"La poétique de la musique instrumentale"

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"La poétique de la musique instrumentale"
Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
CHRISTIAN BERGER
„La poétique de la musique instrumentale”
Deutsche Musikanschauung
im Frankreich der 1830er Jahre
Originalbeitrag erschienen in: Deutsche Musik im Wegekreuz zwischen Polen und Frankreich : Zum
Problem musikalischer Wechselbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Bericht der Tagung am
Musikwissenschaftlichen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 20.11.-24.11.1988 / Hrsg.
von Christoph-Hellmut MAHLING und Kristina PFARR. Tutzing : Schneider, 1996, S. 26-34
Christian Berger
„La poétique de la musique instrumentale“
Deutsche Musikanschauung im Frankreich der 1830er Jahre
1. Die „Concerts du Conservatoire“
Im Jahre 1828 gründete François Habeneck, der Konzertmeister des Opernorchesters, eine neue
Konzert-Reihe, die „Concerts du Conservatoire“. Sie waren der neueren Instrumentalmusik, insbesondere dem Werk Beethovens gewidmet. Seine Sinfonien wurden bis 1871 360 Mal aufgeführt
und beanspruchten damit zwei Drittel des gesamten sinfonischen Repertoires dieser Konzertreihe,
in deren Rahmen insgesamt 548 Sinfonien aufgeführt wurden1. Der Ruhm dieser Aufführungen
verbreitete sich schnell in ganz Europa, und als 1831 zum ersten Mal die 9. Sinfonie aufgeführt
wurde, versammelte sich nach dem Zeugnis François-Joseph Fétis’ „alles […], was es in Paris an
Künstlern und gebildeten Kunstfreunden gab“2. Dazu gehörte natürlich auch Hector Berlioz, der
von Anfang an zu den eifrigsten Verkündern dieser Konzerte gehörte. 1829 berichtete er in der Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung: „Habeneck… hat den Anstoss gegeben und alle Musikfreunde hochverpflichtet. Die Zeit der Kavatinen und Gassenhauer ist vorüber.“ Liest man Berichte
wie diese, könnte man meinen, die Oper hätte in ihrer Hauptstadt in den Augen des Publikums ihre
Vorrangstellung an die Sinfonie abgetreten. Wie sonst wäre jenes „wüthende Beifallsgeschrei“
nach der Freischütz-Ouverture zu erklären, von dem Berlioz nach Berlin berichtet: „Es ist ohne
Beispiel, dass ein Instrumentalstück am Schlusse eines grossen Konzerts da Capo verlangt wird.“3
Aber es war ja nicht das Publikum der Oper, das sich hier versammelte, es war offensichtlich ein
ganz besonderes Publikum. Das Publikum der „Concerts du Conservatoire“ zeichnete sich, so Berlioz 1837, als das „wahre Publikum“ aus, als „dasjenige, das nicht zu irgendeiner Clique gehört,
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Jeffrey Cooper:The Rise of Instrumental Music and Concert Series in Paris 1828-1871 (=Studies in Musicology
65) Ann Arbor 1983, S. 29.
F.-J. Fétis, Cinquième Concert du Conservatoire. Symphonie avec chœurs de Beethoven, in: Revue Musicale Bd.
5, Nr. 9 (2.4.1831), S. 68: „Un vif mouvement d’intérêt et de curiosité avait attiré au cinquième concert du
Conservatoire tout ce que Paris renferme d’artiste et d’amateurs distingués…“ Die Formulierung „Künstler und
gebildete Kunstfreunde“ übernahm ich dem Bericht „Königliche Akademie der Musik in Paris“ von Hector Berlioz in der Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung 6, Nr. 29 (18.7.1829), S. 228.
Königliche Akademie der Musik in Paris, a.a.O., S. 228.
