Die USA, der Westen und die Menschenrechtsdoktrinen
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Die USA, der Westen und die Menschenrechtsdoktrinen
Jürgen Gebhardt Die USA, der Westen und die Menschenrechtsdoktrinen Das Thema hat zweifelsohne eine ungeahnte Aktualität gewonnen. Das verführt allzu leicht zu voreiligen Stellungnahmen und Bekenntnissen, wo Analysen gefordert sind. Allerdings, dies in der hier gebotenen Kürze zu leisten, heißt sich auf einige wenige, aber das Wesen der Sache treffende Aspekte unseres Gegenstandes zu beschränken. Hierbei lassen sich an sich unzulässige Vereinfachungen und apodiktische Formulierungen nicht vermeiden. Meine Überlegungen setzen dort ein, wo historisch Ideengeschichte in Ideenpolitik transformiert wird. Sie skizzieren einige entscheidende Stationen dieses Prozesses, der dazu führte, dass, in den Worten von Eleanor Roosevelt, in Gestalt der Deklaration der Menschenrechte „a common standard of achievement for all peoples and all nations“, ei- 48 Jürgen Gebhardt ne „international Magna Carta of all mankind“ mit universalem Geltungsanspruch in den Völkerrechtsdiskurs Eingang fand1. In der historischen Durchsetzung der Menschenrechte als moralischpolitische Leitidee der internationalen Politik spielen die USA die Schlüsselrolle. Sie resultiert aus dem Zusammenspiel von Real- und Idealfaktoren in der amerikanischen Geschichte, von der Gründung der Republik bis zum Aufstieg zur global agierenden Weltmacht. Dieser Zusammenhang zwischen der Internationalisierung der Menschenrechte und der amerikanischen Politik stellt sich wie folgt dar: Das Programm der Menschenrechte entfaltet sich innerhalb des geschichtlichen Rahmens des US-amerikanischen Selbstverständnisses, des American Creed. Der latente Universalismus des American Creed in der amerikanischen Außenpolitik war auch dafür ausschlaggebend, dass die Vereinten Nationen die „Human Rights“ in universale Rechtsnormen transformierten, die als rechtliche Verpflichtungen von jenen Regierungen akzeptiert wurden, welche die entsprechenden Human-Rights-Verträge unterschrieben. In der Folge artikuliert sich die moralistische Tradition der amerikanischen Außenpolitik in Gestalt von Menschenrechtspolitik. Diese Entwicklung erklärt sich letztlich aus der geschichtlichen Tradition des westlichen Ordnungsdenkens, denn das westliche Rechtsverständnis war von Anbeginn bestimmt durch den Glauben an „the existence of a body of law beyond the law of the highest political authority. Once called divine law, then 1 Zit. n. Th. Risse-K. Sikkink, The socialisation of international human rights norms into domestic practices: introduction, in: diess. (Hg.), The Power of Human Rights, Cambridge, 1999, S. 1. Die USA, der Westen und die Menschenrechtsdoktrinen 49 natural law, and recently human rights“. In diesem Sinn ist die Universalisierung der Menschenrechte ein Produkt der westlichen Rechtstradition, die davon ausgeht, dass es eine Rechtsordnung jenseits der Pluralität politischer Einheiten gäbe.2 I. Die USA deuteten die revolutionäre Ordnungsstiftung der Gründungsväter als Anbruch eines Novus Ordo Seclorum, einer neuen Weltära, die in der konstitutionell verfassten, auf die politische Freiheit und Selbstregierung der Bürger hin konzipierten Republik ein universal verbindliches Ordnungsmodell gewann. In der Unabhängigkeitserklärung von 1776, dem Gründungsdokument dieser Republik, wurde erstmals die selbstevidente Wahrheit proklamiert, dass allen Menschen als Geschöpfen Gottes „unveräußerliche Rechte“ zukommen und jede Herrschaft auf diese Rechte verpflichtet sei. Aus der