Die Neue Musik als Kaufhaus
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Die Neue Musik als Kaufhaus
8 No. 12/2016 — Décembre 2016 F O C U S Revue Musicale Suisse Die Neue Musik als Kaufhaus fotomek/fotolia.com Was man im Supermarkt moderner Klänge alles erstehen kann: Auszug einer Einkaufsliste für ein mehr oder weniger bekömmliches Menü. Jonas Reichert — Die Neue Musik ist ein Kaufhaus. Wir haben uns daran gewöhnt, mit der Selbstverständlichkeit eines zielstrebigen Konsumenten oder einer zielstrebigen Konsumentin hineinzugehen, uns an den vielfältigen Angeboten zu erfreuen und daraus zu bedienen, als gäbe es kein Morgen. Halten wir eigentlich noch inne, um das Konsumieren selbst zu geniessen? Brot Gut für Körper und Seele ist nicht nur ein vollwertiges Bio-Vollkornbrot, sondern sind es auch die sphärischen Klänge von Georg Friedrich Haas. Hier und dort wird das Herz berührt. Doch sollte man beide immer äusserst langsam geniessen, sonst kommt der Spektralklang nicht zustande und die Gluten-Intoleranz meldet sich zurück. Haas’ jüngstes Streichquartett, komponiert 2014, beginnt mit einem Fugato. Ganz klassisch setzen nacheinander Bratsche, Violine, Cello und Violine ein. Sie alle bewegen sich aber in diesen körnig-reibenden Mikrointervallen, mit denen Haas schon lange experimentiert. Im 8. Streichquartett schreibt er nun Melodien damit, dieses Fugato etwa, das nach und nach eine Sogwirkung auf einen einzelnen Ton hin entwickelt. Platz machen sich die vier Instrumente dort, indem der eigentlich gemeinte Ton mikro intervallisch umspielt wird. Leicht ironisch nennt Haas das «cantus infirmus». Der Cantus surrt immer weiter, wird mal zweistimmig mal vierstimmig aufgespalten, bis ein statischer Klang erreicht wird, der in der Partitur mit «lux veritatis» überschrieben ist. Es ist Haas’ Lieblingsakkord: ein Durakkord mit kleiner Septime, der aber nicht aus unserem temperierten Tonsystem stammt, sondern vom Obertonspektrum eines Tons abgeleitet ist. Die Terz und Septime sind zu klein, die Quinte zu gross. Zum «Licht der Wahrheit» gesellt sich am Ende noch eine Ode von Hölderlin, die weder gesprochen noch gesungen wird. Haas lässt uns zwar teilhaben an seiner erleuchteten Wahrheit, aber so ganz wissen wir nicht, was damit eigentlich gemeint ist. Was uns am Vollkornbrot gut F O C U S Schweizer Musikzeitung tut, das wissen wir ja auch nicht so genau. Hauptsache, es schmeckt. Wein Jörg Widmanns Musik gleicht einem vollmundigen Bordeaux alten Jahrgangs. Man lehnt sich zurück, schwenkt das Glas, und geniesst es, wieder einmal sein Geld für die wirklich wichtigen Sachen im Leben ausgegeben zu haben. Widmanns Viola-Concerto hatte 2015 seine erste Aufführung vor einem geniessenden Publikum in der Pariser Philharmonie. Dass Antoine Tamestit, der Solist des Abends, versteckt neben den Harfen sitzend mit seinem Spiel anfing, beunruhigte die Zuhörerinnen und Zuhörer kaum. Vielmehr gefiel ihnen dieser ungewöhnliche Beginn. Tamestit strich nicht einfach die Saiten seines Instruments, sondern klopfte und wischte auf Kinnstütze und Griffbrett der Bratsche. Eine archaische Szenerie war da zu beobachten, als würden die Anfänge des homo musicum erzählt. In Widmanns Viola-Concerto wird das exotisch Andere durch das Theatrale vermittelt und aufgesogen. Irgendwann hält der Bratschist seinen Bogen gemäss Partitur «wie in einer rituellen Handlung, quasi wie ein heiliges Schwert, nach oben» und schleudert ihn durch die Luft. Später stimmen Solo bratsche und Bassflöte ein Duett an, das nach einem «orientalischen Märchenland» klingen soll. Exotismus vom Feinsten. Aber keine Sorge, am Ende kommt die europäische Zivilisation zurück, mit einem Molto adagio wie es Mahler nicht besser hätte schreiben können. So eignet sich dieses Stück die Früchte anderer Musikkulturen an und giesst diesen neuen Wein in alte