arcadia - Anne Schmid

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arcadia - Anne Schmid
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ARCADIA
Prof. Dr. Cristina Urchueguía, Juni 2014
Selten ist der Mensch wunschlos glücklich, er ist es, wenn überhaupt, „im Grossen und Ganzen“.
Die chronische Unzufriedenheit zählt zu jenen anthropologischen Konstanten, aus denen Ehrgeiz
und Überwindungskraft genährt werden, aber auch die Phantasie. Das Unglück erlebt man näm–
lich ungern als individuelles Schicksal, tendenziell will das Unglück als Teil einer allgemein
menschlichen Befindlichkeit erlebt sein, wenn irgend möglich als Symptom eines zeittypischen
Übels. Die Ausweitung auf die Menschheit tröstet – geteiltes Leid … –, gleichzeitig enthebt sie
jeden Einzelnen der Verantwortung. Gegen das unentrinnbare, menschliche Unglück, sei es auf–
grund von Naturkatastrophen, Epidemien, Kriege oder der Entfremdung von der Natur, gibt es
vom Anbeginn der Kultur eine mächtig Strategie: die Imagination einer besseren Welt. Diese ändert je nach Kulturregion den Namen und die innere ethische und ästhetische Zusammensetzung
bzw. Funktion. Doch die erdachten, herbeigesehnten Welten sind zur Blaupause des Imaginären
schlechthin geworden, sei es das vernunftfeindliche christliche Paradies mit all seinen Apfel–
bäumen, oder der baumlose christliche Himmel, das liederliche Schlaraffenland, das politische
Utopia oder der Olymp und seine genauso streitsüchtige wie serientaugliche Grossfamilie. Doch
der lieblichste Ort für die imaginäre Eskapade ist zweifelsohne Arkadien, nicht von ungefähr
eines der Pseudonyme des von Vergil prophezeiten Goldenen Zeitalters.
Gemeint ist nicht die reale Landschaft im Peloponnes, die Vergil beim Zeichnen der Kulissen
seiner spätantiken Eklogen Pate gestanden hat, sondern die Konstruktion einer gezähmten, harm–
losen Naturlandschaft, eines weitläufigen bukolischen Locus amoenus, den Jacopo Sannazaro in
seinem Schäferroman Arcadia - erschienen 1504 - aus teils Realem, teils Fiktivem zusammen–
setzte. An frischen Bächen und schattigen Wäldern weiden deren Hirten Herden, die schön sind
wie ein Accessoire. Anstrengend ist das Leben nicht, die Haupttätigkeit der Hirten ist das Be–
singen der Nymphen und die Übung im Spiel der Liebe. Liebesleid bleibt ihnen dabei selbst im
Paradies nicht erspart, doch ist dieses Leid kein Drama, sondern eher eine unentbehrliche Spielart
der Liebe, die sich besonders gegen die Langeweile eignet.
Diese imaginierten Welten sind nicht autonom, sie entlarven sowohl das Selbstbild ihrer Schöpfer
als auch die Motive jener Gesellschaften, die sie nutzen, indem sie implizit als Gegenwelt, als verkehrtes Spiegelbild der eigenen, fehlerhaften Welt in Szene gesetzt werden. Es ist aber nicht
gleichgültig, welche Welt man für den Ausflug ins Glück wählt. Daher fragt man sich zu Recht
beim Geniessen der Scarlattischen Kantaten, was ihn bewegt haben könnte seine Figuren ausge–
rechnet in Arkadien auftreten zu lassen.
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In Arkadien gehört Musik zur Naturkulisse, das mag ein Grund sein, doch nicht der hauptsäch–
liche. Schon Vergils Eklogen oder Sannazaros Arcadia sind politische Protestschriften, die ihre
Intention geschickt mit Unverfänglichem verschleiern. Protestiert Vergil mit seinen Eklogen
gegen eine grossangelegte Enteignungskampagne der Bauern und des Landadels zugunsten der
römischen Veteranen um Cremona und Mantua gegen 40 v. Chr., so kontrastieren die Symbiose
von Mensch und Natur in Sannazaros Idealstaat mit einer von Intrigen und Autokratie beherrsch–
ten Politik, die ihn ausgrenzt, mit dem manierierten, frivolen Lebenswandel der Aristokratie aber
auch mit der schwülstigen Kunst und Dichtung des Barocks. Politische Verfehlungen färben auf
die Kunst ab.
Die Idealisierung Arkadiens durch die Akademie darf nicht mit dem aufgeklärten oder heutigen
Ruf „zurück zur Natur“ verwechselt werden, obschon beiden Initiativen handfeste Verlusterfah–
rungen vorausgehen. Dies beweist Sannazaros vollständig künstliche Naturvorstellung. Die Natur
ist in der arkadischen Dichtung und Musik eine Chiffre, Arkadien der fiktive Ort, an dem die kri–
tischen Intellektuellen der Barockzeit miteinander geheime verschlüsselte Botschaften tauschten,
die aus dem Munde von Hirten und Nymphen das Radar der Obrigkeit unterwanderten. Hinter
jedem Fels, jedem Bach und jedem Hirten verstecken sich reale Personen und reale Konflikte der
Zeit.