Ideengeschichte der naturrechtlich fundierten Individualrechte des Menschen und Bürgers wurde ein ideenpolitisches Programm, das in den ersten amerikanischen Staatsverfassungen konstitutionell normiert wurde3. So kann Carl L. Becker in den 1920er Jahren des vorigen Jahrhunderts rückblickend feststellen: „In the Declaration the foundation of the United States is indissolubly associated with a theory of politics, a philosophy of human rights which is valid, if at all, not for Americans only, but for all men.”4 Aber das ist die Sichtweise des 20. 2 H.J. Berman, Law and Revolution, Cambridge Mass. 1983, S. 45. Vgl J. Gebhardt, Gibt es eine Theorie der Menschenrechte?, in: Politisches Denken – Jahrbuch 1998, Stuttgart 1998, S. 1-15, 8-11. 4 C. J. Becker, The Declaration of Independence (1922), New York 1956, S. 225. 3 50 Jürgen Gebhardt Jahrhunderts, in dem die weltgeschichtliche Krise die USA zu jener machtgestützten Rekonzeptionalisierung des Grund- und Menschenrechtskomplexes bewegte, von der die Rede sein soll. Vorerst aber ist klarzustellen, dass von einer kontinuierlichen Durchsetzung der Menschenrechte als handlungsleitende Norm politischer Zivilisierung auch und gerade in den Konstitutionalisierungsprozessen in der europäischen Welt nicht die Rede sein kann. Vor diesem historischen Hintergrund erhält erst die kontroverse Diskussion um eine nationale oder internationale Menschenrechtspolitik historische Tiefenschärfe. Gewiss, die amerikanischen Proklamationen unveräußerlicher Menschen- und Bürgerrechte fanden in der französischen „Declaration des droits de l’homme et du citoyen“ von 1789 ihren folgenreichen europäischen Ausdruck. Sie gingen in die „tradition republicaine“ Frankreichs ein, ohne dort wie auch in den revolutionären Verfassungen von 1848 oder den oktroierten Konstitutionen der konstitutionellen Monarchien bürgerliche Grundrechte und konstitutionelle Ordnungen menschenrechtlich zu legitimieren. Nicht, dass die Idee der naturrechtlich fundierten Menschenrechte widerlegt war, doch „(d)ie Rhetorik der Französischen Revolution hatte in ihrer Entartung zur Schreckensherrschaft einen derart rauschgiftsüchtigen Verbrauch von Tugend und Menschenrechten getrieben, dass diese exaltierten Begriffe am Ende wie ausgebrannte Patronenhülsen Europa bedeckten.“5 Nicht nur die konservative Restauration, wie in Deutschland die Schriften Savignys oder Rankes belegen, sahen in der Ausstattung des Menschen mit unveräußerlichen natürlichen vorpositiven Rechten eine ständige 5 H. Lüthy, Tugend und Menschenrechte, Zürich 1989, S. 53. Die USA, der Westen und die Menschenrechtsdoktrinen 51 ständige Einladung zur Revolte und Anarchie, sondern auch fortschrittliche Bewegungspolitiker wie Marx, August Comte oder Jeremy Bentham destruierten jede naturrechtliche Legitimation des Menschenrechtsdiskurses: „Natürliche Rechte sind einfacher Unsinn, angeborene und unverlierbare Rechte sind Unsinn auf Stelzen“ schrieb Bentham und trug damit erheblich dazu bei, dass die Idee der Menschenrechte bis in die Gegenwart dem englischen Verfassungsdenken fremd geblieben ist. „Die positiven Bürgerrechte innerhalb der 1815 restaurierten Staatenwelt Europas welkten und erblühten wieder im Zyklus der restaurativen und liberalen Konjunkturen des Jahrhunderts; von allgemeinen Menschenrechten war fortan nur in humanitären Zirkeln die Rede. […] Die universellen Menschenrechte entrückten wieder in den apolitischen, ort- und zeitlosen Raum der voraussetzungslosen Ideen, die Philosophien aber nicht Staaten gründen.