und
Priesterinnen hingefallen auf die Knie sangen abgewandt Lieder. In dem
Menschen, den sie umschlang, entstand eine sanfte Verwirrung.
Träumend wild griff das an den Hals, der sich ihm bot, wühlte sich gegen
den festlich grausigen Kopf, die starken Schultern. Da war sein
Schicksal da. Der Kopf, der eben noch nach dem Mund Melisens gesucht
hatte, bog sich leicht stöhnend beiseite. Der nackte Leib wogte hin und
her, wie auf der Suche nach einer Begegnung, die er nicht fand.
Während Persephone sich in ihren Stuhl fallen ließ, trunkene Augen, das
Gesicht in schluchzender Verzückung, unter der düsteren und
wimmernden Musik, die wellenartig aufquoll und toste, rollte von ihr der
Mensch ab, der einer gewesen war und den sie jetzt beherrschte, in sich
30
Erich Neumann: S. 81.
28
trug. Ein Leib in sie eingegangen, hergerissen von den Äckern, der
Erde." (BMG, 47)
Auf diese lüsterne Art und Weise bringt Melise von Bordeaux ihre Opfer
um. Sie selbst nennt "sich aus einem dunklen Grunde Persephone" (BMG,
46). Aus der oben erwähnten Perspektive, die Athene in den
logozentrisch-rationalen Mittelpunkt rückt, erscheint es nur folgerichtig und
konsequent, dessen Gegenpart den Namen Persephone zu geben. Die
rationale Athene stößt hier an die Grenze der irrational-chtonischen
Persephone: Kultur stürzt hier zurück in Natur, denn Persephone ist die
chtonische Gottheit schlechthin, da sie die Herrscherin neben Hades in der
Unterwelt ist. Sie ist nicht spirituell-solar wie Athene, sondern materielllunar. Zudem ist sie die Tochter der griechischen Göttin der Fruchtbarkeit
und des Kornes, der Demeter. Die Persephone des Romans weist
psychopathologische Züge auf, d.h. sie ist in einer Regression befangen.
Hier integriert meines Erachtens nach Alfred Döblin das Mythologem von
der Entführung der Persephone von seiten des Gottes der Unterwelt,
Hades. Indem Hades Persephone entführt, entraubt er sie gleichzeitig
ihrer Mutter Demeter: nun ist Athene genauso "mutterlos" wie Persephone,
aber das, worauf Athene stolz ist und sie zum männlichen Idol der
rationellen Vernunft macht, erfüllt Persephone, die erotisch-irrationale
archaische Göttin mit einer tiefen Depression, die sich in manischdepressiven Ausbrüchen der Melise von Bordeaux äußert. Somit ist das
Wüten der Melise von Bordeaux, wie sie Alfred Döblin beschreibt im Lichte
dieser mythologischen Intertexte, als der Einbruch einer "anderen"
Ordnung aufzufassen, einer Ordnung, die z. B. Geschichte nicht als
Fortschritt sieht. Melise von Bordeaux fungiert hier als das Weibliche,
welches sich als "Gefäß" kundtut, denn indem sie ihre Opfer auf ihrem
eigenen Körper wie Schlachtvieh ausbluten läßt, nimmt sie sie in ihren
eigenen Körper auf, d.h. die, die selbst keine Mutter hat und darunter
leidet, verweigert anderen auch das Recht, eine (gute) Mutter zu haben,
29
und erweist sich für sie als die Mutter in der Form der Mörderin. Dadurch
hemmt sie als archaische Fruchtbarkeitsgöttin in ihrem negativen Aspekt
das Blühen und Gedeihen in der Natur. Von Melise von Bordeaux wird
nämlich auch Folgendes gesagt:
"Sie tötete und entmannte Dutzende Männer, von denen sie annahm, sie
wären ihr untreu. Zugleich getötet und geschlechtsunfähig gemacht
wurden Frauen, die mit diesen Männern verdächtigt wurden." (BMG,
44)
Somit repräsentiert die Persephone des Romans auch die wegen der
Entführung ihrer Tochter zürnende Demeter:
"Sie aber will ihre Tochter sehen und sonst nichts: Weder auf den Olymp
wolle sie wieder, noch werde sie die Erde Frucht treiben lassen."31
Auf Demeter verweisen auch die letzten Abschnitte des oben zitierten
Ausschnitts aus "Berge Meere und Giganten": da ist die Rede von
Menschen, die von den Äckern und der Erde hergerissen sind. Dieser Satz
ist so zu interpretieren: das Hergerissenwerden von der Erde und den
Äckern symbolisiert den Umschwung der gutmütigen und fruchtbaren
Demeter in die zornige und grausame Persephone und dieser Umschwung
repräsentiert die Rache der von dem Menschen ausgenutzten Natur. Auch
ein anderer Fingerzeig bestätigt die Richtigkeit unserer These: hinter dem
Namen Melise verbirgt sich unserer Auffassung zufolge keine geringere
Gottheit als die Große Mutter Mesopotamiens, Mylitta, deren Dienst "die
unbeschränkte Hingabe jedes Mädchens aus dem Volke an jeden Mann
verlangte."32 Aus diesem Beziehungsgeflecht resultiert die übermäßige
31
32
Hans K. Lücke u.a.: Antike Mythologie, Hamburg, 1999, S. 231.
http://p15096949.pureserver.info/voelkischer_sozi/BUECHER/BUECHER/REDEN/prostitution.htm
30
Geilheit der Melise. Laut Bachofen markiert diese Episode folgenden
kulturgeschichtlichen Zustand:
"An den Anfang der mutterrechtlichen Kulturgeschichte setzt er den
'regellosen Hetärismus', der durch eine völlige Promiskuität unter den
Geschlechtern gekennzeichnet ist."33
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Melise von Bordeaux einen
besonders heftigen und regressiven Einbruch in die patriarchal-athenische
Zivilisation darstellt.
Eine Entwicklung von diesem Zustand des "regellosen Hetärismus" stellt
die
Venaska-Episode
des
Romans
dar.
Im
Gegensatz
zu
Melise/Persephone ist hier von einer Göttin der Liebe die Rede:
unüberhörbar klingt im Namen "Venaska" die römische Göttin der Liebe,
Venus, an, deren griechische Version die Aphrodite ist.
Das Melise von Bordeaux und Venaska in einem dialektischen Verhältnis
zueinander stehen kann man auch an der Tatsache ablesen, daß es sich
bei dem Kapitel, in welchem die Melise-Episode erzählt wird, um das erste
Buch mit dem Titel "Die westlichen Kontinente" handelt; das Kapitel
hingegen, in welchem Venaska im Mittelpunkt steht, ist das neunte und
letzte Buch des Romans, bei dessen Namenspatron es sich eben um die
besagte Venaska handelt. Auch gibt es andere Fingerzeige hinsichtlich
des "gemeinsamen" Ursprungs dieser Frauengestalten: Melise von
Bordeaux herrscht wie ihr Name bereits andeutet, in der französischen
Landschaft um Bordeaux und Toulouse:
"Melise war in Bordeaux Toulouse königinartig Alleinherrscherin, ließ
sich eine Kathedrale an der Garonne südöstlich von Bordeaux' in der
33
Frederick A. Lubich: Max Frisch: "Stiller", "Homo Faber" und "Mein Name sei Gantenbein",
München, 1996, S. 30.
31
freien Landschaft anlegen, wo sie betete und sich verehren ließ." (BMG,
44)
Venaska erscheint im letzten Kapitel ebenfalls in dieser französischen
Landschaft und die Art der Charakteristik ihres Äußeren erinnert auch an
Melise von Bordeaux:
"Um Toulouse, im heiteren Gebiet der milchweißen Magnolien, der
Jukkastauden mit den gleben hängenden Glocken, bewegte sich Venaska,
eine schlanke Frau von braungelblicher Hautfarbe und schwarzem
dichtem Haar. (...) Der Schnitt ihrer Augen, die Modellierung ihres
Gesichts war mehr malayisch als europäisch. Manche nannten sie
Mondgöttin." (BMG, 464)
Im
Gegensatz
zu
Melise
erinnert
diese
Frau
nicht
an
eine
"Riesenschlange" (BMG, 43), sie ist schlank, jedoch ist sie von ihrem
Ursprung her genauso "fremd" wie Melise: bei Melise handelt es sich um
einen Mischling afrikanischer, d.h. südlicher Herkunft ("Nigritierblut");
Venaska besitzt eher ein asiatisches ("malayisches Gesicht"), d.h. sie ist
fernöstlichen Ursprungs. Im selben Atemzug der Lokalisierung ihrer
(östlichen) Herkunft wird dargelegt, daß sie von manchen "Mondgöttin"
genannt wird. Hier fungiert der Mond als Gegenpart zur rationellen Sonne
der Aufklärung. In dieser symbolischen Konstellation liegt eine weitere
Gemeinsamkeit beider Frauen beschlossen: die Richtungen ihrer Herkunft
sind höchst aufschlußreich. Wenn Melise vom Süden stammt und Venaska
vom Osten, so ist dies als Gegenpol zu Norden und Westen aufzufassen
(vgl. zu dieser Problematik nächstes Kapitel). Diese beiden Richtungen
sind gleichzeitig jedoch auch diejenigen, mit denen sich das rationelle
Abendland identifiziert: Europa liegt im Westen (von Asien aus gesehen:
Venaskas Herkunft) und im Norden (von Afrika aus gesehen: Melises
Herkunft).
Somit
mutiert
der
Mond
der
Venaska
auch
zu
32
rationalitätskritischen Gestirn der Romantik angesichts einer aufgeklärttechnischen und patriarchalen Sonnenkultur! Das Wilde, Irrationale und
Fremde
hat
seinen
Sitz
in
den
Europa
entgegengesetzten
Himmelsrichtungen und repräsentiert werden diese von Frauen. In diesem
Sinne bemerkt Sigrid Weigel äußerst schlüssig:
"Beide, Wilde und Frauen, werden charakterisiert durch das, was ihnen
mangelt im Vergleich zum 'Zivilisierten', zum Mann. Als (noch) nicht
Zivilisierte werden sie betrachtet als Naturwesen - Wesen, die der Natur
nahestehen und deren Bestimmung sich aus ihrer 'Natur' ableitet."34
Aus dieser Perspektive betrachtet, erweist sich Alfred Döblin als ein Autor,
der seine Rationalitätskritik auf einen stereotypischen und seit der
Aufklärung angewandten und überkommenen Diskurs stützt:
"Immer wieder wurde und wird die Frau mit der ungebändigten und der
bergenden Natur oder mit der zu erobernden Fremde identifiziert oder
aber als Naturwesen beschrieben."35
Der Unterschied besteht darin, daß nicht kolonialistische Bestrebungen
Melise und Venaska "entdecken" und "zivilisieren", ganz im Gegenteil, die
besagte "Kolonialisierung" betrifft Europa: das "Andere" bricht ein und
unterbindet die Fortentwicklung im gehabten rationalistischen Stil und
betont und fordert eher das Ungestüm-Erotische. Auf Melise von Bordeaux
z. B. trifft besonders die Bezeichnung als ein ungebändigtes "Naturwesen"
zu. Venaska hingegen erscheint nicht so ungestüm: sie ist "menschlicher"
als Melise, dadurch erscheint sie auch "zivilisierter". Aus dieser
Annäherung
an
rationelle
Verhaltensmuster
entpuppt
sich
die
Rationalitätskritik Döblins als eine im Sand sich totlaufende Welle: Wenn
34
35
Sigrid Weigel: S. 174.
ebd., S. 192
33
Melise (im ersten Kapitel!) dem oben erwähnten "regellosen Hetärismus"
in Bachofens System entspricht, dann entspricht Venaska (im neunten und
letzten
Kapitel!)
der
glanzvollen
aphroditischen
Zivilisation
des
matriarchalen Altertums.36 Daraus ist zu folgern, daß Döblin den Raster
der Geschichte der Zivilisation nach Johann Jakob Bachofen auf den
Roman projiziert: Die Entwicklung (rational-linear-apollinisch!) von Melise
zu Venaska bei Döblin entspricht dem evolutionistischen (und dadurch
patriarchalen) Gedankengut bei Bachofen, der die Entwicklung der
Menschheitsgeschichte im "regellosen Hetärismus" ansetzt, um sie zur
oben angesprochenen "aphroditischen Zivilisation" gelangen zu lassen:
von dort ist es nicht mehr weit bis zum Vaterrecht.
Venaska entpuppt sich aus dieser Perspektive als eine "gebändigte" und
"gezähmte" Melise, denn "Wer vor ihr stand, wen sie ansprach, besonders
Frauen, war erregt gebannt." (BMG, 465):
"Sie war ohne Scham. Als wenn sie sich bedrückt fühlte, warf sie am Tag
oft ihre leichte Jacke ab, bewegte sich, ging mit nacktem wiegenden
Oberkörper, tiefdunkel flach. Und dann, in Menschennähe, waren ihre
Arme nur Ranken, die etwas suchten, worum sie sich winden sollten. Ihre
Brust atmete leise, gleichmäßig und immer glückvoll. Andere
menschliche Ranken, Arme von Männern und Mädchen, schlangen sich
mit ihren zusammen. Venaska, Blick in Blick mit dem andern ruhend,
gurrte, sprach lieblich, kehlte." (BMG, 466)
Das, was bei Melise Zerstörung war, ist bei Venaska Schöpfung. Melise
erinnert eher an die Ungeheuer von Grönland. Venaska ist ebenfalls im
Bezug an das Grönland-Abenteuer zu sehen: Der Weitsprung in die
Zukunft landet in der Vorvergangenheit. Der Zivilisationsdrang holt längst
erstorbene vorgeschichtliche Lebewesen wieder herauf. Diese besiegt
man mit den Turmwesen (vgl. Eros vs. Logos). Diese Wachstums- und
36
Frederick A. Lubich (1996): S. 30.
34
Verwandlungsenergien wenden jedoch Regenten an ihrem eigenen Körper
an und mutieren zu den Giganten, die in kindlicher Tollerei sich an ihrer
Allmacht ergötzen.37 Ihre größte Freude ist es, die Landschaften in sich
auszusaugen, während ihr Plan die Vernichtung der Erde darstellt, die sie
ungemein hassen:
"Delvil war innerlich verhakt. Er haßte diese Welt, die Erde, die ihm dies
antat, die phantastische blöde schreckenlose Macht, die sich vor ihm
aufstellt und ihn wie ein wilder Bulle umwarf. (...) Es steckte eine Rache
der Erde dahinter, die ihr aber nicht bekommen sollte. (...) Einmal hatte
ein persischer König das Meer peitschen lassen, weil es seine Brücken
zerbrach: wie gut er den König verstand." (BMG, 414ff.)
Auf psychopathologische Art wird hier der Ast abgeschnitten, auf dem
man(n) sitzt: Delvil verkörpert hier die Naturfeindschaft, der Verfechter
einer künstlich-rationellen männlichen Welt, dadurch mutiert er auch zum
misogynen Vatergott, der da in der Bibel verkündet, daß die Menschen
sich die Erde untertan machen müßten. Alle diese Konstellationen
offenbaren Alfred Döblin als einen äußerst kulturkritischen Intellektuellen.
