Rationalitätskritik in Alfred Döblins Roman „Berge Meere und
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Rationalitätskritik in Alfred Döblins Roman „Berge Meere und
6 T.C. EGE ÜNİVERSİTESİ SOSYAL BİLİMLER ENSTİTÜSÜ ALMAN DİLİ VE EDEBİYATI ANABİLİM DALI RATIONALITÄTSKRITIK IN ALFRED DÖBLINS ROMAN "BERGE MEERE UND GIGANTEN" Yüksek Lisans Tezi Canan AYHAN Danışman: Doç. Dr. Nevzat KAYA İZMİR - 2002 7 Vorwort Ich möchte mich bei folgenden Personen, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Abfassung dieser vorliegenden Magisterarbeit gespielt haben, herzlichst bedanken: Zu allererst bedanke ich mich bei meinem Betreuer, Herrn Doz. Dr. Nevzat Kaya, der mich mit großem Verständnis und stetiger Bereitschaft unterstützt hat. Zu danken habe ich auch meinem Abteilungsleiter Herrn Prof. Dr. Kasım Eğit, dessen Toleranz und Freizügigkeit ich besonders zu schätzen weiß. Dann danke ich meiner Abteilung und meinen Freunden Derya, Halit, Ferda, Sevinç, Levent, Aytekin und allen anderen, die ich nicht mit Namen genannt habe, aber die mich in Zeiten, wo ich mich in Streßsituationen wiederfand, stets verständnisvoll zu beruhigen wußten, für eine bessere Stimmung sorgten und mich nicht allein ließen. Und letztenendes danke ich meiner Familie, die ich immer an meiner Seite wußte. Canan Ayhan Izmir, im August 2002 8 "Es gibt zweierlei Moderne, eine, die den Siegeszug der Naturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert und den damit verbundenen Fortschrittsglauben beschreibt, und eine, die Umberto Eco definiert als 'Religiösität des Unbewußten, des Abgrunds, des Fehlens der Mitte, des Absolut Anderen.'" (Martin Roda Becher, zitiert nach Frederick A. Lubich) 9 SIGLE Alfred Döblin: Berge Meere und Giganten = BMG 10 Inhaltsverzeichnis Einleitung 6 1. Das Schwinden der Männlichkeit und matriarchale Reminiszenzen 10 2. Technologie- und Kulturkritik 31 3. Dionysischer Eros vs. Apollinischer Logos 56 Schlußbemerkung 72 Türkische Zusammenfassung (Türkçe Özet) 74 Bibliographie 77 11 12 Einleitung "Rationalitätskritik" impliziert im Sinne der vorliegenden Problematik die Kritik an einer einseitigen Betonung von Vernunftsdenken, wie sie spätestens seit Immanuel Kant bis in die heutige Zeit praktiziert und theoretisiert wird. Genau diese europäische Haltung wird von Friedrich Nietzsche in seiner frühen Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik"1 angeprangert. Zu dieser Auffassung bemerkt Erkme Joseph, daß nach Nietzsche die einseitige Betonung des rationellen Aufklärungsgedankens sogar zur "Erkrankung" der europäischen Kultur geführt habe.2 Somit kann folgendes ausgesagt werden: Die einseitig betonte Rationalität3 ist eine Domäne der abendländischen, d.h. westlichen Zivilisation. Diese Rationalitätsauffassung sieht in der sie umgebenden Natur "nur" Material, welches mit Hilfe dieses Vernunftsdenkens auf opportunistische Art systematisiert und "rationalisiert", somit ausgenutzt wird. Der Ursprung dieser Weltauffassung kann zugespitzt auch in dem Befehl der männlichen Gottheit der Genesis gesehen werden, welcher den gerade erschaffenen Menschen mit folgender Aufforderung konfrontiert: "Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter 1 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie. vgl.: Erkme Joseph: Nietzsche im "Zauberberg", Frankfurt a. M. , 1996, S. 7. 3 Es ist verblüffend, zu sehen, über welche Bedeutungsebenen das Wortfeld Ratio verfügt. Die Benutzung des Wortes Ratio an sich zeugt von der besprochenen Einseitigkeit, denn es bedeutet in Form von "Ratio": Seinsursache (im Sinne von Kausalität), "rational": begrifflich faßbar, "rationalisieren": straffen, zweckmäßiger Gestalten. Der Begriff "Rationalismus" faßt die ganzen Definitionen noch einmal zusammen, wenn die Bedeutung erörtert wird: "Geisteshaltung, die das rationale Denken als einseitige Erkenntnisquelle ansieht." Aus alledem wird ersichtlich, daß alles, was mit "Rationalität" zusammenhängt, eine andere Auffassung nicht einmal in Ansätzen (wie die Definitionen offen darlegen) duldet (vgl. Duden Band 5: Fremdwörterbuch, Mannheim u.a. 1990, Artikel “Rationalität”.) 2 13 dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht."4 Schon in der Bibel bzw. dem Alten Testament wird der Mensch als ein Wesen dargestellt, welches mit der "Verfügungsgewalt" über die ganze Natur ausgestattet ist. Somit ist "Natur" nicht eigenständiges Subjekt, sondern wird zum Objekt reduziert, über welches das Subjekt "Mensch" beliebig verfügen kann, d.h. es handelt sich bei dem Verhältnis MenschNatur nicht um eine partnerschaftliche Interaktion, sondern um einen einseitigen Verbrauch der natürlichen Ressourcen von Seiten des Menschen. Bei allen diesen einseitigen Annäherungen an die Natur vergißt der Mensch, daß er selbst ein Teil von ihr ist. Alfred Döblin kritisiert ähnlich wie Nietzsche diese menschliche "Überheblichkeit" wenn er in seinen "Bemerkungen zu 'Berge Meere und Giganten'" folgendes äußert: "So: diese Menschen, nichts weiter als eine Bakterienart auf der Rinde der Erde, werden übergewaltig durch Gehirn und Geschicklichkeit. Sie nehmen den stolzen herrischen Kampf mit der Erde selbst auf." 5 Hinter dieser Bakterienart, die "herrisch" den Kampf mit der Erde selbst aufnimmt, verbirgt sich also, das männlich-logozentrische Weltbild, der angegriffene Teil steht damit für das Weiblich-Erotische. Zu entnehmen ist, daß der Logos eine dem Manne angehörige Tatsache ist. Mit der Vernunft will er die Fesseln der Natur also die Grenzen seiner Nichtigkeit brechen und sich als Individuum durchsetzen. Dafür stellt er sich gegen das Natürliche. Wie die Natur wird demnach auch die Frau als ein Objekt gesehen, die der männlichen Vernunft untergeordnet ist. Die Menstruation und die körperliche Deformation bei der Schwangerschaft zeigen die Gebundenheit der Frau an die Natur, von der sie sich nicht loslösen kann. 4 Die Bibel, Stuttgart, 1985, 1. Mose 1, 28. Alfred Döblin: Bemerkungen zu 'Berge Meere und Giganten', in: Aufsätze zur Literatur, Olten und Freiburg i. Br., 1963, S. 349. 5 14 Ihre Zyklen sind die Zyklen der Natur, somit ist auch ihr der Kampf angesagt. Im Gegensatz dazu ist die männliche Vernunft linear; sie ist wie ein errigierter Penis auf den Himmel verweisend. Der westliche Logos, der diese starre Haltung in sich verbirgt, setzt allen Formen feste Grenzen. Alles muß geplant verlaufen; unvorhergesehene Veränderungen sind verhaßt. Wenn aber etwas aus der Kontrolle gerät, muß man darüber Herr werden. In diesem Sinne wird die Frau als ein veränderliches Objekt, als grotesk6 und fremd empfunden und weil sie mit der Natur unter einer Decke zu stecken und genauso zügellos erscheint, ist der Kampf unausweichlich. Anhand der von Vernunft geprägten Disziplinen, Wissenschaft und Technologie, will man die Natur künstlich rekonstruieren. Somit bezweckt man das Elixier des ewigen Lebens zu finden. Mit diesen sich fortentwickelnden positivistischen Disziplinen will der westliche Mensch den Gott und Schöpfer spielen. Die jegliche Produkion für das Konsumwesen, immer fortschreitende Entwicklungen in Forschung und die neuesten Erfindungen in der Gentechnik sind die sichersten Daten, die dieses Ziel veranschaulichen. Einerseits wird die Forschung des "Klonens" weitergeführt, welches mit dem Klonen des Schafes Namens "Dolly"7 angefangen hat, andereseits wird die neueste Forschung einer "künstlichen Gebärmutter"8 zur Schau gestellt. Man schreitet auf dem Weg zur „Unsterblichkeit“ immer weiter voran in dem man eben künstlich die Natur nachahmt. Freuds These, die die Frau mit dem „Penisneid“ beschuldigt, widerspricht diesen Entwicklungen, eher kann davon gesprochen werden, daß nicht die Frau den Mann, sondern daß der Mann die schöpferische Kraft der Frau und der Natur beneidet, dabei kann man also von „Gebärmutterneid“ sprechen. Dieser männliche Logozentrismus, wie oben aufgezeigt, hat die Absicht, die Rolle des weiblichen Prinzips aufzulösen. 6 vgl. Nevzat Kaya: Der Gott des Grotesken. Eine literaturanthropologische Studie, Izmir, 2000, S. 2. http://www.aerztezeitung.de/docs/2001/11/29/216a2301.asp?cat=/medizin/gentechnik/klonen 8 http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/99537 7 15 Diese Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, Alfred Döblins Roman "Berge Meere und Giganten" aus diesen aktuellen Blickwinkeln zu "lesen", wobei die Verflechtung mit "klassischen" Texten auf keinen Fall zu kurz kommen soll. In die Interpretation soll die Tradition der abendländischen Rationalitäts- und Zivilisationskritik einfließen. 16 1. Das Schwinden der Männlichkeit und matriarchale Reminiszenzen Ein Blick auf die europäische Literatur des letzten Dezenniums des 19. und des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts erinnert hinsichtlich der weiblichen Figuren an ein matriarchales Panoptikum: Zu den gängigsten Motiven gehören im Fin de siècle9 neben der femme fragile die femme fatale, die männermordende Frau, deren populärste Ausformungen sich zwischen der Oscar Wilde'schen "Salome" und Alfred Kubins "Melitta" bewegen. Auch kann durchaus behauptet werden, daß sich hinter Lene, der Frau des Bahnwärter Thiel in der gleichnamigen Novelle von Gerhart Hauptmann, eine archaische "Überfrau" versteckt. Es ist sicherlich keine Übertreibung zu behaupten, dass diese Form der "Diskussion ums Weib"10 eine der spezifischsten Eigenheiten dieses Zeitalters darstellt. Auch der zeitgenössischen Kritik bleibt dieser Tatbestand nicht verborgen: "Das Überweib ist eine wahre Landplage der modernen Dichtung geworden."11 Ein äußerst misogyner Diskurs zeichnet diese erwähnte "Diskussion" aus: Frauen werden als Mängelwesen deklassiert und die zeitgenössische Wissenschaft wird nicht müde, auf allen Gebieten diese "Mängel" ausfindig zu machen, um somit dieselben "beschreiben" zu können. Als Gallionsfigur dieser wissenschaftlichen Tätigkeit könnte Sigmund Freud fungieren, der nach Schlesier "(...) nicht müde (wird) zu versichern, daß Weiblichkeit Kastriertheit, die Frau ein kastrierter Mann sei."12 9 Vgl. Nevzat Kaya: Motive und ihre Darstellungsmöglichkeiten im Fin de siècle. Unveröffentlichte Dissertation, Ege Üniversitesi, Sosyal Bilimler Enstitüsü, Izmir, 1997. 10 Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, Ffm., 1979, S. 43. 11 Leo Berg: Der Übermensch in der modernen Literatur, München u.a., 1897, S. 209. 12 Renate Schlesier: Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud, Ffm., 1990, S. 36. 17 Wenn Weiblichkeit Kastriertheit ist, so entpuppt sich das Patriarchat als Vertreter einer vollkommenen "Ordnung", deren oberstes Gebot es ist, diese Ordnung zu erhalten. Wenn diese das Patriarchat erhaltende Männlichkeit schwindet, so ist dieses Schwinden mit Freuds "Kastration" gleichzusetzen: Nicht umsonst verkündet Frederick A. Lubich für das Zeitalter der Jahrhundertwende "(...) ein Gespenst geht um in Europa, und es heißt Magna Mater."13 Ein Gespenst, das der fortschrittsgläubigen männlichen "Kultur" Angst einflößt: Die Untersuchung "Das Böse ist eine Frau" von Bram Dijkstra trägt den bedeutungsvollen Untertitel "Männliche Gewaltphantasien und die Angst vor der weiblichen Sexualität"14. Die Frau scheint auf archetypische Art der männlichen Kultur feindlich gesonnen zu sein. Auf die Spitze wird diese Ansicht von Stanislaw Przybyszewski gebracht. In der folgenden Passage wird die (bewußte und/oder unbewußte) Ansicht einer ganzen Generation, zu welcher zweifellos auch Alfred Döblin zählt, zur Sprache gebracht: "Ich sah in endlosem Aufbau die ganze Kultur zum Himmel ragen, und weit und breit lagen die Fundamente meinem Auge sichtbar: die Herrschaft des Weibes - das Matriarchat. (...) Aus allen Rahmen meiner Bilder tauchte das Weib hervor, der kosmische Weltwille, die Allmutter, die Herrscherin: Mylitta, die babylonische Hure, die niemals ein Verlangen stillte, die den Begnadeten den Flammen preisgab - Isis, die ein Sonne in unbefleckter Empfängnis gebar: kein Sterblicher hat ihr die Röcke hochgehoben! Isis, die Mutter der Könige, Gattin des Mondstiers, 13 Frederick A. Lubich: Thomas Mann Der Zauberberg. Spukschloß der Großen Mutter oder Die Männerdämmerung des Abendlandes, in: DVjs, Nr. 4, 1993, S. 730. 14 Bram Dijkstra: Das Böse ist eine Frau. Männliche Gewaltphantasien und die Angst vor der weiblichen Sexualität, Hamburg, 1992. 18 die heilige Kuh, die Königin der ganzen Erde - Athene, die niemals die Dunkelheit des Mutterschoßes sah, geboren aus dem lichten Gefilde des Gehirnes - Die heilige Jungfrau der teutonischen Wälder, in der sich Odins Schöpferwille offenbarte - (...) Hohn dir, alter Jahväh -warum hast du gelogen, als du sprachst: in Schmerzen wirst du deine Kinder gebären, unter dem Willen deines Mannes wirst du stehen und er wird dich unterjochen - Hohn dir, Hohn! Denn über alles Seiende, trotz deiner Worte, herrscht das Weib! - "15 Eine phallisch in den Himmel ragende männliche Kultur, die ihrem archaischen Fundament - dem mythischen Matriarchat - bewußt wird, ist das Erbe der misogynen abendländischen Kulturgeschichte. Nach Erich Neumann handelt es sich bei dieser Bewußtwerdung um nichts anderes als das Archetyp der Großen Mutter, die zwei (gegensätzliche) Elementarcharaktere in sich vereinigt: das der fruchtbaren und das der furchtbaren Großen Mutter16. In ambivalenter Weise vereinigt dieser Archetyp sowohl den lebensspendenden (positiver Elementarcharakter), als auch den lebensvernichtenden bzw. hemmenden (negativer Elementarcharakter) Aspekt des Großen Weiblichen. Camille Paglia bemerkt in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Weiblichen und der abendländischen Kultur folgendes. Sie bezeichnet die Denker des klassischen Athen als die ersten Aufklärer, da für sie Geschichte gleichzusetzen ist mit Fortschritt und somit die Geburt der Zivilisation aus der Barbarei ermöglicht wird. Die Errichtung der Zivilisation ist nur durch Aussparung des Weiblichen möglich: 15 Stanislaw Przybyszewski: Vigilien, in: Studienausgabe in acht Bänden und einem Kommentarband, Band 1: Erzählungen 1, Paderborn, 1990, S. 50ff. 16 Vgl. Erich Neumann: Die Große Mutter. Ein Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewußten, Zürich u.a., 1997 (11. Aufl.), S. 123ff. 19 "Pech für die Frauen, wenn das Ideal der athenischen Demokratie (...) einen Sieg über die Macht des Weiblichen voraussetzt."17 Auch im Roman dienen Frauenfiguren dazu, um die kulturelle Regression bzw. das, was Paglia mit den Worten "Der Himmelskult stürzt in den Erdkult zurück."18 umschreibt, zu indizieren. Das im Roman eine Zeit der Revolutionen und Umbrüche bevorsteht, ist in erster Hinsicht an den sich wandelnden Geschlechterrollen ersichtlich: Männer verlieren an der (kulturbringenden) Kraft, während Frauen "erstarken". Von der Dekadenz des Patriarchats oder der "Männerdämmerung" des Abendlandes sind in erster Linie die weißen (und somit abendländischwestlichen) Menschen betroffen: "Und es war ein sonderbares Geschick, das damals die eisernen weißen Volksstämme traf: ihre Fruchtbarkeit ließ nach. Während ihr Hirn zu immer glänzenderen Taten vordrang, verdorrte die Wurzel. Gleichmäßig sanken im Laufe der Jahrzehnte bei den europäischen Völkern die Kinderzahlen." (BMG, 19) In diesem Abschnitt Döblins sind sehr viele philosophische und literarische Intertexte vorhanden und diese Tatsache zeugt von der immensen Tiefenstruktur des Textes, denn die "eisernen" weißen Volksstämme sind die Erben der Römer, das "eiserne" Volk, welches mit Waffengeklirr die ganze Welt erobert hat. Die Römer symbolisieren hier aber auch die Expansion der europäischen Kultur, welcher sich die ganze Welt unterworfen hat. Gleichzeitig sind die Römer dasjenige Volk, welches dem westlichen Kulturkreis das Römische Recht hinterlassen hat: eine juristische Manifestation kulturbringende 17 18 und des europäischen -schaffende Eigenschaft Camille Paglia: Masken der Sexualität, München, 1995, S. 131. ebd. Patriarchats, dermaßen dessen überhand 20 genommen hat, welches sich in dem übermäßig entwickelten Gehirn offenbart: im Gegensatz dazu leiden die der chtonischen Natur geweihten Organe des Unterleibs: die Geschlechtsorgane funktionieren nicht wie sie sollten. Im Rahmen der Dichotomie zwischen Kopf und Unterleib fungiert jedoch auch Goethes Ballade von den "Grenzen der Menschheit" im Sinne eines Menetekels als Intertext: "(...) Denn mit Göttern/Soll sich nicht messen/Irgend ein Mensch./Hebt er sich aufwärts/Und berührt/Mit dem Scheitel die Sterne,/Nirgends haften dann/Die unsichern Sohlen,/Und mit ihm spielen/Wolken und Winde. Steht er mit festen,/Markigen Knochen/Auf der wohlgegründeten/Dauernden Erde,/Reicht er nicht auf,/Nur mit der Eiche/Oder der Rebe/Sich zu vergleichen. (...)"19 Hier wird auf den Gegensatz zwischen dem nach den Sternen greifenden und sich gottähnlich auffassenden, wissenschaftlich-rationellen Menschen und dem seinen tierischen Instinkten verfallenen Menschen eingegangen. Im Zusammenhang mit dem Zitat von Döblin ergeben sich äußerst aufschlußreiche Parallelen intertextueller Natur: die besagte übermäßig rationelle Entwicklung macht aus den Menschen des westlichen Kulturkreises Gehirnwesen, die zu immer "glänzenderen Taten" aufbrechen; das entspricht dem Goethe'schen Griff nach den Sternen und das impliziert auch die Katastrophe der Menschheit, denn nach Goethe haften jedoch die Sohlen nicht mehr sicher auf der "wohlgegründeten/Dauernden Erde": der Mensch verliert jeglichen Bezug zur Natur, deren Teil er im Grunde nach wie vor ist. Bei Döblin wird das mit der "verdorrte(n) Wurzel" versprachlicht. Der Verlust der Beziehung zur 19 Johann Wolfgang von Goethe: Grenzen der Menschheit, in: Wulf Segebrecht (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Klassik und Romantik, Stuttgart, 1984, S. 23. 