“6 In den USA selbst wurden die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung keineswegs sofort als selbstevidente Wahrheiten ideenpolitisch wirksam, ihre moralisch-religöse Verbindlichkeit hatte ihre Grenzen in der Realität des sklavenhaltenden Südens. Dieser fundamentale Widerspruch zwischen der Ordnungsvision der paradigmatischen Republik und der Existenz von rechtlosen Sklaven wurde in der Bundesverfassung zugunsten der Einheit der Nation auf Kosten der moralischen „raison d’être“ der Republik gelöst. Folgerichtig verzichten die zehn Ergänzungsartikel der Verfassung in der Auflistung der Bürgerrechte auf jeden Bezug auf die natürlichen Rechte. Diese Lösung musste am American Creed der Declaration letztlich scheitern. Doch 6 Ebd., S. 54. 52 Jürgen Gebhardt vorerst galten einer Mehrheit der Eliten die Menschenrechte als „metaphysical fallacies“ und „glittering generalities“ ohne verbindlichen Geltungsanspruch im politischen Geschäft.7 Menschen sind nicht frei und gleich geboren, erklärte Calhoun, der Cheftheoretiker des Südens, sondern die jeweiligen positiven Gesetzesordnung bestimmt, was sie sind, frei oder unfrei.8 Bezeichnenderweise reformulierten die südstaatlichen Verfassungen den üblichen Bezug auf die Freiheit und Gleichheit im Grundrechtskatalog derart, dass nunmehr von „free men“ gesprochen wurde, damit waren die unfreien Sklaven ihrer allgemeinen Menschlichkeit entkleidet. Es war die Anti-Sklaverei-Bewegung, welche die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung, die gottgegebenen natürlichen Rechte, erneut zum Motiv einer konsequenten Politik im Sinn des Gründerglaubens machte, und es war Abraham Lincoln, der darauf bestand, dass ein Widerruf der Declaration die amerikanische Ordnung selbst delegitimieren würde, die allein auf der Anerkennung einer gemeinsamen Natur der Menschen beruhe. Seine durch die Debatte um die Sklaverei inspirierte Interpretation des Sinngehalts der Unabhängigkeitserklärung fusionierte den metaphysischen Universalismus mit dem politischen Nationalismus der Republik: Nach dem erleuchteten Glauben der Väter, „nothing stamped with the Divine image and likeness was sent into the world to be trodden on, and degraded, and imbruted by his fellows.“ Weise wie die Väter waren, etablierten sie die selbstevidenten Wahrheiten, dass Leben, Freiheit und Glück nicht nur für rei7 8 Becker, Declaration of Independence, S. 240. Ebd., S. 251-254. Die USA, der Westen und die Menschenrechtsdoktrinen 53 che oder weiße Menschen, sondern für alle Menschen gelte. Die Unabhängigkeitserklärung liefert das regulative Prinzip einer freiheitlichen Gesellschaft schlechthin. „Die Väter beabsichtigten eine normative Maxime für eine freie Gesellschaft aufzustellen, welche allen vertraut sein sollte und von allen geachtet werden soll, auf die stets geblickt, für die stets gearbeitet werden soll, und selbst, wenn sie niemals vollständig erreicht wird, muss man sich doch ihr annähern – dadurch verbreitet und weitet sich ihr Einfluss und mehrt das Glück und den Wert des Lebens für jedes Volk jeder Hautfarbe überall in der Welt.“9 Mit Lincoln wurde die Idee der universalen natürlichen Rechte im politischen Glaubenskreis der Amerikaner reaktiviert, wenngleich ihre ideenpolitische Effektivität nur zögernd ihre gesellschaftsformende Prägekraft entfaltete, nachdem in einem blutigen Bürgerkrieg gegen den sklavokratischen Süden der normative Geltungsanspruch der Declaration durchgesetzt wurde. Letztendlich wurde dieser erst durch die Civil Rights-Bewegung der Nachkriegszeit realpolitisch wirksam. II. Der dem amerikanischen Ordnungsparadigma inhärente universale Geltungsanspruch, der durch das Spannungsverhältnis von republikanischer Moral und imperialer Aspiration gekennzeichnet war, bestimmte nach dem Ende des Bürgerkrieges auch zunehmend das außenpolitische Denken und Handeln der USA und prägte die Wilsonsche Konzeption des amerikanischen Internationalismus. In ihm kam 9 A. Lincoln, Collected Works II, New Brunswick 1953, S. 546f.; 406. 