Es ist das weibliche Prinzip, präfiguriert von Venaska, daß der von der
faschistoiden apollinischen Kultur gepeinigten Erde zu Hilfe eilt. Es ist
jedoch von Bedeutung, daß Venaska diese Giganten nicht etwa haßt,
ganz im Gegenteil, Venaska, die "Liebesgöttin" sieht in diesen Giganten
ihre Brüder:
"Von den Riesen sprachen sie, die sich in Cornwall versammelten. Zu
den Riesen: das wollte sie. Ein bewußtloses tiefes Verlangen befiel sie,
hüllte sie ein; sie lechzte zu den Riesen." (BMG, 499)
37
Vgl. Volker Klotz: Alfred Döblins Berge Meere und Giganten, Nachwort in: BMG, S. 521.
35
Ein dialektisches Prinzip hält diese gegensätzlichen Wesen wie Venaska
und Delvil zusammen: es ist das Prinzip der Ganzheitlichkeit vor ihrer
schizophrenen
Entzweiung:
ein
Anklang
an
das
das
Weibliche
aussparende Patriarchat; der Mann symbolisiert die Versklavung der
Natur, während die Frau ihr Liebhaber ist. Im Gegensatz zu Delvil
vergöttert Venaska die Natur:
"Ich bin wieder da, liebe Bäche, liebe Birken, liebe Gräser. Ich habe
euch lange nicht gesehen. Ich war verzaubert." (BMG, 500)
Schließlich stößt sie auf ihre "Brüder", die inzwischen ganze Landschaften,
Gebirge, Meere und Flüsse in sich aufgesogen haben:
"Und zu den anderen Giganten, vom Bodminmoor bis zum Egmoor am
Bristolkanal schwoll Venaska" (BMG, 503)
Ihre Liebe zu den Riesen resultiert in der Liebe zu der Natur, denn durch
ihre Liebe zu den Riesen neutralisiert sie deren Haß und sie verenden und
geben die ganze absorbierte Landschaft frei. Aus dieser Perspektive
betrachtet erweist sich Venaska als die Kreiererin einer neuen Welt - der
Welt nach den "Giganten":
"Es waren nicht mehr die Giganten, auseinanderprasselnd in Wälder
Gebirge. Das donnernd sich anhebende Meer sprühte, wusch die
Massen, die abstürzten, lose Stämme, leichtes Gestein und die Schleier
ab. An Felsen zerrieb es sie, zersprengte sie in Lohe. Dann verebbte die
schwarze Meeresstraße von Norden. Das tausendarmige Gewässer zog
sich nach der Cardiganbucht zurück. Der Dampf über dem Meer
verwehte. Irland hob sich seenflutend wieder aus dem Wasser. Auf
Cornwall zerkrachten abrollend die steinernen Häupter und Arme der
Giganten." (BMG, 503)
36
Hier erweist sich Venaska als die Retterin der Menschheit und der Natur.
Es ist bezeichnend, daß sie nach dieser Aktion genauso verschwindet wie
die Giganten, denn anscheinend haben sich hier getrennte Prinzipien
eines Ganzen durch ihr zusammenprallen neutralisiert, wobei Venaska
dem erotischen Prinzip, die Giganten jedoch dem logozentrischen und
machthungrigen Prinzip verpflichtet waren.
37
2. Technologie- und Kulturkritik
Die westliche Zivilisation beruht auf geregelten Ordnungen. Kultur, Wissen
schaft und Technologie sind von diesem festgelegten Denken entstandene
Tatsachen. Die Förderung und Entwicklung der gesellschaftlichen Vorsätze
des westlichen Lebens zeichnen sich durch das männliche Denksystem
aus. Der Mann, der das rationelle Denken als Kriterium für das Leben
hingestellt hat, besitzt das Bestreben, sich dem natürlich-primitiven
Zustand zu entreißen. Um dies zu verwirklichen, setzt er sich weit
gesteckte Ziele. So versucht der westliche Menschentypus sich immer
mehr zu bezwingen und zu übertreffen. Durch diese Tat entsteht ein
immenser Ehrgeiz und dadurch ein zum Unendlichen strebender,
ausgeprägter Fortschritt in Wissenschaft und Technologie. Und je mehr der
Fortschritt angesagt ist, desto mehr entfernt sich die Menschheit von der
Natur und allem Natürlichen. Die eigentliche Absicht dieses ganzen
Bestrebens liegt darin, die Zügel, die die Natur spannt, zu zerreißen.
In der Handlung des zu untersuchenden Romans „Berge Meere und
Giganten“ findet sich der Leser in einem Zeitalter, in welchem sich die
Menschen des Westens schon sicher sind, daß sie diese Zügel der Natur
zerrissen haben. Das Erbe, „die Berechnung zahlloser Naturkräfte“ (BMG,
13) und „Apparate von ungeheurer Macht“ (ebd.), die von den
vergangenen
Geschlechtern
dieser
neuen
Generation
hinterlassen
wurden, sind enorm gewachsen, so daß gewaltige Maschinen vom Alltag
der westlichen Völker nicht wegzudenken sind. Es zeichnet sich im Roman
eine "Technologiebesessenheit" ab,
die in jeder neuen Generation
verstärkter zu Tage tritt:
„Wie die neuen Menschen ins Leben traten, jubelten sie über die
Aufgabe, die vor ihnen lag. Es war ihnen gleich, daß ihnen der Weg
vorgezeichnet
war;
trennen.“(BMG, ebd.)
sie
und
dieser
Weg
konnten
sich
nicht
38
Apollinische Züge, die wie Schrift in die Gehirne der Menschen eingraviert
sind,
zeichnen
eben
die
Aufgabe
des
linear
fortlaufenden
Entwicklungseifers in Wissenschaft und Technologie. Ihr Ziel ist es, den
„Urschauder“38 - wie Walter Schubart die „erste religiöse Regung“39
bezeichnet - den die Natur auf den Menschen ausgeübt hat, loszuwerden.
Denn „(a)m Anfang war Natur“40: so kurz und prägnant drückt es Camille
Paglia aus. Gegenüber der Natur wird „der Mensch [...] seiner Schwäche,
Verlassenheit und Ohnmacht inne; er fühlt immer das Überlegene das ihn
beherrscht“.41 Über eine solche Angst, die den Menschen seit seiner
"Menschwerdung" angesichts einer irrationalen Natur verfolgt, versucht er
mit Rationalisierung Herr zu werden. So wird das auch von Camille Paglia
gesehen:
„Gesellschaft ist ein Gebilde von Menschenhand, ein Bollwerk gegen die
Macht der Natur. Ohne Gesellschaft wären wir der Natur ausgesetzt wie
Schiffbrüchige
dem
sturmgepeitschten,
erbarmungslosen
Ozean.
Gesellschaft ist ein System ererbter Formen, die unsere demütige
Ohnmacht gegenüber der Natur abmildern. Wir können diese Formen
ändern, aber keine gesellschaftliche Veränderung [...] wird die Natur
ändern."42
Schon am Anfang des Romans wird diese These auch von Döblin
veranschaulicht.
Denn
obwohl
man
in
einem
hochentwickelten
Technologiezeitalter lebt und die Menschen des Abendlandes immer mehr
begehren (vgl. BMG, 19) und für ihre Zwecke alles verändern, bleibt doch
"manches" immer gleich, nämlich die Natur:
38
Walter Schubart: Religion und Eros. Hrsg. Friedrich Seifert. München 1989, S.10.
ebd.
40
Camille Paglia: S. 11.
41
Walter Schubart: S. 11.
42
Camille Paglia: S. 11.
39
39
„Am Himmel bewegt sich das stille blitzende Licht, das morgens erschien
und abends unterging. Die Erde drehte sich in Tag und Nacht. Trug
Erdteile Meere Gebirge Flüsse mit sich. Gab von Jahr zu Jahr neuen
Sommer und Winter von sich. Wälder wurden von ihr hochgewälzt; sie
stürzten ein; sie trieben neue auf.“ (BMG, 13)
Am Zyklus der Natur ändert sich nichts. Nichts hat es geschafft, den Gang
der Natur zu verändern und so wird es auch fortan sein: darauf gibt es
zahlreiche Hinweise im Roman. Auch wenn sich die Kulturgeschichte von
der vorrational mütterlichen Welt, in welcher (angeblich) Freiheit und
Gleichheit existierten, zur rationalen patriarchalischen Welt, in der
Hierarchie
und
Ungleichheit
herrscht,
entwickelt
hat43:
es
bleibt
unglückliches Schicksal, daß die westliche Menschheit der Mutter Natur
den Krieg erklärte. Denn der Natur ist alles gleichgültig, sie hat ihr eigenes
Dasein und da sie auch aller Lebenden Mutter ist, hat sich jeder ihr
anzupassen. Dabei wird, auch wenn diese Naturschilderung idyllisch klingt,
auf die ambivalente Seite der Natur hingewiesen. Die gebärende,
gebende, immer werdende, fruchtbare Natur hat auch eine Schattenseite,
nämlich eine nehmende und verderbende. Und das bindet gerade den
Kreis zusammen. Von einer rousseauistisch romantischen Vorstellung
einer wohltätigen Natur ist in diesem Falle also nicht zu reden.44 Diese
archaische Nachtseite ist es, wovor sich eben die westliche Ratio zu
schützen bemüht und zu verdecken versucht. Der Tod erweckt das
Schauern45. Dabei ist auch darauf zu hinzuweisen, daß dem Tod nicht
ausgewichen werden kann: die ganze westliche Kultur jedoch basiert
darauf, diesen zu überwinden und die Unsterblichkeit zu erlangen.
43
vgl. Erich Fromm: Liebe, Sexualität und Matriarchat. Beiträge zur Geschlechterfrage. 2. Aufl.
München 1997, S. 18.
44
Camille Paglia: S. 12.
45
vgl. ebd., S.11
40
Rousseau, der parallel zu der Auffassung Döblins, die ich dem Roman
Berge Meere und Giganten entnehme, vertritt in seiner Philosophie die
Ansicht, daß der Mensch durch die Kultur verdorben wird.46 Er ist gegen
die Geisteshaltung der Aufklärung, „ihrer einseitigen Wertung der
Verstandeskultur“47. So wird seine Anschauung aufschlußreich definiert:
„Wenn Mißtrauen, Haß, Kampf, Lüge und Verstellung ihren Einzug in
der Welt gehalten haben, so sind nicht zuletzt Künste und
Wissenschaften , so ist die immer raffinierter werdende Kultur des
Verstandes daran schuld.“48
Mit der Verurteilung des wissenschaftlichen Rationalismus stellt er sich an
die Seite der Natur: so auch Döblin im Roman Berge Meere und Giganten.
Nach seiner Naturauffassung aber ist der Mensch so wie auch die Natur im
Urzustand „gut“: Ursprünglich lebte „der Mensch in völligem, ‚bewußtlosem’
Einklang mit sich selbst, der Natur und seinen Mitmenschen“49. Folglich
entspringt der Ruf „Zurück zur Natur“ dem Wunsch, die innere
Zerrissenheit des Menschen, welche die künstlichen Konstrukte Kultur und
Zivilisation errichtet haben, zu überwinden. Diese auf den ersten Blick
regressiv orientierte Haltung Rousseaus wird im „Venaska“-Kapitel des
Romans (siehe vorhergehendes Kapitel) auch von Döblin versprachlicht50.
Jedoch ist die Vorstellung dieser idyllischen, dieser paradieshaft
harmonischen Naturzustandes strittig, denn in der Entstehung der
patriarchal gesinnten Kultur spielen die dunklen, schreckenerregenden
46
vgl. Hannelore Qual: Natur und Utopie. Weltanschauung und Gesellschaftsbild in Alfred
Döblins Roman Berge Meere und Giganten. München, 1992, S.115.
47
Max Dessoir, Hrsg. : Die Geschichte der Philosophie. Berlin, 1925, S. 465.
48
ebd., S. 465 f.
49
Hannelore Qual: S. 115.
50
Qual behauptet in ihrer Dissertation (S. 115 – 117), daß Döblin die Gesellschaft und den
kulturellen Fortschritt prinzipiell als positiv beurteilt und somit auch keine regressive Einstellung
(„Zurück zur Natur“) postuliert Er würde nur auf die Fehlentwicklung an der Oberfläche der
Zivilisation deutend eine Kritik ausüben mit der er die Verbesserung in diesem Rahmen zielt Im
Hinblick auf den Roman Berge Meere und Giganten muß ich diese These Quals ablehnen, denn im
Kapitel „Venaska“ wird die Regression zur Natur deutlich von Döblin dargelegt.
41
Seiten der Natur die hauptsächliche Rolle. Wie oben schon besagt wurde,
baut sich die westliche Zivilisation darauf auf, dieses Schauererregende
mit dem Verstand zu überwinden.
Die angsterregende Seite der Natur wird von Döblin in der vorangestellten
„Zueignung“ des Romans, welches als ein „Gebet an die geheimnisvolle
Naturmacht“51 zu definieren ist zu Wort gebracht. Hier spricht der IchErzähler in einer beunruhigenden Faszination die Natur direkt an und
gesteht:
„Mit Angst habe ich mich von euch entfernt. In meiner Demut vor euch
war Angst vor Lähmung und Betäubung. Immer habe ich euch, ich
gestehe es, als schreckliches in einem dunklen Winkel des Herzens
gehabt.“ (BMG, 9)
Mit diesem Geständnis des Ich-Erzählers wird zum Ausdruck gebracht, wie
der zivilisierte Mensch im Inneren die Macht der Natur empfindet. Auch ist
zu entnehmen, daß dieses unheimliche Gefühl unterdrückt wird, damit man
keine „Lähmung" durch die Verfallenheit erleidet.
Nach diesem wichtigen Geständnis wird die davor mit „du“ und in dem
angegebenen Zitat mit „ihr“ indirekt angesprochene Natur umschrieben:
„Ich will nicht du und ihr sagen – von ihm, dem Tausendfuß Tausendarm
Tausendkopf. Dem was schwirrender Wind ist. Was im Feuer brennt,
dem Züngelnden Heißen Bläulichen Weisen Roten. Was kalt und warm
ist, blitzt, Wolken häuft, Wasser heruntergießt, magnetisch hin- und
herschleicht. Was sich in Tieren sammelt, in ihnen die Schlitzaugen nach
rechts und links bewegt auf ein Reh, daß sie springen schnappen, die
Kiefern öffnen und schließen. Von dem was dem Reh Furcht macht. Von
51
Heidi Thomann Tewarson: Sachlichkeit als ästhetische Kategorie bei Alfred Döblin 1900 –
1933. Diss. State Univ. of New York at Stony Brook 1977, S. 141. Zitiert nach Gabriele Sander:
„An die Grenzen des wirklichen und Möglichen…“ Studien zu Alfred Döblins Roman „Berge
Meere und Giganten“, Frankfurt a. M., 1988, S. 142.
42
seinem Blut, das fließt und das das andere Tier trinkt. Von dem
Tausendwesen, das in den Stoffen Steinen Gasen haucht, raucht, sich
löst, verbindet verweht. Immer neuer Hauch und Rauch. Immer neues
Prasseln Verschmelzen Verwehen. Jede Minute eine Veränderung. [...]