21 Natur zeigt sich in den zurückgehenden Kinderzahlen und in der Impotenz der (weißen) Männer. Von dieser Unfruchtbarkeit scheinen jedoch die (weißen) Frauen nicht betroffen zu sein, denn "Die Frauen taten, was sie mochten, und mit geringerem Sentiment als die Männer. Sie hatten zur Wut der weißen Männer keinen Sinn für die Weißen, sondern mischten sich unter die Fremden. Die Männer verpönten die in den Tropen gewöhnliche Verbindung mit Farbigen, aber die Frauen entwichen ihnen, taten im Lande, was die Männer in den Tropen getan hatten." (BMG, 35) Im Gegensatz zu den weißen Männern ist also den weißen Frauen ihr Bedürfnis nach Sexualität erhalten geblieben: aus dem vorher Gesagten bedeutet das, daß den Frauen die Verbindung zur Natur niemals verlorengegangen ist. Ihre Bedürnisse befriedigen sie mit farbigen Menschen, "(d)en stinkigen Afrikanern" (BMG, 30) von denen es im Roman heißt: "Dem Gesindel, dessen Kraft worin liegt? In den Lenden. In den Hoden der Männer, im Bauch der Weiber." (BMG, ebd.) Die auf den ersten Blick rassistisch erscheinende Feststellung entpuppt sich jedoch als folgerichtige Konsequenz: den Völkern der "unterentwickelteren" Regionen der Erde ist ihre "Fruchtbarkeit" erhalten geblieben. Die weißen Frauen "paaren" sich mit den besagten "Afrikanern". Daraus erfolgt die Parallele zwischen Männern der unterentwickelten Länder und den weißen Frauen: Die weißen Frauen 22 offenbaren sich somit für ihre weißen Männer als "die nahe Fremde"20 und präfigurieren mit dieser ihrer Eigenschaft den langsamen aber sicheren Umschwung in Richtung des negativen Elementarcharakters des oben erwähnten Großen Weiblichen: das logozentrische Prinzip wird unterminiert von exotisch-orientalisch anmutenden (und somit erotischen) Elementen. Ohne Zweifel fungiert hier die Frau als das der Natur nicht entfremdete Geschlecht, die aus diesem Grund von der Dekadenz des Patriarchats nicht betroffen ist. Camille Paglia bemerkt zu dieser Problematik folgendes: "Die Gleichsetzung von Frau und Natur ist der heikelste und anfechtbarste Punkt in dieser historischen Gedankenkette. War diese Gleichsetzung je zulässig? Ist sie es heute noch? Die meisten feministischen Leserinnen werden sich dagegen wehren. Ich denke jedoch, sie ist kein Mythos, sondern entspricht der Wirklichkeit."21 Diese Auffassung scheint auch Alfred Döblin zu vertreten, denn in Bezug auf die vom patriarchal-logozentrischen System "domestizierten" Frauen bemerkt er folgendes. Bei den Frauen, die sich mit den Fremden mischen, handelt es sich um "gewöhnliche" Frauen. Es gibt aber auch andersgeartete Frauen: "Die stärkeren, die Organisatorinnen, die mächtigen Herrinnen und Schöpferinnen von Riesenanlagen, die geschickten und waghalsigen weiblichen Experimentatoren, die kräftigen großen muskulösen Menschen mit den langen Schritten und den prüfenden harten Zügen bildeten unter sich die Vorstellung aus, eine überlegenere Rasse zu sein. Sie zogen sich dahin zurück, wo sie vor einem erneuten Sturz sicher 20 Sigrid Weigel: Die nahe Fremde - das Territorium des 'Weiblichen'. Zum Verhältnis von 'Wilden' und 'Frauen' im Diskurs der Aufklärung, in: Thomas Koebner u.a. (Hrsg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Berlin, 2000, S. 171-199. 21 Camille Paglia: S. 21. 23 waren; sie wurden die Avantgarde des Kampfes für die aufgeblühte, riesenhaft entfaltete und sich entfaltende Technik. Wenig Mutterliebe sahen sie; wenig Mutterliebe konnten sie geben." (BMG, 35) Hinter dieser Art von Frauen, die sich für "eine überlegenere Rasse" hält, ist als Intertext die Verwandlung der fruchtbaren Muttergöttin in eine dem Manne als Hilfskraft dienende und von allen ihren chtonischen Eigenschaften gereinigte patriarchale Dienerin enthalten, die sich in der klassischen Mythologie als Athene manifestiert. Sie zeichnet sich durch Affinität zu männlicher Technologie aus. Zu ihren Lieblingen gehören intelligente und kluge Männer wie Odysseus. Vor allen Dingen gemahnt die fehlende Mutterliebe, die sie nicht weitergeben können an diese Göttin der archaischen und klassischen Antike, von der behauptet wird, daß sie "die apollinische Antwort auf das Problem der jedem Mann nachlaufenden Frau"22 sei. Und mit diesen Eigenschaften vertritt sie das logozentrische Prinzip, ist sie doch nichts anderes als die göttliche Tochter Vernunft. Athene, ursprünglich eine Manifestation der ursprünglichen Großen Göttin in ihrem Aspekt als Weisheitsgöttin, erfährt eine Transformation ohnegleichen. Von der olympischen Athene wissen wir, daß sie zur gehorsamen Tochter des Zeus wurde, die sogar aus seinem Haupt entsprang, denn im Patriarchat konnte Weisheit nur männlichen Ursprungs sein.23 Daraus folgt die "Vermännlichung" der besagten Frauen ohne "Mutterliebe", denn sie haben genausowenig wie Athene, die dem väterlichen Haupt entsprang, eine Mutter. Sie sind die "Mütter" von technologischen Errungenschaften und Maschinen. Sie werden sogar mit diesen identifiziert. Eine ähnliche Gleichsetzung haben wir in dem populärsten Roman des europäischen Fin de siècle, namentlich in Joris- 22 23 Camille Paglia: S. 132. Vgl. Heide Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros, München, 1993, S. 44. 24 Karl Huysmans' "A Rebours".24 Die Gemeinsamkeit besteht nicht nur darin, daß technologische Errungenschaften mit einer Frau gleichgesetzt werden, sondern diese dieselbe rassistische Note aufweisen wie bei Alfred Döblin, d.h. die heutigen "unmütterlichen" Fotomodells werden von diesem besagten literarischen Topos von der "angepaßten patriarchalischen Frau" vorweggenommen. Der Natur wird vorgeworfen, die Frau überhaupt kreiert zu haben: "Und vor allem jenes ihrer (gemeint ist die Natur, C. A.) Werke, das am köstlichsten sein soll, dessen Schönheit nach aller Ansicht am ursprünglichsten und vollkommensten ist: die Frau. Hat der Mann nicht seinerseits ganz allein ein lebendiges künstliches Wesen geschaffen, das ihr hinsichtlich plastischer Schönheit reichlich ebenbürtig ist? Gibt es hienieden ein in den Freuden des Fleisches erzeugtes und aus den Schmerzen der Gebärmutter entstandenes Wesen, dessen Modell, dessen Typ glänzender und blendender ist als jener der beiden Lokomotiven, die auf den Linien der Nordbahn fahren?"25 Bei der einen Lokomotive handelt es sich um "eine herrliche Blondine mit schriller Stimme"26, bei der anderen um "eine stattliche und düstere Brünette"27: alles rationalisierte Frauen, vor allem ist ihre Natur "wegrationalisiert", indem die Distanz zur Natur durch den anderen (nämlich technischen und nicht natürlichen) Zeugungs- und Geburtsvorgang unterstrichen und dadurch bekräftigt wird. Und dieser Kreationsvorgang, welcher parthenogenetisch nur von männlicher Seite erfolgt, schließt den Kreis, welcher sich kulturhistorisch um die Göttin 24 Vgl. Nevzat Kaya: "Tellurische" Rationalitätskritik. Zur Weiblichkeitskonzeption in Alfred Döblins Berge Meere und Giganten, in: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Bergamo 1999, Bern, 2002, S. 131. 25 Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich, Zürich, 1986, S. 84ff. 26 ebd. S. 85. 27 ebd. 25 Athene rankt. Somit manifestiert sich die Dekadenz des Patriarchats in dem dem Text eingeschriebenen Mythologem von Athene und unterstreicht somit unsere These, daß durch diese Gleichsetzung alle Stadtschaften, die im Roman vorkommen, dem klassischen Athen entsprechen, welche für die Blütezeit der klassischen Antike, somit auch für die Glanzzeit des Patriarchats steht. Die Auflösung dieser männlichen Ordnung (die von Athene symbolisiert wird) liegt in zwei anderen mythischen Gestalten beschlossen, die eine zentrale Position in diesem Rahmen einnehmen. Bei der einen Figur handelt es sich um die sogenannte Melise von Bordeaux, bei der anderen um Venaska, von der das Heil für die Menschheit ausgeht. Meines Erachtens bestätigen diese zwei weiblichen Figuren die These von Johann Jakob Bachofens "Das Mutterrecht"28 (1861), wonach sich patriarchal erschöpfte Kulturen sich erneut matriarchalen Utopien öffnen würden. Die Frauen im Roman zeichnen sich "durch den nicht nachlassenden Kampf (...) um die Vorherrschaft" (BMG, 41) aus: "Bei zahllosen Männern dieser Periode bestand schon voll die Neigung vor den Weibern den Rückzug anzutreten." (BMG, 41) Erst die sexuelle Freiheit, die die Frauen erlangt haben, dann auch auf politischer Ebene: hier wird Bachofens regressive Utopie von der Etablierung der Weiberherrschaft literarische Wirklichkeit. Es ist erstaunlich, daß die Döblin-Forschung diese Problematik bis jetzt nicht aufgegriffen hat, zumal sich der rezeptionsästhetische Zusammenhang geradezu aufdrängt: 28 Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Basel, 1948. 26 "Und am raschesten entarteten die Frauen. Gigantische Figuren gab es um diese Zeit unter ihnen, großartig in Wollust und Herrschsucht." (BMG, 42) Zu den herausragendsten Figuren dieser Epoche zählt Melise von Bordeaux, ein Weib "(...) in dessen Adern Nigritierblut floß, gemischt mit dem der italienischen und westfranzösischen Landschaft (...)" (BMG, 42) Hier wird wieder zweifellos die Tatsache angesprochen, daß es sich bei dieser Frau um keine apollinische Figur handelt, sie ist weder blond noch blauäugig: Camille Paglia vertritt hierzu folgende Auffassung: "Das apollinische Licht verlieh meiner Ansicht nach der Blondheit neue Bedeutung und gab Europa eines seiner rassistischen Motive (...)"29 Allein schon durch diese Äußerlichkeit ist Melise von Bordeaux kulturhistorisch einzuordnen: ihr Körper ist dialogisch, d.h. sie ist ein Mischling, aus der apollinischen Perspektive gesprochen, es handelt sich bei ihr um einen Bastard, somit stellt sie eine Feindin des männlichen Systems der Athene dar und gehört somit zu der dionysischen Seite. Da aber Melise von Bordeaux quasi den Einbruch in das apollinische Vakuum darstellt, zeichnet sie eine ungeheure Regression in ihren Verhaltensweisen aus: Das, was das antike Griechenland als "barbarisch" bezeichnete und was nach und nach zu einem Begriff reduziert wurde, dessen Benutzung die Abwertung von fremden (primitiven und archaischen) Sitten und Gebräuchen konnotiert, wird unter der Herrschaft dieser Melise Wirklichkeit. Sie repräsentiert dem Wandlungskreis des Großen Weiblichen von Erich Neumann zufolge die Göttinnen Kali, Hekate 29 Camille Paglia: S. 100. 27 und die Gorgo. Somit steht sie für die Todesmysterien und sorgt für Krankheit, Auslöschen, Tod und Zerstückelung: Melise von Bordeaux entpuppt sich dieser archetypischen Analyse zufolge als die Große Mutter in ihrem absolut negativen Aspekt als "Furchtbare Mutter".30 Diese Melise ist eine selbsternannte Königin, die sogar ihre Priesterinnen in den Stand von Göttinnen erhoben hat. Sie hat die Gewohnheit, religiöse Feiern ihr zu Ehren in der eigens dafür errichteten Kathedrale zu zelebrieren: "Es waren die starken Männer, die schönen schlanken weißen, Gatten und braune Jünglinge, üppige strotzende Mädchen und Frauen, die sie zu sich nahm und von der Erde verbannte. War eine tiefe Seligkeit, die Melise empfand, ihr Zepter zur Seite der Priesterin gebend, wenn sie den Mann, das Weib empfing, umarmte. Wie es sich wand, warm weich; sie wußten nicht, waren sie begnadigt oder verurteilt. Aber sie waren begnadigt. Die Königin zog sie an sich, war aufgestanden. Drückte die Gesichter an ihre Arme, die offenen schweren Brüste. Ihre Hände glitten an den Gesichtern Schultern Leib Schenkeln entlang. Sie berührte liebkosend die Heimlichkeiten der Leiber . Die Priester und Priesterinnen hingefallen auf die Knie sangen abgewandt Lieder. In dem Menschen, den sie umschlang, entstand eine sanfte Verwirrung. Träumend wild griff das an den Hals, der sich ihm bot, wühlte sich gegen den festlich grausigen Kopf, die starken Schultern. Da war sein Schicksal da. Der Kopf, der eben noch nach dem Mund Melisens gesucht hatte, bog sich leicht stöhnend beiseite. Der nackte Leib wogte hin und her, wie auf der Suche nach einer Begegnung, die er nicht fand. Während Persephone sich in ihren Stuhl fallen ließ, trunkene Augen, das Gesicht in schluchzender Verzückung, unter der düsteren und wimmernden Musik, die wellenartig aufquoll und toste, rollte von ihr der Mensch ab, der einer gewesen war und den sie jetzt beherrschte, in sich 30 Erich Neumann: S. 81. 28 trug. Ein Leib in sie eingegangen, hergerissen von den Äckern, der Erde." (BMG, 47) Auf diese lüsterne Art und Weise bringt Melise von Bordeaux ihre Opfer um. Sie selbst nennt "sich aus einem dunklen Grunde Persephone" (BMG, 46). Aus der oben erwähnten Perspektive, die Athene in den logozentrisch-rationalen Mittelpunkt rückt, erscheint es nur folgerichtig und konsequent, dessen Gegenpart den Namen Persephone zu geben. Die rationale Athene stößt hier an die Grenze der irrational-chtonischen Persephone: Kultur stürzt hier zurück in Natur, denn Persephone ist die chtonische Gottheit schlechthin, da sie die Herrscherin neben Hades in der Unterwelt ist. Sie ist nicht spirituell-solar wie Athene, sondern materielllunar. Zudem ist sie die Tochter der griechischen Göttin der Fruchtbarkeit und des Kornes, der Demeter. Die Persephone des Romans weist psychopathologische Züge auf, d.h. sie ist in einer Regression befangen. Hier integriert meines Erachtens nach Alfred Döblin das Mythologem von der Entführung der Persephone von seiten des Gottes der Unterwelt, Hades. Indem Hades Persephone entführt, entraubt er sie gleichzeitig ihrer Mutter Demeter: nun ist Athene genauso "mutterlos" wie Persephone, aber das, worauf Athene stolz ist und sie zum männlichen Idol der rationellen Vernunft macht, erfüllt Persephone, die erotisch-irrationale archaische Göttin mit einer tiefen Depression, die sich in manischdepressiven Ausbrüchen der Melise von Bordeaux äußert. Somit ist das Wüten der Melise von Bordeaux, wie sie Alfred Döblin beschreibt im Lichte dieser mythologischen Intertexte, als der Einbruch einer "anderen" Ordnung aufzufassen, einer Ordnung, die z. B. Geschichte nicht als Fortschritt sieht. Melise von Bordeaux fungiert hier als das Weibliche, welches sich als "Gefäß" kundtut, denn indem sie ihre Opfer auf ihrem eigenen Körper wie Schlachtvieh ausbluten läßt, nimmt sie sie in ihren eigenen Körper auf, d.h. die, die selbst keine Mutter hat und darunter leidet, verweigert anderen auch das Recht, eine (gute) Mutter zu haben, 29 und erweist sich für sie als die Mutter in der Form der Mörderin. Dadurch hemmt sie als archaische Fruchtbarkeitsgöttin in ihrem negativen Aspekt das Blühen und Gedeihen in der Natur. Von Melise von Bordeaux wird nämlich auch Folgendes gesagt: "Sie tötete und entmannte Dutzende Männer, von denen sie annahm, sie wären ihr untreu. Zugleich getötet und geschlechtsunfähig gemacht wurden Frauen, die mit