54 Jürgen Gebhardt ein Missionsgedanke zum Ausdruck, den beispielhaft Senator Albert Beveridge seinem Präsidenten Teddy Roosevelt folgendermaßen formuliert hatte: „God has not been preparing the Englishspeaking and Teutonic peoples for a thousand years for nothing but vain and idle selfcontemplation and self-admiration. No! He has made us the master organizers of the world to establish system where chaos reigned. […] And of all our race he has marked the American people as his chosen nation to finally lead the redemption of the world.“10 Dieser Missionsgedanke einer globalen Verantwortung der USA für das Heil der Welt involvierte von vornherein die unilaterale und die multilaterale Option einer globalen Politik der USA. Der Wilsonsche Internationalismus entwickelte die Vision einer pax Americana in einer Welt freier und gleicher Nationen auf der Basis von liberaler Demokratie, nationaler Selbstbestimmung und Kapitalismus. Hierauf zielte die Idee des Völkerbundes, die allerdings auf der vorbehaltlosen Anerkennung der völkerrechtlichen Doktrin der staatlichen Souveränität beruhte und folgerichtig keinerlei wie auch immer begründetes Interventionsrecht beinhaltete. Für unser Thema aber ist entscheidend, dass weder die vierzehn Punkte Wilsons, noch das Konzept des Völkerbundes auf die Menschenrechte Bezug nahmen. Ein französischer Versuch, die Menschenrechte in die Charta des Völkerbundes zu integrieren, verlief im Sande. Das Scheitern der Wilsonschen Vision einer multilateralen Weltordnung unter amerikanischer Führung führte die USA in einen Isolatio10 Zit. n. D. Germino, The Inaugural Addresses of American Presidents, Lanham 1984, S. 39. Die USA, der Westen und die Menschenrechtsdoktrinen 55 nismus, der erst unter Druck der weltpolitischen Krise der 30er Jahre aufgegeben wurde. Glaubte Wilson noch an einen irreversiblen Prozess der globalen Durchsetzung der Demokratie, so belehrte der Aufstieg der totalitären und autokratischen Regime in der Zwischenkriegszeit die Welt eines Schlechteren. Gemeinsam war diesen Regimen die gewaltsame Ablehnung der Wilsonschen Prinzipien, liberale Demokratie und Kapitalismus. Totalitarismus, Autoritarismus und die Weltwirtschaftskrise drohten den amerikanischen Glauben an den heilsgeschichtlichen Gang der Dinge zu erschüttern. Es war die Führungskraft Franklin D. Roosevelts, die der Nation den Glauben an sich selbst wiedergab und gegen den Isolationismus Amerikas Berufung zur Weltführerschaft revitalisierte. Der sukzessive Aufstieg der Totalitarismen in Verbindung mit dem Zerfall der demokratischen Regime in Europa und im besonderen die Aufkündigung der Prinzipien der europäischen Gesittung durch die faschistisch-nationalsozialistische Allianz ließ die angelsächsischen Demokratien sich als die letzten Repräsentanten einer in den gemeineuropäischen Traditionen begründeten politischen Ordnung erleben. Dies hatte eine ideenpolitische Revision der amerikanischen Selbstdeutung zur Folge: Die Idee der atlantischen Gemeinschaft und des Westens wurde formuliert. Die liberale Demokratie wurde begriffen als die moderne Artikulation der gesamten westlichen politischen Tradition, als die säkulare Form der westlichen Zivilisation. Der Begriff des Westens so gefasst war neuartig, setzte die europäisch-angelsächsische Moderne vom alten christlich geprägten Konzept des Abendlandes ab. Die auf politische Freiheit und Gleichheit hin konzipierte liberale Demokratie wurde nunmehr als die Quintessenz der europäischen Tradition interpretiert. 