So viel Veränderung in diesem hier. Und ich bin nur ein Einzelnes, ein
winziges Stück Raum. An jedem Blatt Stengel Wurzelschaft geschieht
sekundlich etwas. Da arbeitet das Tausendarmige. Da ist es. Singen der
Drosseln, Rasseln Schmettern der Schienen: da ist es. Stille mit einer
Bewegung gefüllt, die ich nicht höre, von der ich doch weiß, daß sie
abläuft: da ist es. Das Tausendnamige. Sich unaufhörlich Wälzende
Drehende Aufsteigende Zurückfallende sich Kreuzende. [...] Die dunkle
rollende
tosende
Gewalt.
Ihr
dunklen
rasenden
ineinander
verschränkten, ihr sanften wonniger kaum ausdenkbar schönen, kaum
ertragbar schweren nicht anhaltenden Gewalten. Zitternder greifender
flirrender Tausendfuß Tausendgeist Tausendkopf.“ (BMG, 9f.)
Dieses gut- und bösartige zugleich, dieses alles ineinanderfließende,
unendlich fortwährend Endende und Beginnende, d.h. das, was auch von
Döblin nicht als Dualismen sondern als ‚komplementäre Phänomene’ der
Natur verstanden wird, die ein Gleichgewicht aufweisen52, erfüllt den
Menschen mit dem Gefühl der Ohnmacht. Die festen Formen der Kultur
werden zersprengt. Wenn man auch von Zeit zu Zeit mit dem Wohlgefühl
des Einklangs mit der Natur belebt wird, verfällt der Geist des Menschen
doch eher in Angst. In apollinisch festgelegter Weise will man diese
überwältigend erlebte Natur nun verdrängen, ignorieren. An dies deutend
und auch von den Kultur geprägten Handeln nicht abkommend will das Ich
über diese „dunkle Gewalt“ (BMG, 10), „ihrer schreibend Herr werden“53.
52
53
vgl. Hannelore Qual: S. 116.
Gabriele Sander: S. 144.
43
„Was habt ihr mit mir vor? Was bin ich in euch? Ich muß sprechen von
euch, was ich fühle. Denn wer weiß wie lange ich noch lebe. Ich will
nicht aus diesem Leben gegangen sein, ohne daß sich meine Kehle
geöffnet hat für das was ich oft mit Schrecken, jetzt stille, lauschend,
ahnend, empfinde.“ (BMG, 10)
Die Angst irgendwann zu vergehen, zu sterben, verursacht also den Drang
zu "produzieren". Eine Produktion aus der „Kehle“, um wenigstens durch
die künstliche Schöpfung unsterblich zu werden. Somit will man dem Tod
im kausalen Sinne ausweichen. Dieser Wille, unsterblich zu werden, wird
durch die Symbolik des Himmelskultes, der aufklärerischen Sonne, den
funkelnden Sternen in Verbindung gebracht und anhand ihrer verbildlicht.
Diese Zeichen werden auch im Roman offenkundig festgesetzt. Deutlich
auf das Ziel des Westens zeigend erstellen die Menschen der westlichen
Kontinente Fahnen, auf denen „silbern weiße und goldene Sterne Sonnen
und Monde“ (BMG, 57) abgebildet sind. Diese werden als „ihre Zeichen“
(ebd.) betont. Somit wird das Vorhaben der westlichen Kultur mit
künstlichen Gehirnprodukten unsterblich zu werden, mit ‚nach den Sternen
zu greifen’ definiert. Dieses Greifen nach den Sternen (Goethe: Grenzen
der
Menschheit)
wird
Paglia
folgendermaßen
versprachlicht:
„das
Apollinische hat uns den Weg zu den Sternen gewiesen“54. Ihre Erfüllung
findet dieses apollinische Prinzip in dem Schein der Technologie und
Wissenschaft. Und Nietzsche legt diesen Weg zu den Sternen in
Zarathustras Mund. „Aufwärts geht unser Weg“ heißt es „von der Art
hinüber zur Überart [...] Aufwärts fliegt unser Sinn [...]“55. Der westliche
Menschentypus erstrebt das Göttliche. Die künstlichen Kopfgeburten sind
allgemeiner Preisung sicher, gleichsetzbar mit der olympischen Göttin
Athene. Athene die Göttin der Weisheit, ist stolz auf sich, weil sie aus dem
Haupt des Obergottes Zeus geboren wurde und nicht aus einer dunklen,
54
Camille Paglia: S. 26.
Zitiert nach Christian L. Hart Nibbrig: Die Auferstehung des Körpers im Text. 1.Aufl. Frankfurt
a.M., 1985, S. 81.
55
44
glitschigen, stinkenden Gebärmutter. Entsprechend spricht Apollon in
Bezug auf Athene in der Orestie des Aischylos mit folgenden Worten den
Muttermörder Orestes frei:
„Denn Vater kann man ohne Mutter sein; Beweis
Ist dort die eigne Tochter des Olympiers Zeus,
Die nimmer eines Mutterschoßes Dunkel barg,
Und dennoch kein Gott zeugte je ein edler Kind.“56
Nichts ist „herrlicher“ als eine Geburt, wie die Athenes, aus dem Kopf. Sie
ist „herrlich“ oder sie (Athene) wird „verherrlicht“, weil für die Weiterführung
eines Systems, in der die Macht den Männern gehört, nur Geburten aus
dem Kopf möglich sind. Denn für das Patriarchat, welches die Natur und
alles was ihr angehörig ist, ausschließen will, kann eine Geburt von der
Mutter nur abstoßend wirken. Dabei ist auch hinzuweisen, daß eine
natürliche Geburt im Biologischen für die Männer sowieso nicht möglich ist.
Um die Stellung der gebärenden Frau verdrängen zu können, wird das
rationelle Denken, das mit dieser Kopfgeburt und den harten Zügen der
Göttin der Städte in Einvernehmen ist, als eine höhere Macht hingestellt.
Somit erhält die Frau in der Gesellschaft eine zweitrangige Stellung und
der Zugang zu Macht ist ihnen nur dann nicht vorenthalten, wenn sie die
Züge der geharnischten Athene aufweisen, also wie sie auch im Roman
genannt werden zu „Herrinnen“ (BMG, 35 und passim) und/oder zu
„Männinnen“ (BMG, 437) werden. Diese Haltung weist demzufolge nicht
nur auf die Unterdrückung der Natur, sondern auch auf die der Frau und
des
gynaikokratischen
Prinzips
hin,
Rationalisierung im Unterbewußtsein
die
sich
trotz
patriarchaler
des modernen Menschen fest
verkeilt hat.
Wie Athene beharrlich und stets auf ihre Geburt aus dem Kopf des Zeus
verweist, so hält eben auch der Westen an dieser apollinischen Vernunft
56
zitiert nach: Johann Jakob Bachofen: S. 179.
45
fest. Identisch mit Athenes Haltung sind die weisen abendländischen
Menschen von ihren eigenen Schöpfungen fasziniert, dermaßen, daß
siesich gezwungen fühlten, sie „anderen“ Ländern, die „um Europa und
Amerika lagen“ (BMG, 14) vorzuführen:
„Wie die Apparate und Einrichtungen da standen, sprühend an
Vermögen, wurden die Menschen gedrängt sie über die Länder zu führen.
Die Erfindungen waren Zauberwesen, die ihnen aus den Händen glitten
und sie hinter sich herzogen. Die Menschen fühlten, es war ihr Wille, der
vor ihnen flog."(BMG, 14)
Der „Wille“, der die westlichen Menschen in ihren Bann genommen hatte,
ist eigentlich nichts anderes als „die angeborene Grausamkeit des
Menschen“57, der „Wille zur Macht“58, die im Christentum als „Erbsünde“
bezeichnet wird und doch mit den gesellschaftlichen Regeln und der Kultur
in Zaum gehalten werden soll. Doch kontrastiv ist zu sehen, daß der
zivilisierte westliche Mensch seine Grausamkeit mit Technik und
Wissenschaft stets in die Tat umsetzt. Er ist grausamer als die Menschen,
die mit der Natur in Einklang leben. Auf Rousseau zurückgreifend ist in
diesem Bezug diese pessimistisch christliche Vorstellung, daß der Mensch
„mit einem Hang zum bösen auf die Welt kommt“59 zu eliminieren und eher
von einer „verdorbenen Gesellschaft“60 zu sprechen. Vererbt ist in diesem
Falle nicht die natürliche "Verdorbenheit",
sondern die im Banne des
männlichern Herrschaftseifers erblühte Kultur wird vererbt und an nächste
Generationen weitergegeben: die Unterdrückung der Natur, welcher sie
unausweichlich selber angehören.
57
Camille Paglia: S. 13.
Christian L. Hart Nibbrig: Die Auferstehung des Körpers im Text. 1.Aufl. Frankfurt a. M., 1985,
S. 71 und Camille Paglia: S. 13 (und passim).
59
Camille Paglia: S. 12.
60
ebd.
58
46
Nach dieser Feststellung Rousseaus wird die Parallele zu Bachofens
These, daß dem Patriarchat ein Matriarchat vorausgegangen war, in
welcher die Menschen in Einklang mit der Natur lebten, über Vorsätze wie
Gleichheit, Freiheit, Glück und bedingungslose Bejahung des Lebens
verfügten, offensichtlich. Das Patriarchat, das dieses mutterrechtliche
Prinzip umwälzend, das Vaterrechtliche einsetzte, steht mit dem starren
apollinischen Blick eher auf der zerstörerischen Ebene. Auch ersichtlich im
Roman, vollzieht sich der Kampf, der gegen die Natur angesagt worden ist,
in jeder Phase. Der Osten und Süden, welche als "naturnah" gelten, die
also unter dem „Einfluß der mutterrechtlichen Gesellschaftsformen“61
stehen, sind sowohl auch Richtungen, die anzugreifen und zu erobern
sind. Wie Elias Canetti auch nachdrücklich hervorhebt, braucht die Masse
eine Richtung. “Die Furcht vor Zerfall, die immer in ihr rege ist, macht es
möglich, sie auf irgendwelche Ziele zu lenken.“62 Aber diese Ziele sind
eigentlich nicht „irgendwelche“, sondern das als unbekannt hingestellte
Fremde, das Andere, das, was verdrängt wurde mit der Kultur, d.h. also
das, was mit der Natur in Vereinbarung geblieben ist: der orientalische
Osten und der exotische Süden oder im kurz und bündig: die Natur selbst.
Daneben sind Richtungen in dem Apollinischen deshalb wichtig, weil der
Phallus, der eben richtungsweisend nach oben (Norden) zeigt, immer mehr
zu den Sternen und sogar noch zu dem Göttlichen zielt, wie auch auf das
menschliche
Gehirn.
(Das
männliche
Geschlechtsorgan
ist
hier
bestimmend, weil das Ringen nach der Herrschaft des Mannes und der
männlichen Ratio in der Entwicklung der Menschheit ausschlaggebend ist.)
In der Untersuchung U.R.Ehrenfels’ „Nord-Süd als Spannungspaar“ in der
er eher auf die Beziehungen von Nationalstaaten eingeht, wird auch der
rivalitäre Sachverhalt zwischen Nord und Süd (vgl. vorhergehendes Kapitel
in Bezug auf Melise und Venaska) vor Augen gebracht. Diese Polarisation
weist auf tiefe Gründe, in „traditionell verwurzelte Gegensätze zwischen
61
62
U.R. Ehrenfels: Nord - Süd als Sannungspaar. S. 104. In: Antaios 7, 1966, S. 101 - 125.
Elias Canetti: Masse und Macht. 3 Aufl. Hamburg, 1973, S. 28.
47
matrilinearen und patrilinearen Gesellschaftsordnungen“63 und bezeichnet
diese Gegensätzlichkeit als eine „kultur-erotische Beziehungsform“64.
Bemerkenswert sind die tabellarisch aufgezeigten Pole unter Nord und
Süd, in dem die Kälte des Nordens, welche das Apollinische in sich
verbirgt und die Hitze des Südens, welches das Dionysische impliziert,
zum Ausdruck kommen, wobei Ehrenfels eine klimatologische Deutung
eigentlich nicht akzeptiert. Der Versuch einer Charakterologie des Nordens
und Südens, die von ihm und von Hofmannsthal in verschiedenen Tabellen
dargeboten
wurden,
werden
hier
nun
zusammengefügt
zusammengefaßt aufgezeigt:
63
64
NORDEN
SÜDEN
* kalt
* heiß
* betontes Überlegenheitsgefühl
* Unterlegenheit
* männlich
* weiblich
* ernsthaft
* liebenswürdig, kalkulierend
* sparsam u. geizig
* freigebig u. verschwenderisch
* energisch, kämpferisch
* faul, lässig
* stark
* schwach
* langsam u. schwerfällig
* schnell u. wendig
* eigensüchtig
* unzuverlässig
* pessimistisch
* optimistisch
* rücksichtlos-fanatisch
* wetterwendisch - unberechenbar
* künstlich, geschaffen
* natürlich, gewachsen
* unfruchtbar
* fruchtbar
* alles im Menschen u. vom Menschen
* alles von außen her
* disziplinierbare Masse
* selbstständige Masse
* homogen
* polygen
* grenzenlose Autorität
* unbegrenzter Individualismus
* handeln nach Vorschriften
* handeln nach Schicklichkeit
* Stärke der Dialektik
* Ablehnung der Dialektik
* Selbstgefühl
* Selbstironie
* Autorität
* Menschlichkeit
U.R. Ehrenfels: S. 105.
ebd.
und
48
* Jeder einzelne Träger eines Teils
* Jeder einzelne Träger eines Ganzen
* Streberei
* Genußsucht
* rechtfertigt sich selbst
* bleibt im Unklaren
* harte Übertreibung
* Ironie bis zur Auflösung
* oben
* unten65
Mit dieser oben aufgeführten Tabelle wird ersichtlich, wie der Norden auf
sein Wissen aufbaut. Die ganze „Streberei“, von der Naturausgesetztheit
sich zu befreien, verfolgt eine strenge Disziplin. Hingegen ist für den Süden
der sich mit der Natur identifiziert hat, alles gleichgültig. Die Lässigkeit, die
davon herzuleiten ist, daß alles von der Natur kommt, wird vom Norden
und auch vom Westen keinesfalls als zu akzeptierendes Faktum gesehen.
Der Norden und Westen versucht alles mit eigener Hand und
hauptsächlich dem Kopf zu lösen. Genauso wie die Natur wird der Süden und somit ist auch der Osten in Betracht zu ziehen – unberechenbar und
wetterwendisch empfunden. Da die Überlegenheit ihrer Kultur stark in
Vorschein gerückt wird, ist es auch nicht eigenartig, daß sich der Norden
und
Westen
die
ihr
entgegengestellten
Richtungen
als
schwach
empfinden. So werden diese heruntergesetzt, was mit der chthonischen
Natur nicht gerade in Dissonanz liegt, sondern im Gegenteil, bezüglich der
richtungweisenden Zusammensetzung des Nordens mit dem Himmel und
des Südens mit der Erde, allzu verständlich ist.
In Betrachtnahme dieser tabellarisch aufgestellten und wenn nötig noch
reichlich zu erweiternden Polarisationen ist die Haltung des Westens im
Roman nicht erstaunlich bzw. ungewöhnlich. Die abendländischen
Menschen, die im Grunde die Maschinen ‚einverleibt’ (vgl BMG, 58f.)
haben, wollen die Kraft dieser eisernen Tiere an den östlichen und
südlichen Kontinenten zur Schau stellen. So locken sie mit List und Tücke
die „Fremden“, die sie im Grunde eigentlich verachten, weil ihnen dieses
65
vgl. U. R. Ehrenfels: S. 108 – 110.