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„La poétique de la musique instrumentale“
das nach seinem Empfinden urteilt und nicht nach engstirnigen Ideen oder lächerlichen Theorien,
die es sich über die Kunst gemacht hat“4. Auf der Abonnenten-Liste finden wir zahlreiche Namen
von Mitstreitern aus den Tagen der Bataille d’Hernani wieder, wie Honoré de Balzac, Victor Hugo,
Alfred de Vigny und Eugène Delacroix5, die seit den 1820er Jahren der Kampf gegen die „verbrauchte, längst überfällige […] Konvention“6 des Klassizismus vereinigt hatte. Allerdings weist
Berlioz schon in seiner Besprechung aus dem Jahre 1829 auf ein Problem hin, daß diese Konzerte
immer begleiten sollte: „[…] der Konzertsaal der Akademie ist sehr klein, die Personen, welche
dem ersten Konzerte beigewohnt haben, behalten ihre Plätze für alle übrigen, folglich ist das Publikum immer dasselbe, ohne sich zu erneuern.“7 Schärfer bringt Joseph Mainzer das Problem auf den
Punkt, wenn er 1836 in einem Bericht an die Neue Zeitschrift für Musik schreibt: „Das Publicum
des Conservatoriums ist, wie demnach leicht zu ersehen, nichts weniger als das musikverstehende
Centrum von Paris; es gilt jedoch dafür; und weil es dafür gilt, darum will jeder dafür gehalten
sein und daher der Andrang. Freien Eintritt haben nur die Gefürchteten - die Journalisten.“8 Und
1840, gewissermaßen am Ende seines Kampfes um das Pariser Publikum, stellt Berlioz resignierend
fest, daß sich vor einer Beethoven-Sinfonie schon viele Logen geleert hätten: „Offensichtlich gibt es
eben auch unter den Besuchern dieser Konzerte einige, […] die von nichts eine Ahnung haben, die
nur dort eine Loge haben wollen, wo es zum guten Ton gehört, sie zu haben, die alle Dummheiten in
mittelmäßigen Werken beklatschen […], die glauben, die Musik zu lieben, aber im Grunde ihres
Herzens diesen Eindrücken verständnislos gegenüberstehen, verständnisloser als die wallisischen
Bauern, als die Fellachen in den ägyptischen Ebenen, als die tanzenden Derwische oder die Opiumhändler Konstantinopels.“9
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Revue et Gazette musicale 4, Nr. 4 (22.1.1837), abgedr. in: H. Berlioz: Beethoven , hg. v. J.-G. Prod’homme,
Paris 1941, S. 19: „Le public, en effet, le public véritable, celui q u i n ’ a p p a r t i e n t à a u c u n e c o t e r i e ,
ne juge que par sentiment et non point d’après les idées étroites, les théories ridicules qu’il s’est fait sur l’art
[…]“
Vgl. William Weber, Music and the Middle Class. The Social Structure of Concert Life in London, Paris and
Vienna , London 1975, S. 71.
Hans Robert Jauss: Literaturgeschichte als Provokation , Frankfurt 31973, S. 114.
Königliche Akademie der Musik in Paris, a.a.O., S. 227.
Joseph Mainzer: Aus Paris. Concerts des Conservatoires, in: Neue Zeitschrift für Musik 5, Nr. 2 (5.7.1836), S. 6.
H. Berlioz: Quatrième concert du Conservatoire, in: Revue et Gazette musicale de Paris 7, Nr. 17 (27.2.1840), S.
136: „Je suis fâché d’avouer que beaucoup de loges se sont dégarnies long-temps avant la péroraison du finale.