diesen Männern verdächtigt wurden." (BMG, 44) Somit repräsentiert die Persephone des Romans auch die wegen der Entführung ihrer Tochter zürnende Demeter: "Sie aber will ihre Tochter sehen und sonst nichts: Weder auf den Olymp wolle sie wieder, noch werde sie die Erde Frucht treiben lassen."31 Auf Demeter verweisen auch die letzten Abschnitte des oben zitierten Ausschnitts aus "Berge Meere und Giganten": da ist die Rede von Menschen, die von den Äckern und der Erde hergerissen sind. Dieser Satz ist so zu interpretieren: das Hergerissenwerden von der Erde und den Äckern symbolisiert den Umschwung der gutmütigen und fruchtbaren Demeter in die zornige und grausame Persephone und dieser Umschwung repräsentiert die Rache der von dem Menschen ausgenutzten Natur. Auch ein anderer Fingerzeig bestätigt die Richtigkeit unserer These: hinter dem Namen Melise verbirgt sich unserer Auffassung zufolge keine geringere Gottheit als die Große Mutter Mesopotamiens, Mylitta, deren Dienst "die unbeschränkte Hingabe jedes Mädchens aus dem Volke an jeden Mann verlangte."32 Aus diesem Beziehungsgeflecht resultiert die übermäßige 31 32 Hans K. Lücke u.a.: Antike Mythologie, Hamburg, 1999, S. 231. http://p15096949.pureserver.info/voelkischer_sozi/BUECHER/BUECHER/REDEN/prostitution.htm 30 Geilheit der Melise. Laut Bachofen markiert diese Episode folgenden kulturgeschichtlichen Zustand: "An den Anfang der mutterrechtlichen Kulturgeschichte setzt er den 'regellosen Hetärismus', der durch eine völlige Promiskuität unter den Geschlechtern gekennzeichnet ist."33 Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Melise von Bordeaux einen besonders heftigen und regressiven Einbruch in die patriarchal-athenische Zivilisation darstellt. Eine Entwicklung von diesem Zustand des "regellosen Hetärismus" stellt die Venaska-Episode des Romans dar. Im Gegensatz zu Melise/Persephone ist hier von einer Göttin der Liebe die Rede: unüberhörbar klingt im Namen "Venaska" die römische Göttin der Liebe, Venus, an, deren griechische Version die Aphrodite ist. Das Melise von Bordeaux und Venaska in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen kann man auch an der Tatsache ablesen, daß es sich bei dem Kapitel, in welchem die Melise-Episode erzählt wird, um das erste Buch mit dem Titel "Die westlichen Kontinente" handelt; das Kapitel hingegen, in welchem Venaska im Mittelpunkt steht, ist das neunte und letzte Buch des Romans, bei dessen Namenspatron es sich eben um die besagte Venaska handelt. Auch gibt es andere Fingerzeige hinsichtlich des "gemeinsamen" Ursprungs dieser Frauengestalten: Melise von Bordeaux herrscht wie ihr Name bereits andeutet, in der französischen Landschaft um Bordeaux und Toulouse: "Melise war in Bordeaux Toulouse königinartig Alleinherrscherin, ließ sich eine Kathedrale an der Garonne südöstlich von Bordeaux' in der 33 Frederick A. Lubich: Max Frisch: "Stiller", "Homo Faber" und "Mein Name sei Gantenbein", München, 1996, S. 30. 31 freien Landschaft anlegen, wo sie betete und sich verehren ließ." (BMG, 44) Venaska erscheint im letzten Kapitel ebenfalls in dieser französischen Landschaft und die Art der Charakteristik ihres Äußeren erinnert auch an Melise von Bordeaux: "Um Toulouse, im heiteren Gebiet der milchweißen Magnolien, der Jukkastauden mit den gleben hängenden Glocken, bewegte sich Venaska, eine schlanke Frau von braungelblicher Hautfarbe und schwarzem dichtem Haar. (...) Der Schnitt ihrer Augen, die Modellierung ihres Gesichts war mehr malayisch als europäisch. Manche nannten sie Mondgöttin." (BMG, 464) Im Gegensatz zu Melise erinnert diese Frau nicht an eine "Riesenschlange" (BMG, 43), sie ist schlank, jedoch ist sie von ihrem Ursprung her genauso "fremd" wie Melise: bei Melise handelt es sich um einen Mischling afrikanischer, d.h. südlicher Herkunft ("Nigritierblut"); Venaska besitzt eher ein asiatisches ("malayisches Gesicht"), d.h. sie ist fernöstlichen Ursprungs. Im selben Atemzug der Lokalisierung ihrer (östlichen) Herkunft wird dargelegt, daß sie von manchen "Mondgöttin" genannt wird. Hier fungiert der Mond als Gegenpart zur rationellen Sonne der Aufklärung. In dieser symbolischen Konstellation liegt eine weitere Gemeinsamkeit beider Frauen beschlossen: die Richtungen ihrer Herkunft sind höchst aufschlußreich. Wenn Melise vom Süden stammt und Venaska vom Osten, so ist dies als Gegenpol zu Norden und Westen aufzufassen (vgl. zu dieser Problematik nächstes Kapitel). Diese beiden Richtungen sind gleichzeitig jedoch auch diejenigen, mit denen sich das rationelle Abendland identifiziert: Europa liegt im Westen (von Asien aus gesehen: Venaskas Herkunft) und im Norden (von Afrika aus gesehen: Melises Herkunft). Somit mutiert der Mond der Venaska auch zu 32 rationalitätskritischen Gestirn der Romantik angesichts einer aufgeklärttechnischen und patriarchalen Sonnenkultur! Das Wilde, Irrationale und Fremde hat seinen Sitz in den Europa entgegengesetzten Himmelsrichtungen und repräsentiert werden diese von Frauen. In diesem Sinne bemerkt Sigrid Weigel äußerst schlüssig: "Beide, Wilde und Frauen, werden charakterisiert durch das, was ihnen mangelt im Vergleich zum 'Zivilisierten', zum Mann. Als (noch) nicht Zivilisierte werden sie betrachtet als Naturwesen - Wesen, die der Natur nahestehen und deren Bestimmung sich aus ihrer 'Natur' ableitet."34 Aus dieser Perspektive betrachtet, erweist sich Alfred Döblin als ein Autor, der seine Rationalitätskritik auf einen stereotypischen und seit der Aufklärung angewandten und überkommenen Diskurs stützt: "Immer wieder wurde und wird die Frau mit der ungebändigten und der bergenden Natur oder mit der zu erobernden Fremde identifiziert oder aber als Naturwesen beschrieben."35 Der Unterschied besteht darin, daß nicht kolonialistische Bestrebungen Melise und Venaska "entdecken" und "zivilisieren", ganz im Gegenteil, die besagte "Kolonialisierung" betrifft Europa: das "Andere" bricht ein und unterbindet die Fortentwicklung im gehabten rationalistischen Stil und betont und fordert eher das Ungestüm-Erotische. Auf Melise von Bordeaux z. B. trifft besonders die Bezeichnung als ein ungebändigtes "Naturwesen" zu. Venaska hingegen erscheint nicht so ungestüm: sie ist "menschlicher" als Melise, dadurch erscheint sie auch "zivilisierter". Aus dieser Annäherung an rationelle Verhaltensmuster entpuppt sich die Rationalitätskritik Döblins als eine im Sand sich totlaufende Welle: Wenn 34 35 Sigrid Weigel: S. 174. ebd., S. 192 33 Melise (im ersten Kapitel!) dem oben erwähnten "regellosen Hetärismus" in Bachofens System entspricht, dann entspricht Venaska (im neunten und letzten Kapitel!) der glanzvollen aphroditischen Zivilisation des matriarchalen Altertums.36 Daraus ist zu folgern, daß Döblin den Raster der Geschichte der Zivilisation nach Johann Jakob Bachofen auf den Roman projiziert: Die Entwicklung (rational-linear-apollinisch!) von Melise zu Venaska bei Döblin entspricht dem evolutionistischen (und dadurch patriarchalen) Gedankengut bei Bachofen, der die Entwicklung der Menschheitsgeschichte im "regellosen Hetärismus" ansetzt, um sie zur oben angesprochenen "aphroditischen Zivilisation" gelangen zu lassen: von dort ist es nicht mehr weit bis zum Vaterrecht. Venaska entpuppt sich aus dieser Perspektive als eine "gebändigte" und "gezähmte" Melise, denn "Wer vor ihr stand, wen sie ansprach, besonders Frauen, war erregt gebannt." (BMG, 465): "Sie war ohne Scham. Als wenn sie sich bedrückt fühlte, warf sie am Tag oft ihre leichte Jacke ab, bewegte sich, ging mit nacktem wiegenden Oberkörper, tiefdunkel flach. Und dann, in Menschennähe, waren ihre Arme nur Ranken, die etwas suchten, worum sie sich winden sollten. Ihre Brust atmete leise, gleichmäßig und immer glückvoll. Andere menschliche Ranken, Arme von Männern und Mädchen, schlangen sich mit ihren zusammen. Venaska, Blick in Blick mit dem andern ruhend, gurrte, sprach lieblich, kehlte." (BMG, 466) Das, was bei Melise Zerstörung war, ist bei Venaska Schöpfung. Melise erinnert eher an die Ungeheuer von Grönland. Venaska ist ebenfalls im Bezug an das Grönland-Abenteuer zu sehen: Der Weitsprung in die Zukunft landet in der Vorvergangenheit. Der Zivilisationsdrang holt längst erstorbene vorgeschichtliche Lebewesen wieder herauf. Diese besiegt man mit den Turmwesen (vgl. Eros vs. Logos). Diese Wachstums- und 36 Frederick A. Lubich (1996): S. 30. 34 Verwandlungsenergien wenden jedoch Regenten an ihrem eigenen Körper an und mutieren zu den Giganten, die in kindlicher Tollerei sich an ihrer Allmacht ergötzen.37 Ihre größte Freude ist es, die Landschaften in sich auszusaugen, während ihr Plan die Vernichtung der Erde darstellt, die sie ungemein hassen: "Delvil war innerlich verhakt. Er haßte diese Welt, die Erde, die ihm dies antat, die phantastische blöde schreckenlose Macht, die sich vor ihm aufstellt und ihn wie ein wilder Bulle umwarf. (...) Es steckte eine Rache der Erde dahinter, die ihr aber nicht bekommen sollte. (...) Einmal hatte ein persischer König das Meer peitschen lassen, weil es seine Brücken zerbrach: wie gut er den König verstand." (BMG, 414ff.) Auf psychopathologische Art wird hier der Ast abgeschnitten, auf dem man(n) sitzt: Delvil verkörpert hier die Naturfeindschaft, der Verfechter einer künstlich-rationellen männlichen Welt, dadurch mutiert er auch zum misogynen Vatergott, der da in der Bibel verkündet, daß die Menschen sich die Erde untertan machen müßten. Alle diese Konstellationen offenbaren Alfred Döblin als einen äußerst kulturkritischen Intellektuellen. Es ist das weibliche Prinzip, präfiguriert von Venaska, daß der von der faschistoiden apollinischen Kultur gepeinigten Erde zu Hilfe eilt. Es ist jedoch von Bedeutung, daß Venaska diese Giganten nicht etwa haßt, ganz im Gegenteil, Venaska, die "Liebesgöttin" sieht in diesen Giganten ihre Brüder: "Von den Riesen sprachen sie, die sich in Cornwall versammelten. Zu den Riesen: das wollte sie. Ein bewußtloses tiefes Verlangen befiel sie, hüllte sie ein; sie lechzte zu den Riesen." (BMG, 499) 37 Vgl. Volker Klotz: Alfred Döblins Berge Meere und Giganten, Nachwort in: BMG, S. 521. 35 Ein dialektisches Prinzip hält diese gegensätzlichen Wesen wie Venaska und Delvil zusammen: es ist das Prinzip der Ganzheitlichkeit vor ihrer schizophrenen Entzweiung: ein Anklang an das das Weibliche aussparende Patriarchat; der Mann symbolisiert die Versklavung der Natur, während die Frau ihr Liebhaber ist. Im Gegensatz zu Delvil vergöttert Venaska die Natur: "Ich bin wieder da, liebe Bäche, liebe Birken, liebe Gräser. Ich habe euch lange nicht gesehen. Ich war verzaubert." (BMG, 500) Schließlich stößt sie auf ihre "Brüder", die inzwischen ganze Landschaften, Gebirge, Meere und Flüsse in sich aufgesogen haben: "Und zu den anderen Giganten, vom Bodminmoor bis zum Egmoor am Bristolkanal schwoll Venaska" (BMG, 503) Ihre Liebe zu den Riesen resultiert in der Liebe zu der Natur, denn durch ihre Liebe zu den Riesen neutralisiert sie deren Haß und sie verenden und geben die ganze absorbierte Landschaft frei. Aus dieser Perspektive betrachtet erweist sich Venaska als die Kreiererin einer neuen Welt - der Welt nach den "Giganten": "Es waren nicht mehr die Giganten, auseinanderprasselnd in Wälder Gebirge. Das donnernd sich anhebende Meer sprühte, wusch die Massen, die abstürzten, lose Stämme, leichtes Gestein und die Schleier ab. An Felsen zerrieb es sie, zersprengte sie in Lohe. Dann verebbte die schwarze Meeresstraße von Norden. Das tausendarmige Gewässer zog sich nach der Cardiganbucht zurück. Der Dampf über dem Meer verwehte. Irland hob sich seenflutend wieder aus dem Wasser. Auf Cornwall zerkrachten abrollend die steinernen Häupter und Arme der Giganten." (BMG, 503) 36 Hier erweist sich Venaska als die Retterin der Menschheit und der Natur. Es ist bezeichnend, daß sie nach dieser Aktion genauso verschwindet wie die Giganten, denn anscheinend haben sich hier getrennte Prinzipien eines Ganzen durch ihr zusammenprallen neutralisiert, wobei Venaska dem erotischen Prinzip, die Giganten jedoch dem logozentrischen und machthungrigen Prinzip verpflichtet waren. 37 2. Technologie- und Kulturkritik Die westliche Zivilisation beruht auf geregelten Ordnungen. Kultur, Wissen schaft und Technologie sind von diesem festgelegten Denken entstandene Tatsachen. Die Förderung und Entwicklung der gesellschaftlichen Vorsätze des westlichen Lebens zeichnen sich durch das männliche Denksystem aus. Der Mann, der das rationelle Denken als Kriterium für das Leben hingestellt hat, besitzt das Bestreben, sich dem natürlich-primitiven Zustand zu entreißen. Um dies zu verwirklichen, setzt er sich weit gesteckte Ziele. So versucht der westliche Menschentypus sich immer mehr zu bezwingen und zu übertreffen. Durch diese Tat entsteht ein immenser Ehrgeiz und dadurch ein zum Unendlichen strebender, ausgeprägter Fortschritt in Wissenschaft und Technologie. Und je mehr der Fortschritt angesagt ist, desto mehr entfernt sich die Menschheit von der Natur und allem Natürlichen. Die eigentliche Absicht dieses ganzen Bestrebens liegt darin, die Zügel, die die Natur spannt, zu zerreißen. In der Handlung des zu untersuchenden Romans „Berge Meere und Giganten“ findet sich der Leser in einem Zeitalter, in welchem sich die Menschen des Westens schon sicher sind, daß sie diese Zügel der Natur zerrissen haben. Das Erbe, „die Berechnung zahlloser Naturkräfte“ (BMG, 13) und „Apparate von ungeheurer Macht“ (ebd.), die von den vergangenen Geschlechtern dieser neuen Generation hinterlassen wurden, sind enorm gewachsen, so daß gewaltige Maschinen vom Alltag der westlichen Völker nicht wegzudenken sind. Es zeichnet sich im Roman eine "Technologiebesessenheit" ab, die in jeder neuen Generation verstärkter zu Tage tritt: „Wie die neuen Menschen ins Leben traten, jubelten sie über die Aufgabe, die vor ihnen lag. Es war ihnen gleich, daß ihnen der Weg vorgezeichnet war; trennen.“(BMG, ebd.) sie und dieser Weg konnten sich nicht 38 Apollinische Züge, die wie Schrift in die Gehirne der Menschen eingraviert sind, zeichnen eben die Aufgabe des linear fortlaufenden Entwicklungseifers in Wissenschaft und Technologie. Ihr Ziel ist es, den „Urschauder“38 - wie Walter Schubart die „erste religiöse Regung“39 bezeichnet - den die Natur auf den Menschen ausgeübt hat, loszuwerden. Denn „(a)m Anfang war Natur“40: so kurz und prägnant drückt es Camille Paglia aus. Gegenüber der Natur wird „der Mensch [...] seiner Schwäche, Verlassenheit und Ohnmacht inne; er fühlt immer das Überlegene das ihn beherrscht“.41 Über eine solche Angst, die den Menschen seit seiner "Menschwerdung" angesichts einer irrationalen Natur verfolgt, versucht er mit Rationalisierung Herr zu werden. So wird das auch von Camille Paglia gesehen: „Gesellschaft ist ein Gebilde von Menschenhand, ein Bollwerk gegen die Macht der Natur. Ohne Gesellschaft wären wir der Natur ausgesetzt wie Schiffbrüchige dem sturmgepeitschten, erbarmungslosen Ozean. Gesellschaft ist ein System ererbter Formen, die unsere demütige Ohnmacht gegenüber der Natur abmildern. Wir können diese Formen ändern, aber keine gesellschaftliche Veränderung [...] wird die Natur ändern."42 Schon am Anfang des Romans wird diese These auch von Döblin veranschaulicht. Denn obwohl man in einem hochentwickelten Technologiezeitalter lebt und die Menschen des Abendlandes immer mehr begehren (vgl. BMG, 19) und für ihre Zwecke alles verändern, bleibt doch "manches" immer gleich, nämlich die Natur: 38 Walter Schubart: Religion und Eros. Hrsg. Friedrich Seifert. München 1989, S.10. ebd. 40 Camille Paglia: S. 11. 41 Walter Schubart: S. 11. 42 Camille Paglia: S. 11. 39 39 „Am Himmel bewegt sich das stille blitzende Licht, das morgens erschien und abends unterging. Die Erde drehte sich in Tag und Nacht. Trug Erdteile Meere Gebirge Flüsse mit sich. Gab von Jahr zu Jahr neuen Sommer und Winter von sich. Wälder wurden von ihr hochgewälzt; sie stürzten ein; sie trieben neue auf.