49
rationelle Denken fehlt, zu sich. Diese Farbigen sollen nun den Dienern der
Maschinen dienen (vgl. BMG, 17):
„Man könnte Fremde [...], denen der Mondgottesdienst noch im Blut
steckt, die für einen Schluck kalten Biers ihre Habe und Arbeitskraft
verkaufen, nicht behandeln wie Menschen nördlicher Herkunft. Die
westliche und nördliche Kultur war von ihnen aufzunehmen, nicht aber
zu verschlucken.“ (BMG, 26)
Aufgrund
dieser
Bezeichnungen,
die
Döblin
in
die
Dialoge
der
Herrscherschicht einsetzt, ist unverzüglich zu erkennen, daß alles
"außerwestliche" und "außernördliche" mit einem herabsetzenden Blick
betrachtet wird. So wie dieser westliche Logos sich von der Natur
ausschließt und über sie Herr werden will, werden diese primitiven Völker
mit dem Matriarchalen zusammengesetzt und somit erniedrigt und sind
prädestiniert ausgenutzt zu werden, es lohnt sich nicht einmal, sie "zu
zivilisieren". Denn wie daraus zu folgern ist, auch die Natur ist nicht zu
zivilisieren und wie sehr man auch in solch einem Bestreben ist, weiß doch
der patriarchale Mensch im Unterbewusstsein diese Wahrheit. So führt
Paglia aus, daß „das zivilisierte Leben [...] der Illusionen bedarf“66; ähnlich
spricht Nietzsche von der „apollinischen Illusion“67.
Immer mehr wollen die weißen Völker, es ist ihnen nie genug. Das
Vorführen dieser Technik reicht nicht aus, ihren Hunger nach Ruhm, den
„Willen
zur
Macht“
zu
stillen.
Anfänglich
errichten
sie
„Verteidigungsanlagen“ auf: „Reihen von Masten“, die sich als „Wegweiser“
maskierten und mit einer Schaltbewegung „[konnte es sich] wie ein
lebendiges Band [...] in die Höhe strecken, und im Moment, wie es aufrecht
stand, warf es einen tönenden Wirbel von Strahlen um sich“(BMG, 22f.).
Ersichtlich ist gleich, daß diese Masten dem Phallus ähneln. Diese Maske
66
67
Camille Paglia: S. 12.
Friedrich Nietzsche: S.31.
50
der Masten als Wegweiser verbirgt den nach Norden oder zum Himmel
gerichteten Blick des westlichen Logos. Diese lebendigen Masten,
strecken und recken sich; der Phallus wird in Erektion gesetzt und es wirft
mit Wirbel seine Strahlen um sich.
Döblin schildert die Waffentechnologie nach meiner Ansicht mit Absicht in
dieser Art, denn die unübersehbare Kongruenz dieser aufgestellten Masten
mit dem errigierten Penis zeigen sowohl auf die phallische Richtlinie der
apollinischen Kultur, welches zum Himmel zielt, als auch darauf, daß diese
Verteidigungsanlagen eben zum Schutz der Zivilisation vor den natürlichen
Begierden dienen sollen. Denn alles Sexuelle wird "beherrscht von Trieb
und archaischen Zwang“68. Deshalb wird das Biologische des Mannes von
all seinen chthonischen Trieben und Instinkten gereinigt und in technischen
Apparaten
(wieder-)belebt:
Maschinen
werden
in
phallusähnliche
Strukturen und Skulpturen verwandelt. Sexualität, welche eine heikle
Schnittstelle zwischen dem Matriarchalen und dem Patriarchalen, also
zwischen Natur und Kultur darlegt69, wird demnach als etwas zu
Verdrängendes verstanden. Anstelle dessen treten das analytische
Denkvermögen und der männliche Erfindergeist. Angesicht dieser mit
Vernunft produzierten Gestalten ist zu sagen, daß das Apollinische
offenkundig das Natürliche umzuwälzen versucht.
Diesen künstlichen Schöpfungen des männlichen Erfindergeistes werden,
wie vorher erwähnt, eine hohe Ehre erteilt, was auch zur Eigensucht und
der Hervorhebung des Einzelnen führt. So sehr, daß man in „Berge Meere
und Giganten“ seinem Nächsten gegenüber sogar mißtrauisch wurden:
deshalb
hält
Wissenschaften
die
Herrenklasse
geheim.
die
„Mathematik
neuesten
Erfindungen
Ingeneurwissenschaft
und
Chemie
Elektrotechnik Biologie Radiotechnik waren nur Ausgewählten gestattet
[...]. Man zerstückelte die Disziplinen, um keinem, der nicht bestellt war,
eine Übersicht zu gestatten.“ (BMG, 26). Diese Anspielung Döblins weist
68
69
Camille Paglia: S. 15.
vgl. ebd., S. 12.
51
auf die generelle Struktur der rationalen Zivilisation. Einteilung, Zerteilung
das sind die feinsten apollinischen Methoden, die immer wieder verwendet
werden. Die Vernichtung des Ganzheitlichen, der vollkommenen Natur ist
die beste Methode mit ihr fertig zu werden70. Denn das Denksystem des
Menschen kann nur analysierend fortfahren, ansonsten ist der Mensch der
Macht der Natur verfallen. Und so ist allerdings das „keinen anderen
zulassen neben sich“71 oder in die höchstwichtigen Disziplinen keine
Einsicht zu verleihen, auch ein „Wille zur Macht“, ein Hingreifen zum
göttlichen Range. Der „Wille zur Macht“ des westlichen Menschen, findet
ihr
Erscheinen
in
der
ganzen
Kulturgeschichte.
In
einer
kulturanthropologischen Untersuchung72 wird der menschliche Machttrieb,
der Herrschaftsdrang des Menschen historisch aufgefaßt und von den
ersten geschichtlichen Texten Herodots anfangend bis zur Gegenwart
diagnostiziert.
Kongruent
mit
dieser
kulturanthropologischen
Schrift
verweist auch Paglia auf die geschichtliche Entwicklung des Apollinischen
in der westlichen Geschichte73. Ausschlaggebend für diese Entwicklung ist
auch der Übergang von den Erdkulten zu den Himmelskulten. Der Wille
zum Ebenbild des Göttlichen zu werden, findet eine Transformation in die
menschliche Ebene, der Wille um Herrschaft über andere Menschen. Ins
Auge fallen das „Immer-mehr-Habenwollen“74 der historischen Helden.
„Herrschsucht,
Elemente,
in
Ehrgeiz
welchen
und
der
Habgier“75
sind
Expansions-
die
hervorstechenden
und
Herrschaftsdrang
manifestieren. Dieser natürlich aufgefaßte Machttrieb des Menschen
schlägt sich auch in die Faszination eines Zerstörungsdranges um. Das ist
wiederum eigentlich auch als Spiegelbild für das Ringen mit der Natur
aufzufassen. Denn die Natur ist ein großes Geheimnis und „das Geheimnis
70
vgl. Camille Paglia: S. 16.
L. Hart Nibbrig: S. 71.
72
F. Wagner: Universalgeschichte und Gesamtgeschichte. Bonn. In: Neue Anthropologie. Band 4.
Kulturanthropologie. Hrgb.v. Hans Georg Gadamer und Paul Vogler. Stuttgart, 1973, S. 195 - 224.
73
vgl. Camille Paglia: S. 20.
74
ebd., S. 196.
75
ebd., S. 197.
71
52
ist im innersten Kern der Macht.“76 Die Wissenschaften dienen also dazu
diese Geheimnisse der Natur zu entblößen. Und dabei ist nicht zu
vergessen:
„Zur Macht gehört eine ungleiche Verteilung des Durchschauens.
Der Mächtige durchschaut, aber er läßt sich nicht durchschauen. Am
verschwiegensten muß er selbst sein. Seine Gesinnung wie seine
Absichten darf keiner kennen.“77
In solch einem Verständnis versucht der wissenschaftliche westliche
Mensch nun die Macht der Natur zu entreißen und sich diese Macht
anzueignen. Mehrmals kommt dieser „Wille zur Macht“ auch in „Berge
Meere und Giganten“ wörtlich zum Ausdruck. Es heißt: „Die westlichen
Menschen begehrten viel; es mußte ihnen noch mehr gegeben werden.“
(BMG, 19). Dieses Begehren findet sich vielmals im Ganzen des Romans
zerstreut wieder. Und in Erscheinung tritt es in der Macht der Apparate,
den Kopfproduktionen der westlichen Menschen und in der Politik der
Herrschenden, den Herren und Herrinnen des Maschinenwesens, die „die
eigentlichen Machthaber der westlichen Erde“ (BMG, 40) sind. Der Mensch
ist von der Macht der Technik und den Wissenschaften regelrecht
besessen und erhofft mit Hilfe ihrer Macht auch mehr Herrschaft zu
gewinnen. „Einzig am Glanz der Apparate teilzunehmen, ihre Kraft
vorwärts zu treiben, beseelte die Menschen“ (BMG, 66). Aber parallel zu
der Expansion der Wissenschaften und Technik breitet sich mit dem
Mißtrauen zwischen den Menschen auch die Angst aus. So entstanden
auch im einzelnen „Verzweiflungsschläge gegen die Maschine“ (BMG, 55).
Es heißt „Die stummen gewaltigen Apparate zerstören. Die Köpfe
zerstören aus denen sie kamen.“ (BMG, 55) Jedoch konnten diese
Versuche sehr schnell vereitelt werden. „Die Maschinen waren nicht
76
77
Elias Canetti: S. 333.
ebd., S. 336.
53
aufzuhalten, das westliche Gehirn nicht umzustellen.“(BMG, 86) So wird
kein Zögern, Stocken, kein Haltmachen akzeptiert. Die alten Köpfe, die
nicht mehr die Kraft dazu haben, sich in dem Dickicht der Natur weiter
voran zu arbeiten, werden abgesetzt. Jede neu aufkommende Generation
ist noch stürmischer, „heißer als die sie ablösten“ (BMG, 58).
Diese
enthusiastischen jungen Menschen sind mit großer „Liebe“ zu diesen
„eisernen
Wesen“
(BMG,
58)
erfüllt.
„Ihr
Dröhnen
Schnattern
Einschnappen tat ihnen wohl. Es erregte wie eine Liebesbegegnung. [...]
Das Eisen erschien ihnen beseelt wie ihr eigenes Fleisch.“(BMG, 58).
Nicht die Maschinen mutieren zu lebendigem Fleisch, wie das hier
eventuell anklingen mag, sondern es sind die Menschen, die sich zu
maschinenartigen Wesen hin entwickeln. Sie sind von ihren eigenen „KopfGeburten“ so fasziniert, dass sie durch ihre Vernunftsideologie alles
Natürliche an sich verloren haben und selber zu gefühllosen Maschinen
geworden sind oder nur noch Mitgefühl für die selbstproduzierten
Maschinen haben. Zu Wort kommt dies vor allem darin, daß sie vorgeben
„der Geist der Maschinen Apparate zu sein“ (BMG, 62).
In solch einer Inbrunst für die Maschinen und alles was die Menschheit
schöpft, ist eine Frau, die nicht beim Namen genannt wird, hervorstechend.
Diese Frau tritt mit einer auffallende Fahne, auf der die Gestirne und aus
denen ein ausgehendes Feuer abgebildet ist, in Vordergrund und betont
den Wert des Gehirns als Vertreterin des abendländischen Rationalismus:
„Wir lieben das Eisen; die Kraft ist in uns, die Stärke [...] Sie ist unser
Blut unser Leben. Es ist nicht die Erde. Was soll die Sonne auf unseren
Fahnen, Mond Sterne. Nicht Sonne Erde Sterne. Wir! Wir! Wir! Wir
Menschen! Die Sterne aufbrechen! Die Sonne aufbrechen! Wir können
es! Wir haben ein Hirn im Kopf. Da stehen unsere Maschinen. Unser
Fleisch. Ich liebe sie. Was ist kräftiger als sie, was ist kräftiger als wir
mit ihnen. Meine Seeligkeit. Ich will nicht an mich halten Kommt
54
Freunde Freundinnen, zu unserer Kraft! Zu unseren Kindern! Zu
unserem Herz.“ (BMG, 59)
Auffallend ist in ihrer Aussage der Wille, die Sterne aufzubrechen und das
mit Hilfe des menschlichen Gehirns, das seine Fähigkeit mit der
Technologie und den Wissenschaften bewiesen hat. Die beweisbringenden
Elemente, also die Maschinen sind ein wichtiger Teil ihres Lebens
geworden, nicht nur das, sie sind durch das ewige Gebären dieser in sie
eingewachsen und mit ihrem Fleisch eins geworden. Und diese Vereinung
wird noch weiter getrieben. Unter Führung dieser Frau und der
regelrechten Aufforderung eines Mannes:
„Hin ist hin. Was ist ein Leib für eine Maschine. Wieviel muß eine
Maschine fressen, um ein Mensch zu sein. Sie muß nicht glauben ihr
genug
getan
zu
haben.
Das
war für
das
Maschinchen
ein
Tropfen![...]Das braucht mehr als nur einen Menschen. Wer will mit auf
die Reise.[...]“ (BMG, 59)
werden große Scharen von Menschen mitgezogen und stürzen sich
besinnungslos in die Maschinen. (vgl. BMG, 59ff.). Ihr Tod soll in
irrationeller
Weise
das
Weiterleben
der
Apparate
bewirken.
Hier
erscheinen die Maschinen wie Götter, denen man Opfer bringt. Nicht mehr
die westlichen Menschen sind Herrscher über den Maschinen, sondern sie
werden wahrhaftig von den Maschinen beherrscht.
„Unpersönlich triebmäßig reflexartig“ (BMG, 64), fast maschinell verrichten
die Menschen die Arbeiten. Doch eigentlich ist nur von einer „Scheinarbeit“
der Massen zu reden (vgl. BMG, 21), denn die eigentliche Arbeit wird nicht
mehr von den Menschen, sondern von Maschinen geleistet. Eine Art der
Trägheit wucherte deshalb in den westlichen Landschaften. Doch der
triebhafte Wuchs der Forschungen und Entwicklungen in Wissenschaft und
Technik reißt nicht ab. In einer langwierigen Zeitspanne haben sich die
55
einzeln verstreuten Maschinen in „Maschinenblöcke Maschinenhäuser
Kolosse Pyramiden von Anordnungen, Maschinenorganismen“, später zu
„Glasstädte Lichtstädte Nahrungsstädte Kleiderstädte“ und zuletzt in
„Lilliputapparate“ (BMG, 85) verwandelt. Sogar „wilder als je erhob sich [...]
das Gespenst der neuen Erfindung, des vernichtenden Fortschritts“ (BMG,
67). In den „Meki“- Fabriken“ (BMG, 69 und passim) und „Meki“Laboratorien, wo die „Lebensmittelsynthese“ (BMG, 69) entworfen und
verbreitet wird – mit der man Mittel suchte „um ganze Völker ackerlos und
sonnenlos jahrzehntelang zu ernähern“ (BMG, 74) – wurden für die
Versuche auch „Menschenopfer“ (BMG, 71) verwendet. Diese Menschen
haben auch keine Mitgefühle mehr für andere Menschen. Diese einförmig
strenge Massenideal duldet keine Milde. „Das Humanitätsgefühl, das
ererbt war, schwand.“(BMG, 65f.) Auch schwinden mit der Zeit die
natürlich-biologischen Eigenschaften. Die Menschen dieser Epoche „hatten
sich längst an die künstlichen sehr raffiniert aufgemachten Stoffe
gewöhnt[...]. Der Geschmack reiner tierischer pflanzlicher Nahrung stieß
sie ab.[...] Ihre Mägen sonderten schon nicht mehr genug Säure ab für die
Aufspaltung tierischer Muskeln, die Därme waren träge und schlaff
geworden, die großen unbeschäftigten Bauchdrüsen eingeschrunpft“(BMG,
110). Sie vergessen alles Natürliche an Geschmack. Doch wie sehr auch
die abendländische Starrheit sich gegen alles Natürliche stellt und sich von
ihr entfernt, so sehr hält der Osten an seinem (stereotypischen) Hang zum
Natürlichen fest: „Die fremden Massen [...] staunten und lachten: so sehen
die Meister aus, diese Herren der Erde [...]: sie mochten nicht so werden.“
(BMG ebd.).