Ce qui prouve, dans l’opinion des observateurs, qu’il y a parmi les habitués du Conservatoire une partie de ce
public musqué des Bouffes, qui ne comprend rien à rien, qui veut avoir une loge là où il est de bon ton d’en avoir
une, qui applaudit toujours ce qu’il y a de stupide dans les partitions médiocres…, qui croit aimer la musique, et
au fond est demeurée étrangère aux émotions qu’elle fait naître, autant et plus peut-être que les paysans gallois,
les fel-
Christian Berger
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Angesichts dieser sehr unterschiedlichen Beurteilungen drängt sich die Vermutung auf, daß die
Berichterstattung über die „Concerts du Conservatoire“ durch weitergehende kunstpolitische oder
ästhetische Bemühungen bestimmt war. Katherine Reeve wies darauf hin, daß das Schreiben von
Kritiken für Berlioz nicht nur ein Broterwerb war, sondern es ihm auch ermöglichte, das Publikum
zu beeinflussen: „If Berlioz was to find listeners for his music, then--as he discovered very early--he
would have to teach how to listen to it“10. Und dazu waren „die außerordentlichen Wirkungen, die
fremdartigen Eindrücke, die unbeschreiblichen Erregungen, die die Symphonien, Quartette, Ouverturen, Sonaten von Weber und Beethoven erzeugen“11, offenbar bestens geeignet. Keinesfalls will
Berlioz auf diese Weise die sogenannte „absolute“ Musik verherrlichen. Schließlich bleibt er mit
seiner Beschreibung in den Kategorien einer Musikanschauung, die im Frankreich des 18. Jahrhunderts unter dem Eindruck der damals das Feld beherrschenden Oper entwickelt wurde. Wie stark
Berlioz in seinem Denken und Schreiben über Musik den Ideen Rousseaus verpflichtet ist, habe ich
an anderer Stelle zu zeigen versucht12.
Wir müssen also nach anderen Gründen für die so ungestüme Rezeption der Beethovenschen Instrumentalwerke suchen. Seit 1828 erschienen in den Musikzeitschriften der französischen Hauptstadt zahlreiche Aufsätze und Essais, die sich ernsthaft um ein Verständnis dieser Werke bemüht
zeigen. Fétis etwa druckte in seiner Revue musicale die Marx’sche Rezension der 9. Symphonie ab
und zwar, so betont er in einer einführenden Fußnote, „um unseren Lesern verständlich zu machen,
unter welchen Aspekten die Musik in diesem Land [also in Deutschland] betrachtet wird.“ Man
könne nämlich daraus ersehen, „wie die meisten Theoretiker […] die Vorgehensweisen und philosophischen Formen des Platonismus und der Schule Kants in die Sprache der Kunst und gerade
auch in die Musik eingeführt haben.“13
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lahs des plaines de l’Egypte, les derwiches tourneurs, ou les marchands d’opium de Constantinople.“
Katherine Kolb Reeve: The Poetics of the Orchestra in the Writings of Hector Berlioz , Ph. D. Diss. Yale Univ.
1978, S. 2.
Hector Berlioz: Concerts du Conservatoire. Cinquième, sixième et septième concerts, in: Gazette musicale de
Paris 1, Nr. 17 (27.4.1834), S. 133: „De là les effets extraordinaires, les sensations étranges, les émotions
inexprimables que produisent les symphonies, quatuors, ouvertures, sonates de Weber et de Beethoven.“
Vgl. Christian Berger: Phantastik als Konstruktion. Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique (=Kieler Schriften
zur Musikwissenschaft 27), Kassel u.a. 1983, S. 20 f.
Revue musicale 1 (1927) Nr. 5, S. 132: „[…] afin de faire comprendre à nos lecteurs sous quel aspect la musique
est considérée dans ce pays. On y verra comment la plupart des théoriciens et des savans introduisent dans le
langage des arts et jusque dans la musique les procédés et les formes philosophiques du platonisme et de l’école
de Kant.“ Der Text von Adolph Bernhard Marx ist in der Berliner AMZ 3, Nr. 47 (22.11.1826), S. 373-377 u. Nr.
51 (20.12.1826), S. 414-416 erschienen.