“ (BMG, 13) Am Zyklus der Natur ändert sich nichts. Nichts hat es geschafft, den Gang der Natur zu verändern und so wird es auch fortan sein: darauf gibt es zahlreiche Hinweise im Roman. Auch wenn sich die Kulturgeschichte von der vorrational mütterlichen Welt, in welcher (angeblich) Freiheit und Gleichheit existierten, zur rationalen patriarchalischen Welt, in der Hierarchie und Ungleichheit herrscht, entwickelt hat43: es bleibt unglückliches Schicksal, daß die westliche Menschheit der Mutter Natur den Krieg erklärte. Denn der Natur ist alles gleichgültig, sie hat ihr eigenes Dasein und da sie auch aller Lebenden Mutter ist, hat sich jeder ihr anzupassen. Dabei wird, auch wenn diese Naturschilderung idyllisch klingt, auf die ambivalente Seite der Natur hingewiesen. Die gebärende, gebende, immer werdende, fruchtbare Natur hat auch eine Schattenseite, nämlich eine nehmende und verderbende. Und das bindet gerade den Kreis zusammen. Von einer rousseauistisch romantischen Vorstellung einer wohltätigen Natur ist in diesem Falle also nicht zu reden.44 Diese archaische Nachtseite ist es, wovor sich eben die westliche Ratio zu schützen bemüht und zu verdecken versucht. Der Tod erweckt das Schauern45. Dabei ist auch darauf zu hinzuweisen, daß dem Tod nicht ausgewichen werden kann: die ganze westliche Kultur jedoch basiert darauf, diesen zu überwinden und die Unsterblichkeit zu erlangen. 43 vgl. Erich Fromm: Liebe, Sexualität und Matriarchat. Beiträge zur Geschlechterfrage. 2. Aufl. München 1997, S. 18. 44 Camille Paglia: S. 12. 45 vgl. ebd., S.11 40 Rousseau, der parallel zu der Auffassung Döblins, die ich dem Roman Berge Meere und Giganten entnehme, vertritt in seiner Philosophie die Ansicht, daß der Mensch durch die Kultur verdorben wird.46 Er ist gegen die Geisteshaltung der Aufklärung, „ihrer einseitigen Wertung der Verstandeskultur“47. So wird seine Anschauung aufschlußreich definiert: „Wenn Mißtrauen, Haß, Kampf, Lüge und Verstellung ihren Einzug in der Welt gehalten haben, so sind nicht zuletzt Künste und Wissenschaften , so ist die immer raffinierter werdende Kultur des Verstandes daran schuld.“48 Mit der Verurteilung des wissenschaftlichen Rationalismus stellt er sich an die Seite der Natur: so auch Döblin im Roman Berge Meere und Giganten. Nach seiner Naturauffassung aber ist der Mensch so wie auch die Natur im Urzustand „gut“: Ursprünglich lebte „der Mensch in völligem, ‚bewußtlosem’ Einklang mit sich selbst, der Natur und seinen Mitmenschen“49. Folglich entspringt der Ruf „Zurück zur Natur“ dem Wunsch, die innere Zerrissenheit des Menschen, welche die künstlichen Konstrukte Kultur und Zivilisation errichtet haben, zu überwinden. Diese auf den ersten Blick regressiv orientierte Haltung Rousseaus wird im „Venaska“-Kapitel des Romans (siehe vorhergehendes Kapitel) auch von Döblin versprachlicht50. Jedoch ist die Vorstellung dieser idyllischen, dieser paradieshaft harmonischen Naturzustandes strittig, denn in der Entstehung der patriarchal gesinnten Kultur spielen die dunklen, schreckenerregenden 46 vgl. Hannelore Qual: Natur und Utopie. Weltanschauung und Gesellschaftsbild in Alfred Döblins Roman Berge Meere und Giganten. München, 1992, S.115. 47 Max Dessoir, Hrsg. : Die Geschichte der Philosophie. Berlin, 1925, S. 465. 48 ebd., S. 465 f. 49 Hannelore Qual: S. 115. 50 Qual behauptet in ihrer Dissertation (S. 115 – 117), daß Döblin die Gesellschaft und den kulturellen Fortschritt prinzipiell als positiv beurteilt und somit auch keine regressive Einstellung („Zurück zur Natur“) postuliert Er würde nur auf die Fehlentwicklung an der Oberfläche der Zivilisation deutend eine Kritik ausüben mit der er die Verbesserung in diesem Rahmen zielt Im Hinblick auf den Roman Berge Meere und Giganten muß ich diese These Quals ablehnen, denn im Kapitel „Venaska“ wird die Regression zur Natur deutlich von Döblin dargelegt. 41 Seiten der Natur die hauptsächliche Rolle. Wie oben schon besagt wurde, baut sich die westliche Zivilisation darauf auf, dieses Schauererregende mit dem Verstand zu überwinden. Die angsterregende Seite der Natur wird von Döblin in der vorangestellten „Zueignung“ des Romans, welches als ein „Gebet an die geheimnisvolle Naturmacht“51 zu definieren ist zu Wort gebracht. Hier spricht der IchErzähler in einer beunruhigenden Faszination die Natur direkt an und gesteht: „Mit Angst habe ich mich von euch entfernt. In meiner Demut vor euch war Angst vor Lähmung und Betäubung. Immer habe ich euch, ich gestehe es, als schreckliches in einem dunklen Winkel des Herzens gehabt.“ (BMG, 9) Mit diesem Geständnis des Ich-Erzählers wird zum Ausdruck gebracht, wie der zivilisierte Mensch im Inneren die Macht der Natur empfindet. Auch ist zu entnehmen, daß dieses unheimliche Gefühl unterdrückt wird, damit man keine „Lähmung" durch die Verfallenheit erleidet. Nach diesem wichtigen Geständnis wird die davor mit „du“ und in dem angegebenen Zitat mit „ihr“ indirekt angesprochene Natur umschrieben: „Ich will nicht du und ihr sagen – von ihm, dem Tausendfuß Tausendarm Tausendkopf. Dem was schwirrender Wind ist. Was im Feuer brennt, dem Züngelnden Heißen Bläulichen Weisen Roten. Was kalt und warm ist, blitzt, Wolken häuft, Wasser heruntergießt, magnetisch hin- und herschleicht. Was sich in Tieren sammelt, in ihnen die Schlitzaugen nach rechts und links bewegt auf ein Reh, daß sie springen schnappen, die Kiefern öffnen und schließen. Von dem was dem Reh Furcht macht. Von 51 Heidi Thomann Tewarson: Sachlichkeit als ästhetische Kategorie bei Alfred Döblin 1900 – 1933. Diss. State Univ. of New York at Stony Brook 1977, S. 141. Zitiert nach Gabriele Sander: „An die Grenzen des wirklichen und Möglichen…“ Studien zu Alfred Döblins Roman „Berge Meere und Giganten“, Frankfurt a. M., 1988, S. 142. 42 seinem Blut, das fließt und das das andere Tier trinkt. Von dem Tausendwesen, das in den Stoffen Steinen Gasen haucht, raucht, sich löst, verbindet verweht. Immer neuer Hauch und Rauch. Immer neues Prasseln Verschmelzen Verwehen. Jede Minute eine Veränderung. [...] So viel Veränderung in diesem hier. Und ich bin nur ein Einzelnes, ein winziges Stück Raum. An jedem Blatt Stengel Wurzelschaft geschieht sekundlich etwas. Da arbeitet das Tausendarmige. Da ist es. Singen der Drosseln, Rasseln Schmettern der Schienen: da ist es. Stille mit einer Bewegung gefüllt, die ich nicht höre, von der ich doch weiß, daß sie abläuft: da ist es. Das Tausendnamige. Sich unaufhörlich Wälzende Drehende Aufsteigende Zurückfallende sich Kreuzende. [...] Die dunkle rollende tosende Gewalt. Ihr dunklen rasenden ineinander verschränkten, ihr sanften wonniger kaum ausdenkbar schönen, kaum ertragbar schweren nicht anhaltenden Gewalten. Zitternder greifender flirrender Tausendfuß Tausendgeist Tausendkopf.“ (BMG, 9f.) Dieses gut- und bösartige zugleich, dieses alles ineinanderfließende, unendlich fortwährend Endende und Beginnende, d.h. das, was auch von Döblin nicht als Dualismen sondern als ‚komplementäre Phänomene’ der Natur verstanden wird, die ein Gleichgewicht aufweisen52, erfüllt den Menschen mit dem Gefühl der Ohnmacht. Die festen Formen der Kultur werden zersprengt. Wenn man auch von Zeit zu Zeit mit dem Wohlgefühl des Einklangs mit der Natur belebt wird, verfällt der Geist des Menschen doch eher in Angst. In apollinisch festgelegter Weise will man diese überwältigend erlebte Natur nun verdrängen, ignorieren. An dies deutend und auch von den Kultur geprägten Handeln nicht abkommend will das Ich über diese „dunkle Gewalt“ (BMG, 10), „ihrer schreibend Herr werden“53. 52 53 vgl. Hannelore Qual: S. 116. Gabriele Sander: S. 144. 43 „Was habt ihr mit mir vor? Was bin ich in euch? Ich muß sprechen von euch, was ich fühle. Denn wer weiß wie lange ich noch lebe. Ich will nicht aus diesem Leben gegangen sein, ohne daß sich meine Kehle geöffnet hat für das was ich oft mit Schrecken, jetzt stille, lauschend, ahnend, empfinde.“ (BMG, 10) Die Angst irgendwann zu vergehen, zu sterben, verursacht also den Drang zu "produzieren". Eine Produktion aus der „Kehle“, um wenigstens durch die künstliche Schöpfung unsterblich zu werden. Somit will man dem Tod im kausalen Sinne ausweichen. Dieser Wille, unsterblich zu werden, wird durch die Symbolik des Himmelskultes, der aufklärerischen Sonne, den funkelnden Sternen in Verbindung gebracht und anhand ihrer verbildlicht. Diese Zeichen werden auch im Roman offenkundig festgesetzt. Deutlich auf das Ziel des Westens zeigend erstellen die Menschen der westlichen Kontinente Fahnen, auf denen „silbern weiße und goldene Sterne Sonnen und Monde“ (BMG, 57) abgebildet sind. Diese werden als „ihre Zeichen“ (ebd.) betont. Somit wird das Vorhaben der westlichen Kultur mit künstlichen Gehirnprodukten unsterblich zu werden, mit ‚nach den Sternen zu greifen’ definiert. Dieses Greifen nach den Sternen (Goethe: Grenzen der Menschheit) wird Paglia folgendermaßen versprachlicht: „das Apollinische hat uns den Weg zu den Sternen gewiesen“54. Ihre Erfüllung findet dieses apollinische Prinzip in dem Schein der Technologie und Wissenschaft. Und Nietzsche legt diesen Weg zu den Sternen in Zarathustras Mund. „Aufwärts geht unser Weg“ heißt es „von der Art hinüber zur Überart [...] Aufwärts fliegt unser Sinn [...]“55. Der westliche Menschentypus erstrebt das Göttliche. Die künstlichen Kopfgeburten sind allgemeiner Preisung sicher, gleichsetzbar mit der olympischen Göttin Athene. Athene die Göttin der Weisheit, ist stolz auf sich, weil sie aus dem Haupt des Obergottes Zeus geboren wurde und nicht aus einer dunklen, 54 Camille Paglia: S. 26. Zitiert nach Christian L. Hart Nibbrig: Die Auferstehung des Körpers im Text. 1.Aufl. Frankfurt a.M., 1985, S. 81. 55 44 glitschigen, stinkenden Gebärmutter. Entsprechend spricht Apollon in Bezug auf Athene in der Orestie des Aischylos mit folgenden Worten den Muttermörder Orestes frei: „Denn Vater kann man ohne Mutter sein; Beweis Ist dort die eigne Tochter des Olympiers Zeus, Die nimmer eines Mutterschoßes Dunkel barg, Und dennoch kein Gott zeugte je ein edler Kind.“56 Nichts ist „herrlicher“ als eine Geburt, wie die Athenes, aus dem Kopf. Sie ist „herrlich“ oder sie (Athene) wird „verherrlicht“, weil für die Weiterführung eines Systems, in der die Macht den Männern gehört, nur Geburten aus dem Kopf möglich sind. Denn für das Patriarchat, welches die Natur und alles was ihr angehörig ist, ausschließen will, kann eine Geburt von der Mutter nur abstoßend wirken. Dabei ist auch hinzuweisen, daß eine natürliche Geburt im Biologischen für die Männer sowieso nicht möglich ist. Um die Stellung der gebärenden Frau verdrängen zu können, wird das rationelle Denken, das mit dieser Kopfgeburt und den harten Zügen der Göttin der Städte in Einvernehmen ist, als eine höhere Macht hingestellt. Somit erhält die Frau in der Gesellschaft eine zweitrangige Stellung und der Zugang zu Macht ist ihnen nur dann nicht vorenthalten, wenn sie die Züge der geharnischten Athene aufweisen, also wie sie auch im Roman genannt werden zu „Herrinnen“ (BMG, 35 und passim) und/oder zu „Männinnen“ (BMG, 437) werden. Diese Haltung weist demzufolge nicht nur auf die Unterdrückung der Natur, sondern auch auf die der Frau und des gynaikokratischen Prinzips hin, Rationalisierung im Unterbewußtsein die sich trotz patriarchaler des modernen Menschen fest verkeilt hat. Wie Athene beharrlich und stets auf ihre Geburt aus dem Kopf des Zeus verweist, so hält eben auch der Westen an dieser apollinischen Vernunft 56 zitiert nach: Johann Jakob Bachofen: S. 179. 45 fest. Identisch mit Athenes Haltung sind die weisen abendländischen Menschen von ihren eigenen Schöpfungen fasziniert, dermaßen, daß siesich gezwungen fühlten, sie „anderen“ Ländern, die „um Europa und Amerika lagen“ (BMG, 14) vorzuführen: „Wie die Apparate und Einrichtungen da standen, sprühend an Vermögen, wurden die Menschen gedrängt sie über die Länder zu führen. Die Erfindungen waren Zauberwesen, die ihnen aus den Händen glitten und sie hinter sich herzogen. Die Menschen fühlten, es war ihr Wille, der vor ihnen flog."(BMG, 14) Der „Wille“, der die westlichen Menschen in ihren Bann genommen hatte, ist eigentlich nichts anderes als „die angeborene Grausamkeit des Menschen“57, der „Wille zur Macht“58, die im Christentum als „Erbsünde“ bezeichnet wird und doch mit den gesellschaftlichen Regeln und der Kultur in Zaum gehalten werden soll. Doch kontrastiv ist zu sehen, daß der zivilisierte westliche Mensch seine Grausamkeit mit Technik und Wissenschaft stets in die Tat umsetzt. Er ist grausamer als die Menschen, die mit der Natur in Einklang leben. Auf Rousseau zurückgreifend ist in diesem Bezug diese pessimistisch christliche Vorstellung, daß der Mensch „mit einem Hang zum bösen auf die Welt kommt“59 zu eliminieren und eher von einer „verdorbenen Gesellschaft“60 zu sprechen. Vererbt ist in diesem Falle nicht die natürliche "Verdorbenheit", sondern die im Banne des männlichern Herrschaftseifers erblühte Kultur wird vererbt und an nächste Generationen weitergegeben: die Unterdrückung der Natur, welcher sie unausweichlich selber angehören. 57 Camille Paglia: S. 13. Christian L. Hart Nibbrig: Die Auferstehung des Körpers im Text. 1.Aufl. Frankfurt a. M., 1985, S. 71 und Camille Paglia: S. 13 (und passim). 59 Camille Paglia: S. 12. 60 ebd. 58 46 Nach dieser Feststellung Rousseaus wird die Parallele zu Bachofens These, daß dem Patriarchat ein Matriarchat vorausgegangen war, in welcher die Menschen in Einklang mit der Natur lebten, über Vorsätze wie Gleichheit, Freiheit, Glück und bedingungslose Bejahung des Lebens verfügten, offensichtlich. Das Patriarchat, das dieses mutterrechtliche Prinzip umwälzend, das Vaterrechtliche einsetzte, steht mit dem starren apollinischen Blick eher auf der zerstörerischen Ebene. Auch ersichtlich im Roman, vollzieht sich der Kampf, der gegen die Natur angesagt worden ist, in jeder Phase. Der Osten und Süden, welche als "naturnah" gelten, die also unter dem „Einfluß der mutterrechtlichen Gesellschaftsformen“61 stehen, sind sowohl auch Richtungen, die anzugreifen und zu erobern sind. Wie Elias Canetti auch nachdrücklich hervorhebt, braucht die Masse eine Richtung. “Die Furcht vor Zerfall, die immer in ihr rege ist, macht es möglich, sie auf irgendwelche Ziele zu lenken.“62 Aber diese Ziele sind eigentlich nicht „irgendwelche“, sondern das als unbekannt hingestellte Fremde, das Andere, das, was verdrängt wurde mit der Kultur, d.h. also das, was mit der Natur in Vereinbarung geblieben ist: der orientalische Osten und der exotische Süden oder im kurz und bündig: die Natur selbst. Daneben sind Richtungen in dem Apollinischen deshalb wichtig, weil der Phallus, der eben richtungsweisend nach oben (Norden) zeigt, immer mehr zu den Sternen und sogar noch zu dem Göttlichen zielt, wie auch auf das menschliche Gehirn. (Das männliche Geschlechtsorgan ist hier bestimmend, weil das Ringen nach der Herrschaft des Mannes und der männlichen Ratio in der Entwicklung der Menschheit ausschlaggebend ist.) In der Untersuchung U.R.Ehrenfels’ „Nord-Süd als Spannungspaar“ in der er eher auf die Beziehungen von Nationalstaaten eingeht, wird auch der rivalitäre Sachverhalt zwischen Nord und Süd (vgl. vorhergehendes Kapitel in Bezug auf Melise und Venaska) vor Augen gebracht. Diese Polarisation weist auf tiefe Gründe, in „traditionell verwurzelte Gegensätze zwischen 61 62 U.R. Ehrenfels: Nord - Süd als Sannungspaar. S. 104. In: Antaios 7, 1966, S. 101 - 125. Elias Canetti: Masse und Macht. 3 Aufl. Hamburg, 1973, S. 28. 