27 Strukturelle Störungen: schwere

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27 Strukturelle Störungen: schwere
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27 Strukturelle Störungen:
schwere Persönlichkeitsstörungen
und andere Strukturpathologien
Therapieplanung bei geringem strukturellem Integrationsniveau
27.1 Was verstehen wir unter
einer strukturellen Störung?
Unter »Struktur« wollen wir in Anlehnung an
Rudolf (2004) die Verfügbarkeit psychischer
Funktionen verstehen, die für die Organisation des Selbst und seine Beziehungen zu den
inneren und äußeren Objekten erforderlich
sind. Entsprechend sollen unter »strukturellen
Störungen« oder »Strukturpathologien« solche Störungsbilder verstanden werden, die mit
einer unzureichenden Verfügbarkeit dieser
Funktionen der Selbstregulation einhergehen.
Zahlreiche andere Bezeichnungen werden
verwendet, um diese Strukturpathologie zu
beschreiben. Oft wird von einer »Entwicklungspathologie« – im Gegensatz zu Konfliktpathologie – gesprochen. Auch findet sich der
Begriff der »unreifen Persönlichkeitsorganisation«. Nicht zu empfehlen ist der noch immer
gelegentlich verwendete, aber unscharfe Begriff der »frühen Störung«. Die OPD-2 (Arbeitskreis OPD 2006) spricht von einem »geringen strukturellen Integrationsniveau«.1
1 Diese Verwendung des Strukturbegriffs ist zu unterscheiden von dem neurosenpsychologischen Strukturbegriff, der – ohne Rücksicht auf die Verfügbarkeit
von Ich-Funktionen und Objektbeziehungen – eine
Aussage über die dominierende Abwehrorganisation
macht, wie z. B. zwanghafte, depressive, hysterische
usw. Persönlichkeitsstruktur (König 1981).
Eine strukturelle Störung ist keine umschriebene klinische Einheit. Sie verweist vielmehr auf unterschiedliche spezifische Defizite
der Selbstregulation. Strukturelle Störungen
können bei unterschiedlichen klinischen Bildern vorkommen. Am häufigsten finden sie
sich bei schweren Persönlichkeitsstörungen, bei
Suchterkrankungen, bei somatoformen Störungen oder psychosomatischen Erkrankungen und bei Essstörungen. Aber auch depressive Erkrankungen oder Angsterkrankungen
können mit strukturellen Störungen verbunden sein. Die deskriptive Diagnose gestattet in
der Regel keine Rückschlüsse auf das strukturelle Niveau.
Die defizitäre Strukturbildung manifestiert
sich in defizitär ausgebildeten Ich-Funktionen,
einer unreifen Abwehrorganisation und ebenso unreif gestalteten Objektbeziehungen.
쐌 Auf der Ebene der Ich-Funktionen handelt
es sich vorrangig um Störungen der Emotionsregulierung, der Mentalisierung und
der Ich-Integration (s. Abschn. 27.3). Im
Einzelnen können die Ich-Funktionseinschränkungen auch Störungen der Impulskontrolle, der Selbstwertregulierung, der
Selbst-Objekt-Differenzierung und der Fähigkeit zur Objektkonstanz umfassen.