Dieser Enthusiasmus, diese „Tobsucht“ (BMG, 64) durchdringt die
westliche Menschheit in großem Maße. Der „Geist der Maschinen“ (BMG,
62) zeigt sich insbesondere in der ausbrechenden „Zerstörungswut“ (BMG,
60). Stürmisch schreiten sie über Länder und zerstören mit Waffen,
Apparaten, die sie mit sich trugen, alles, was sich ihnen in den Weg stellte:
„zerbrachen Wälder, rissen Flüsse auseinander“ (BMG, 63). Es werden
56
dauernd „Kampfobjekte gesucht“ (BMG S:84) immer werden neue Ziele
gesetzt. Und das zeigt, wie auch Canetti bemerkt, daß das patriarchale
System, nur bestehen kann „solange (es) ein unerreichtes Ziel“78 hat.
Infolgedessen setzt man für den Rationalisierungsprozeß hohe Ziele. Doch
anhand dieser oben erwähnten Aussage kann wohl auch gesagt werden,
daß die Ziele die zum Vorsatz geworden sind, in Wahrheit nicht zu
erreichen sind. Mit einem auf die Natur geworfenen Blick, kann man auch
leicht zu diesem Ergebnis kommen, denn, wie oben angesagt wurde ist die
Natur nicht umzuwälzen. Sie verbirgt hohe unlüftbare Geheimnisse, mit der
sie es immer wieder schafft, sich aufzubauen. Aber der Wille nach Macht,
der Hunger nach Herrschaft ist unenthaltsam. „An die Grenzen des
Wirklichen und Möglichen wollten sie, über das Erdenkbare hinaus mußten
sie fahren.“ (BMG, 82) Und das Kampfobjekt ist natürlich wieder der Osten.
„Es war nicht möglich gewesen den gelben braunen Millionen westliche
Bedürfnisse einzuimpfen“(BMG, 84), so mußte man sie bezwingen. Es ist
ein Ringen um die Vorherrschaft“79, das seine Basis, wie Norbert Elias
bemerkt, in dem „Prozeß der Zivilisation“ findet. Um zur ganzheitlichen
Macht zu gelangen und diese in der Hand zu halten, übt man, wenn als
nötig erachtet, Druck und Gewalt aus. „Man konnte nicht Feuer nach
Gestirnen werfen, wenn man nicht einmal den Erdball erzwungen hatte
und hundert Meilen hinter der Weichsel eine ablehnende Welt lag.“(BMG,
86f.) Hernach wird die Angriffslust der europäischen Kontinente in die Tat
ugesetzt und der „Uralische Krieg“ angesagt. „[...] Die kontinentalen
Massen [wollten und] brauchten Angriff und Sieg.“(BMG, 92) Dafür legten
sie listige Strategien bereit. Aber in Kontrast mit diesen aufschwellenden
westlichen Massen, lachten und winkten ihnen die Asiaten zu. „Die Inder
wußten, wie man Elefanten zähmt, Flüsse überschreitet, betet; die
Chinesen, wie man Felder bestellt, Schiffe zieht, handelt; die sibirischen
78
Elias Canetti: S. 28.
Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische
Untersuchungen. Zweiter Bnd. Wandlungen der Gesellschaft, Entwurf zu einer Theorie der
Zivilisation. 1.Aufl. Frankfurt a.M., 1976, S. 436.
79
57
Steppenvölker konnten melken jagen. Sie dachten ihren Zauber gegen die
Europäer aufzubieten“ (BMG, 85f.). Primitivität und Technologieablehnung
der östlichen Massen wird angedeutet. Doch der Krieg wird mit Wellen,
Strahlen, mit fortgeschrittenster Waffentechnologie ohne eine genugtuende
Schlacht geführt. Im weiteren wird der ganze östliche Kontinent in den
Bann eines Feuers genommen. Tiere und Menschen der östlichen und
westlichen Erdhälfte müssen vor diesem Brand fliehen. Unheimlich verläuft
der Krieg und endet mit einem Fiasko für die machtgierigen Europäer.
„Keine Niederlage war gemeldet. Sondern nur: es hatte sich nichts
geändert. Die Jungen , Männer und Frauen, die Führer hatten, die
Fahne erhoben, geschrien von ihrer Kraft. Das Feuer aus der Erde,
zwischen den Händen der Menschen, zu den Gestirnen aufbrennend[...].
Das Land zerrissen, Flüsse entleert, Menschen Tiere Bäume verzehrt.
Das grauenvolle tote Land. Das war das Geheimnis der Apparate, die
wunderbaren eingesperrten Naturkräfte in den Gewölben [...] Versagt
hatten die Jungen, die Herren und Herrinnen. Lächerlich ihre Fahnen.
Die Erde konnten sie zerreißen, Städte vergiften. Wenn sie wollten
konnten sie auch die westlichen Landschaften vernichten.“(BMG, 98f.)
Der fürchterliche Greuel des Uralischen Krieges entlarvt also den inneren
Zustand der technisierten Welt.80 Das Gesicht der toten Landschaften
erregt in ihnen ein großes Entsetzen. Gebrochen und mit Schuldgefühl
erfüllt kehren die Krieger zurück. Sie sehen nun das Zerstörerische ihrer
Ratio, ihrer Wissenschaften ein, was „die ungezügelte technische
Intelligenz und sich absolut setzende Gehirnlichkeit“81 verursachen
können. Dabei schlägt das apollinische Streben nach Unvergänglichkeit
mit
dem
Zusammentreffen
mit
dem Tod um in die schon im
Unterbewußtsein vorhandene „Todessehnsucht“ (BMG, 106), d.h. dem
80
81
vgl. Hansjörg Elshorst: Mensch und Umwelt im Werk Alfred Döblins. München, 1966, S. 40.
ebd.
58
Verlangen, in das Chthonische, in das Mütterliche zurückzukehren. „Im
Kreis dieser Stadtschaften breitete sich eine Finsternis Lebenssattheit
Todesverlangen.“ Der Berliner Konsul Marke der selber an dem Uralischen
Krieg teilgenommen hat, fordert sogar am Tage seiner Rückkehr von
seinen beiden Töchtern und der vor seinem Haus versammelten Masse,
daß sie sich töten sollen. Grauenerregend und befehlend fordert er den
Tod aller (vgl. BMG, 103) und sticht sich die Augen aus (vgl.BMG, 106), als
wolle er diesen starren und zerstörerischen apollinischen Blick vernichten.
Und mit scharfen Maßnahmen setzt sich Marke dafür ein, die chemischen
Laboratorien, wichtige Fabriken und „Apparate die der Bewaffnung und
Verteidigung dienten“ (BMG, 108) niederzulegen. Er treibt, um der
Lebensmittelsynthese ein Ende zu machen, „massenhafte Menschen aus
der Stadt heraus auf die Felder zur Bebauung“ (BMG ebd.). Er versucht
das Diktum „Zurück zur Natur“ zu realisieren, denn „die Nachwirkungen
des Krieges waren bei ihm nicht auszulöschen“(BMG, 110). Aber der
Westen hat sich schon zu sehr an den Konfort der Technik gewöhnt und
der innere Drang und die Liebe zu den Kopfgeburten ist zu groß. Dem
patriarchalen System kann gar nicht Paroli bieten. Es bilden sich gegen die
Regierung Markes gerichtete Fronten. Einer von diesen kritisiert dieses
Regime und fragt:
„Ob sie glaubten, daß die Welt besser würde, wenn ein paar Werke in die
Luft flögen. Ein paar Werke. Er empfähle Kastration. Sie müßten den
neugeborenen Knaben die Hoden abschneiden, dann könne man hoffen,
daß in fünfzig Jahren die Erde besser aussehe: [...] die verkehrte Art
Mensch ist erledigt. Die ganze Erde braucht Erholung von den
Menschen. [...] Eine Fehlart ist der Mensch. [...] Es vernichtet sich, frißt
sich selbst auf; ihre Gaben drängen sie dazu.“ (BMG, 109)
Man glaubt nicht, daß man mit eigener Hand, in rationellem Handeln der
Machtgier des Menschen und dem Kampf gegen das Natürliche ein Ende
59
geben könne. Nur mit einer Selbstzerstörung wäre dies zu verwirklichen.
Denn ihr Sein wäre schon beschieden, der Weg könnte nicht umgestellt
werden. Nach seinem Tod entscheidet sich auch der Konsul Marduk dafür,
den von Marke vorgezeichneten Weg zu gehen und führt sein Werk weiter.
Nach ihm sind “die Lehren des Uralischen Krieges [...] voll und
nachsichtslos zu ziehen“(BMG, 127). Noch erbarmungsloser als Marke
geht deshalb Marduk in seinem Tun vor. Er hat sich für das Irrationale,
gegen die fortschrittlichen Stadtschaften entschieden. So treibt auch er die
Bewohner der Städte auf die Äcker. Noch dazu läßt er die Städte
versumpfen und zerfallen (vgl. BMG, 156). Er handelt gegen die
Wissenschaften, aber wiedersprüchlich wendet er selber diese an, da er
ursprünglich auch zu diesem Lager zu zählen ist. Marduk ist selbst ein
Wissenschaftler, der in den Laboratorien Pflanzenversuche durchgeführt
hatte (vgl. BMG, 114). Dank seiner Forschung erstellt er einen Wald von
künstlichen Buchen, in den er die 42 Gefangenen, die gesamte
Führerschaft der Eisenfreunde, einsperren läßt (vgl. BMG, 113). Die
Pflanzen und Bäume in diesem Wald hatten einen eigentümlichen
Charakter, sie entwickeln sich in einer unglaublichen Kürze zu einer
ungewöhnlichen Größe. Die Gefangenen müssen mit entsetzen zusehen,
wie sich diese „junge Pflanzung“ (BMG, 114) in ungeheuerlicher Weise
aufbäumt, wächst. In Schrecken versetzt können sie nicht fliehen und
werden in dem knarrend knirschend immer dichter werdenden Wald, der
künstlich gestalteten Natur, zu Tode gequetscht. Die Bäume halten mit
dem Wachsen erst inne, als sie zu den Mauern des Gartens gelangen. Die
zirkulierende,
fruchtbare,
unbändigbare
Natur
wird
mit
Hilfe
der
Wissenschaft in Grenzen gesetzt, zu einer mordenden „Kiste“ (BMG, 116)
geformt. So soll vielleicht die Natur gerächt werden. Daß dies aber nicht
durch die Natur selber durchgeführt wird sondern eine künstliche Ursache
darstellt, zeichnet hiermit aus, daß Marduk sich selbst noch nicht vom
patriarchalen Gedankengut und patriarchaler Denkweise verabschieden
konnte. Er ist wahrhaftig noch selber Mitglied dieses Systems, doch weist
60
er auf eine Übergangsphase von dem apollinische-patriarchalen zum
demetrisch-matriarchalen hin. Mit dieser Zusammenführung kann der
Romancharakter
Marduk
mit
dem
mythischen
Charakter
Marduk
identifiziert werden. In dem babylonischen Schöpfungsmythos weist
Marduk sich als das Grenzbegriff anstelle des weiblichen „einen obersten
männlichen Gott als Herrscher der Welt einzusetzen“82, wobei im
babylonischen Mythos verglichen mit dem Alten Testament „bei weitem
mehr an matriarchalischen Resten übrig geblieben ist“83. „Der babylonische
Bericht hört da auf, wo der biblische beginnt.“84 Denn hier wird nicht wie im
Alten Testament das Weibliche ganz ausgeschlossen, sondern hat noch
am Uranfang ihren Platz. In der babylonischen Mythologie ist an den
Ursprung von allem Tiamat, als ein Ebenbild des Magna Mater, der großen
Mutter gestellt. Sie wird jedoch von ihrem Sohn Marduk besiegt und in zwei
Teile geteilt, womit er nun Himmel und Erde formt.85 Der Kampf zwischen
Tiamat und Marduk bringt „die Erinnerung an den Kampf zweier Religionsund Gesellschaftsverfassungen, an den Kampf zwischen der alten
matriarchalischen, durch Nacht, Wasser, Materie gekennzeichneten,
mütterlich-chthonischen und den neuen, durch Licht, Wind, Geist
gekennzeichneten väterlichen Religionen.“86 Doch im Betrachtnahme der
Geschehnisse in Berge Meere und Giganten ist eine umgekehrte Richtung
aufzunehmen, es ist nicht eine von dem matriarchalen zum patriarchalen
sondern eine von dem patriarchalen zum matriarchalen zurückführende
Handlung der Fall. Man will nicht mehr die Natur, das Chthonische
bezwingen und herabsetzen, sondern die Technologie fortschaffen. Doch
auch gegen Marduk werden Bündnisse geschlossen; er wußte seine
„Feinde, die Männer und Frauen der Apparate, der hohen Wissenschaft
82
Erich Fromm: Liebe Sexualität und Matriarchat. München, 1997. S. 77.
ebd. S. 77f.
84
ebd. S. 89.
85
ebd.
86
ebd.
83
61
wollten dem Land an die Gurgel, sein Werk zerstören.“(BMG, 189) Im
Kampf für seine Sache kommt Marduk aber um.
Nebeneinander existieren nun die Anhänger des matriarchalischen
Weltbildes, d.h. also die Marke und Marduk verpflichteten Massen und das
dem patriarchalen, der Technik huldigenden Massen. Ein fortwährender
Kampf wird zwischen diesen Fronten geführt. Das Schauererregende so
nahe an dem Halse zu spüren, ist ein Risiko, daß eliminiert werden muß.
Die Herrengeschlechter haben wieder einen grandiosen Plan: „Es müsse
ein neuer Erdteil geschaffen werden. Die Stadtreiche werfen dahin ihren
Menschenüberfluß und ihr krankes Material ab. […] Einen Erdteil, ein
ganzes Land aus dem Ozean graben; das war der Plan.“(BMG, 286) Damit
will man das Siechtum der nach-uralischen Zeit beenden und zeigen, was
der Menschengeist leisten könne. Sie werden gewarnt, das Gleiche zu
machen, was sie schon in dem Uralischen
Krieg gemacht hatten. Sie
würden am Ende auch sich selbst damit zerstören (vgl. BMG, 288).