Der gesellschaftliche Kontext für diese Art der politischen und künstlerischen Symbolisierung
waren die Akademien, literarische, philosophische oder musikalische Salons, die ihre auserle–
senen Mitglieder zu exquisit ritualisierten Debatten über Literatur, Kunst und Musik einluden.
1706 nahm eine der prominentesten Akademien, die 1690 gegründeten Accademia dell’Arcadia,
Alessandro Scarlatti zusammen mit Arcangelo Corelli und Bernardo Pasquini als Mitglieder auf.
Wie allen anderen Mitgliedern wurde Scarlatti ein Schäfernamen zugeteilt nämlich Terpandro
Politeio. Zweck dieser Akademie war die Überwindung der barocken Exzesse in der Dichtung
durch die Orientierung am klassischen Ideal: Natürlichkeit und Ausgewogenheit versus Ma–
nieriertheit und Schwulst.
Die Aufnahme von drei Komponisten auf einmal in der Akademie muss als programmatischer
Akt gewertet werden, der auf einen Schlag die Musik auf das Niveau der Literatur und Dichtung
erhob. Wenn man bedenkt, dass unter den Mitgliedern der Akademie, die wichtigsten Namen der
römischen Gesellschaft wie Familienmitglieder der Pamphili, Ottoboni, Stampiglia oder Ruspoli
zu finden sind, darunter auch einige der Arbeitgeber von Scarlatti, wird die Relevanz dieses
Ereignisses noch deutlicher. Die Akademien schufen einen Raum, in dem über die Standesun–
terschiede hinweg diskutiert werden konnte: Literaten und Musiker neben Bischöfen und Adligen
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höchsten Ranges, was aber nicht über die Exklusivität der Accademia dell’Arcadia hinweg–
täuschen darf.
Scarlatti hatte seine Karriere auf die Oper aufgebaut, wie es sich für einen neapolitanischen
Komponisten seiner Zeit gehörte. Oper, die kommerziellste Gattung des 18. Jahrhunderts, eckte
bei den Akademikern aufgrund inhaltlosen Virtuosentums und Pomp an, ihre Funktion fand Oper
am Hof und auf öffentlichen Bühnen, die Gattung Kantate war dagegen das Rückzugsgebiet der
Intellektualität. Die Aufführung von Kantaten, und zwar von immer wieder neuen Kantaten ge–
hörte auch konstitutiv zum akademischen Ritual. Für die intellektuelle crême de la crême kompo–
nierte Scarlatti fast 800 kurze Kantaten, viele davon auf Texte hochkarätiger Dichter, viele aber
auf eigene Texte, wie die Werke dieser Auswahl. Die hohe Zahl der Werke erklärt sich leicht da–
raus, dass die Salons, die Akademien und andere privaten Zusammenkünfte unersättliche Abneh–
mer von neuen Kantaten waren. Scarlatti bediente dieses Genre meisterhaft, seine schöpferische
Leichtigkeit und sein Improvisationstalent erstaunten die anderen Arkadier zutiefst.
Der Siegeszug der römischen Kantate in der Jahrhundertwende zum 18. Jh. hat einen weiteren,
sehr pragmatischen Grund, nämlich des Opernverbots, das der Reformpapst Innozenz XII. 1698
aussprach. Bis 1710, mitten im Papstum seines Nachfolgers Clemens XI., war Rom fast durch–
gehend opernfrei. Kantaten übernahmen in dieser Zeit die Rolle der Oper. Sie wurden nicht
theatralisch inszeniert, doch bargen sie im Kleinformat das Potential für melodramatische Ent–
wicklung da sie sich an opernhaftem Formrepertoire bedienten. Die Anlage als „Rezitativ, Arie,
Rezitativ, Arie“ erlaubte es, einen willkommenen Hauch von Oper, von Gefühlswallung und
emotionaler Spannung in die Salons zu retten.
Es ist für uns heute kaum möglich, die geheime Sprache von Scarlattis Arkadiern zu übersetzen.
Welche versteckten Botschaften schlummern hinter den unverfänglichen Bächlein und Blumen?
Welche realen Personen camouflierte man als Hirten, welche realen Konflikte als harmloses
Liebesgeplänkel? Diesen Code zu knacken gäbe uns einen einmaligen Einblick in den politischen
und gesellschaftlichen Alltag der Entstehungszeit.
Aber auch in unserer Zeit hat sich die Faszination Arkadiens nicht erschöpft. Die Gefährdung der
Natur durch den Menschen macht die Imagination einer intakten Natur, in der die Menschen
zwischen Himmel und Erde in perfekter Symbiose mit Pflanzen und Tieren leben, attraktiver den
je. Eine Phantasie bleibt Arkadien jedoch auch für uns.