47 matrilinearen und patrilinearen Gesellschaftsordnungen“63 und bezeichnet diese Gegensätzlichkeit als eine „kultur-erotische Beziehungsform“64. Bemerkenswert sind die tabellarisch aufgezeigten Pole unter Nord und Süd, in dem die Kälte des Nordens, welche das Apollinische in sich verbirgt und die Hitze des Südens, welches das Dionysische impliziert, zum Ausdruck kommen, wobei Ehrenfels eine klimatologische Deutung eigentlich nicht akzeptiert. Der Versuch einer Charakterologie des Nordens und Südens, die von ihm und von Hofmannsthal in verschiedenen Tabellen dargeboten wurden, werden hier nun zusammengefügt zusammengefaßt aufgezeigt: 63 64 NORDEN SÜDEN * kalt * heiß * betontes Überlegenheitsgefühl * Unterlegenheit * männlich * weiblich * ernsthaft * liebenswürdig, kalkulierend * sparsam u. geizig * freigebig u. verschwenderisch * energisch, kämpferisch * faul, lässig * stark * schwach * langsam u. schwerfällig * schnell u. wendig * eigensüchtig * unzuverlässig * pessimistisch * optimistisch * rücksichtlos-fanatisch * wetterwendisch - unberechenbar * künstlich, geschaffen * natürlich, gewachsen * unfruchtbar * fruchtbar * alles im Menschen u. vom Menschen * alles von außen her * disziplinierbare Masse * selbstständige Masse * homogen * polygen * grenzenlose Autorität * unbegrenzter Individualismus * handeln nach Vorschriften * handeln nach Schicklichkeit * Stärke der Dialektik * Ablehnung der Dialektik * Selbstgefühl * Selbstironie * Autorität * Menschlichkeit U.R. Ehrenfels: S. 105. ebd. und 48 * Jeder einzelne Träger eines Teils * Jeder einzelne Träger eines Ganzen * Streberei * Genußsucht * rechtfertigt sich selbst * bleibt im Unklaren * harte Übertreibung * Ironie bis zur Auflösung * oben * unten65 Mit dieser oben aufgeführten Tabelle wird ersichtlich, wie der Norden auf sein Wissen aufbaut. Die ganze „Streberei“, von der Naturausgesetztheit sich zu befreien, verfolgt eine strenge Disziplin. Hingegen ist für den Süden der sich mit der Natur identifiziert hat, alles gleichgültig. Die Lässigkeit, die davon herzuleiten ist, daß alles von der Natur kommt, wird vom Norden und auch vom Westen keinesfalls als zu akzeptierendes Faktum gesehen. Der Norden und Westen versucht alles mit eigener Hand und hauptsächlich dem Kopf zu lösen. Genauso wie die Natur wird der Süden und somit ist auch der Osten in Betracht zu ziehen – unberechenbar und wetterwendisch empfunden. Da die Überlegenheit ihrer Kultur stark in Vorschein gerückt wird, ist es auch nicht eigenartig, daß sich der Norden und Westen die ihr entgegengestellten Richtungen als schwach empfinden. So werden diese heruntergesetzt, was mit der chthonischen Natur nicht gerade in Dissonanz liegt, sondern im Gegenteil, bezüglich der richtungweisenden Zusammensetzung des Nordens mit dem Himmel und des Südens mit der Erde, allzu verständlich ist. In Betrachtnahme dieser tabellarisch aufgestellten und wenn nötig noch reichlich zu erweiternden Polarisationen ist die Haltung des Westens im Roman nicht erstaunlich bzw. ungewöhnlich. Die abendländischen Menschen, die im Grunde die Maschinen ‚einverleibt’ (vgl BMG, 58f.) haben, wollen die Kraft dieser eisernen Tiere an den östlichen und südlichen Kontinenten zur Schau stellen. So locken sie mit List und Tücke die „Fremden“, die sie im Grunde eigentlich verachten, weil ihnen dieses 65 vgl. U. R. Ehrenfels: S. 108 – 110. 49 rationelle Denken fehlt, zu sich. Diese Farbigen sollen nun den Dienern der Maschinen dienen (vgl. BMG, 17): „Man könnte Fremde [...], denen der Mondgottesdienst noch im Blut steckt, die für einen Schluck kalten Biers ihre Habe und Arbeitskraft verkaufen, nicht behandeln wie Menschen nördlicher Herkunft. Die westliche und nördliche Kultur war von ihnen aufzunehmen, nicht aber zu verschlucken.“ (BMG, 26) Aufgrund dieser Bezeichnungen, die Döblin in die Dialoge der Herrscherschicht einsetzt, ist unverzüglich zu erkennen, daß alles "außerwestliche" und "außernördliche" mit einem herabsetzenden Blick betrachtet wird. So wie dieser westliche Logos sich von der Natur ausschließt und über sie Herr werden will, werden diese primitiven Völker mit dem Matriarchalen zusammengesetzt und somit erniedrigt und sind prädestiniert ausgenutzt zu werden, es lohnt sich nicht einmal, sie "zu zivilisieren". Denn wie daraus zu folgern ist, auch die Natur ist nicht zu zivilisieren und wie sehr man auch in solch einem Bestreben ist, weiß doch der patriarchale Mensch im Unterbewusstsein diese Wahrheit. So führt Paglia aus, daß „das zivilisierte Leben [...] der Illusionen bedarf“66; ähnlich spricht Nietzsche von der „apollinischen Illusion“67. Immer mehr wollen die weißen Völker, es ist ihnen nie genug. Das Vorführen dieser Technik reicht nicht aus, ihren Hunger nach Ruhm, den „Willen zur Macht“ zu stillen. Anfänglich errichten sie „Verteidigungsanlagen“ auf: „Reihen von Masten“, die sich als „Wegweiser“ maskierten und mit einer Schaltbewegung „[konnte es sich] wie ein lebendiges Band [...] in die Höhe strecken, und im Moment, wie es aufrecht stand, warf es einen tönenden Wirbel von Strahlen um sich“(BMG, 22f.). Ersichtlich ist gleich, daß diese Masten dem Phallus ähneln. Diese Maske 66 67 Camille Paglia: S. 12. Friedrich Nietzsche: S.31. 50 der Masten als Wegweiser verbirgt den nach Norden oder zum Himmel gerichteten Blick des westlichen Logos. Diese lebendigen Masten, strecken und recken sich; der Phallus wird in Erektion gesetzt und es wirft mit Wirbel seine Strahlen um sich. Döblin schildert die Waffentechnologie nach meiner Ansicht mit Absicht in dieser Art, denn die unübersehbare Kongruenz dieser aufgestellten Masten mit dem errigierten Penis zeigen sowohl auf die phallische Richtlinie der apollinischen Kultur, welches zum Himmel zielt, als auch darauf, daß diese Verteidigungsanlagen eben zum Schutz der Zivilisation vor den natürlichen Begierden dienen sollen. Denn alles Sexuelle wird "beherrscht von Trieb und archaischen Zwang“68. Deshalb wird das Biologische des Mannes von all seinen chthonischen Trieben und Instinkten gereinigt und in technischen Apparaten (wieder-)belebt: Maschinen werden in phallusähnliche Strukturen und Skulpturen verwandelt. Sexualität, welche eine heikle Schnittstelle zwischen dem Matriarchalen und dem Patriarchalen, also zwischen Natur und Kultur darlegt69, wird demnach als etwas zu Verdrängendes verstanden. Anstelle dessen treten das analytische Denkvermögen und der männliche Erfindergeist. Angesicht dieser mit Vernunft produzierten Gestalten ist zu sagen, daß das Apollinische offenkundig das Natürliche umzuwälzen versucht. Diesen künstlichen Schöpfungen des männlichen Erfindergeistes werden, wie vorher erwähnt, eine hohe Ehre erteilt, was auch zur Eigensucht und der Hervorhebung des Einzelnen führt. So sehr, daß man in „Berge Meere und Giganten“ seinem Nächsten gegenüber sogar mißtrauisch wurden: deshalb hält Wissenschaften die Herrenklasse geheim. die „Mathematik neuesten Erfindungen Ingeneurwissenschaft und Chemie Elektrotechnik Biologie Radiotechnik waren nur Ausgewählten gestattet [...]. Man zerstückelte die Disziplinen, um keinem, der nicht bestellt war, eine Übersicht zu gestatten.“ (BMG, 26). Diese Anspielung Döblins weist 68 69 Camille Paglia: S. 15. vgl. ebd., S. 12. 51 auf die generelle Struktur der rationalen Zivilisation. Einteilung, Zerteilung das sind die feinsten apollinischen Methoden, die immer wieder verwendet werden. Die Vernichtung des Ganzheitlichen, der vollkommenen Natur ist die beste Methode mit ihr fertig zu werden70. Denn das Denksystem des Menschen kann nur analysierend fortfahren, ansonsten ist der Mensch der Macht der Natur verfallen. Und so ist allerdings das „keinen anderen zulassen neben sich“71 oder in die höchstwichtigen Disziplinen keine Einsicht zu verleihen, auch ein „Wille zur Macht“, ein Hingreifen zum göttlichen Range. Der „Wille zur Macht“ des westlichen Menschen, findet ihr Erscheinen in der ganzen Kulturgeschichte. In einer kulturanthropologischen Untersuchung72 wird der menschliche Machttrieb, der Herrschaftsdrang des Menschen historisch aufgefaßt und von den ersten geschichtlichen Texten Herodots anfangend bis zur Gegenwart diagnostiziert. Kongruent mit dieser kulturanthropologischen Schrift verweist auch Paglia auf die geschichtliche Entwicklung des Apollinischen in der westlichen Geschichte73. Ausschlaggebend für diese Entwicklung ist auch der Übergang von den Erdkulten zu den Himmelskulten. Der Wille zum Ebenbild des Göttlichen zu werden, findet eine Transformation in die menschliche Ebene, der Wille um Herrschaft über andere Menschen. Ins Auge fallen das „Immer-mehr-Habenwollen“74 der historischen Helden. „Herrschsucht, Elemente, in Ehrgeiz welchen und der Habgier“75 sind Expansions- die hervorstechenden und Herrschaftsdrang manifestieren. Dieser natürlich aufgefaßte Machttrieb des Menschen schlägt sich auch in die Faszination eines Zerstörungsdranges um. Das ist wiederum eigentlich auch als Spiegelbild für das Ringen mit der Natur aufzufassen. Denn die Natur ist ein großes Geheimnis und „das Geheimnis 70 vgl. Camille Paglia: S. 16. L. Hart Nibbrig: S. 71. 72 F. Wagner: Universalgeschichte und Gesamtgeschichte. Bonn. In: Neue Anthropologie. Band 4. Kulturanthropologie. Hrgb.v. Hans Georg Gadamer und Paul Vogler. Stuttgart, 1973, S. 195 - 224. 73 vgl. Camille Paglia: S. 20. 74 ebd., S. 196. 75 ebd., S. 197. 71 52 ist im innersten Kern der Macht.“76 Die Wissenschaften dienen also dazu diese Geheimnisse der Natur zu entblößen. Und dabei ist nicht zu vergessen: „Zur Macht gehört eine ungleiche Verteilung des Durchschauens. Der Mächtige durchschaut, aber er läßt sich nicht durchschauen. Am verschwiegensten muß er selbst sein. Seine Gesinnung wie seine Absichten darf keiner kennen.“77 In solch einem Verständnis versucht der wissenschaftliche westliche Mensch nun die Macht der Natur zu entreißen und sich diese Macht anzueignen. Mehrmals kommt dieser „Wille zur Macht“ auch in „Berge Meere und Giganten“ wörtlich zum Ausdruck. Es heißt: „Die westlichen Menschen begehrten viel; es mußte ihnen noch mehr gegeben werden.“ (BMG, 19). Dieses Begehren findet sich vielmals im Ganzen des Romans zerstreut wieder. Und in Erscheinung tritt es in der Macht der Apparate, den Kopfproduktionen der westlichen Menschen und in der Politik der Herrschenden, den Herren und Herrinnen des Maschinenwesens, die „die eigentlichen Machthaber der westlichen Erde“ (BMG, 40) sind. Der Mensch ist von der Macht der Technik und den Wissenschaften regelrecht besessen und erhofft mit Hilfe ihrer Macht auch mehr Herrschaft zu gewinnen. „Einzig am Glanz der Apparate teilzunehmen, ihre Kraft vorwärts zu treiben, beseelte die Menschen“ (BMG, 66). Aber parallel zu der Expansion der Wissenschaften und Technik breitet sich mit dem Mißtrauen zwischen den Menschen auch die Angst aus. So entstanden auch im einzelnen „Verzweiflungsschläge gegen die Maschine“ (BMG, 55). Es heißt „Die stummen gewaltigen Apparate zerstören. Die Köpfe zerstören aus denen sie kamen.“ (BMG, 55) Jedoch konnten diese Versuche sehr schnell vereitelt werden. „Die Maschinen waren nicht 76 77 Elias Canetti: S. 333. ebd., S. 336. 53 aufzuhalten, das westliche Gehirn nicht umzustellen.“(BMG, 86) So wird kein Zögern, Stocken, kein Haltmachen akzeptiert. Die alten Köpfe, die nicht mehr die Kraft dazu haben, sich in dem Dickicht der Natur weiter voran zu arbeiten, werden abgesetzt. Jede neu aufkommende Generation ist noch stürmischer, „heißer als die sie ablösten“ (BMG, 58). Diese enthusiastischen jungen Menschen sind mit großer „Liebe“ zu diesen „eisernen Wesen“ (BMG, 58) erfüllt. „Ihr Dröhnen Schnattern Einschnappen tat ihnen wohl. Es erregte wie eine Liebesbegegnung. [...] Das Eisen erschien ihnen beseelt wie ihr eigenes Fleisch.“(BMG, 58). Nicht die Maschinen mutieren zu lebendigem Fleisch, wie das hier eventuell anklingen mag, sondern es sind die Menschen, die sich zu maschinenartigen Wesen hin entwickeln. Sie sind von ihren eigenen „KopfGeburten“ so fasziniert, dass sie durch ihre Vernunftsideologie alles Natürliche an sich verloren haben und selber zu gefühllosen Maschinen geworden sind oder nur noch Mitgefühl für die selbstproduzierten Maschinen haben. Zu Wort kommt dies vor allem darin, daß sie vorgeben „der Geist der Maschinen Apparate zu sein“ (BMG, 62). In solch einer Inbrunst für die Maschinen und alles was die Menschheit schöpft, ist eine Frau, die nicht beim Namen genannt wird, hervorstechend. Diese Frau tritt mit einer auffallende Fahne, auf der die Gestirne und aus denen ein ausgehendes Feuer abgebildet ist, in Vordergrund und betont den Wert des Gehirns als Vertreterin des abendländischen Rationalismus: „Wir lieben das Eisen; die Kraft ist in uns, die Stärke [...] Sie ist unser Blut unser Leben. Es ist nicht die Erde. Was soll die Sonne auf unseren Fahnen, Mond Sterne. Nicht Sonne Erde Sterne. Wir! Wir! Wir! Wir Menschen! Die Sterne aufbrechen! Die Sonne aufbrechen! Wir können es! Wir haben ein Hirn im Kopf. Da stehen unsere Maschinen. Unser Fleisch. Ich liebe sie. Was ist kräftiger als sie, was ist kräftiger als wir mit ihnen. Meine Seeligkeit. Ich will nicht an mich halten Kommt 54 Freunde Freundinnen, zu unserer Kraft! Zu unseren Kindern! Zu unserem Herz.“ (BMG, 59) Auffallend ist in ihrer Aussage der Wille, die Sterne aufzubrechen und das mit Hilfe des menschlichen Gehirns, das seine Fähigkeit mit der Technologie und den Wissenschaften bewiesen hat. Die beweisbringenden Elemente, also die Maschinen sind ein wichtiger Teil ihres Lebens geworden, nicht nur das, sie sind durch das ewige Gebären dieser in sie eingewachsen und mit ihrem Fleisch eins geworden. Und diese Vereinung wird noch weiter getrieben. Unter Führung dieser Frau und der regelrechten Aufforderung eines Mannes: „Hin ist hin. Was ist ein Leib für eine Maschine. Wieviel muß eine Maschine fressen, um ein Mensch zu sein. Sie muß nicht glauben ihr genug getan zu haben. Das war für das Maschinchen ein Tropfen![...]Das braucht mehr als nur einen Menschen. Wer will mit auf die Reise.[...]“ (BMG, 59) werden große Scharen von Menschen mitgezogen und stürzen sich besinnungslos in die Maschinen. (vgl. BMG, 59ff.). Ihr Tod soll in irrationeller Weise das Weiterleben der Apparate bewirken. Hier erscheinen die Maschinen wie Götter, denen man Opfer bringt. Nicht mehr die westlichen Menschen sind Herrscher über den Maschinen, sondern sie werden wahrhaftig von den Maschinen beherrscht. „Unpersönlich triebmäßig reflexartig“ (BMG, 64), fast maschinell verrichten die Menschen die Arbeiten. Doch eigentlich ist nur von einer „Scheinarbeit“ der Massen zu reden (vgl. BMG, 21), denn die eigentliche Arbeit wird nicht mehr von den Menschen, sondern von Maschinen geleistet. Eine Art der Trägheit wucherte deshalb in den westlichen Landschaften. Doch der triebhafte Wuchs der Forschungen und Entwicklungen in Wissenschaft und Technik reißt nicht ab. In einer langwierigen Zeitspanne haben sich die 55 einzeln verstreuten Maschinen in „Maschinenblöcke Maschinenhäuser Kolosse Pyramiden von Anordnungen, Maschinenorganismen“, später zu „Glasstädte Lichtstädte Nahrungsstädte Kleiderstädte“ und zuletzt in „Lilliputapparate“ (BMG, 85) verwandelt. Sogar „wilder als je erhob sich [...] das Gespenst der neuen Erfindung, des vernichtenden Fortschritts“ (BMG, 67). In den „Meki“- Fabriken“ (BMG, 69 und passim) und „Meki“Laboratorien, wo die „Lebensmittelsynthese“ (BMG, 69) entworfen und verbreitet wird – mit der man Mittel suchte „um ganze Völker ackerlos und sonnenlos jahrzehntelang zu ernähern“ (BMG, 74) – wurden für die Versuche auch „Menschenopfer“ (BMG, 71) verwendet. Diese Menschen haben auch keine Mitgefühle mehr für andere Menschen. Diese einförmig strenge Massenideal duldet keine Milde. „Das Humanitätsgefühl, das ererbt war, schwand.“(BMG, 65f.) Auch schwinden mit der Zeit die natürlich-biologischen Eigenschaften. Die Menschen dieser Epoche „hatten sich längst an die künstlichen sehr raffiniert aufgemachten Stoffe gewöhnt[...]. Der Geschmack reiner tierischer pflanzlicher Nahrung stieß sie ab.[...] Ihre Mägen sonderten schon nicht mehr genug Säure ab für die Aufspaltung tierischer Muskeln, die Därme waren träge und schlaff geworden, die großen unbeschäftigten Bauchdrüsen eingeschrunpft“(BMG, 110). Sie vergessen alles Natürliche an Geschmack. Doch wie sehr auch die abendländische Starrheit sich gegen alles Natürliche stellt und sich von ihr entfernt, so sehr hält der Osten an seinem (stereotypischen) Hang zum Natürlichen fest: „Die fremden Massen [...] staunten und lachten: so sehen die Meister aus, diese Herren der Erde [...]: sie mochten nicht so werden.“ (BMG ebd.). Dieser Enthusiasmus, diese „Tobsucht“ (BMG, 64) durchdringt die westliche Menschheit in großem Maße. Der „Geist der Maschinen“ (BMG, 62) zeigt sich insbesondere in der ausbrechenden „Zerstörungswut“ (BMG, 60). Stürmisch schreiten sie über Länder und zerstören mit Waffen, Apparaten, die sie mit sich trugen, alles, was sich ihnen in den Weg stellte: „zerbrachen Wälder, rissen Flüsse auseinander“ (BMG, 63). Es werden 56 dauernd „Kampfobjekte gesucht“ (BMG S:84) immer werden neue Ziele gesetzt. Und das zeigt, wie auch Canetti bemerkt, daß das patriarchale System, nur bestehen kann „solange (es) ein unerreichtes Ziel“78 hat. Infolgedessen setzt man für den Rationalisierungsprozeß hohe Ziele. Doch anhand dieser oben erwähnten Aussage kann wohl auch gesagt werden, daß die Ziele die zum Vorsatz geworden sind, in Wahrheit nicht zu erreichen sind. Mit einem auf die Natur geworfenen Blick, kann man auch leicht zu diesem Ergebnis kommen, denn, wie oben angesagt wurde ist die Natur nicht umzuwälzen. Sie verbirgt hohe unlüftbare Geheimnisse, mit der sie es immer wieder schafft, sich aufzubauen. Aber der Wille nach Macht, der Hunger nach Herrschaft ist unenthaltsam. „An die Grenzen des Wirklichen und Möglichen wollten sie, über das Erdenkbare hinaus mußten sie fahren.