Wirklich schritten sie mit diesem Plan über die „Grenzen des Wirklichen
und Möglichen“. Diesmal war das Ziel aber nicht der Osten oder der
Süden, sondern, sie gingen wahrhaftig über ihre eigenen Stereotypen
hinaus, nach Norden. Grönland sollte vom Eis befreit werden. So gingen
die Eisenmenschen, die Herren und Herrinnen der Technologie auf ihr
eigenes Ende zu. Denn wieder geht der westliche Mensch seiner Vernunft
folgend gegen das Chthonische. Dabei haben sie die Lehre des uralischen
Krieges vergessen und anscheinend erst gar nicht akzeptiert. Aber die
Menschen haben anscheinend vollends verdrängtl, daß die Natur nicht nur
als Gebende, sondern auch als Nehmende fungieren kann und verglichen
mit dem menschlichen Zerstörungstrieb sogar eine noch unheimlichere
Größe aufweisen kann. Nur die Natur, die Erde entscheidet wieder am
Ende, wer, was und wie am Leben bleiben kann. Denn „sie ist und bleibt
eben die Urmutter! Sie wird es ewig bleiben. Weh dem, der es vergißt.“
(BMG, 277). Doch sie haben es schon längst vergessen, nicht einmal den
Uralischen Krieg haben sie in ihrem Gedächnis behalten können...
62
3. Dionysischer Eros vs. Apollinischer Logos
Die Ursprünge der westlichen Literaturgeschichte sind im antiken
Griechenland verankert. In diesen Ursprüngen verbergen sich jedoch auch
die stereotypischen Motive und Konstellationen. Beispielhaft sollen für die
Interpretation des Döblinschen Romans "Berge Meere und Giganten" zwei
der bedeutendsten antiken Tragödien herangezogen werden. Anhand
dieser Tragödien soll die vorliegende Problematik von Formauflösung und
Groteske erläutert und die gezogenen Schlüsse auf den Roman projiziert
werden.
Die Dialektik dieser Tragödien steht beispielhaft für die "apollinische" und
die "dionysische" Lebens- und Kunstauffassung in der westlichen
Literaturgeschichte, wie sie auch Friedrich Nietzsche in seiner Schrift "Die
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" bespricht. Somit kann
durchaus behauptet werden, daß es sich bei diesen Tragödien um
"indirekte" Intertexte des Romans "Berge Meere und Giganten" handelt.
Bei der ersten Tragödie handelt es sich um den dritten und letzten Teil der
mit "Orestie" betitelten Trilogie von Aischylos (525 - 456 v. Chr.),
namentlich um "Die Wohlwollenden". Den Gegenpol zu dieser Tragödie
bildet Euripides' "Die Bakchen"87.
Kulturell ist die "Orestie" in das Zeitalter der athenischen Hochklassik
einzuordnen, das Zeitalter, in welchem Athen den Sieg über die Perser
errungen hat, nämlich die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Camille Paglia
zieht hinsichtlich der kulturhistorischen Relevanz der "Orestie" eine
äußerst aufschlußreiche Bilanz:
87
Euripides: Die Bakchen, in: Digitale Bibliothek Band 30: Dichtung der Antike von Homer bis Nonnos,
Berlin, 2000.
63
"Die Orestie rekapituliert die Geschichte, beschreibt sie als Fortgang
von der Natur zur Gesellschaft, vom Chaos zur Ordnung, vom
Weiblichen zum Männlichen."88
Somit liefert sie Dichotomien, die sich als apollinisch-dionysische
Antithesen entpuppen: die Gottheit Apollon wird in dieser Passage von
den Attributen Gesellschaft, Ordnung und Männlichkeit repräsentiert,
während Dionysos Natur, Chaos und Weiblichkeit impliziert. Somit können
wir die These aufstellen, daß es sich bei der "Orestie" um die Darstellung
der Überwindung der dionysischen Gottheit und die Emanzipation
Apollons handelt. Zugunsten eines besseren Verständnisses sollte knapp
darauf eingegangen werden, um was es in diesen Tragödien eigentlich
geht.
In "Die Wohlwollenden", dem letzten Teil der betreffenden Trilogie, geht es
um den Prozeß der Orestes gemacht wird, weil er seine Mutter
Klytämnestra umgebracht hat, denn diese wiederum ließ seinen Vater
Agamemnon von ihrem Liebhaber ermorden. Der Grund des Hasses von
Klytämnestra
auf
Agamemnon
beruht
auf
der
Opferung
ihrer
gemeinsamen Tochter. Orestes wird mit Hilfe von Apollon und Athene
freigesprochen, denn der patriarchalischen Gesinnung zufolge wiegt
Vatermord schwerer als Muttermord. Es war Johann Jakob Bachofen, der
den Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat in dieser Tragödie
nachgewiesen hat.89
In diesem Kapitel jedoch ist der ästhetische Aspekt dieses Übergangs von
Interesse, denn spätestens seit Nietzsche wissen wir, daß Apollon die
abgeschlossene Form repräsentiert. Daraus resultiert die Einsicht, daß
Dionysos
den
Schwund
der
Form,
ihre
dynamische
Auflösung
symbolisiert. Das schlägt sich - nebenbei bemerkt - auch in der Orestie
nieder: Der dritte und somit für uns wesentliche Teil der Trilogie lautet "Die
88
89
Camille Paglia: S. 132.
vgl. Johann Jakob Bachofen: S. 141
64
Wohlwollenden". Die Wohlwollenden, d.h. die Eumeniden sind das
Ergebnis
der
apollinischen
Transformation
der
Erinnyen,
der
Rachegöttinnen, die die Bestrafung Orestes' für die Ermordung seiner
Mutter fordern. Somit repräsentieren sie das "chaotische Mutterrecht".
Interessant ist in unserem Rahmen jedoch das Aussehen dieser
Rachegöttinnen und ihre Attribute
v o r
ihrer Transformation und die
Attribute, die ihnen Apollon höchstpersönlich verleiht.
Apollon verjagt die häßlichen Erinnyen, die Orestes bis in den Tempel von
Delphi verfolgt haben, mit folgenden Worten:
"Hinaus, befehle ich, aus meinem Hause, schnell!
Geht fort, entfernt euch von dem Seherheiligtum,
sonst soll euch eine weiße Flügelschlange treffen,
die von der goldnen Bogensehne schwirrt, und ihr,
vor Schmerz, sollt schwarzen Schaum aus euren Lungen sprühen,
Blut speien, das ihr von Ermordeten gesogen!
Ihr habt bei diesem Hause nichts zu suchen, nein,
am Hochgericht, dort, wo man köpft und Augen aussticht,
wo man die Zeugungskräfte junger Leute durch
Entmannung tilgt, wo man verstümmelt, steinigt, wo
die durch das Rückgrat Aufgespießten lange noch
erbärmlich stöhnen! Hört ihr, welche Feste ihr
ersehnt und damit nur den Haß der Götter erntet?
Ein jeder Zug an eurem Äußeren gibt Auskunft.
Die blutbespritzte Höhle eines Löwen steht
euch als Behausung zu, nicht Aufenthalt in der
Orakelstätte, euch, dem Abscheu aller andren!
Zieht ab und grast auf eurer Weide, ohne Hirten!
Kein Gott ist einer solchen Herde zugetan."90
90
Aischylos: Die Orestie, S. 129. Digitale Bibliothek Band 30: Dichtung der Antike von Homer
bis Nonnos, Berlin, 2000.
65
Hier findet die von Paglia erwähnte und für die abendländische Ästhetik
äußerst
folgenreiche
dichotomische
Unterscheidung
statt:
Die
"Häßlichkeit" und die "Boshaftigkeit" der Erinnyen wird mit ihrer Affinität
und Nähe zur Natur assoziiert, die in äußerstem Gegensatz zur Kultur und
deren
Errungenschaften
steht.
Somit
ergeben
sich
folgende
Gleichsetzungen:
Apollon = Kultur = Form = Justiz
Erinnyen = Natur = Formlosigkeit = Blutrache
Durch ihre Affinität zur Natur und den Gegensatz zu Apollon können die
Erinnyen durchaus durch Dionysos ersetzt werden. Sehr interessant ist
auch, daß die Erinnyen für die Auflösung (und dementsprechend neue
Zusammensetzung) der statischen, d.h. abgeschlossenen Form stehen.
Somit entpuppen sie sich als Hüterinnen antiklassizistischer, d.h. antiapollinischer Tendenzen.
In dem etwa fünfzig Jahre später von Euripides (um 480 - 406 v. Chr.)
verfaßten Drama "Die Bakchen" wird die klassische Weltsicht, wie sie sich
auf mythisch-utopische Weise in der Überwindung der Natur in der
"Orestie" des Aischylos äußert, zugunsten eines anarchischen und
ordnungsauflösenden Prinzips aufgegeben. Hinter diesem Prinzip steckt
kein Geringerer als die Gottheit Dionysos: Der "fremde" Gott, der erst in
unbekannten und exotischen, somit orientalischen Gefilden seinen
Glauben verkündet und verbreitet hat, hält in dieser Tragödie Einzug in
der ersten griechischen Stadt (= Europa), nämlich Theben. In der Person
des Königs Pentheus wehrt sich diese Stadt gegen die dionysische Woge.
Und literarhistorisch betrachtet markiert Euripides' besagte Tragödie den
Schwund der vollendeten Form zugunsten einer grotesken Auflösung, die
sich in schlüpfrigen Zweideutigkeiten äußert und deren wichtigste
66
rhetorische Figur die Ironie darstellt: Es verschwimmen die Grenzen
zwischen den Geschlechtern, es halten brutale Verstümmelungen und
Zerstückelungen Einzug. Somit manifestiert sich die Tragödie "Die
Bakchen" als eine Gegenrede zu Aischylos' "Orestie". Historisch
betrachtet herrscht im Gegensatz zum Zeitalter der "Orestie" keine
Hochstimmung. Paglia kommentiert diesen Tatbestand wie folgt:
"Nach 431 v. Chr. war Athen durch die Pest, den fehlgeschlagenen
Kriegszug nach Sizilien und die Niederlage gegen Sparta im
Peloponnesischen
Krieg
am
Boden
zerstört.
Idealismus
und
Sendungsbewußtsein waren geschwunden; zu apollinischer Klarheit und
Vollkommenheit reichte es nicht mehr. Euripides' Stück Die Bacchien,
hervorgegangen aus Selbstzweifel und Selbstkritik der Stadt, wendet die
Orestie ins Gegenteil: Die chtonische Natur, die Aischylos besiegt,
schlägt mit furchtbarer Gewalt zurück."91
Auf archetypische Weise erinnert dieser historische Hintergrund an die
Vorgänge, wie sie Döblin in seinem Roman "Berge Meere und Giganten"
schildert: Wiederum eine patriarchal-urbane Kultur, die auszieht, um die
Welt zu besiedeln, die Natur zu unterwerfen, um somit auch die
entferntesten
und
unbekanntesten
Gebiete
zu
akkulturieren
und
bewohnbar zu machen. Und somit ist auch das Anliegen dieses Kapitels
angesprochen: auf archaische Art wiederholen sich die Vorgänge in einem
Roman des 20. Jahrhunderts: eine überzüchtete und überfeinerte und
somit dekadente Kultur wird mit den mannigfaltigen Erscheinungsformen
der chtonischen Mutter Natur konfrontiert, die bis dato absolut unterworfen
schien. Dieser Rückfall von "Kultur" in "Barbarei" ist bezeichnenderweise
gespickt mit grotesk-surrealen Darstellungen, die Alfred Döblin auf
großartige Weise verbildlicht. Ebenfalls kann behauptet werden, daß es
sich auch in der von Alfred Döblin dargestellten Epoche um ein Zeitalter
91
Camille Paglia: S. 133.
67
des Übergangs, der Umbrüche, Umwälzungen und Revolutionen handelt.
Mechthild Curtius vertritt in dieser Hinsicht die Auffassung, daß
"(...) die Form der Groteske oft in Zeiten bevorzugt (wird), da in der
Gesellschaft Umstrukturierungen stattfinden, alte Ordnungen verfallen
und Wertorientierungen sich als nicht mehr gültig erweisen."92
Die Bewegungsrichtung der Veränderungen in Döblins Roman lautet
jedoch vom Apollinischen zum Dionysischen. Eine Affinität zwischen dem
Dionysischen93 und dem Grotesken stellt Peter Fuß folgendermaßen fest:
"Die ephemere Fixierung der Epochen ist ein territorialer Effekt des
Klassisch-Apollinischen.
Die
Bewegung
der
Geschichte
ist
ein
nomadischer Effekt des Grotesk-Dionysischen."94
Somit ist von einer dynamischen Auflösung einer statisch festgefahrenen
("klassischen") Ordnung die Rede. Das äußert sich schon in den
Kapitelüberschriften von zwei Kapiteln des Romans. Die Rede ist von dem
zweiten Kapitel mit der Überschrift "Das Auslaufen der Städte" und von
dem siebten Kapitel mit dem Titel "Die Enteisung Grönlands" (H. v. m.).
Bezeichnend ist, daß die besagte dynamische Formveränderung auf
programmatische Art sowohl Natur (Grönland), als auch Kultur (Städte)
umfaßt und somit vor nichts haltmacht.
Dieses dynamische Prinzip der Bewegung, welches dionysische und somit
groteske Formveränderung zeitigt, nennen wir in seiner Affinität zu Natur
und seiner Feindschaft zum logozentrischen Prinzip das erotische Prinzip.
Im Gegensatz zum logozentrischen, auf rationelle Art und Weise
zerteilenden und benennenden Prinzip, strebt das erotische Prinzip eine
92
Mechthild Curtius: Das Groteske als Kritik, in Literatur und Kritik, Nr. 65, 1972, S. 294.
vgl. dazu auch Nevzat Kaya (2000). In dieser Arbeit ist es Dionysos, der als Gott des Grotesken
fungiert.
94
Peter Fuß: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln u.a., 2001, S. 494.
93
68
Vereinigung mit seiner Umgebung an. Michail Bachtin bringt genau dieses
erotische Prinzip zur Sprache, wenn er von den Eigenschaften des
grotesken Körpers spricht:
"Der groteske Leib ist ein werdender Leib. Er ist niemals fertig, niemals
abgeschlossen. Er ist immer im Aufbau begriffen, im Erschaffenwerden.
Und er baut und erschafft selbst den anderen Leib. Außerdem schlingt
dieser Leib die Welt in sich hinein und wird selber von der Welt
verschlungen. Die wesentliche Rolle im grotesken Leib spielen deshalb
jene Teile, jene Stellen, wo der Leib über sich hinauswächst, wo er seine
Grenzen überschreitet, wo er einen neuen (zweiten) Leib zeugt: der
Unterleib und der Phallus."95
Aus dieser Definition resultiert die Ablehnung des Grotesken von Seiten
des apollinischen Formprinzips: Wenn die Form schwindet herrschen
antiklassizistische, d.h. in dieser Hinsicht dynamische Prinizipien. Auch
hinsichtlich der Körperauffassung sind in dieser Formulierung interessante
Anspielungen vorhanden: der Unterleib und der Phallus sind die
grotesken, somit die "dionysischen" Körperteile, während der Kopf (und
mit ihm die Augen) der apollinischen Ratio geweiht sind.
Im Roman ist in dieser Hinsicht das Grönland-Kapitel von äußerster
Bedeutung. Die wissenschaftliche Expedition, die nach dem Uralischen
Krieg die größte Insel der Erde vom Eis befreien will, um sie somit
bewohnbar
zu
machen,
zeitigt
die
schlimmsten
Folgen.