56 Jürgen Gebhardt Westliche Gesittung stand nunmehr im apokalyptischen Ringen mit dem barbarischen Nationalsozialismus. Weltführerschaft hieß nunmehr Führung des freien Westens und Formung einer Anti-HitlerKoalition selbst unter Einschluss Stalins. In diesem Kontext kam es zu einer Rückbesinnung auf die naturrechtlich verbürgten Menschenrechte der Declaration in der Tradition Abraham Lincolns. Becker schrieb 1941: „The incredible cynicism and brutality of Adolf Hitler’s ambitions made every day more real by the servile and remorseless activities of his bleakfaced, humourless Nazisupporters, have forced men everywhere to re-appraise the validity of half-forgotten ideas, and enabled them once more to entertain convictions as to the substance of things not evident to the senses. One of these convictions is that ‚liberty, equality, fraternity’ and ‚the inalienable right of men’ are phrases, glittering or not, that denote realities that men will always fight for rather than surrender.”11 Dieses Grundmuster der atlantischen Gemeinschaftsidee setzte sich neu akzentuiert im Kalten Krieg fort und wurde in der Wertegemeinschaft der Nato reinkarniert. In der richtigen Erwartung des westlichen Sieges entwarf Roosevelt 1941 sein globales Konzept einer politischmoralischen Befriedung der Welt: „In jener Zukunft, die wir zu sichern suchen, antizipieren wir eine Welt gegründet auf vier essentiellen Freiheiten: ‚The first is freedom of speech and expression – everywhere in the world. The second is freedom of every person to worship God in his way – everywhere in the world. The third is freedom of want – which, translated into world terms, means economic understandings which will secure to every nation a healthy peacetime life for its inhabitants – everywhere in the world. The forth is freedom of fear – which, translated into world 11 Becker, Declaration of Independence S. XVI. Die USA, der Westen und die Menschenrechtsdoktrinen 57 terms, means a worldwide reduction of armaments to such a point and in such a thorough fashion that no nation will be in a position to commit an act of aggression against any neighbour – anywhere in the world.’”12 Die klassischen Freiheitsrechte: Rede-, Meinungs- und Religionsfreiheit werden rhetorisch überhöht durch die Vision einer Welt der Prosperität und des Friedens, in der alle Menschen frei von Mangel und Furcht gleichsam paradiesisch leben. Roosevelt und Churchill bekräftigen dieses Konzept in der Atlantik Charta von 1942 und es wird als Entwurf zu einer globalen Befreiung der Menschheit mit dem Ziel ihrer Verwestlichung unter amerikanischer Führung in der Gründung der UNO institutionalisiert. Die hier intendierte Globalisierung des westlichen Credos war verknüpft mit einer folgenreichen Neuakzentuierung von dessen Ordnungsgehalt: Die Menschenrechte wurden zum ordnungsstiftenden Zentrum des westlichen Ordnungsparadigmas. Unter amerikanischer Anleitung, genauer der Federführung der Präsidentenwitwe Eleanor Roosevelt, wurden mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und den folgenden Human Rights Covenants die Menschenrechte von der UNO in eine universale Rechtsnorm verwandelt. Damit erhielt die moralisch-politische Mission der UNO und des von den USA geführten Westens eine neue Form: Sie ist eine tentativ globale Menschenrechtspolitik, die sich entsprechend der