“ (BMG, 82) Und das Kampfobjekt ist natürlich wieder der Osten. „Es war nicht möglich gewesen den gelben braunen Millionen westliche Bedürfnisse einzuimpfen“(BMG, 84), so mußte man sie bezwingen. Es ist ein Ringen um die Vorherrschaft“79, das seine Basis, wie Norbert Elias bemerkt, in dem „Prozeß der Zivilisation“ findet. Um zur ganzheitlichen Macht zu gelangen und diese in der Hand zu halten, übt man, wenn als nötig erachtet, Druck und Gewalt aus. „Man konnte nicht Feuer nach Gestirnen werfen, wenn man nicht einmal den Erdball erzwungen hatte und hundert Meilen hinter der Weichsel eine ablehnende Welt lag.“(BMG, 86f.) Hernach wird die Angriffslust der europäischen Kontinente in die Tat ugesetzt und der „Uralische Krieg“ angesagt. „[...] Die kontinentalen Massen [wollten und] brauchten Angriff und Sieg.“(BMG, 92) Dafür legten sie listige Strategien bereit. Aber in Kontrast mit diesen aufschwellenden westlichen Massen, lachten und winkten ihnen die Asiaten zu. „Die Inder wußten, wie man Elefanten zähmt, Flüsse überschreitet, betet; die Chinesen, wie man Felder bestellt, Schiffe zieht, handelt; die sibirischen 78 Elias Canetti: S. 28. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Bnd. Wandlungen der Gesellschaft, Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. 1.Aufl. Frankfurt a.M., 1976, S. 436. 79 57 Steppenvölker konnten melken jagen. Sie dachten ihren Zauber gegen die Europäer aufzubieten“ (BMG, 85f.). Primitivität und Technologieablehnung der östlichen Massen wird angedeutet. Doch der Krieg wird mit Wellen, Strahlen, mit fortgeschrittenster Waffentechnologie ohne eine genugtuende Schlacht geführt. Im weiteren wird der ganze östliche Kontinent in den Bann eines Feuers genommen. Tiere und Menschen der östlichen und westlichen Erdhälfte müssen vor diesem Brand fliehen. Unheimlich verläuft der Krieg und endet mit einem Fiasko für die machtgierigen Europäer. „Keine Niederlage war gemeldet. Sondern nur: es hatte sich nichts geändert. Die Jungen , Männer und Frauen, die Führer hatten, die Fahne erhoben, geschrien von ihrer Kraft. Das Feuer aus der Erde, zwischen den Händen der Menschen, zu den Gestirnen aufbrennend[...]. Das Land zerrissen, Flüsse entleert, Menschen Tiere Bäume verzehrt. Das grauenvolle tote Land. Das war das Geheimnis der Apparate, die wunderbaren eingesperrten Naturkräfte in den Gewölben [...] Versagt hatten die Jungen, die Herren und Herrinnen. Lächerlich ihre Fahnen. Die Erde konnten sie zerreißen, Städte vergiften. Wenn sie wollten konnten sie auch die westlichen Landschaften vernichten.“(BMG, 98f.) Der fürchterliche Greuel des Uralischen Krieges entlarvt also den inneren Zustand der technisierten Welt.80 Das Gesicht der toten Landschaften erregt in ihnen ein großes Entsetzen. Gebrochen und mit Schuldgefühl erfüllt kehren die Krieger zurück. Sie sehen nun das Zerstörerische ihrer Ratio, ihrer Wissenschaften ein, was „die ungezügelte technische Intelligenz und sich absolut setzende Gehirnlichkeit“81 verursachen können. Dabei schlägt das apollinische Streben nach Unvergänglichkeit mit dem Zusammentreffen mit dem Tod um in die schon im Unterbewußtsein vorhandene „Todessehnsucht“ (BMG, 106), d.h. dem 80 81 vgl. Hansjörg Elshorst: Mensch und Umwelt im Werk Alfred Döblins. München, 1966, S. 40. ebd. 58 Verlangen, in das Chthonische, in das Mütterliche zurückzukehren. „Im Kreis dieser Stadtschaften breitete sich eine Finsternis Lebenssattheit Todesverlangen.“ Der Berliner Konsul Marke der selber an dem Uralischen Krieg teilgenommen hat, fordert sogar am Tage seiner Rückkehr von seinen beiden Töchtern und der vor seinem Haus versammelten Masse, daß sie sich töten sollen. Grauenerregend und befehlend fordert er den Tod aller (vgl. BMG, 103) und sticht sich die Augen aus (vgl.BMG, 106), als wolle er diesen starren und zerstörerischen apollinischen Blick vernichten. Und mit scharfen Maßnahmen setzt sich Marke dafür ein, die chemischen Laboratorien, wichtige Fabriken und „Apparate die der Bewaffnung und Verteidigung dienten“ (BMG, 108) niederzulegen. Er treibt, um der Lebensmittelsynthese ein Ende zu machen, „massenhafte Menschen aus der Stadt heraus auf die Felder zur Bebauung“ (BMG ebd.). Er versucht das Diktum „Zurück zur Natur“ zu realisieren, denn „die Nachwirkungen des Krieges waren bei ihm nicht auszulöschen“(BMG, 110). Aber der Westen hat sich schon zu sehr an den Konfort der Technik gewöhnt und der innere Drang und die Liebe zu den Kopfgeburten ist zu groß. Dem patriarchalen System kann gar nicht Paroli bieten. Es bilden sich gegen die Regierung Markes gerichtete Fronten. Einer von diesen kritisiert dieses Regime und fragt: „Ob sie glaubten, daß die Welt besser würde, wenn ein paar Werke in die Luft flögen. Ein paar Werke. Er empfähle Kastration. Sie müßten den neugeborenen Knaben die Hoden abschneiden, dann könne man hoffen, daß in fünfzig Jahren die Erde besser aussehe: [...] die verkehrte Art Mensch ist erledigt. Die ganze Erde braucht Erholung von den Menschen. [...] Eine Fehlart ist der Mensch. [...] Es vernichtet sich, frißt sich selbst auf; ihre Gaben drängen sie dazu.“ (BMG, 109) Man glaubt nicht, daß man mit eigener Hand, in rationellem Handeln der Machtgier des Menschen und dem Kampf gegen das Natürliche ein Ende 59 geben könne. Nur mit einer Selbstzerstörung wäre dies zu verwirklichen. Denn ihr Sein wäre schon beschieden, der Weg könnte nicht umgestellt werden. Nach seinem Tod entscheidet sich auch der Konsul Marduk dafür, den von Marke vorgezeichneten Weg zu gehen und führt sein Werk weiter. Nach ihm sind “die Lehren des Uralischen Krieges [...] voll und nachsichtslos zu ziehen“(BMG, 127). Noch erbarmungsloser als Marke geht deshalb Marduk in seinem Tun vor. Er hat sich für das Irrationale, gegen die fortschrittlichen Stadtschaften entschieden. So treibt auch er die Bewohner der Städte auf die Äcker. Noch dazu läßt er die Städte versumpfen und zerfallen (vgl. BMG, 156). Er handelt gegen die Wissenschaften, aber wiedersprüchlich wendet er selber diese an, da er ursprünglich auch zu diesem Lager zu zählen ist. Marduk ist selbst ein Wissenschaftler, der in den Laboratorien Pflanzenversuche durchgeführt hatte (vgl. BMG, 114). Dank seiner Forschung erstellt er einen Wald von künstlichen Buchen, in den er die 42 Gefangenen, die gesamte Führerschaft der Eisenfreunde, einsperren läßt (vgl. BMG, 113). Die Pflanzen und Bäume in diesem Wald hatten einen eigentümlichen Charakter, sie entwickeln sich in einer unglaublichen Kürze zu einer ungewöhnlichen Größe. Die Gefangenen müssen mit entsetzen zusehen, wie sich diese „junge Pflanzung“ (BMG, 114) in ungeheuerlicher Weise aufbäumt, wächst. In Schrecken versetzt können sie nicht fliehen und werden in dem knarrend knirschend immer dichter werdenden Wald, der künstlich gestalteten Natur, zu Tode gequetscht. Die Bäume halten mit dem Wachsen erst inne, als sie zu den Mauern des Gartens gelangen. Die zirkulierende, fruchtbare, unbändigbare Natur wird mit Hilfe der Wissenschaft in Grenzen gesetzt, zu einer mordenden „Kiste“ (BMG, 116) geformt. So soll vielleicht die Natur gerächt werden. Daß dies aber nicht durch die Natur selber durchgeführt wird sondern eine künstliche Ursache darstellt, zeichnet hiermit aus, daß Marduk sich selbst noch nicht vom patriarchalen Gedankengut und patriarchaler Denkweise verabschieden konnte. Er ist wahrhaftig noch selber Mitglied dieses Systems, doch weist 60 er auf eine Übergangsphase von dem apollinische-patriarchalen zum demetrisch-matriarchalen hin. Mit dieser Zusammenführung kann der Romancharakter Marduk mit dem mythischen Charakter Marduk identifiziert werden. In dem babylonischen Schöpfungsmythos weist Marduk sich als das Grenzbegriff anstelle des weiblichen „einen obersten männlichen Gott als Herrscher der Welt einzusetzen“82, wobei im babylonischen Mythos verglichen mit dem Alten Testament „bei weitem mehr an matriarchalischen Resten übrig geblieben ist“83. „Der babylonische Bericht hört da auf, wo der biblische beginnt.“84 Denn hier wird nicht wie im Alten Testament das Weibliche ganz ausgeschlossen, sondern hat noch am Uranfang ihren Platz. In der babylonischen Mythologie ist an den Ursprung von allem Tiamat, als ein Ebenbild des Magna Mater, der großen Mutter gestellt. Sie wird jedoch von ihrem Sohn Marduk besiegt und in zwei Teile geteilt, womit er nun Himmel und Erde formt.85 Der Kampf zwischen Tiamat und Marduk bringt „die Erinnerung an den Kampf zweier Religionsund Gesellschaftsverfassungen, an den Kampf zwischen der alten matriarchalischen, durch Nacht, Wasser, Materie gekennzeichneten, mütterlich-chthonischen und den neuen, durch Licht, Wind, Geist gekennzeichneten väterlichen Religionen.“86 Doch im Betrachtnahme der Geschehnisse in Berge Meere und Giganten ist eine umgekehrte Richtung aufzunehmen, es ist nicht eine von dem matriarchalen zum patriarchalen sondern eine von dem patriarchalen zum matriarchalen zurückführende Handlung der Fall. Man will nicht mehr die Natur, das Chthonische bezwingen und herabsetzen, sondern die Technologie fortschaffen. Doch auch gegen Marduk werden Bündnisse geschlossen; er wußte seine „Feinde, die Männer und Frauen der Apparate, der hohen Wissenschaft 82 Erich Fromm: Liebe Sexualität und Matriarchat. München, 1997. S. 77. ebd. S. 77f. 84 ebd. S. 89. 85 ebd. 86 ebd. 83 61 wollten dem Land an die Gurgel, sein Werk zerstören.“(BMG, 189) Im Kampf für seine Sache kommt Marduk aber um. Nebeneinander existieren nun die Anhänger des matriarchalischen Weltbildes, d.h. also die Marke und Marduk verpflichteten Massen und das dem patriarchalen, der Technik huldigenden Massen. Ein fortwährender Kampf wird zwischen diesen Fronten geführt. Das Schauererregende so nahe an dem Halse zu spüren, ist ein Risiko, daß eliminiert werden muß. Die Herrengeschlechter haben wieder einen grandiosen Plan: „Es müsse ein neuer Erdteil geschaffen werden. Die Stadtreiche werfen dahin ihren Menschenüberfluß und ihr krankes Material ab. […] Einen Erdteil, ein ganzes Land aus dem Ozean graben; das war der Plan.“(BMG, 286) Damit will man das Siechtum der nach-uralischen Zeit beenden und zeigen, was der Menschengeist leisten könne. Sie werden gewarnt, das Gleiche zu machen, was sie schon in dem Uralischen Krieg gemacht hatten. Sie würden am Ende auch sich selbst damit zerstören (vgl. BMG, 288). Wirklich schritten sie mit diesem Plan über die „Grenzen des Wirklichen und Möglichen“. Diesmal war das Ziel aber nicht der Osten oder der Süden, sondern, sie gingen wahrhaftig über ihre eigenen Stereotypen hinaus, nach Norden. Grönland sollte vom Eis befreit werden. So gingen die Eisenmenschen, die Herren und Herrinnen der Technologie auf ihr eigenes Ende zu. Denn wieder geht der westliche Mensch seiner Vernunft folgend gegen das Chthonische. Dabei haben sie die Lehre des uralischen Krieges vergessen und anscheinend erst gar nicht akzeptiert. Aber die Menschen haben anscheinend vollends verdrängtl, daß die Natur nicht nur als Gebende, sondern auch als Nehmende fungieren kann und verglichen mit dem menschlichen Zerstörungstrieb sogar eine noch unheimlichere Größe aufweisen kann. Nur die Natur, die Erde entscheidet wieder am Ende, wer, was und wie am Leben bleiben kann. Denn „sie ist und bleibt eben die Urmutter! Sie wird es ewig bleiben. Weh dem, der es vergißt.“ (BMG, 277). Doch sie haben es schon längst vergessen, nicht einmal den Uralischen Krieg haben sie in ihrem Gedächnis behalten können... 62 3. Dionysischer Eros vs. Apollinischer Logos Die Ursprünge der westlichen Literaturgeschichte sind im antiken Griechenland verankert. In diesen Ursprüngen verbergen sich jedoch auch die stereotypischen Motive und Konstellationen. Beispielhaft sollen für die Interpretation des Döblinschen Romans "Berge Meere und Giganten" zwei der bedeutendsten antiken Tragödien herangezogen werden. Anhand dieser Tragödien soll die vorliegende Problematik von Formauflösung und Groteske erläutert und die gezogenen Schlüsse auf den Roman projiziert werden. Die Dialektik dieser Tragödien steht beispielhaft für die "apollinische" und die "dionysische" Lebens- und Kunstauffassung in der westlichen Literaturgeschichte, wie sie auch Friedrich Nietzsche in seiner Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" bespricht. Somit kann durchaus behauptet werden, daß es sich bei diesen Tragödien um "indirekte" Intertexte des Romans "Berge Meere und Giganten" handelt. Bei der ersten Tragödie handelt es sich um den dritten und letzten Teil der mit "Orestie" betitelten Trilogie von Aischylos (525 - 456 v. Chr.), namentlich um "Die Wohlwollenden". Den Gegenpol zu dieser Tragödie bildet Euripides' "Die Bakchen"87. Kulturell ist die "Orestie" in das Zeitalter der athenischen Hochklassik einzuordnen, das Zeitalter, in welchem Athen den Sieg über die Perser errungen hat, nämlich die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Camille Paglia zieht hinsichtlich der kulturhistorischen Relevanz der "Orestie" eine äußerst aufschlußreiche Bilanz: 87 Euripides: Die Bakchen, in: Digitale Bibliothek Band 30: Dichtung der Antike von Homer bis Nonnos, Berlin, 2000. 63 "Die Orestie rekapituliert die Geschichte, beschreibt sie als Fortgang von der Natur zur Gesellschaft, vom Chaos zur Ordnung, vom Weiblichen zum Männlichen."88 Somit liefert sie Dichotomien, die sich als apollinisch-dionysische Antithesen entpuppen: die Gottheit Apollon wird in dieser Passage von den Attributen Gesellschaft, Ordnung und Männlichkeit repräsentiert, während Dionysos Natur, Chaos und Weiblichkeit impliziert. Somit können wir die These aufstellen, daß es sich bei der "Orestie" um die Darstellung der Überwindung der dionysischen Gottheit und die Emanzipation Apollons handelt. Zugunsten eines besseren Verständnisses sollte knapp darauf eingegangen werden, um was es in diesen Tragödien eigentlich geht. In "Die Wohlwollenden", dem letzten Teil der betreffenden Trilogie, geht es um den Prozeß der Orestes gemacht wird, weil er seine Mutter Klytämnestra umgebracht hat, denn diese wiederum ließ seinen Vater Agamemnon von ihrem Liebhaber ermorden. Der Grund des Hasses von Klytämnestra auf Agamemnon beruht auf der Opferung ihrer gemeinsamen Tochter. Orestes wird mit Hilfe von Apollon und Athene freigesprochen, denn der patriarchalischen Gesinnung zufolge wiegt Vatermord schwerer als Muttermord. Es war Johann Jakob Bachofen, der den Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat in dieser Tragödie nachgewiesen hat.89 In diesem Kapitel jedoch ist der ästhetische Aspekt dieses Übergangs von Interesse, denn spätestens seit Nietzsche wissen wir, daß Apollon die abgeschlossene Form repräsentiert. Daraus resultiert die Einsicht, daß Dionysos den Schwund der Form, ihre dynamische Auflösung symbolisiert. Das schlägt sich - nebenbei bemerkt - auch in der Orestie nieder: Der dritte und somit für uns wesentliche Teil der Trilogie lautet "Die 88 89 Camille Paglia: S. 132. vgl. Johann Jakob Bachofen: S. 141 64 Wohlwollenden". Die Wohlwollenden, d.h. die Eumeniden sind das Ergebnis der apollinischen Transformation der Erinnyen, der Rachegöttinnen, die die Bestrafung Orestes' für die Ermordung seiner Mutter fordern. Somit repräsentieren sie das "chaotische Mutterrecht". Interessant ist in unserem Rahmen jedoch das Aussehen dieser Rachegöttinnen und ihre Attribute v o r ihrer Transformation und die Attribute, die ihnen Apollon höchstpersönlich verleiht. Apollon verjagt die häßlichen Erinnyen, die Orestes bis in den Tempel von Delphi verfolgt haben, mit folgenden Worten: "Hinaus, befehle ich, aus meinem Hause, schnell! Geht fort, entfernt euch von dem Seherheiligtum, sonst soll euch eine weiße Flügelschlange treffen, die von der goldnen Bogensehne schwirrt, und ihr, vor Schmerz, sollt schwarzen Schaum aus euren Lungen sprühen, Blut speien, das ihr von Ermordeten gesogen! Ihr habt bei diesem Hause nichts zu suchen, nein, am Hochgericht, dort, wo man köpft und Augen aussticht, wo man die Zeugungskräfte junger Leute durch Entmannung tilgt, wo man verstümmelt, steinigt, wo die durch das Rückgrat Aufgespießten lange noch erbärmlich stöhnen! Hört ihr, welche Feste ihr ersehnt und damit nur den Haß der Götter erntet? Ein jeder Zug an eurem Äußeren gibt Auskunft. Die blutbespritzte Höhle eines Löwen steht euch als Behausung zu, nicht Aufenthalt in der Orakelstätte, euch, dem Abscheu aller andren! Zieht ab und grast auf eurer Weide, ohne Hirten! Kein Gott ist einer solchen Herde zugetan."90 90 Aischylos: Die Orestie, S. 129. Digitale Bibliothek Band 30: Dichtung der Antike von Homer bis Nonnos, Berlin, 2000. 