Der
chronologische Ablauf der Ereignisse bestätigt in der Tat die Überschrift
dieses Kapitels: ein stetiges Schwinden des Logos zugunsten des Eros
zeichnet dieses Experiment der Menschheit aus. Auch auf symbolischer
Ebene vollzieht sich der Schwenk von apollinischen Verhältnissen (Eis,
95
Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a. M.,
1996, S. 16f.
69
Kristallisierung,
d.h.
Disziplinierung)
zu
dionysischen
Stadien
(Verflüssigung, Auflösung, Dekomposition).
In sogenannten Turmalinschleiern wird die Energie der Vulkane von Island
gespeichert. Diese schwebenden Turmalinschleier werden nach Grönland
transportiert, so daß das ewige Eis Grönlands wegschmilzt. Diese
Turmalinschleier symbolisieren eine künstliche, heiße Sonne: erfunden
von technologisch begabten Männern: eine Aufklärung im doppelten Sinne
des Wortes. Mit den Mitteln der Aufklärung (künstliche "Sonne") ist diese
Expedition dazu ersonnen worden, um Grönland der Zivilisation zu
gewinnen, d.h. hier wird die Natur wieder einmal "kolonialisiert" und ihre
letzten Geheimnisse sollen ihr dadurch entrissen werden:
"Das große Feuer brannte über Grönland. Tief überschauerte es sie; das
heilige Feuer, das sie aus der Vulkaninsel gehoben hatten." (BMG, 380)
Die künstlich ausgelösten geographisch-biologischen Veränderungen
werden in grandiosen Bildern von Döblin wiedergegeben: hier wird
deutlich, daß die rationelle künstliche Sonne eigentlich die Ketten der
Natur gesprengt hat. Ihrer Gebärfähigkeit sind durch das Schwinden des
apollinischen, nördlichen Eises keine Grenzen gesetzt. Diese Zeilen
geben uns eine mythisch entfesselte, geile Natur wieder. Auch drückt sich
die "Entfesselung" auch in den ungewohnten Farben und exotischen
Eindrücken aus:
"Diese Sonne, die über Gebirge Ebenen Seen jetzt übertropische Wärme
warf, war von wilderer Gestalt als der ferne alte Gasball. Unter dieser
Sonne, die dicht über ihnen lag, erhob sich das Begrabene und Tote. Die
Sonne riß es hoch." (BMG, 395)
70
Und nun folgen Visionen, die in ihren phantastischen Dimensionen und
Beschreibungen die Theorien des Grotesken lediglich bestätigen. Es
scheint sich um die "Hexenküche" der Mutter Natur zu handeln:
"Es kam ein Schmachten Wüten in die Dinge, daß sie sich bogen und
streckten. Langsam regten sich die Gesteine. Die Ebenen des Landes
hoben sich, überall wuchsen die Lager aus, drängten hoch, schoben sich
übereinander. Rascher waren die Moose Algen Farne Gräser Fische
Schnecken Würmer Eidechsen, großen Säuger. Keine neuen Keime
flogen über die See herüber. Die zermürbten Trümmer der Kreidezeit,
Knochen Pflanzensplitter fanden wider Leben. Dies wütende Licht backte
zu Leibern zusammen, was es fand." (BMG, 395)
Das
Resultat
dieses
Experimentes
höhnt
aller
rationellen
Vorstellungskraft:
"Es gab in dem Grönland umziehenden Gewebe nicht zu unterscheiden
Lebendes und Totes, Pflanzen Tier und Boden. Pflanze legte sich an
Pflanze, hielt langsam schwimmende anschnellende Tiere mit Ranken,
stützenden Blüten fest, die Tiere wurden ihre Teile. Diese Pflanzen hatten
selbst Saugwurzeln Stützwurzeln von allen Stellen her. Ihre Blütenhaare
Ranken bildeten sie zu Saugern Füßen Kiefern aus; waren Tiere und
Pflanzen in eins." (BMG, 394)
In zweierlei Hinsicht bilden diese Auschnitte Paradebeispiele für das
Groteske: Hier kann zum einen eindeutig von "demiurgischer Kreativität"96
gesprochen
werden:
"Dies
entspricht
dem
antiken
Konzept
der
Weltschöpfung durch einen Demiurgen, der vorgefundener Materie Form
verleiht."97 Hier wird in der Tat nichts Neues "kreiert": parallel zum Begriff
96
97
Peter Fuß: S. 212.
ebd.
71
des "Dionysischen" verlieren hier altbekannte Objekte (Pflanzen, Tiere,
Mineralien) ihre definitorische Eindeutigkeit und fügen sich zu einem
"neuen" Ganzen, d.h. es wird gar nichts "Neues" in definitorischer Hinsicht
erfunden, Mutter Natur, die dem antiken Demiurgen entspricht, erweist
sich hier als äußerst kreativ, dementsprechend wird dieser Aspekt des
Grotesken auch "demiurgische Kreativität" apostrophiert. Diese Art der
Kreation deckt sich auch mit der oben erwähnten Eigenschaft des
Erotischen. Schwindet die definitorische Eindeutigkeit, ist es auch aus mit
jeglicher logozentrischer Einordnung: die Natur scheint Rache an ihrer
"Enzyklopädisierung" zu nehmen und
höhnt allen aufklärerischen
Tendenzen. Das ist jedoch auch kongruent mit dem Prinzip des
Dionysischen. Nietzsche vertritt hierzu in seiner "Geburt der Tragödie aus
dem Geiste der Musik" folgende Ansicht, die äußerst bedeutungsvoll
hinsichtlich der Reaktion der Teilnehmer der Expedition auf diese
Geschehenisse ist:
"An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen
geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den
Erkenntnisformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom
Grunde, in irgendeiner seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden
scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung
hinzunehmen, die bei demselben zerbrechen des principii individuationis
aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so
tun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten
noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird."98
Diese oben besagte Ausnahme ist wortwörtlich als die Groteske par
excellence aufzufassen. An der Vermengung von Tierischem und
98
Friedrich Nietzsche: S. 66528.
72
Pflanzlichem99 wird die Welt entfremdet und der Abgrund zur dionysischen
Natur öffnet sich. Die Reaktion der Menschen auf diese Naturereignisse
wird prägnant vom Psychiater Alfred Döblin wiedergegeben:
"Sie waren in den Wochen, die sie unter dem wonnigen Licht fuhren,
aufgelockert worden: Weinen und Lachen kam ihnen leicht. Jetzt
wimmerten sie, das Schluchzen fuhr ihnen aus dem Hals, verkrochen sich
an den Schiffen, wollten nicht weiter. Was sollte kommen. Jetzt in dem
Entsetzen erinnerten sie sich Islands, der stampfenden und tobsüchtigen
Vulkane. Die waren es, die über Grönland brannten, diese Wesen
erzeugten. Weg von ihnen, es war genug. Was taten die Stadtschaften;
diese verruchten Stadtschaften, was machten sie mit ihnen. Sie umfingen
zitternd die Führer, die sich selbst kaum aufrechthielten, drängten, daß
man nach Süden drehe. Und doch war in die Angst vor den Untieren eine
andere Angst gemischt: fort zu müssen aus diesem Meer, totes Leben
sollte wieder beginnen. Sie fürchteten sich vor der Rückkehr." (BMG,
385)
Analog
zu
der
"demiurgischen
Kreativität"
der
Natur,
die
zu
verschwimmenden Grenzen zwischen Objekten führt, verändert sich auch
die Persönlichkeitsstruktur der Teilnehmer: sie nimmt immer mehr
manisch-depressive Formen an und scheint die These Nietzsches zu
bestätigen. In der Art, wie Gustav von Aschenbach in der Novelle "Der
Tod in Venedig"100 von Thomas Mann Venedig nicht verlassen kann,
können auch die Teilnahmer dieser Expedition dieses Wonnemeer bei
Grönland nicht verlassen, obwohl sie wissen, daß sie (ebenfalls wie bei
Aschenbach) dem Untergang geweiht sind. Denn die Stadtschaften, wohin
sie nicht zurückkehren wollen, entsprechen apollinischen Hochburgen
(siehe Thomas Manns München!). Die See bei Grönland entspricht dem
99
vgl. hierzu Kasim Egit: Friedrich Dürrenmatt. Aufbau und Erzählstrukturen seines Prosawerks,
Izmir, 1987, S. 45.
100
Thomas Mann: Der Tod in Venedig, Frankfurt a. M., 1992.
73
dionysischen Taumel Nietzsches, welches ihre Persönlichkeit zerfließen
läßt
und
sie
auf
regressiv-kindliche
Art
manisch-depressive
Persönlichkeiten an den Tag legen und ihre Individualität in der Art
verlieren, wie die Objekte um sie herum auf uneindeutige Weise
zusammenbacken: sie werden sich alle letztenendes immer ähnlicher, d.h.
sie sind quasi irre geworden an den Erscheinungen (siehe Nietzsche!)
Doch zurück zum Grotesken. Oben behaupteten wir, daß es sich bei
diesen Ausschnitten in zweierlei Hinsicht um Paradebeispiele des
Grotesken handeln würde. Der erste Grund wurde erörtert (siehe
"demiurgische Kreativität"). Nun steht der zweite Grund zur Diskussion.
Hier begegnet uns das Groteske auch unter dem Aspekt des
"Chimärischen".
Aus
dieser
Perspektive
betrachtet
markieren
die
Ereignisse auf Grönland einen Epochenumbruch: die Tiere, die auf
verzweifelte Art an Riesen aus Vorzeiten, d.h. Dinosaurier, erinnern,
bilden die "natürliche" Brücke in regressive, d.h. archaische Zeitalter.
Kulturhistorisch bedeutet dieser Vorgang folgendes: wie in der "Orestie"
des Aischylos der Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat dargestellt
wird, fungiert diese groteske Apokalypse Grönlands als der Übergang vom
wissenschaftlich-technologisch-patriarchalem Zeitalter zum mythischen
Matriarchat, d.h eine Regression, die aber als Utopie vielversprechend zu
sein scheint, denn im Gegensatz zum patriarchalen Vorteilsdenken, mutet
diese neue erotische Ordnung auf "mörderische" Weise brüderlich, ja fast
"sozialistisch" an. Hier können wir durchaus eine gesellschaftskritische (im
Sinne
des
revolutionären
Expressionismus)
Note
vermuten.
Das
"Zusammenbacken" der Mutter Natur findet u. a. auf folgende Art und
Weise statt:
"Oft fuhren Gebüsche drohend wie Arme gegeneinander, schienen sich
ersticken zu wollen. Dann brachen ihre Äste bei er Berührung; sie
schmolzen zusammen; gemeinsam flutete ihre Nahrung in alle; ein
großes Wesen erhob sich." (BMG, 397)
74
Die Natur scheint hier den Menschen ein sozialistisches Konzept
vorführen zu wollen: sie erweist sich als egalitaristische Magna Mater, die
schon auf Venaska vorauszudeuten scheint. Die Parole lautet hier: je
weniger Individualismus (Apollon!), desto mehr ist für alle da (Dionysos!).
Peter Fuß bemerkt hinsichtlich des erwähnten Epochenumbruches (auch
viel prägnanter als die oben erwähnte Mechthild Curtius) folgendes:
"Als Überblendung diachron oder synchron fremder Kulturformationen
ist der anamorphotische Mechanismus der Vermischung Quelle der
Epochenbrüche. Sein Produkt, die Chimäre, ist die Gestalt des Werdens
und der Veränderung."101
Also erweist sich der Übergang vom logozentrisch-statischen zum
erotisch-dynamischen Zeitalter als "chimärisch" und das kann man auch
an den Ungeheuern erkennen, die von Grönland ausgehend die ganze
Welt regelrecht bedrohen. Es bahnt sich die Apokalypse an, denn die
Ungeheuer verfügen über unglaubliche Fähigkeiten. Von Grönland
kommend erreichen sie Europa:
"Unaufhörlich wie ein Blütenbaum seinen gelben Sonnenstaub warf
Grönland seine lebendigen Massen von sich. Auf Skandinavien
schmetterten sie nieder; dies war das erste Land, auf das sie stießen."
(BMG, 404)
Die Analogie zum Baum, der seinen Blütenstaub von sich wirft, erinnert an
Camille Paglias Apfelbaum, ihrem Bild für Natur:
"Ein mit Früchten überladener Apfelbaum: was für ein friedlicher,
reizender Anblick. Aber setzen wir die rosarote Brille unseres
101
Peter Fuß: S. 355f.
75
Humanismus ab und schauen wir noch einmal hin. Dann sehen wir, wie
die Natur schäumt und überquillt, sehen, wie sie ihre Samenblasen
unablässig heraussprudelt und in jenem unmenschlichen Kreislauf aus
Verschwendung, Fäulnis und Metzelei zerplatzen läßt."102
Paglias Definition von Natur paßt haargenau auf die Wesen, die in
Skandinavien ankommen, denn alles, was sich ihnen in den Weg stellt,
wird "erotisiert" im wahrsten Sinne des Wortes und verläßt die
Bachtinschen "Körpergrenzen". Die Tiere verenden zwar, aber ihr Tod hat
eine tödliche Nebenwirkung. Nachdem sie quasi "zerplatzen" geschieht
folgendes:
"Wen die Fasern des Gewebes berührten, was von denm dampfenden
blasenwerfenden Blut bespritzt wurde, veränderte sich im Augenblick.
Schafherden leckten übergischt an dem Blut. Die Zunge quoll ihnen über
die Zähne weg, fiel auf das Gras, sich verbreiternd verdeckend. Die Tiere
standen da, zerrten an den fürchterlichen Organen, an denen sie sofort
erstickten." (BMG, 406)
Somit sorgen diese Untiere für die Veränderung, d.h. die Expansion der
"klassisch-statischen" Körpergrenzen: Der Bezug zur Häßlichkeit und zum
Monströsen stellt eine Regression dar, die an die Häßlichkeit der Erinnyen
des Aischylos erinnert: somit erweisen sich auch aus dieser Perspektive
die Konsequenzen des Grönland-Abenteuers als ein Rückfall, denn die
Klassik domestiziert das Häßliche zum Schönen, nun geschieht genau
das Gegenteil: das Normale ufert aus und wird in seinen Ausmaßen auf
phantastische Art monströs und das ist die beste Bestätigung der
Bachtinschen Thesen vom grotesken Körper.
Dieser Invasion versuchen die westlichen Mächte Einhalt zu gebieten,
indem sie künstliche Turmmenschen kreieren. Der unbestimmbaren Form
102
Camille Paglia: S. 45.
76
der Untiere und der "angesteckten", ausufernden Lebewesen setzt die
apollinische Kultur gigantische Frankenstein-Wesen entgegen, die in ihrer
Form äußerst aufschlußreich sind: sie besitzen glatte, taube Flächen und
neutralisieren, überall an den Küsten aufgestellt, die Expansionskräfte der
verknospten und ausufernden dionysischen Ungeheuer.