쐌 Auf der Ebene der Abwehrorganisation dominieren unreife Abwehrmechanismen wie
Projektion, Introjektion, projektive Identifizierung, primitive Idealisierung, Entwertung, Spaltung und Dissoziation. Sie können ihre Aufgabe, angesichts vernachlässi-
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V Spezielle psychotherapeutische Techniken bei Patienten mit Strukturpathologien
Tab. 27-1 Strukturachse der OPD-2
1. Kognitive Fähigkeit
1.1 Selbstwahrnehmung: Selbstreflexion, Affektdifferenzierung, Identität
1.2 Objektwahrnehmung: Selbst-Objekt-Differenzierung, ganzheitliche Objektwahrnehmung,
realistische Objektwahrnehmung
2. Steuerungsfähigkeit
2.1 Selbstregulierung: Impulssteuerung, Affekttoleranz, Selbstwertregulierung
2.2 Regulierung des Objektbezugs: Beziehungen schützen, Interessenausgleich
3. Emotionale Fähigkeit
3.1 Kommunikation nach innen: Affekte erleben, Fantasien nutzen, Körperselbst
3.2 Kommunikation nach außen: Kontaktaufnahme, Affektmitteilung, Empathie
4. Fähigkeit zur Bindung
4.1 Innere Objekte: Internalisierung, Introjekte, variable Bindungen
4.2 Äußere Objekte: Bindungsfähigkeit, Hilfe annehmen, Bindung lösen
gender und traumatisierender Beziehungserfahrungen die Bindung an die primären
Bezugspersonen und die Kohärenz des
Selbst zu sichern, nur um den Preis einer
erheblichen Verzerrung der Realitätswahrnehmung erfüllen.
쐌 Auf der Ebene der äußeren Objektbeziehungen finden wir Beziehungsformen, die
überwiegend oder ausschließlich auf dem
Niveau der Selbstregulation organisiert
sind. Wir sprechen dann von bedürfnisbefriedigenden Teilobjektbeziehungen im Gegensatz zur ganzheitlichen reiferen Objektbeziehungen höher strukturierter Personen.
Betrachten wir die verinnerlichten Objektbeziehungen oder »inneren Objekte«, die als Niederschlag realer Objekterfahrungen zu unseren inneren normgebenden Instanzen oder Introjekten geworden sind, so spiegeln diese die
ursprünglich negativen Beziehungserfahrungen wider: Ähnlich verbietend, verurteilend,
missachtend oder vernichtend wie einst durch
die frühen realen Objekte wird das Ich nun
durch diese inneren Objekte betrachtet und
behandelt.
Die Strukturachse der OPD-2 (Arbeitskreis
OPD 2006) unterscheidet vier Strukturdimensionen, auf denen die Einschränkung strukturell verankerter Fähigkeiten eingeschätzt werden kann (s. Tab. 27-1):
쐌 Die kognitiven Fähigkeiten umfassen die
Selbstwahrnehmung mit der Fähigkeit, sich
ein Bild des eigenen Selbst zu machen und
die eigenen Affekte differenziert wahrzunehmen, und die Objektwahrnehmung mit
der Fähigkeit, ein realistisches und ganzheitliches Bild von anderen entwerfen zu
können. Zur Objektwahrnehmung gehört
auch die Selbst-Objekt-Differenzierung, das
heißt die Fähigkeit, eigene Gedanken, Bedürfnisse und Impulse von denen anderer
unterscheiden zu können.
쐌 Die Steuerungsfähigkeit umfasst die Selbstregulierung mit der Fähigkeit, Impulse zu
steuern und Affekte zu regulieren, und die
Regulierung des Objektbezugs mit der Fähigkeit, in Beziehungen die eigenen Interessen
zu wahren und diejenigen anderer angemessen zu berücksichtigen, der Fähigkeit,
die Reaktionen anderer zu antizipieren und
der Fähigkeit, den Selbstwert zu regulieren.
27 Schwere Persönlichkeitsstörungen und andere Strukturpathologien
쐌 Die emotionale Fähigkeit beinhaltet zum
einen die Kommunikation nach innen mit
der Fähigkeit, eigene Affekte zu generieren
und zu erleben, eigene Fantasien zu entwerfen und zu nutzen und der Fähigkeit zur
eigenen Körperwahrnehmung. Die emotionale Fähigkeit beinhaltet zum anderen die
Fähigkeit der Kommunikation nach außen
mit der Möglichkeit der zwischenmenschlich-emotionalen Kontaktaufnahme, der Fähigkeit, eigene Affekte zum Ausdruck zu
bringen und der Fähigkeit, Empathie zu erleben.