65 Hier findet die von Paglia erwähnte und für die abendländische Ästhetik äußerst folgenreiche dichotomische Unterscheidung statt: Die "Häßlichkeit" und die "Boshaftigkeit" der Erinnyen wird mit ihrer Affinität und Nähe zur Natur assoziiert, die in äußerstem Gegensatz zur Kultur und deren Errungenschaften steht. Somit ergeben sich folgende Gleichsetzungen: Apollon = Kultur = Form = Justiz Erinnyen = Natur = Formlosigkeit = Blutrache Durch ihre Affinität zur Natur und den Gegensatz zu Apollon können die Erinnyen durchaus durch Dionysos ersetzt werden. Sehr interessant ist auch, daß die Erinnyen für die Auflösung (und dementsprechend neue Zusammensetzung) der statischen, d.h. abgeschlossenen Form stehen. Somit entpuppen sie sich als Hüterinnen antiklassizistischer, d.h. antiapollinischer Tendenzen. In dem etwa fünfzig Jahre später von Euripides (um 480 - 406 v. Chr.) verfaßten Drama "Die Bakchen" wird die klassische Weltsicht, wie sie sich auf mythisch-utopische Weise in der Überwindung der Natur in der "Orestie" des Aischylos äußert, zugunsten eines anarchischen und ordnungsauflösenden Prinzips aufgegeben. Hinter diesem Prinzip steckt kein Geringerer als die Gottheit Dionysos: Der "fremde" Gott, der erst in unbekannten und exotischen, somit orientalischen Gefilden seinen Glauben verkündet und verbreitet hat, hält in dieser Tragödie Einzug in der ersten griechischen Stadt (= Europa), nämlich Theben. In der Person des Königs Pentheus wehrt sich diese Stadt gegen die dionysische Woge. Und literarhistorisch betrachtet markiert Euripides' besagte Tragödie den Schwund der vollendeten Form zugunsten einer grotesken Auflösung, die sich in schlüpfrigen Zweideutigkeiten äußert und deren wichtigste 66 rhetorische Figur die Ironie darstellt: Es verschwimmen die Grenzen zwischen den Geschlechtern, es halten brutale Verstümmelungen und Zerstückelungen Einzug. Somit manifestiert sich die Tragödie "Die Bakchen" als eine Gegenrede zu Aischylos' "Orestie". Historisch betrachtet herrscht im Gegensatz zum Zeitalter der "Orestie" keine Hochstimmung. Paglia kommentiert diesen Tatbestand wie folgt: "Nach 431 v. Chr. war Athen durch die Pest, den fehlgeschlagenen Kriegszug nach Sizilien und die Niederlage gegen Sparta im Peloponnesischen Krieg am Boden zerstört. Idealismus und Sendungsbewußtsein waren geschwunden; zu apollinischer Klarheit und Vollkommenheit reichte es nicht mehr. Euripides' Stück Die Bacchien, hervorgegangen aus Selbstzweifel und Selbstkritik der Stadt, wendet die Orestie ins Gegenteil: Die chtonische Natur, die Aischylos besiegt, schlägt mit furchtbarer Gewalt zurück."91 Auf archetypische Weise erinnert dieser historische Hintergrund an die Vorgänge, wie sie Döblin in seinem Roman "Berge Meere und Giganten" schildert: Wiederum eine patriarchal-urbane Kultur, die auszieht, um die Welt zu besiedeln, die Natur zu unterwerfen, um somit auch die entferntesten und unbekanntesten Gebiete zu akkulturieren und bewohnbar zu machen. Und somit ist auch das Anliegen dieses Kapitels angesprochen: auf archaische Art wiederholen sich die Vorgänge in einem Roman des 20. Jahrhunderts: eine überzüchtete und überfeinerte und somit dekadente Kultur wird mit den mannigfaltigen Erscheinungsformen der chtonischen Mutter Natur konfrontiert, die bis dato absolut unterworfen schien. Dieser Rückfall von "Kultur" in "Barbarei" ist bezeichnenderweise gespickt mit grotesk-surrealen Darstellungen, die Alfred Döblin auf großartige Weise verbildlicht. Ebenfalls kann behauptet werden, daß es sich auch in der von Alfred Döblin dargestellten Epoche um ein Zeitalter 91 Camille Paglia: S. 133. 67 des Übergangs, der Umbrüche, Umwälzungen und Revolutionen handelt. Mechthild Curtius vertritt in dieser Hinsicht die Auffassung, daß "(...) die Form der Groteske oft in Zeiten bevorzugt (wird), da in der Gesellschaft Umstrukturierungen stattfinden, alte Ordnungen verfallen und Wertorientierungen sich als nicht mehr gültig erweisen."92 Die Bewegungsrichtung der Veränderungen in Döblins Roman lautet jedoch vom Apollinischen zum Dionysischen. Eine Affinität zwischen dem Dionysischen93 und dem Grotesken stellt Peter Fuß folgendermaßen fest: "Die ephemere Fixierung der Epochen ist ein territorialer Effekt des Klassisch-Apollinischen. Die Bewegung der Geschichte ist ein nomadischer Effekt des Grotesk-Dionysischen."94 Somit ist von einer dynamischen Auflösung einer statisch festgefahrenen ("klassischen") Ordnung die Rede. Das äußert sich schon in den Kapitelüberschriften von zwei Kapiteln des Romans. Die Rede ist von dem zweiten Kapitel mit der Überschrift "Das Auslaufen der Städte" und von dem siebten Kapitel mit dem Titel "Die Enteisung Grönlands" (H. v. m.). Bezeichnend ist, daß die besagte dynamische Formveränderung auf programmatische Art sowohl Natur (Grönland), als auch Kultur (Städte) umfaßt und somit vor nichts haltmacht. Dieses dynamische Prinzip der Bewegung, welches dionysische und somit groteske Formveränderung zeitigt, nennen wir in seiner Affinität zu Natur und seiner Feindschaft zum logozentrischen Prinzip das erotische Prinzip. Im Gegensatz zum logozentrischen, auf rationelle Art und Weise zerteilenden und benennenden Prinzip, strebt das erotische Prinzip eine 92 Mechthild Curtius: Das Groteske als Kritik, in Literatur und Kritik, Nr. 65, 1972, S. 294. vgl. dazu auch Nevzat Kaya (2000). In dieser Arbeit ist es Dionysos, der als Gott des Grotesken fungiert. 94 Peter Fuß: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln u.a., 2001, S. 494. 93 68 Vereinigung mit seiner Umgebung an. Michail Bachtin bringt genau dieses erotische Prinzip zur Sprache, wenn er von den Eigenschaften des grotesken Körpers spricht: "Der groteske Leib ist ein werdender Leib. Er ist niemals fertig, niemals abgeschlossen. Er ist immer im Aufbau begriffen, im Erschaffenwerden. Und er baut und erschafft selbst den anderen Leib. Außerdem schlingt dieser Leib die Welt in sich hinein und wird selber von der Welt verschlungen. Die wesentliche Rolle im grotesken Leib spielen deshalb jene Teile, jene Stellen, wo der Leib über sich hinauswächst, wo er seine Grenzen überschreitet, wo er einen neuen (zweiten) Leib zeugt: der Unterleib und der Phallus."95 Aus dieser Definition resultiert die Ablehnung des Grotesken von Seiten des apollinischen Formprinzips: Wenn die Form schwindet herrschen antiklassizistische, d.h. in dieser Hinsicht dynamische Prinizipien. Auch hinsichtlich der Körperauffassung sind in dieser Formulierung interessante Anspielungen vorhanden: der Unterleib und der Phallus sind die grotesken, somit die "dionysischen" Körperteile, während der Kopf (und mit ihm die Augen) der apollinischen Ratio geweiht sind. Im Roman ist in dieser Hinsicht das Grönland-Kapitel von äußerster Bedeutung. Die wissenschaftliche Expedition, die nach dem Uralischen Krieg die größte Insel der Erde vom Eis befreien will, um sie somit bewohnbar zu machen, zeitigt die schlimmsten Folgen. Der chronologische Ablauf der Ereignisse bestätigt in der Tat die Überschrift dieses Kapitels: ein stetiges Schwinden des Logos zugunsten des Eros zeichnet dieses Experiment der Menschheit aus. Auch auf symbolischer Ebene vollzieht sich der Schwenk von apollinischen Verhältnissen (Eis, 95 Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt a. M., 1996, S. 16f. 69 Kristallisierung, d.h. Disziplinierung) zu dionysischen Stadien (Verflüssigung, Auflösung, Dekomposition). In sogenannten Turmalinschleiern wird die Energie der Vulkane von Island gespeichert. Diese schwebenden Turmalinschleier werden nach Grönland transportiert, so daß das ewige Eis Grönlands wegschmilzt. Diese Turmalinschleier symbolisieren eine künstliche, heiße Sonne: erfunden von technologisch begabten Männern: eine Aufklärung im doppelten Sinne des Wortes. Mit den Mitteln der Aufklärung (künstliche "Sonne") ist diese Expedition dazu ersonnen worden, um Grönland der Zivilisation zu gewinnen, d.h. hier wird die Natur wieder einmal "kolonialisiert" und ihre letzten Geheimnisse sollen ihr dadurch entrissen werden: "Das große Feuer brannte über Grönland. Tief überschauerte es sie; das heilige Feuer, das sie aus der Vulkaninsel gehoben hatten." (BMG, 380) Die künstlich ausgelösten geographisch-biologischen Veränderungen werden in grandiosen Bildern von Döblin wiedergegeben: hier wird deutlich, daß die rationelle künstliche Sonne eigentlich die Ketten der Natur gesprengt hat. Ihrer Gebärfähigkeit sind durch das Schwinden des apollinischen, nördlichen Eises keine Grenzen gesetzt. Diese Zeilen geben uns eine mythisch entfesselte, geile Natur wieder. Auch drückt sich die "Entfesselung" auch in den ungewohnten Farben und exotischen Eindrücken aus: "Diese Sonne, die über Gebirge Ebenen Seen jetzt übertropische Wärme warf, war von wilderer Gestalt als der ferne alte Gasball. Unter dieser Sonne, die dicht über ihnen lag, erhob sich das Begrabene und Tote. Die Sonne riß es hoch." (BMG, 395) 70 Und nun folgen Visionen, die in ihren phantastischen Dimensionen und Beschreibungen die Theorien des Grotesken lediglich bestätigen. Es scheint sich um die "Hexenküche" der Mutter Natur zu handeln: "Es kam ein Schmachten Wüten in die Dinge, daß sie sich bogen und streckten. Langsam regten sich die Gesteine. Die Ebenen des Landes hoben sich, überall wuchsen die Lager aus, drängten hoch, schoben sich übereinander. Rascher waren die Moose Algen Farne Gräser Fische Schnecken Würmer Eidechsen, großen Säuger. Keine neuen Keime flogen über die See herüber. Die zermürbten Trümmer der Kreidezeit, Knochen Pflanzensplitter fanden wider Leben. Dies wütende Licht backte zu Leibern zusammen, was es fand." (BMG, 395) Das Resultat dieses Experimentes höhnt aller rationellen Vorstellungskraft: "Es gab in dem Grönland umziehenden Gewebe nicht zu unterscheiden Lebendes und Totes, Pflanzen Tier und Boden. Pflanze legte sich an Pflanze, hielt langsam schwimmende anschnellende Tiere mit Ranken, stützenden Blüten fest, die Tiere wurden ihre Teile. Diese Pflanzen hatten selbst Saugwurzeln Stützwurzeln von allen Stellen her. Ihre Blütenhaare Ranken bildeten sie zu Saugern Füßen Kiefern aus; waren Tiere und Pflanzen in eins." (BMG, 394) In zweierlei Hinsicht bilden diese Auschnitte Paradebeispiele für das Groteske: Hier kann zum einen eindeutig von "demiurgischer Kreativität"96 gesprochen werden: "Dies entspricht dem antiken Konzept der Weltschöpfung durch einen Demiurgen, der vorgefundener Materie Form verleiht."97 Hier wird in der Tat nichts Neues "kreiert": parallel zum Begriff 96 97 Peter Fuß: S. 212. ebd. 71 des "Dionysischen" verlieren hier altbekannte Objekte (Pflanzen, Tiere, Mineralien) ihre definitorische Eindeutigkeit und fügen sich zu einem "neuen" Ganzen, d.h. es wird gar nichts "Neues" in definitorischer Hinsicht erfunden, Mutter Natur, die dem antiken Demiurgen entspricht, erweist sich hier als äußerst kreativ, dementsprechend wird dieser Aspekt des Grotesken auch "demiurgische Kreativität" apostrophiert. Diese Art der Kreation deckt sich auch mit der oben erwähnten Eigenschaft des Erotischen. Schwindet die definitorische Eindeutigkeit, ist es auch aus mit jeglicher logozentrischer Einordnung: die Natur scheint Rache an ihrer "Enzyklopädisierung" zu nehmen und höhnt allen aufklärerischen Tendenzen. Das ist jedoch auch kongruent mit dem Prinzip des Dionysischen. Nietzsche vertritt hierzu in seiner "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" folgende Ansicht, die äußerst bedeutungsvoll hinsichtlich der Reaktion der Teilnehmer der Expedition auf diese Geschehenisse ist: "An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgendeiner seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so tun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird."98 Diese oben besagte Ausnahme ist wortwörtlich als die Groteske par excellence aufzufassen. An der Vermengung von Tierischem und 98 Friedrich Nietzsche: S. 66528. 72 Pflanzlichem99 wird die Welt entfremdet und der Abgrund zur dionysischen Natur öffnet sich. Die Reaktion der Menschen auf diese Naturereignisse wird prägnant vom Psychiater Alfred Döblin wiedergegeben: "Sie waren in den Wochen, die sie unter dem wonnigen Licht fuhren, aufgelockert worden: Weinen und Lachen kam ihnen leicht. Jetzt wimmerten sie, das Schluchzen fuhr ihnen aus dem Hals, verkrochen sich an den Schiffen, wollten nicht weiter. Was sollte kommen. Jetzt in dem Entsetzen erinnerten sie sich Islands, der stampfenden und tobsüchtigen Vulkane. Die waren es, die über Grönland brannten, diese Wesen erzeugten. Weg von ihnen, es war genug. Was taten die Stadtschaften; diese verruchten Stadtschaften, was machten sie mit ihnen. Sie umfingen zitternd die Führer, die sich selbst kaum aufrechthielten, drängten, daß man nach Süden drehe. Und doch war in die Angst vor den Untieren eine andere Angst gemischt: fort zu müssen aus diesem Meer, totes Leben sollte wieder beginnen. Sie fürchteten sich vor der Rückkehr." (BMG, 385) Analog zu der "demiurgischen Kreativität" der Natur, die zu verschwimmenden Grenzen zwischen Objekten führt, verändert sich auch die Persönlichkeitsstruktur der Teilnehmer: sie nimmt immer mehr manisch-depressive Formen an und scheint die These Nietzsches zu bestätigen. In der Art, wie Gustav von Aschenbach in der Novelle "Der Tod in Venedig"100 von Thomas Mann Venedig nicht verlassen kann, können auch die Teilnahmer dieser Expedition dieses Wonnemeer bei Grönland nicht verlassen, obwohl sie wissen, daß sie (ebenfalls wie bei Aschenbach) dem Untergang geweiht sind. Denn die Stadtschaften, wohin sie nicht zurückkehren wollen, entsprechen apollinischen Hochburgen (siehe Thomas Manns München!). Die See bei Grönland entspricht dem 99 vgl. hierzu Kasim Egit: Friedrich Dürrenmatt. Aufbau und Erzählstrukturen seines Prosawerks, Izmir, 1987, S. 45. 100 Thomas Mann: Der Tod in Venedig, Frankfurt a. M., 1992. 