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„La poétique de la musique instrumentale“
2. Franz Stoepel
Ein weiterer Essai dieser Art erschien um den Jahreswechsel 1834/35 in der Gazette musicale unter
dem Titel Essai sur la poétique de la musique instrumentale14. Er stammt von Franz Stoepel, der
1829 nach Paris gekommen war. Über sein Leben gibt uns Gustav Schillings Enzyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften oder Universal-Lexicon der Tonkunst 15 Auskunft, die offensichtlich von den anderen Lexika des 19. Jahrhunderts, Fétis Biographie universelle… einbegriffen16, nachgeschrieben wurde. Dort wird er als Autodidakt geschildert, der mit seinen zahlreichen
Unternehmungen immer wieder scheiterte, nirgends Fuß fassen konnte, bis er schließlich in Paris
im Dezember 1836 aus Kummer über seine dauernden Mißerfolge, so Eduard Bernsdorfs Universal-Lexikon der Tonkunst 17, im Alter von 42 Jahren starb. Andererseits veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze in bedeutenden Zeitschriften wie der Berliner AMZ und der Revue musicale und gehörte zu den ersten Mitarbeitern der Gazette musicale de Paris . Und sein Wechsel nach Paris erscheint in ganz anderem Licht, wenn man die wohlwollende Notiz der Berliner AMZ liest, die ihn
dorthin begleitete: „Möge die günstige Meinung, die den Franzosen durch Beethoven und Weber
für deutsche Musik erweckt worden, ihn begünstigen und von ihm befestigt werden.“18
Diesem Ziel ist Stoepel in all seinen Aufsätzen19 treu geblieben. Einerseits scheute er sich nicht,
seine Ansichten über die Zustände in Frankreich deutlich kundzutun: „Die Musik ist hier …nur ein
Spiel mit Eitelkeiten, bestimmt, die Sinne zu betören; sie ist vielleicht die frivolste aller Künste geworden.“20 Andererseits umreißt er in
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Jg. 1 (1834) Nr. 52 (28.12.1834), S. 327-330 u. Jg.2 (1835) Nr.7 (15.2.1835), S. 55-57.
Stuttgart 1838, Bd. 6, S. 512-513.
F.-J. Fétis, Biographie universelle des ,musiciens et bibliographie générale de la musique, Paris, 2 1865, Bd. 8, S.
142-143.
Eduard Bernsdorf, Neues Universal-Lexikon der Tonkunst, Band 3, Offenbach 1861, S. 658.
Berliner AMZ 6, Nr. 29 (18.7.1829), S. 232.
Außer dem schon erwähnten Essai sur la poétique de la musique instrumentale (s. Anm. 14) sind während seiner
Pariser Zeit folgende Aufsätze Stoepels mit allgemeiner Thematik erschienen: Examen de l’état actuel de la musique en Allemagne, in: La Revue musicale 6 (1829) Nr. 14 (30.10.1829), S. 1-7 (Übers. von F.-J. Fétis); Die französische Oper. Eine historische Skizze, in: Berliner AMZ 7 (1830) Jg. 1 (2.1.1830), S. 1-5, Jg. 2 (9.1.), S. 91-92 u.
Jg. 3 (16.1.1830), S. 17-20; Beethoven et ses derniers quatuors, in: Gazette musicale de Paris 2 (1835) Nr. 25
(21.6.1835), S. 205-207; La musique en France, in: Gazette musicale de Paris 2 (1835) Nr. 39 (27.9.1835), S.
313-317; Essai pour servir à l’appréciation de la musique allemande, in: Gazette musicale de Paris 2 (1835) Nr.
42 (18.10.1835), S. 337-338.
François Stoepel: La musique en France, a.a.O., S. 313 f: „la musique […] n’est un jeu de la vanité destiné à
flatter les sens, elle est devenue le plus frivole peut-être de tous les arts […]“
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seinem Essai sur la poétique de la musique instrumentale ausführlich sein ästhetisches Programm,
das hier anhand der Übersetzung des Einleitungs-Abschnittes vorgestellt werden soll: „Im Bereich
der Kunst muß jede Schöpfung ein Produkt einer inneren Empfindung sein, die in der Ausführung
ihren deutlichen Eindruck hinterlassen muß. In der engstmöglichen Verbindung von Idee und Form
liegt das wahre Wesen des Schönen . Je mehr die Form das lebendige und belebte Abbild der Idee
ist, um so mehr hat sich der Künstler dem höchsten Grade der Schönheit angenähert. …Bei allem
Vergnügen, das die Künste bereiten, sollen nicht allein die äußeren Sinne angeregt werden; genauso sollen die Seele und der Geist durch die Offenbarung der ästhetischen Idee ergriffen werden;
denn diese Idee stellt jene innerste Angelegenheit dar, die die künstlerische Darstellung in sinnlich
wahrnehmbare Formen übertragen soll.“21
In der Übersetzung erweist sich dieser Text als eine Darstellung, die alle wesentlichen Momente
der romantischen Musikanschauung, wie sie in den 1820er Jahren das Denken und Schreiben über
Musik in Deutschland beherrschten, in sich vereinigt. Die „Offenbarung der ästhetischen Idee“ garantiert, daß auch die Musik einen Anteil am metaphysischen Wertmaßstab erhält, an jener Kraft,
mit der sich, so 1804 der Kant-Schüler Michaelis, „die Musik über den ängstlichen Mechanismus
ihrer materiellen Bestandtheile zu dieser Höhe emporschwingt“22. Für Stoepel beginnt diese „höhere Sphäre der Musik dort, wo das Wort nicht mehr ausreicht“23.