쐌 Die Fähigkeit zur Bindung kann sich auf innere und auf äußere Objekte beziehen. Bezogen auf innere Objekte umfasst sie die
Fähigkeit zur Internalisierung sowie die
Fähigkeit, positive objektbezogene Affekte
aufbauen und erhalten zu können. Das Vorhandensein positiver Introjekte – für sich
sorgen, sich beruhigen, sich trösten, helfen,
schützen, für sich eintreten zu können –
und die Fähigkeit zu variablen und triangulären Bindungen sind ebenso Ausdruck der
Bindung an innere Objekte. Auf äußere Objekte bezogen umfasst sie die Fähigkeiten,
sich emotional an andere binden zu können, Hilfe annehmen zu können und die
Fähigkeit, sich aus Bindungen lösen und
Abschied nehmen zu können.
Wenn nun als Folge der Sozialisationsdefizite
die für die Alltagsbewältigung wichtigen IchFunktionen der Affektsteuerung, der Impulskontrolle, der Antizipationsfähigkeit und der
Objektkonstanz nur unzureichend zur Verfügung stehen, kann dies fatale Auswirkungen
auf die Gestaltung der zwischenmenschlichen
Beziehungen haben. Die durch unreife Abwehrmechanismen bedingten Wahrnehmungsverzerrungen und die primitiven Übertragungsmuster sind Anlass zu schwerwiegenden interpersonellen Konflikten und permanenten
Misserfolgserlebnissen, die das Selbstwertge-
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fühl noch weiter beeinträchtigen. Selbstschädigende Verhaltensmuster bleiben oft als einzige
Möglichkeit, um zumindest die schwersten
emotionale Dekompensationen zu verhindern.
Bei der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung und bei einem Teil der anderen
schweren Persönlichkeitsstörungen wirken sich
diese Defizite unmittelbar auf die Alltagsfunktionalität aus. Die Ich-Funktion der Emotionsregulierung kann so geschwächt sein, dass unkontrollierbare Wechsel der Stimmungslage
das klinische Bild prägen. Die Präsenz primitiver Abwehrmechanismen kann zu einer derartig verzerrten Wahrnehmung der Realität
führen, dass eine Alltagsbewältigung schwierig
wird. Auf der Ebene der äußeren Objektbeziehungen werden Beziehungen daran scheitern,
dass Bezugspersonen ausschließlich zu Zwecken der Selbstregulierung instrumentalisiert
werden. Die archaisch strengen inneren Objekte verhindern schließlich eine selbstfürsorgliche Haltung.
Bei anderen Persönlichkeitsstörungen, beispielsweise der narzisstischen oder der abhängigen Persönlichkeitsstörung, kann die Alltagsfunktionalität erhalten bleiben, solange
Personen verfügbar sind, die für die Selbstregulation instrumentalisiert werden können:
z. B. spiegelnde oder zur Selbstausbeutung bereite Personen bei narzisstisch gestörten Persönlichkeiten, oder Personen, die Steuerung
und Verantwortung übernehmen bei der abhängigen Persönlichkeitsstörung. Auch bei
Suchterkrankungen und somatoformen Störungen kann die Alltagsfunktionalität bis zu
einem gewissen Grade gesichert sein, allerdings um den – hohen – Preis der Symptombildung.
Von strukturellen Störungen sprechen wir
nur bei unzureichend entwickelten und dauerhaft eingeschränkten Funktionen. Unter starker Konfliktbelastung können Ich-Funktionen
auch bei reifer organisierten Persönlichkeiten
temporär außer Kraft gesetzt sein. Bei starkem
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V Spezielle psychotherapeutische Techniken bei Patienten mit Strukturpathologien
unbewusstem Konfliktdruck sind beispielsweise die Ich-Funktionen der Affekttoleranz und
der Affektwahrnehmung vorübergehend eingeschränkt, sodass eine affektive Überflutung
in einer körperlichen Symptomatik psychosomatisch abgewehrt werden muss. Ebenso
können unter starkem Konfliktdruck vorübergehend unreife, z. B. projektive Abwehrmechanismen, zunehmen. Schließlich werden
durch den Regressionsdruck des unbewussten Konflikts auch die Objektbeziehungen
vorübergehend eher unter dem Aspekt der
Selbstregulation wahrgenommen und gestaltet.