Man wirft Menschen, die man ohnehin loswerden will, in eine Nährlösung,
worauf sich ein kontrolliertes Wachstum und eine Versteifung und
Begradigung der Gliedmaßen einstellt. Am Schluß hat man ein Mittelding
zwischen einem Turm und einem Menschen erschaffen: Sie besitzen die
Kraft, alles Natürliche zu absorbieren, d.h. in sich aufzunehmen und somit
festzuhalten. Aus dieser Perspektive betrachtet, stellen sie das absolute
Gegenteil der Ungeheuer aus Grönland dar: Während die Ungeheuer sich
explosionsartig verbreiten und an eine sich ausbreitende Epidemie
erinnern, hemmen die Turmmenschen die Natur: sie absorbieren die Natur
quasi und sorgen für eine Neutralisierung der besagten Epidemie: die
Natur implodiert in die Turmmenschen hinein. Somit erweisen sie sich als
gigantische Antibiotika!
"Man wagte es an einer skandinavischen Insel, zwei starkmähnige
Löwen, die an der afrikanischen Nordküste gefangen waren, aus Käfigen
lebend auf die Schultern des Turmmenschen springen zu lassen. Sie
bissen sich, krallten sich, während der Riese (...) zwinkerte, an seinem
Hals fest. Das war der Ort, den man ihnen zugedacht hatte, den sie
decken sollten. Sie zogen die Zähne nicht mehr aus der bluttriefenden
Haut. Die Tatzen ließen sie los; aber schlaff hingen die gelben Körper
über dem rotüberrieselten Nacken; ihr Fell schmiegte sich an den
Riesen; ihre Beine waren nur Wülste auf der Menschenhaut. Über ihnen
pulsierte der meterhohe Kopf des Turmwesens, von langen buschigen
Haaren überschaukelt." (BMG, 420)
Und schließlich der Sieg mit Hilfe dieser Turmwesen über die Drachen:
77
"Der Turm in den Bergen schmetterte die Lurche, die gierigen Drachen
unter sich. Unten wuchs sein Boden, neue Säfte stiegen in ihm auf; er
zwinkerte, das Wasser troff aus seinem Mund. Traurig dumpf brüllte das
Wesen." (BMG, 421)
Hier begegnen sich Logos und Eros: Die Turmmenschen könnte man
auch mit "totem Leben" unterscheiden, welche oben Erwähnung gefunden
hat. Die Gefahr ist zwar gebannt, jedoch für einen hohen Preis: Die
Zivilisation, die sich der Natur erwehrt, tut dieses mit Mitteln, die an
primitive Zeiten der Sklaverei gemahnt.
Auch
zeigt
diese
scharfe
Konfrontation,
daß
an
allen
diesen
katastrophalen Vorgängen die Zivilisation selbst schuld ist. Ein Verlust an
Ganzheit zeichnet diese Untergangskulturen aus, d.h. sowohl Logos als
auch Eros sind wichtig und unabdingbar, wird eine zu sehr favorisiert, wie
in unserem Fall der apollinische Logos, fordert das den dionysischen Eros
zum Gegenangriff geradezu heraus. Solange der Ausgleich nicht
gefunden ist, eine ganzheitliche Lebensweise, die beide Prinzipien
gleichberechtigt in sich vereinigt, will eine harmonische Art und Weise des
Lebens miteinander, so die Botschaft des Romans, nicht gelingen.
78
Schlußbemerkung
Es hat sich herausgestellt, daß ein Klassiker der Moderne auf äußerst
antiken und archaischen Intertexten aufbauen kann. Im ersten Kapitel
(Das Schwinden der Männlichkeit und matriarchale Reminiszenzen)
konnten wir als Intertext die Bachofen’sche Auffassung des Matriarchats
orten: einer technisierten und aus diesem Grunde entarteten und
dekadenten Ordnung stellt Döblin eine erotische, matriarchal gefärbte
“Utopie” entgegen, deren Übergang jedoch äußerst gewalttätig erfolgt.
Diese Gewalttätigkeit des Übergangs manifestiert sich z. B. in Figuren wie
Melise von Bordeaux oder den Ungeheuern, die durch das grönländische
Experiment freigelegt werden. Hier konnte ausgemacht werden, daß
Goethes Ballade von den “Grenzen der Menschheit” durchaus als Intertext
in Frage kommen könnte: die sich im Glauben der stetigen und
progressiven Entwicklung glaubende patriarchale Ordnung wird, je weiter
sie nach den Sternen greift, in immer regressivere Zustände verstrickt.
Auch besitzt die Kreation der “Turmmenschen” einen äußerst aktuellen
Hintergrund in unserem Zeitalter, zu dessen umstrittensten Themen die
Gentechnologie gehört.
Auch konnte festgestellt werden, daß das Stilmittel der Groteske und der
Auflösung im Sinne einer dionysischen Weltanschauung eingesetzt wird,
was wieder die Hybris der apollinischen Ordnung verdeutlicht: das
Groteske
verweist
neuesten
Forschungen
zufolge
immer
auf
Epochenümbrüche und dies unterstreicht noch einmal unsere These vom
Übergang
des
dekadenten
Patriarchats
in
vitale
mutterrechtliche
Verhältnisse und dies stellt die Literarisierung der “Diskussion ums Weib”
der Jahrhundertwende dar, die wiederum auf Bachofens Werk aufbaut.
Signifikanterweise ist diese Veränderung vor allen Dingen an den
weiblichen Hauptfiguren abzulesen und diese Tatsache bekräftigt unsere
Auffassung der Heranziehung von stereotypischen Motiven und Stoffen
79
der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte: Somit erweist sich
das ganz Neue und “Futuristische” als das ganz Alte: erinnert der
Einbruch der neuen Ordnung in vielen seine Aspekten an den Einbruch
des “fremden Gottes” und dieses Motiv stellt einen der geläufigsten Topoi
der abendländischen Literatur- und Geistesgeschichte dar: Die Sparte
reicht von Euripides’ “Die Bakchen” bis zu Thomas Manns “Der Tod in
Venedig”. Im Roman ist sogar ein romantischer “Liebestod” auszumachen:
Das Verschwinden Venaskas impliziert auch ihre Vernichtung mit den
Giganten.
Letztenendes
siegt
das
erotische
Prinzip
über
das
logozentrische und aus dieser Perspektive kann durchaus behauptet
werden, daß sich Alfred Döblin in diesem seinen Roman als äußerst
kulturpessimistisch erweist.
80
Türkçe Özet/Türkische Zusammenfassung
"Alfred Döblin’ in ‚Dağlar denizler ve devler’ („Berge Meere und Giganten“)
adlı romanında ‘us eleştirisi'" ni konu edinen çalışmanın giriş bölümünde
‘us eleştirisi’ (Rationalitätskritik) nin hangi bağlamda ele alındığı yönünde
bir inceleme sunulmuştur. Batı toplumunda us (Ratio) tek boyutlu olarak
önplana çıkarıldığından (Nietzsche bağlamında) bu adeta batının bir
hastalığı olarak algılanmaktadır. Doğaya mahkum olma, doğanın içinde
kaybolma ve salt ölümlü bir zerre olma gerçeğinin insan üzerinde yarattığı
yoğun korkuları yenmek için önplana çıkartılan eril logos, bilim ve
teknolojiyi kullanarak doğayı rasyonel hale getirmeye çalışır; böylece
doğanın içindeki gizli yaşam formülünü elde etmeyi hedefleyen ataerkil
toplumun zihni ona karşı amansız bir savaş açmıştır. Doğa-ana nın
ürkütücü öldürücü yanından kurtulmanın yöntemi yine doğanın üretken,
doğurgan yönünü elimine edip kendilerine edinmekten geçer. Bu
bağlamda kadın da, doğurgan olması ve doğanın döngüsüne benzer
döngüleri içinde barındırması nedeniyle, doğa ile bir tutulur ve ataerkil
toplumda tanrısal bir özellik olarak büyük önem verilen usun yanında doğa
ve kadın irrasyonel olmaları açısından değersiz olarak konumlandırılırlar.
Ama tanrı koltuğuna oturma çabası, eril toplumu doğadan ve doğallıktan
uzaklaştımaktadır ve varlığını daima sürdürecek olan doğanın karşısında
yine kendini kendi üretimleri (makineler, silahlar gibi) ile yok etmekten
öteye gitmeyecektir.
Birinci bölümde esere bağlı kalarak erilliğin nasıl yittiği ve anaerkil tınıların
kendilerini nasıl gösterdiği üzerinde durulmuştur.
Kadının bu dönemin
edebiyatındaki işleniş biçimi ile de kısaca karşılaştırılarak romanda ortaya
çıkan kadın tiplerinin ataerkil toplumdaki konumlarına ve bu kadın tiplerinin
mitolojik bağlamda nereye oturturulduğuna değinilmiştir. Öne çıkan kadın
tipleri mitsel bağlamda anaerkil kültün ana tanrıçası - genel adıyla ‘Magna
Mater’ - in yüzlerini taşıdıkları ve ataerkil toplumu J. J. Bachofen’ in tezinde
öne sürüldüğü gibi tekrar anaerkil bir yapıya doğru yönlendirdiği, yada bu
81
yönelişin romanda nasıl vurgulandığı ve eril yapının nasıl yittiği üzerinde
bir çalışma yapılmıştır. Athene’yi kendi yapısında simgeselleştirmiş olan
batı mentalitesi, beyini ve rasyonel düşünmeyi pöylesine öne çıkartır ki,
batı insani, hatta beyaz ırk adeta beyin-yaratıklarına dönmüştür ve doğal
olan cinsel verimliliklerini yitirmişlerdir. Daha ziyade batı erkeklerinin maruz
kaldıkları bu durum karşısında sıradan kadınlar ise az gelişmiş toplumların
renkli erkeklerini kendilerine partner seçerler; çünkü bu az gelişmiş
erkeklerin
güçleri
belaltında
yatmaktadır,
yani
onlar
verimliliklerini
yitirmemişlerdir. Bunun yanısıra da Athene’ yi benimsemiş ve onun ‘erkeksi
kadın’ kalıbına girmiş kadın figürleri de vardır. Bu tür kadınlar ataerkil
toplumun gelişmesinde öncü olarak yeralmaktadırlar ve dişil öğelerini
(anne-sevgisi vermek gibi) neredeyse tamamen yitirmişlerdir. Bu noktada
batının eril kadınları ve batılı erkeklerin sonu bariz ötüşmektedir. Romanda
son derece dikkat çekici iki kadın öğe: ‘Melise von Bordeaux’ ve ‘Venaska’,
Magna Mater’in iki zıt görünen ama kendi içinde bir bütün oluşturan
yüzleridir. Melise doğa ananın korkutucu, arkaik, ölümcül yüzünün simgesi
iken Venaska da aşkı, verimliliği simgeleyen yüzünü yansıtır bize. Mitolojik
bağlamda da son derece örtüşen bu iki arketipik ögenin ortaya çıkışı
doğanın döngüsünde olduğu biçimde eril toplumdan dişil topluma geçişin
döngüsel hareketini gösterir. Eril batı istese de istemese de, ne kadar karşı
da koysa, dişil güçlere, doğaya yenilmekten kendini alamayacaktır.
İkinci bölümde romanda yansıtılan çağın teknoloji ve bilim bazında nereye
gittiği
gösterilmektedir.
Ataerkil
batı
doğaya
üstün
gelmek,
onun
bağlayıcılığından kendini sıyırmak için hem doğanın kendisine, hem de
doğadan kendini - kadın gibi - koparmamış onunla bir tutulan doğu ve
kuzey yönlerine karşı sürekli savaş halindedir. Bu bölümde özellikle vurgu
bulan yönlerin zıtlığı: doğu – batı, güney – kuzey, kendini eril toplumun
yapısında phallik bir biçimde hep yükseği hedefleyen yönüyle yansıtılır. Bu
durum kendisini son derece gelişmiş bir teknoloji ve bilim ile gösterir ki,
batı insanı adeta makinelerin bağımlısı olmaktan çıkmışlar onlarla bir bütün
oluşturuyormuşlardır. Doğanın korkutuculuğunun onları getirdiği nokta,
82
onları kendi elleriyle yok olmaya doğru sürükler. Nitekim doğuya
ve
bununla birlikte doğaya karşı açılan savaş batı toplumunun doğa gibi
doğurgan, üretken değil, salt yokedici bir yapıya sahip olduğunu gözler
önüne serince ‘Marduk’ gibi yöneticiler ve toplumun bazı kesimleri bu yıkım
getiren ataerkil kafayı değiştirmeye çalışsalarda, kendileri de bu sistemin
parçaları oldukları için bunu başaramazlar. Eserde ön plana çıkan ‘Marduk’
da kendisini mitolojik bir tanrı ile özdeş gösterir ve bu yine ataerkil toplum
yapısından anaerkil toplum yapısına geçişi simgeleyen başka bir ögeyi
oluşturmaktadır.
Üçüncü bölümde romana altmetin oluşturan iki antik tragedya: Aischylos’
un ‘Orestea’ ve Euripides’ in ‘Bakhalar’ı ile romandaki şekil yitimi ve
grotesk unsurlar ortaya çıkarılmaya çalışılır. Aischylos’ un eserinde
anaerkil düzenden ataerkil düzene geçiş tarihsel bir çerçeveye oturtuluyor.
Euripdes’ in eseri ele alındığında bu durum sert biçimde tersyüz oluyor:
doğa korkunç biçimde öcünü alıyor. Bu bağlamda ortaya çıkan diyonizyak
ve apollinik ögelerin tezatlığı batının yaşam felsefesinde kendisini buluyor.
Romanda da klassik apollinik ögeleri barındıran batı toplumu, kendilerini
aşmak ve alanlarını genişletmek isteği ile Grönland’ ı buzullardan kurtarıp
yeni bir kara açmaya gidince, kendilerini korkunç grotesk kitonyen
(chthonisch) arkaik yaratıklarla karşı karşıya buluyorlar. Bu zamana değin
üstü örtülü duran kitonyen doğanın arkaik yüzü tam manasıyla grotesk –
sürreal bir biçimde ortaya çıkıyor ve tüm bu değişim batı insanında da
sonuçta değişikliğe yol açıyor. Statik düzen dinamik bir yokoluşa tabi
kalıyor. Apollon’ un sınırları kalkıyor ve Dionysos’ un karmaşasına
dönüşüyor.
Son bölümde artık tüm bu elde edilen verilerin toplanmasıyla, varılan son
noktanın doğanın döngüsel yapısından eril batı toplumunun kendini çekip
çıkaramayacağı açığa kavuşur. Gidilecek son nokta bile insanı doğanın
eline düşmekten kurtaramaz. Ataerkil toplumun düzlemsel gidişi doğanın
döngüsel gidişinde eninde sonunda kaybolur ve kendini doğa ile barışık
anaerkil toplum yapısına bırakır.
83
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Albert Schweizer Grundschule/Almanya
1987-1989:
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1989-1994:
İzmir Yunus Emre Anadolu Lisesi
1994-1998:
Ege Üniversitesi, Edebiyat Fakültesi, Alman Dili ve
Edebiyatı Bölümü'nde Lisans Eğitimi
1999-2002:
Ege
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Sosyal
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Enstitüsü'nde
Alman Dili ve Edebiyatı Anabilim Dalı'nda Yüksek
Lisans Eğitimi.
Aralık 2000’den beri
Ege Üniversitesi, Sosyal Bilimler Enstitüsü, Alman
Dili
ve
Edebiyatı
Anabilim
Görevlisi olarak çalışmaktayım.
Dalı’nda
Araştırma