Schläuche, auf dass das Andersartige genussfähig werde. Nachtisch Zum Nachtisch wird das Kind in uns mit einem Überraschungsei belohnt. Schokolade und Spielzeug in einem: eine so simple und doch die Ordnung der Welt in ihren Grundfesten erschütternde Idee. Der deutsche Fiskus ist immer wieder überfordert vom braunen Oval aus dem Hause Ferrero: Soll es als Nahrungsmittel oder als Spielzeug besteuert werden? In den USA ist das Verkaufen eines Überraschungseis sogar strafbar, es sei denn, es handle sich um das US-amerikanische Ei. Dort sieht man durch eine Ritze, was die kleine Schoko-Welt im Innersten zusammenhält: den gelben Spielzeug-Nukleus nämlich. Die faustsche Neugierde des Kindes schlägt dann offenbar nicht in einen hemmungslosen Fressakt um, an dem es ersticken könnte. Erstickungsgefahr geht von den Konzept-Komponistinnen und -komponisten wohl eher nicht aus. Doch wie beim Überraschungsei, das sich den Kategorien entzieht, weiss man auch beim «Neuen Konzeptualismus» nicht so genau, woran man eigentlich ist: Musik, Aktion, Politik? Man stellt sich die alte Oder-kann-das-weg-Frage. Für Überraschung sorgt der Neue Konzeptualismus allemal: Johannes Kreidlers Blossstellung der Gema-Bürokratie mit seiner Aktion Product Placement war ein kleines Medienspektakel. Trond Reinholdtsen performt gerne mittendrin statt nur dabei und wirft sich in den Kurz videos seiner Norwegian Opra mit schrill-bunten Kostümen in Schale. Patrick Frank hat in der Zürcher Fassung seiner «Theorieoper» Freiheit – die eutopische Gesellschaft den Star-Philosophen Slavoj Žižek «mitkomponiert», was der etwas in der Luft bleibenden Gesellschaftskritik die nötige Schwere gibt. Das Ganze wird pikant angereichert mit den «dirty jokes», die Žižek so gut erzählt. Nur die Musik – und das gilt für den Konzeptualismus insgesamt – spielt auf einmal keine so grosse Rolle mehr: eben nur noch in jedem siebten Ei. Tee Wenn nach so viel Kreuz-und-quer-Essen der Bauch schmerzt, dann hilft nur noch Fencheltee. Sind dagegen die Ohren verstopft, geplagt von der alltäglichen Noise pollution, dann hilft nur noch Mark Andre. Sein Komponieren versteht er als eine Suche nach dem Verschwinden und nach den Zwischenräumen, die das Verschwinden hinterlässt. In seiner die Grenze des Unhörbaren berührenden Musik geht der Lärm der Welt in krachender Stille unter. Höchst philosophisch ist das Ganze und bei Andre vor allem religiös konnotiert. Denn für ihn ist derjenige, der dort verschwindet, kein Geringerer als Jesus von Nazareth. Den Zustand des Auferstandenen deutet Andre als einen Zustand im Zwischenraum: Noch nicht ganz zur Rechten Gottes, aber auch nicht mehr wirklich auf Erden. Die Worte, die er an Maria Magdalena vor seinem Grabe richtet, «noli me tangere», werden zum kreativen Antrieb: Das unberührbare Verschwindende, das berührt werden will, bleibt unberührbar und wirkt doch künstlerisch produktiv. Mark Andres Stücke tragen bereits in ihren Titeln den Zustand des Zwischenraums: üg (Akronym für «Übergang»), ...zu..., durch, über. Die Kompositionen sind dann musikalische Übergänge. Zu Beginn von über für Klarinette und Orchester, 2015 in Donau eschingen uraufgeführt, geht der geräuschhafte Klang des Ein- und Ausatmens des Klarinettisten durch Unterblasen in einen harmonischen Unterton über. Später gehen die lange ausklingenden Fermaten-Klänge des Orchesters in rhythmisch konturierte Impulse über. Der Moment grösster Überwältigung ist jedoch – paradoxerweise – der leiseste Moment des Stückes. Er holt die Transzendenz in die Welt zurück, um diese dann wieder zu übersteigen. Das Weltliche, das sind die Namen der Musikerinnen und Musiker des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, die flüsternd durch die Lautsprecher wandern, als befänden sie sich vor ihrem Verschwinden: Das Orchester fusionierte 2016 zum SWR Symphonieorchester. Das