In Frankreich, das in seiner Musikanschauung ganz den ästhetischen Positionen der Aufklärung
mit ihrem „esprit d’observation et d’analyse“24 verpflichtet war,
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Essai sur la poétique de la musique instrumentale, a.a.O., S. 327: „Dans le domaine des arts, toute conception
doit être le produit d’un sentiment intime, dont l’exécution doit porter la visible empreinte. C’est dans la liaison la
plus étroite possible de l ’ i d é e et de l a f o r m e que réside la véritable essence du beau . Plus la f o r m e est
l’image vivante et animée de l ’ i d é e , plus l’artiste s’est approché du suprême degré du b e a u . [ …] Dans
toutes les jouissances que donnent les arts, les sens matériels ne doivent pas seuls être affectés; il faut que l’âme et
l’esprit soient également saisis par la manifestation de l’idée esthétique; car c’est cette i d é e qui est précisément
ce q u e l q u e c h o s e d ’ i n t i m e que l’exécution s’attache à traduire en f o r m e s s e n s i b l e s . “ (Hervorhebungen orig.)
[Christian Friedrich] Michaelis: Über den Geist der Tonkunst, in: AMZ 6 (1803-1804), Sp. 831; hier zit. n. Bernd
Sponheuer: Musik als Kunst und Nicht-Kunst. Untersuchungen zur Dichotomie von ‘hoher’ und ‘niederer’ Musik
im musikäthetischen Denken zwischen Kant und Hanslick (=Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 30), Kassel
u.a. 1987, S. 142.
Essai sur la poétique de la musique instrumentale, a.a.O., S. 330: „…la sphère élevée de la musique commence là
ou la parole se trouve insuffisante“.
Vgl. Fritz Reckow: Richard Wagner und der esprit d’observation et d’analyse. Zur Charakteristik aufgeklärter
Operntheorie, in: AfMw 34 (1977), S. 240; zur Rezeption der deutschen idealistischen Philosophie vgl. Christian
Berger: Phantastik als Konstruktion, a.a.O. (wie Anm. 12), S. 16.
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„La poétique de la musique instrumentale“
mußte ein solches ästhetisches Programm auf Unverständnis, wenn nicht sogar auf Ablehnung stoßen. So verweist „esprit“ als Übersetzung des Wortes Geist weniger auf tiefsinnige Metaphysik, als
auf klare, scharfsinnige Rationalität. Die Vergeistigung der Kunst, eben die von Fétis erwähnte Einführung der „Vorgehensweisen […] der Schule Kants […] in die Musik“25, erscheint so als berechtigter Vorwurf, der in verständnisloser Toposhaftigkeit von der Kritik aufgegriffen wird26. Fétis
selber setzte sich durchaus mit diesen Themen auseinander, so in zwei Aufsätzen De l’expression
musical27 und Sur la philosophie et sur la poétique de la musique28. Aber trotz ihrer so modern
anmutenden Titel schreibt er auch dort nur das Gedankengut der Ästhetik des 18. Jahrhunderts fest:
„Mit einem Wort, wir glauben, daß die Musik die Natur nachahmen muß.“29
Wir brauchen nicht davon auszugehen, daß Stoepel dieses Problem bewußt war. Auch in
Deutschland wurde „der romantische Coup einer radikalen ‘Vergeistigung’ der Musik“30 zurückgenommen in die „Innerlichkeit des Musikalisch-Poetischen“31. Die „idée poétiqe“, die poetische
Idee erleichterte die schwierige Gratwanderung zwischen der Scylla eines mehr und mehr entsinnlichten „bloßen Werkzeuges des Absoluten“32 und der Charybdis einer „forme pittoresque“, die im
schlimmsten Fall zur bloßen Lautmalerei wird. Die poetische Idee läßt die Musik an jenem höheren
metaphysischen Ideenreich teilhaben, ohne dabei auf ihre sinnlichen Ausdrucksmöglichkeiten verzichten zu müssen. So zielt Stoepels oben zitierter Satz von den höheren Sphären der Musik auch
weniger auf die metaphysische Betrachtung als auf die „sentiments intime“, die in Deutschland seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts als
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Revue musicale 1 (1927) Nr. 5, S. 132; vgl. Anm. 13.