von Berman konstatierten Traditionslinie auf den Glauben an ein höheres, d.h. überpositives Recht berufen kann. Die Menschenrechte als Ausdruck dieses Rechtsdenkens repräsentieren notwendig die Vi- 12 F. D. Roosevelt, The Four Freedoms, in: W. A. Williams ed., The Shaping of American Diplomacy II, Chicago 1966, S. 913f.. 58 Jürgen Gebhardt sion einer „moralischen Welt“, deren Gebote verpflichtender Ausdruck der Vernunftnatur des Menschen sind. III. Die Leitidee einer global zu verwirklichenden, menschenrechtlich fundierten Demokratie wurde in einer Art und Weise in die legalistische Sprache des Völkerrechts gekleidet, dass hieraus eine Doktrinalisierung des gesamten Menschenrechtskomplexes resultieren musste, die bis heute jede Menschenrechtspolitik mit den dieser inhärenten Widersprüchen belastet. Erstens wurde aus der menschenrechtlichen Fundamentalnorm des durch den im Begriff der Menschenwürde definierten Anspruchs der Person auf Leben, Freiheit und persönliche Unversehrtheit schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und dann in den folgenden völkerrechtlichen Menschenrechtskonventionen nicht nur die klassischen Bürgerrechte abgeleitet, sondern darüber hinaus eine Plethora ökonomischer, sozialer und kultureller Rechtsansprüche ohne eine entsprechende Hierarchisierung der Rechtsgüter. Die Kataloge spiegeln die menschen- und grundrechtlich unterfütterte Inflationierung von Rechtsansprüchen in den westlichen wohlfahrtsstaatlichen Demokratien ebenso wider wie die Priorität der sozioökonomischen Zielvorstellungen des sozialistischen Staatenblocks. Insbesondere die in den beiden Menschenrechtspakten niedergelegten Rechte addieren sich insgesamt zum allumfassenden Rechtsanspruch auf ein vollkommenes materielles, soziales und psychisches Glück. Die USA, der Westen und die Menschenrechtsdoktrinen 59 Zweitens ist historisch und empirisch die Realisierung von Menschenrechten an die konstitutionell fixierten Bürgerrechte gebunden. Das heißt, die Verpflichtung der Staatengemeinschaft auf die rechtliche Norm der Menschenrechte impliziert letztlich die Forderung an die unterzeichnenden Staaten, ihre politische Ordnung nach westlichem Vorbild zu konstitutionalisieren. Drittens aber stellt sich die Frage, ob der präskriptive Status der Menschenrechte in der internationalen Ordnung, zumindest was die Einhaltung des primären Menschenrechts auf Unversehrtheit und Freiheit der Person durch machtgestützte Sanktionen erzwungen werden kann, was die Frage nach einem handlungsfähigen globalen Akteur der Menschenrechtspolitik aufwirft. Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt und dem Aufstieg der USA zur einzigen globalen Führungsmacht hat diese Frage eine neue Qualität erhalten. In der Rooseveltschen Vision, die seine Nachfolger durchweg teilten, fiel den USA als der Führungsmacht des Westens im Verbund mit der UNO diese Aufgabe zu, alle Präsidenten dachten multilateral und waren gleichzeitig davon überzeugt, dass die amerikanische Ordnungsidee aufging in die westliche Wertegemeinschaft, d.h. dass die USA und die „westlichen“ Nationen eine Einheit bildeten, da ihre Interessen identisch sind. Doch die Menschenrechte bestimmten eher rhetorisch als machtpragmatisch die internationale Politik im Zeitalter des Kalten Krieges. Erst als die Realpolitik des Gespanns Nixon/Kissinger nach Meinung vieler Amerikaner „der US-Außenpolitik ihre ideelle, zivilreligiöse Grundlage“ zu entziehen drohte, mobilisierten die „Kritiker der Entspannungspolitik […] erneut die moralisch-missionarische Grundlage 60 Jürgen Gebhardt der US-Weltpolitik im 20. Jahrhundert, indem sie die Politik gegenüber der Sowjet-Union mit der Frage der Menschenrechte verbanden.