Transzendente aber ist die Verwandlung des Flüsterns in das Rauschen des Wüstenwindes vor Jerusalem. Der Klarinettist haucht sich zum Duett mit der Luft der heiligen Stadt. Am Ende versinkt das Stück in geballte Stille, in der alle Musikerinnen und Musiker für sich den Segensspruch aus dem 4. Buch Mose lesen: «Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Dir und sei Dir gnädig.» Es ist nicht nur ein Gebet für den verstorbenen Leiter der Donaueschinger Musiktage Armin Köhler, sondern auch intimste Transzendenzerfahrung im Zwischenraum vor dem Applaus. *** Durch das Kaufhaus der Neuen Musik wandelt ein Hörer, der alles zu sich nimmt, was er zu Gehör kriegen kann. Tolerant ist dieser Hörer, offen für neue Klänge und immer über die aktuellsten Tendenzen informiert. Gedankenverloren und ohne Widerspruch gibt er dabei sein Geld aus. Jonas Reichert … ist Student der Musikwissenschaft und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und schreibt derzeit seine Masterarbeit über die Kontingenz der Neuen Musik. Nr. 12/2016 — Dezember 2016 Musique et supermarché Résumé: J.-D. Humair — La nouvelle musique est un supermarché. Nous y sommes habitués en tant que consommateurs qui puisons ce qui nous plaît dans une offre pléthorique. Un pain bio aux graines est aussi bon pour le corps et l’âme que les sonorités éthérées de Georg Friedrich Haas, mais il faut savoir les savourer lentement, sinon on risque l’intolérance – aux sons comme au gluten. Le dernier Quatuor à cordes de Haas (2014) commence par un fugato. Les instruments jouent en micro-intervalles, pratique courante chez l’auteur, qui peu à peu se rejoignent autour d’un seul son. On aboutit à l’accord préféré de Haas, un accord majeur avec une septième mineure, joué dans des intervalles naturels, où la tierce et la septième sont abaissées et la quinte un peu trop large. Audessus de cet accord, il indique « lux vertitatis » dans la partition. Après cette lumière de vérité vient une ode de Hölderlin qui n’est ni parlée ni chantée : Haas laisse planer le mystère. Comme dans le pain bio, cela nous fait du bien même sans trop savoir pourquoi. La musique de Jörg Widmann fait penser à un vieux millésime de Bordeaux. Son Concerto pour alto a été créé à Paris en 2015. Le soliste Antoine Tamestit a commencé discrètement, assis derrière la harpe, à frapper et à frotter diverses parties de son instrument, comme s’il le découvrait de manière théâtrale. La partition lui indique d’ailleurs par endroit de tenir l’archet comme un objet rituel ou comme une épée. A la fin revient la civilisation occidentale, dans un molto adagio qui aurait pu sortir de la plume de Mahler. Le travail de Johannes Kreidler fait, lui, penser aux œufs-surprises vendus par un fabricant connu de produits chocolatés. Faut-il les considérer comme des jouets ou comme des confiseries ? L’œuvre Product Placement de Kreidler est à la frontière entre musique, action et politique : elle réunit 70 200 extraits de musique, et a nécessité 70 200 formulaires pour être déclarée à la GEMA (l’équivalent allemand de la Suisa). Pour digérer tout cela, rien ne vaut une tisane de fenouil. La musique de Mark Andre en est l’équivalent pour les oreilles. Elle se situe à la limite de l’audible, dans une connotation à la fois philosophique et religieuse, car en référence aux paroles « noli me tangere » (ne me retiens pas), que Jésus aurait prononcées à Marie-Madeleine à sa résurrection, les sons sont à moitié inaudibles, comme intouchables, impalpables. Les titres des morceaux indiquent eux aussi une forme de transition entre deux états : …zu…, durch, über (soit … vers…, à travers, sur). Dans ce supermarché de la musique, un auditeur déambule, et se sert dans les rayons de ce qui lui fait envie. Ouvert à la nouveauté, informé aussi, il n’hésite pas à dépenser pour son plaisir. 9