Vgl. Édouard Fétis: Concert donné par M. Hiller, in: Revue Musicale Bd.11, Nr. 44 (10.12.1831), S. 352 f: „[…]
de réaliser dans la musique un certain genre philosophique que Schiller et surtout Goethe ont introduit dans la
littérature et dans la poésie allemande. […] une pensée métaphysique serait toujours au-dessus de la pensée
musicale […] il s’agit moins de plaire à l’oreille que de satisfaire l’esprit […] On ne peut douter que Beethoven,
dans les dernières années de sa vie, n’ait considéré la musique sous le même aspect […] Une idée plus ou moins
métaphysique domine chacune des ces compositions; et suivant la nature du caractère allemand, cette pensée
tourne presque toujours vers la contemplation et la rêverie. De là, le défaut de proportion qu’on remarque dans la
plupart des morceaux, la longueur démesurée de ceux-ci… de là enfin le peu de succès […] auprès des musiciens
[…] qui y cherchent avant tout des sensations agréables ou des émotions passionnées.“
In: Revue musicale Bd. 1, Nr. 13 (März 1827), S. 317-324.
In: Revue musicale, Bd. 3 (Februar - Juli 1828), S. 409-416.
De l’expression musical, a.a.O., S. 322: „En un mot, nous pensons que la musique doit i m i t e r la nature.“
Bernd Sponheuer, a.a.O., S. 155.
Ebda., S. 162.
Ebd.a, S. 156.
Christian Berger
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„Ausdruck der Empfindung“ ein Topos der Musikliteratur war33: „das Herz ist es, das die Musik
ohne Worte versteht; denn das Herz versteht in dem Moment, wo es berührt wird.“34 Stoepel
spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von der Musik „comme pur art des tons“35, Thibauts
„Reinheit der Tonkunst“ wird ausdrücklich zitiert, wohl nicht zufällig aus dem Kapitel „Ueber den
Effect“: „Die Musik soll alle Zustände der Empfindung, des Gefühls und der Leidenschaften darstellen, aber poetische, also nicht, wie sie sich in der Entartung, sondern in der Kraft und Reinheit
verhalten.“36 Wohlweislich unterschlägt Stoepel im weiteren Thibauts moralisierende Ausfälle
gegen die Oper.
3. Die französische Position
Auch Berlioz37 spricht in einem frühen Aufsatz über klassische und romantische Musik im Zusammenhang mit der Instrumentalmusik Webers und Beethovens von den „poetischen Gedanken,
die sich überall zeigen“38. Aber er meint wiederum keine reine, absolute Musik, sondern ein „genre instrumental expressive“39. Er greift zwar auf die Vorstellung von den höheren Ideen zurück, um
die Vorzüge der Instrumentalmusik zu preisen, aber diese Metapher bleibt nur ein unverbindlicher
Topos40. Dagegen hatte er kurz zuvor aufgezeigt, welche konkreten Vorteile die vielgepriesene
Vagheit der Instrumentalmusik habe: „Dies ist eine Musik, die ganz auf sich gestellt ist. …Der
Komponist ist nicht mehr genötigt, auf die begrenzten Möglichkeiten der
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Vgl. Arno Forchert: Studien zum Musikverständnis im frühen 19. Jahrhundert , Habil.Schrift Berlin 1966 (Ms.), S.
94 ff.