73 dionysischen Taumel Nietzsches, welches ihre Persönlichkeit zerfließen läßt und sie auf regressiv-kindliche Art manisch-depressive Persönlichkeiten an den Tag legen und ihre Individualität in der Art verlieren, wie die Objekte um sie herum auf uneindeutige Weise zusammenbacken: sie werden sich alle letztenendes immer ähnlicher, d.h. sie sind quasi irre geworden an den Erscheinungen (siehe Nietzsche!) Doch zurück zum Grotesken. Oben behaupteten wir, daß es sich bei diesen Ausschnitten in zweierlei Hinsicht um Paradebeispiele des Grotesken handeln würde. Der erste Grund wurde erörtert (siehe "demiurgische Kreativität"). Nun steht der zweite Grund zur Diskussion. Hier begegnet uns das Groteske auch unter dem Aspekt des "Chimärischen". Aus dieser Perspektive betrachtet markieren die Ereignisse auf Grönland einen Epochenumbruch: die Tiere, die auf verzweifelte Art an Riesen aus Vorzeiten, d.h. Dinosaurier, erinnern, bilden die "natürliche" Brücke in regressive, d.h. archaische Zeitalter. Kulturhistorisch bedeutet dieser Vorgang folgendes: wie in der "Orestie" des Aischylos der Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat dargestellt wird, fungiert diese groteske Apokalypse Grönlands als der Übergang vom wissenschaftlich-technologisch-patriarchalem Zeitalter zum mythischen Matriarchat, d.h eine Regression, die aber als Utopie vielversprechend zu sein scheint, denn im Gegensatz zum patriarchalen Vorteilsdenken, mutet diese neue erotische Ordnung auf "mörderische" Weise brüderlich, ja fast "sozialistisch" an. Hier können wir durchaus eine gesellschaftskritische (im Sinne des revolutionären Expressionismus) Note vermuten. Das "Zusammenbacken" der Mutter Natur findet u. a. auf folgende Art und Weise statt: "Oft fuhren Gebüsche drohend wie Arme gegeneinander, schienen sich ersticken zu wollen. Dann brachen ihre Äste bei er Berührung; sie schmolzen zusammen; gemeinsam flutete ihre Nahrung in alle; ein großes Wesen erhob sich." (BMG, 397) 74 Die Natur scheint hier den Menschen ein sozialistisches Konzept vorführen zu wollen: sie erweist sich als egalitaristische Magna Mater, die schon auf Venaska vorauszudeuten scheint. Die Parole lautet hier: je weniger Individualismus (Apollon!), desto mehr ist für alle da (Dionysos!). Peter Fuß bemerkt hinsichtlich des erwähnten Epochenumbruches (auch viel prägnanter als die oben erwähnte Mechthild Curtius) folgendes: "Als Überblendung diachron oder synchron fremder Kulturformationen ist der anamorphotische Mechanismus der Vermischung Quelle der Epochenbrüche. Sein Produkt, die Chimäre, ist die Gestalt des Werdens und der Veränderung."101 Also erweist sich der Übergang vom logozentrisch-statischen zum erotisch-dynamischen Zeitalter als "chimärisch" und das kann man auch an den Ungeheuern erkennen, die von Grönland ausgehend die ganze Welt regelrecht bedrohen. Es bahnt sich die Apokalypse an, denn die Ungeheuer verfügen über unglaubliche Fähigkeiten. Von Grönland kommend erreichen sie Europa: "Unaufhörlich wie ein Blütenbaum seinen gelben Sonnenstaub warf Grönland seine lebendigen Massen von sich. Auf Skandinavien schmetterten sie nieder; dies war das erste Land, auf das sie stießen." (BMG, 404) Die Analogie zum Baum, der seinen Blütenstaub von sich wirft, erinnert an Camille Paglias Apfelbaum, ihrem Bild für Natur: "Ein mit Früchten überladener Apfelbaum: was für ein friedlicher, reizender Anblick. Aber setzen wir die rosarote Brille unseres 101 Peter Fuß: S. 355f. 75 Humanismus ab und schauen wir noch einmal hin. Dann sehen wir, wie die Natur schäumt und überquillt, sehen, wie sie ihre Samenblasen unablässig heraussprudelt und in jenem unmenschlichen Kreislauf aus Verschwendung, Fäulnis und Metzelei zerplatzen läßt."102 Paglias Definition von Natur paßt haargenau auf die Wesen, die in Skandinavien ankommen, denn alles, was sich ihnen in den Weg stellt, wird "erotisiert" im wahrsten Sinne des Wortes und verläßt die Bachtinschen "Körpergrenzen". Die Tiere verenden zwar, aber ihr Tod hat eine tödliche Nebenwirkung. Nachdem sie quasi "zerplatzen" geschieht folgendes: "Wen die Fasern des Gewebes berührten, was von denm dampfenden blasenwerfenden Blut bespritzt wurde, veränderte sich im Augenblick. Schafherden leckten übergischt an dem Blut. Die Zunge quoll ihnen über die Zähne weg, fiel auf das Gras, sich verbreiternd verdeckend. Die Tiere standen da, zerrten an den fürchterlichen Organen, an denen sie sofort erstickten." (BMG, 406) Somit sorgen diese Untiere für die Veränderung, d.h. die Expansion der "klassisch-statischen" Körpergrenzen: Der Bezug zur Häßlichkeit und zum Monströsen stellt eine Regression dar, die an die Häßlichkeit der Erinnyen des Aischylos erinnert: somit erweisen sich auch aus dieser Perspektive die Konsequenzen des Grönland-Abenteuers als ein Rückfall, denn die Klassik domestiziert das Häßliche zum Schönen, nun geschieht genau das Gegenteil: das Normale ufert aus und wird in seinen Ausmaßen auf phantastische Art monströs und das ist die beste Bestätigung der Bachtinschen Thesen vom grotesken Körper. Dieser Invasion versuchen die westlichen Mächte Einhalt zu gebieten, indem sie künstliche Turmmenschen kreieren. Der unbestimmbaren Form 102 Camille Paglia: S. 45. 76 der Untiere und der "angesteckten", ausufernden Lebewesen setzt die apollinische Kultur gigantische Frankenstein-Wesen entgegen, die in ihrer Form äußerst aufschlußreich sind: sie besitzen glatte, taube Flächen und neutralisieren, überall an den Küsten aufgestellt, die Expansionskräfte der verknospten und ausufernden dionysischen Ungeheuer. Man wirft Menschen, die man ohnehin loswerden will, in eine Nährlösung, worauf sich ein kontrolliertes Wachstum und eine Versteifung und Begradigung der Gliedmaßen einstellt. Am Schluß hat man ein Mittelding zwischen einem Turm und einem Menschen erschaffen: Sie besitzen die Kraft, alles Natürliche zu absorbieren, d.h. in sich aufzunehmen und somit festzuhalten. Aus dieser Perspektive betrachtet, stellen sie das absolute Gegenteil der Ungeheuer aus Grönland dar: Während die Ungeheuer sich explosionsartig verbreiten und an eine sich ausbreitende Epidemie erinnern, hemmen die Turmmenschen die Natur: sie absorbieren die Natur quasi und sorgen für eine Neutralisierung der besagten Epidemie: die Natur implodiert in die Turmmenschen hinein. Somit erweisen sie sich als gigantische Antibiotika! "Man wagte es an einer skandinavischen Insel, zwei starkmähnige Löwen, die an der afrikanischen Nordküste gefangen waren, aus Käfigen lebend auf die Schultern des Turmmenschen springen zu lassen. Sie bissen sich, krallten sich, während der Riese (...) zwinkerte, an seinem Hals fest. Das war der Ort, den man ihnen zugedacht hatte, den sie decken sollten. Sie zogen die Zähne nicht mehr aus der bluttriefenden Haut. Die Tatzen ließen sie los; aber schlaff hingen die gelben Körper über dem rotüberrieselten Nacken; ihr Fell schmiegte sich an den Riesen; ihre Beine waren nur Wülste auf der Menschenhaut. Über ihnen pulsierte der meterhohe Kopf des Turmwesens, von langen buschigen Haaren überschaukelt." (BMG, 420) Und schließlich der Sieg mit Hilfe dieser Turmwesen über die Drachen: 77 "Der Turm in den Bergen schmetterte die Lurche, die gierigen Drachen unter sich. Unten wuchs sein Boden, neue Säfte stiegen in ihm auf; er zwinkerte, das Wasser troff aus seinem Mund. Traurig dumpf brüllte das Wesen." (BMG, 421) Hier begegnen sich Logos und Eros: Die Turmmenschen könnte man auch mit "totem Leben" unterscheiden, welche oben Erwähnung gefunden hat. Die Gefahr ist zwar gebannt, jedoch für einen hohen Preis: Die Zivilisation, die sich der Natur erwehrt, tut dieses mit Mitteln, die an primitive Zeiten der Sklaverei gemahnt. Auch zeigt diese scharfe Konfrontation, daß an allen diesen katastrophalen Vorgängen die Zivilisation selbst schuld ist. Ein Verlust an Ganzheit zeichnet diese Untergangskulturen aus, d.h. sowohl Logos als auch Eros sind wichtig und unabdingbar, wird eine zu sehr favorisiert, wie in unserem Fall der apollinische Logos, fordert das den dionysischen Eros zum Gegenangriff geradezu heraus. Solange der Ausgleich nicht gefunden ist, eine ganzheitliche Lebensweise, die beide Prinzipien gleichberechtigt in sich vereinigt, will eine harmonische Art und Weise des Lebens miteinander, so die Botschaft des Romans, nicht gelingen. 78 Schlußbemerkung Es hat sich herausgestellt, daß ein Klassiker der Moderne auf äußerst antiken und archaischen Intertexten aufbauen kann. Im ersten Kapitel (Das Schwinden der Männlichkeit und matriarchale Reminiszenzen) konnten wir als Intertext die Bachofen’sche Auffassung des Matriarchats orten: einer technisierten und aus diesem Grunde entarteten und dekadenten Ordnung stellt Döblin eine erotische, matriarchal gefärbte “Utopie” entgegen, deren Übergang jedoch äußerst gewalttätig erfolgt. Diese Gewalttätigkeit des Übergangs manifestiert sich z. B. in Figuren wie Melise von Bordeaux oder den Ungeheuern, die durch das grönländische Experiment freigelegt werden. Hier konnte ausgemacht werden, daß Goethes Ballade von den “Grenzen der Menschheit” durchaus als Intertext in Frage kommen könnte: die sich im Glauben der stetigen und progressiven Entwicklung glaubende patriarchale Ordnung wird, je weiter sie nach den Sternen greift, in immer regressivere Zustände verstrickt. Auch besitzt die Kreation der “Turmmenschen” einen äußerst aktuellen Hintergrund in unserem Zeitalter, zu dessen umstrittensten Themen die Gentechnologie gehört. Auch konnte festgestellt werden, daß das Stilmittel der Groteske und der Auflösung im Sinne einer dionysischen Weltanschauung eingesetzt wird, was wieder die Hybris der apollinischen Ordnung verdeutlicht: das Groteske verweist neuesten Forschungen zufolge immer auf Epochenümbrüche und dies unterstreicht noch einmal unsere These vom Übergang des dekadenten Patriarchats in vitale mutterrechtliche Verhältnisse und dies stellt die Literarisierung der “Diskussion ums Weib” der Jahrhundertwende dar, die wiederum auf Bachofens Werk aufbaut. Signifikanterweise ist diese Veränderung vor allen Dingen an den weiblichen Hauptfiguren abzulesen und diese Tatsache bekräftigt unsere Auffassung der Heranziehung von stereotypischen Motiven und Stoffen 79 der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte: Somit erweist sich das ganz Neue und “Futuristische” als das ganz Alte: erinnert der Einbruch der neuen Ordnung in vielen seine Aspekten an den Einbruch des “fremden Gottes” und dieses Motiv stellt einen der geläufigsten Topoi der abendländischen Literatur- und Geistesgeschichte dar: Die Sparte reicht von Euripides’ “Die Bakchen” bis zu Thomas Manns “Der Tod in Venedig”. Im Roman ist sogar ein romantischer “Liebestod” auszumachen: Das Verschwinden Venaskas impliziert auch ihre Vernichtung mit den Giganten. Letztenendes siegt das erotische Prinzip über das logozentrische und aus dieser Perspektive kann durchaus behauptet werden, daß sich Alfred Döblin in diesem seinen Roman als äußerst kulturpessimistisch erweist. 80 Türkçe Özet/Türkische Zusammenfassung "Alfred Döblin’ in ‚Dağlar denizler ve devler’ („Berge Meere und Giganten“) adlı romanında ‘us eleştirisi'" ni konu edinen çalışmanın giriş bölümünde ‘us eleştirisi’ (Rationalitätskritik) nin hangi bağlamda ele alındığı yönünde bir inceleme sunulmuştur. Batı toplumunda us (Ratio) tek boyutlu olarak önplana çıkarıldığından (Nietzsche bağlamında) bu adeta batının bir hastalığı olarak algılanmaktadır. Doğaya mahkum olma, doğanın içinde kaybolma ve salt ölümlü bir zerre olma gerçeğinin insan üzerinde yarattığı yoğun korkuları yenmek için önplana çıkartılan eril logos, bilim ve teknolojiyi kullanarak doğayı rasyonel hale getirmeye çalışır; böylece doğanın içindeki gizli yaşam formülünü elde etmeyi hedefleyen ataerkil toplumun zihni ona karşı amansız bir savaş açmıştır. Doğa-ana nın ürkütücü öldürücü yanından kurtulmanın yöntemi yine doğanın üretken, doğurgan yönünü elimine edip kendilerine edinmekten geçer. Bu bağlamda kadın da, doğurgan olması ve doğanın döngüsüne benzer döngüleri içinde barındırması nedeniyle, doğa ile bir tutulur ve ataerkil toplumda tanrısal bir özellik olarak büyük önem verilen usun yanında doğa ve kadın irrasyonel olmaları açısından değersiz olarak konumlandırılırlar. Ama tanrı koltuğuna oturma çabası, eril toplumu doğadan ve doğallıktan uzaklaştımaktadır ve varlığını daima sürdürecek olan doğanın karşısında yine kendini kendi üretimleri (makineler, silahlar gibi) ile yok etmekten öteye gitmeyecektir. Birinci bölümde esere bağlı kalarak erilliğin nasıl yittiği ve anaerkil tınıların kendilerini nasıl gösterdiği üzerinde durulmuştur. Kadının bu dönemin edebiyatındaki işleniş biçimi ile de kısaca karşılaştırılarak romanda ortaya çıkan kadın tiplerinin ataerkil toplumdaki konumlarına ve bu kadın tiplerinin mitolojik bağlamda nereye oturturulduğuna değinilmiştir. Öne çıkan kadın tipleri mitsel bağlamda anaerkil kültün ana tanrıçası - genel adıyla ‘Magna Mater’ - in yüzlerini taşıdıkları ve ataerkil toplumu J. J. Bachofen’ in tezinde öne sürüldüğü gibi tekrar anaerkil bir yapıya doğru yönlendirdiği, yada bu 81 yönelişin romanda nasıl vurgulandığı ve eril yapının nasıl yittiği üzerinde bir çalışma yapılmıştır. Athene’yi kendi yapısında simgeselleştirmiş olan batı mentalitesi, beyini ve rasyonel düşünmeyi pöylesine öne çıkartır ki, batı insani, hatta beyaz ırk adeta beyin-yaratıklarına dönmüştür ve doğal olan cinsel verimliliklerini yitirmişlerdir. Daha ziyade batı erkeklerinin maruz kaldıkları bu durum karşısında sıradan kadınlar ise az gelişmiş toplumların renkli erkeklerini kendilerine partner seçerler; çünkü bu az gelişmiş erkeklerin güçleri belaltında yatmaktadır, yani onlar verimliliklerini yitirmemişlerdir. Bunun yanısıra da Athene’ yi benimsemiş ve onun ‘erkeksi kadın’ kalıbına girmiş kadın figürleri de vardır. Bu tür kadınlar ataerkil toplumun gelişmesinde öncü olarak yeralmaktadırlar ve dişil öğelerini (anne-sevgisi vermek gibi) neredeyse tamamen yitirmişlerdir. Bu noktada batının eril kadınları ve batılı erkeklerin sonu bariz ötüşmektedir. Romanda son derece dikkat çekici iki kadın öğe: ‘Melise von Bordeaux’ ve ‘Venaska’, Magna Mater’in iki zıt görünen ama kendi içinde bir bütün oluşturan yüzleridir. Melise doğa ananın korkutucu, arkaik, ölümcül yüzünün simgesi iken Venaska da aşkı, verimliliği simgeleyen yüzünü yansıtır bize. Mitolojik bağlamda da son derece örtüşen bu iki arketipik ögenin ortaya çıkışı doğanın döngüsünde olduğu biçimde eril toplumdan dişil topluma geçişin döngüsel hareketini gösterir. Eril batı istese de istemese de, ne kadar karşı da koysa, dişil güçlere, doğaya yenilmekten kendini alamayacaktır. İkinci bölümde romanda yansıtılan çağın teknoloji ve bilim bazında nereye gittiği gösterilmektedir. Ataerkil batı doğaya üstün gelmek, onun bağlayıcılığından kendini sıyırmak için hem doğanın kendisine, hem de doğadan kendini - kadın gibi - koparmamış onunla bir tutulan doğu ve kuzey yönlerine karşı sürekli savaş halindedir. Bu bölümde özellikle vurgu bulan yönlerin zıtlığı: doğu – batı, güney – kuzey, kendini eril toplumun yapısında phallik bir biçimde hep yükseği hedefleyen yönüyle yansıtılır. Bu durum kendisini son derece gelişmiş bir teknoloji ve bilim ile gösterir ki, batı insanı adeta makinelerin bağımlısı olmaktan çıkmışlar onlarla bir bütün oluşturuyormuşlardır. Doğanın korkutuculuğunun onları getirdiği nokta, 82 onları kendi elleriyle yok olmaya doğru sürükler. Nitekim doğuya ve bununla birlikte doğaya karşı açılan savaş batı toplumunun doğa gibi doğurgan, üretken değil, salt yokedici bir yapıya sahip olduğunu gözler önüne serince ‘Marduk’ gibi yöneticiler ve toplumun bazı kesimleri bu yıkım getiren ataerkil kafayı değiştirmeye çalışsalarda, kendileri de bu sistemin parçaları oldukları için bunu başaramazlar. Eserde ön plana çıkan ‘Marduk’ da kendisini mitolojik bir tanrı ile özdeş gösterir ve bu yine ataerkil toplum yapısından anaerkil toplum yapısına geçişi simgeleyen başka bir ögeyi oluşturmaktadır. Üçüncü bölümde romana altmetin oluşturan iki antik tragedya: Aischylos’ un ‘Orestea’ ve Euripides’ in ‘Bakhalar’ı ile romandaki şekil yitimi ve grotesk unsurlar ortaya çıkarılmaya çalışılır. Aischylos’ un eserinde anaerkil düzenden ataerkil düzene geçiş tarihsel bir çerçeveye oturtuluyor. Euripdes’ in eseri ele alındığında bu durum sert biçimde tersyüz oluyor: doğa korkunç biçimde öcünü alıyor. Bu bağlamda ortaya çıkan diyonizyak ve apollinik ögelerin tezatlığı batının yaşam felsefesinde kendisini buluyor. Romanda da klassik apollinik ögeleri barındıran batı toplumu, kendilerini aşmak ve alanlarını genişletmek isteği ile Grönland’ ı buzullardan kurtarıp yeni bir kara açmaya gidince, kendilerini korkunç grotesk kitonyen (chthonisch) arkaik yaratıklarla karşı karşıya buluyorlar. Bu zamana değin üstü örtülü duran kitonyen doğanın arkaik yüzü tam manasıyla grotesk – sürreal bir biçimde ortaya çıkıyor ve tüm bu değişim batı insanında da sonuçta değişikliğe yol açıyor. Statik düzen dinamik bir yokoluşa tabi kalıyor. Apollon’ un sınırları kalkıyor ve Dionysos’ un karmaşasına dönüşüyor. Son bölümde artık tüm bu elde edilen verilerin toplanmasıyla, varılan son noktanın doğanın döngüsel yapısından eril batı toplumunun kendini çekip çıkaramayacağı açığa kavuşur. Gidilecek son nokta bile insanı doğanın eline düşmekten kurtaramaz. Ataerkil toplumun düzlemsel gidişi doğanın döngüsel gidişinde eninde sonunda kaybolur ve kendini doğa ile barışık anaerkil toplum yapısına bırakır. 83 BIBLIOGRAPHIE Primärliteratur Döblin, Alfred: Berge Meere und Giganten (=BMG). Olten und Freiburg i. Br.,1980. Sekundärliteratur Aischylos: Die Orestie, in: Digitale Bibliothek Band 30: Dichtung der Antike von Homer bis Nonnos, Berlin, 2000. Bachofen, Johann Jakob: Das Mutterrecht. 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