“13 Folgerichtig bekannte sich Präsident Carter zu den Menschenrechten als dem Leitprinzip amerikanischer Außenpolitik: „Our committment to human rights must be absolute. We can no longer separate the traditional issues of war and peace from the new global questions of justice, equity, and human rights.”14 Doch unter dem Eindruck europäischer Impotenz in der Balkankrise wandelte sich zunehmend die amerikanische global leadership im Sinne des Unilateralismus. Dies drückt sich darin aus, dass die Demokratisierung der Welt in Verbindung mit der Herstellung eines globalen Marktes unilateral vollzogen wird. Die humanitäre Intervention jenseits der UNO stellt somit nicht nur jederzeit die Normen von Demokratie und Menschenrechten über die nationale Souveränität, sondern macht auch die world leadership der USA zum moralischen Ordnungsgaranten qua eigenem Urteil und eigener Entscheidung, wobei ordnungs- und sicherheitspolitische Motive oft stärker wiegen als die Verpflichtung auf die präskriptive Norm der Menschenrechte. Das Verhältnis zur UNO, die das Prinzip der humanitären Intervention nur insoweit anerkennt, als sie friedenserhaltende und -erzwingende Militäraktionen legitimiert, humanitäre Intervention als solche aber schwer ermöglicht, wird problematisch. Der Anspruch der USA auf ein Interventionsrecht bis hin zu präventiven Kriegshandlungen führt 13 14 D. Junker, Power and Mission, Freiburg 2003, S. 118. Zit. n. F. Ninkovich, The Wilsonian Century, Chicago 1999, S. 249. Die USA, der Westen und die Menschenrechtsdoktrinen 61 notwendig zu einer neuartigen Architektur der Weltinnenpolitik. Die Bedingung der Möglichkeit solcher und anderer Formen der globalen Mission der USA ist die Tatsache, dass die USA heute eine Verknüpfung von Ökonomie, Technologie und Wissenschaft realisiert haben, die ihnen die Rolle des zentralen weltpolitischen Akteurs zuweist und ihrem Sendungsbewusstsein die nötige Machtbasis verleiht. Die imperiale Präsidentschaft von George W. Bush handelt in diesem Sinne, um die von Bush-Vater anvisierte „Neue Weltordnung“ aus eigener Machtvollkommenheit zu gestalten.15 Doch erinnern wir uns, die imperiale Präsidentschaft Nixons scheiterte an dem tiefverwurzelten Misstrauen der Amerikaner gegen übermäßigen Machtkonzentration in der Hand eines Präsidenten, es widerspricht der Architektonik der eigenen menschenrechtlich fundierten Ordnungsvorstellung und den hiervon geprägten Verfassungsinstitutionen. Die Einbindung in ein multilaterales internationales Regime der Weltpolitik ist in der Bevölkerung – das zeigen alle Umfragen – tief verankert. Die Rückkehr zu einer Wilsonianisch geformten kooperativen Außenpolitik ist abzusehen – sie erfordert aber auch, dass sich die westlichen Nationen insgesamt auf ihre gemeinsame Wertgrundlage besinnen, die allein eine Harmonisierung westlicher Menschenrechtspolitik in einer nach wie vor brisanten Weltlage ermöglichen wird. Zudem ist daran zu erinnern, dass in den kritischen Augenblicken des 20. Jahrhunderts die Menschenrechte in den USA einen machtvollen, 15 Vgl. J. Gebhardt, Novus Ordo Seclorum – Der globale Anspruch der amerikanischen Mission zum Anbruch des 21. Jahrhunderts, in: W. Sparn (Hg.)., Apokalyptik versus Chiliasmus? Die kulturwissenschaftliche Herausforderung des neuen Milleniums, Erlangen 2002. 62 Jürgen Gebhardt wenn auch nicht uneigennützigen Fürsprecher gefunden haben. Man mag sich im 21. Jahrhundert einen besseren vorstellen, aber der hat die Bühne der Weltpolitik noch nicht betreten.