Stoepel, Essai sur la poétique de la musique instrumentale“ a.a.O., S. 330: „[…] car le cœur comprend aussi la
musique sans parole, car le cœur comprend du moment qu’il est touché.“
Ebda.
Anton Friedrich Justus Thibaut: Über Reinheit der Tonkunst , Freiburg i. Br. u. Leipzig 7. Auflage 1893 (1. Aufl.
1825, 2., rev. 1826; Nachdr. mit dem Vorwort von K. Bähr zur 3. Aufl. von 1851, Darmstadt 1967), S. 50.
Stoepels Übersetzung a.a.O., S. 56: „La musique, - dit le spirituel Thibaud [sic!], - doit peindre toutes les nuances
des sensations, du sentiment et des passions, mais d’une manière toute p o é t i q u e ; elle doit les peindre, non
telles qu’elles se montrent dans leur état de dégénération, mais dans leur moment de vigeur et dans leur état de
pureté.“ (Hervorhebg. orig.)
Vgl. Kathrin K. Reeve, a.a.O. (wie Anm. 10), S. 168 ff.
Hector Berlioz, Aperçu sur la musique classique et la musique romantique, in: Le Correspondant Tome III, Jg. 2,
Nr. 14 (22.10.1830), S. 112 (abgedr. in: Gérard Condé (ed.): Hector Berlioz. Cauchemars et passions, Paris 1981,
S. 98): „…on reconnaît une pensée poétique qui se manifeste partout.“
Ebda., S. 111 (ed. G. Condé, S. 97).
Ebda., S. 112 (ed. G. Condé, S. 98): „on est transporté dans une sphère d’idées plus élevée“
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„La poétique de la musique instrumentale“
menschlichen Stimme Rücksicht nehmen zu müssen. Daher rühren die außerordentlichen Wirkungen, die fremdartigen Eindrücke, die unbeschreiblichen Erregungen, die die Symphonien, Quartette, Ouverturen, Sonaten von Weber und Beethoven erzeugen.“41 Hier ist die „höhere Idee“ ganz
konkret in einen dramatischen Verlauf eingebunden, der vor allem den Hörer fesseln, ihn mitreißen
und begeistern soll.
Ein gewisser Delaire spricht 1830 in seinem in der Revue musicale erschienenen Essai Des innovations en musique von den „sentiments“, die Beethoven durch seine Werke darstelle. Aber diese
„sentiments“ sind nicht der Ausdruck innerer Empfindungen wie bei Stoepel, sondern es sind die
„émotions“, die durch seine Musik zum Leben erweckt werden: „Mit welcher Hitze Beethoven sein
Sujet anzugehen versteht: er läßt die Aktion immer ungestümer werden, je weiter sie dem Höhepunkt zutreibt, bis zur völligen Explosion. Das ist ein tosender Vulkan, das ist wie glühende Lava,
die alles auf ihrem Weg mitreißt.“42
Und Joseph d’Ortigue schreibt 1833, daß sich in Deutschland die Instrumentalmusik der dramatischen Musik bemächtigt habe und daß sich im Werk Beethovens beide zu einer individuellen
Schöpfung vereint hätten43. Beethoven wird hier zum Vollender einer Palingénésie musicale, einer
Wiedergeburt der Musik durch die Kraft der Instrumentalmusik. So wird er zum Helden des Kampfes, den die französischen Künstler der 1830er Jahre gegen einen „seit zwei Jahrhunderten das kulturelle wie politische Leben bestimmenden Klassizismus“44 führten. Dabei war die Oper geradezu
ein Symbol der bekämpften Denkweise, wobei sich hier wiederum politische und künstlerische Motive untrennbar miteinander vermischen. Denn, so Bailbé, um 1830 war der Besuch der Opéra auch
ein Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, der neu an die Macht gekommenen
Bourgeoisie. Mit all ihrem Pomp und ihrer Feierlichkeit wurde die Oper zu einem sozialen Ritus, in
dem sich die Bourgeoisie allen politischen
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EbdA.: „C’est la musique livrée à elle-même […] le compositeur n’étant plus obligé de se restreindre à une
étendue aussi bornée que celle de la voix humaine […] De là les effets extraordinaires, les sensations étranges,
les émotions inexprimables que produisent les symphonies, quatuors, ouvertures, sonates de Weber et de
Beethoven.“
J. A. Delaire, Des innovations en musique, in: Revue Musicale Bd.7, S. 71 (20.2.1830): „comme il sait échauffer
son sujet, et rendre l’action plus impétueuse à mesure qu’elle avance vers le dénouement et jusqu’à l’explosion
générale. C’est un volcan qui mugit, c’est une lave qui coule et brûle tout sur son passage!!“
Joseph d’Ortigue: Palingénésie musicale. Deuxième partie, in: L’Artiste 6 (1833), S. 237 f: „En suivant cette
marche palingénésique, nous voyons, en Allemagne, la musique instrumentale s’emparer de la musique
dramatique, et réunir dans Beethoven ces deux inspirations à l’inspiration individuelle […]“
Norbert Miller: Musik als Sprache. Zur Vorgeschichte von Liszts Symphonischen DIchtungen, in: Beiträge zur
musikalischen Hermeneutik , hg.v. Carl Dahlhaus (=Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 43), Regensburg 1975, S. 282.