Pathogenetisch verstehen wir die Entwicklung von strukturellen Störungen als Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen oder
Entwicklungstraumatisierungen. Emotionale Vernachlässigung, unzuverlässige Bindungsbeziehungen, abrupte Beziehungsabbrüche und unzureichender elterlicher Schutz während der
ersten Lebensjahre sind Charakteristika eines
beziehungstraumatischen Umfelds. Dies gilt
ungeachtet der Tatsache ihrer multifaktoriellen Pathogenese, bei der genetische Faktoren
ebenso eine Rolle spielen wie Umweltfaktoren
und protektive Faktoren (Egle et al. 1997).
Entwicklungspsychologische und neurobiologische Befunde der letzten Jahre konnten
eindrucksvoll zeigen, dass derartige Entwicklungstraumatisierungen zu funktionellen Veränderungen der Hirnregionen führen, die für
die Regulation der Emotionalität und anderer
wichtiger Steuerungsfunktionen zentral sind
(Perry et al. 1995; Schore 1994, 2007; Siegel
1999a). Diese biologischen Vorgänge entsprechen objektbeziehungstheoretischen Vorstellungen, dass es bei unzureichender Verfügbarkeit beruhigender und fürsorglicher
Bezugspersonen nicht zur Internalisierung beruhigender und selbstfürsorglicher Beziehungsmuster und zur Ausbildung beruhigender und
fürsorglicher innerer Objekte kommen kann.
Treten zu den Bindungs- und Beziehungstrau-
matisierungen noch reale Traumatisierungen
in Form körperlicher Misshandlungen oder
sexueller Übergriffe hinzu, können diese ihre
destruktive Wirkung in besonderem Maße
entfalten. Bei geschwächten Ich-Funktionen
und ohne ein haltendes Umfeld gelingt eine
Verarbeitung der meist intrafamiliären traumatischen Erfahrungen oft nicht.
Vor allem scheinen frühe Traumatisierungen die Entwicklung der präfrontalen Regionen der rechten Gehirnhälfte zu beeinträchtigen, derjenigen Gehirnhälfte, deren Aufgabe
die Verarbeitung sozioemotionaler und bindungsrelevanter Informationen ist. Bildgebende Verfahren mittels PET-Untersuchungen
deuten auf Aktivitätsdefizite und einen verminderten Serotonin-Stoffwechsel vor allem
im präfrontalen Cortex als Äquivalent für die
Störungen der Affektregulierung bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung hin
(Goyer et al. 1994).
Die verminderte präfrontale Aktivität hat
zur Folge, dass basale emotionale Zentren, vor
allem die Amygdala, von den präfrontalen
Zentren eine unzureichende inhibitorische
Modulation erfahren und so eine ungesteuerte
Aktivität im Sinne von Bedrohungsmeldungen
entfalten. Tatsächlich findet sich bei Borderline-Patienten eine signifikant erhöhte Amygdala-Aktivität im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen (Donegan et al. 2003). Viele Reaktionen traumatisierter Patienten lassen sich
mit Hilfe des Modells der verminderten TopDown-Regulation basaler emotionaler Strukturen als Ausdruck eines inadäquaten Bedrohungserlebens verstehen. Vor dem Hintergrund
ihrer traumatischen Beziehungserfahrungen
und unter der Einwirkung einer geschwächten
präfrontalen Modulation kommt es leicht zu
einer verzerrten Wahrnehmung des Bedrohungsgehaltes einer Situation. Besonders wenn
auch die ebenfalls präfrontal vermittelte Funktion der Mentalisierung geschwächt ist, werden Stimuli der aktuellen Situation, die zwar

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