Christian Berger
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und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zum Trotz festlich darstellte45. Nicht die Oper selbst, sondern
dieses Geflecht aus Politik und Kultur bekämpften die Künstler jener Jahre. In diesem Kampf war
das Werk Beethovens, das von Anfang an mit seiner dramatischen Wirkungsweise so viel Aufsehen
erregt hatte, ein dankbares Objekt, um an ihm die neuen Anschauungen und Ideale darzustellen, die
in ihrem Kern den Erfordernissen der Oper immer verhaftet blieben.
Demgegenüber war der Versuch Stoepels, die Kunst in den Rahmen einer „ästhetischen Erziehung“46 zu stellen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Für uns geht es nun aber darum, in der
Auseinandersetzung mit dem Werk Beethovens diejenigen Anstöße herauszufinden, die in der Folge für die französische Musik bedeutsam wurden. Die Konzeption eines Werkes wie etwa der Symphonie fantastique wird erst vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund verständlich47. Für die
jungen Künstler jener Jahre, so noch einmal Joseph d’Ortigue, war Beethoven „die Personifikation
einer Epoche, die in sich den Keim einer neuen enthielt, der Zeit einer Besinnung auf vergangene
Traditionen und zugleich der Zeit des Aufbruchs zu neuen Ufern; die Künstler jener Jahre müssen
sich Rechenschaft ablegen über ihre Lage durch eine Besinnung auf die gegenwärtige soziale Bewegung, die allgemeine Krise, deren Auswirkungen in den Künsten spürbar werden. […] Sie sollen
schweigend auf die Stimme der Welt horchen […] und, sofern sie Genie haben, zum Gesetzgeber
werden.“48
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47
48
Joseph-Marc Bailbé: Berlioz et l’art lyrique. Essai d’interprétation à l’usage de notre temps (Europäische
Hochschulschriften Reihe 36, Bd. 2), Bern u. Frankfurt 1981, S. 43: „Autour de 1830, l’Opéra sert de critère
d’accession à une classe sociale, la bourgeoisie, et à un régime qui s’impose en fonction d’impératifs
économiques pressants et de mouvements popularies qui appellent des interventions ponctuelles désordonnées
[…] L’art lyrique devient un rite, une initiation […]“
Vgl. Norbert Miller, a. a. O., S. 281.
Vgl. Christian Berger: Phantastik als Konstruktion, a. a. O. (wie Anm. 12), S. 73 ff.
Joseph d’Ortigue, a.a.O. (wie Anm. 43), S. 240: „[Les jeunes artistes] regardent en quelque sorte Beethoven
comme la personnification d’une époque renfermant le germe d’une époque nouvelle, à la fois ère de retour vers
les traditions passées, ère d’avancement vers les progrès futurs; qu’ìls cherchent à se rendre compte par l’étude et
la méditation de ce mouvement social, de cette crise universelle dont le contre-coup se fait ressentir dans les
arts[…]; qu’ils y écoutent silencieusement la voix du monde […] et, s’ils ont du génie, ils deviendront
législateurs.“

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