Dann träumt mal schön
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Dann träumt mal schön
WIRTSCHAFTS−MAGAZIN Nr. 98 / Rhein-Neckar-Zeitung Dienstag, 29. April 2014 25 Dann träumt mal schön ... Wenn die Uhr zunehmend die Funktion als Zeitmesser verliert, wofür braucht man sie dann noch? – Sinnsuche auf der Baselworld Von Manfred Fritz Nostalgie pur: Eindrücker-Chronograph von Longines, der auf eines der frühesten Modelle mit Stoppvorrichtung zurückgeht, heute mit modernem Automatikwerk. Auch die Omega Seamaster 300 gab es so ähnlich schon einmal, heute hat sie ein extrem antimagnetisches, modernes Uhrwerk. Am deutlichsten spricht es seit Jahren Jean-Claude Biver aus: Wer eine Uhr zum sekundengenauen Ablesen der Zeit will, soll sich eine Swatch für 50 Euro kaufen. Der Mann ist vom Fach. Er hat vor vielen Jahren für 22 000 Franken den Namen Blancpain gekauft, die Firma mit viel Tamtam zum Laufen gebracht und für 60 Millionen an die Swatch Group verkauft. Diese engagierte ihn – und Biver stellte für Nicolas Hayek die dahindümpelnde Omega im Weltmarkt neu auf. Dann ging er zur Konkurrenz und machte aus Hublot eine trendige Luxusuhr. Sein erstes Erfolgsmodell hieß nicht grundlos Big Bang. Groß und knallig. Das Messgerät am Arm als Talisman, als Lifestyle-Produkt, der Zeitmesser als Statusanzeiger, als Transponder von Träumen, Emotionen und Wünschen. Auch Bivers Produkte, darunter die neueste, die Uhr der Fifa zur Fußball WM in Brasilien mit retrograden Stoppzeiten für die zu spielenden Halbzeiten (s. Bild) beginnen alle preislich weit jenseits vom Diesseits. Ein Schwarm von Promis als Markenbotschafter und eine innovative Produktion in Nyon wollen bezahlt sein. Komplikationen zweite Zeitzone, Zeigerdatum und Stoppfunktion zu einem absoluten Perfektionsgrad gereift. Die zwei Chronographen-Tasten befinden sich an der rechten Gehäuseflanke. Die zwei Drücker zum stundenweisen Vorund Zurückstellen der Ortszeit sind unauffällig in das linksseitige, jetzt geteilte „Scharnier“ des maritimen und bis 120 m wasserdichten Gehäuses gewandert. Ein sportlich-eleganter Uhrentraum am makellos gearbeiteten Stahlband (s. Foto). Auch wenn er ohne Lottogewinn unerreichbar erscheint. Bleiben wir sportlich, aber mehr in Bodennähe: Omega, die Marke der Swatch Group, die sich mit ihren derzeit in Asien stark nachgefragten mittleren Preis- ramik-Zifferblatt und nostalgisch anmutender Superluminova-Leuchtmasse. Das Master-Koaxial-Kaliber 8400 hat aufgrund amagnetischer Materialien eine Magnetfeldresistenz bis 15 000 Gaus bzw. 1,5 Tesla. Für eine Serienuhr Rekord. Für die Stahlvariante mit Verlängerungsband nimmt Omega 4850 Euro. Der Gigant unter den Anbietern von Taucheruhren, nämlich Rolex, bringt seine Sea Dweller im 40-mm-Gehäuse wieder, die bislang von der mächtigen und überschweren Deep Sea abgelöst worden war. Eigentlich ein Profi-Instrument. Da aber viele Rolex-Freunde nur zur Sea Dweller gewechselt waren, weil sie auf die unbeliebte Datums-Lupe des ikonischen Modells Submariner verzichten wollten, Blonde Neuerwerbung Können Sie Rechenschieber? Die Breitling Navitimer mit Chronograph lässt sich auch als Rechenmaschine benutzen. Früher war das für Piloten wichtig. Ein neu konstruiertes Chronographenwerk treibt die Senator mit Panoramadatum von Glashütte Original an, auch eine Gangreserveanzeige ist integriert. Auf der Baselworld präsentierte er die blonde Neuerwerbung Maria HöflRiesch. Auch sie trägt neben ihren Goldmedaillen aus Sotschi jetzt dienstlich Hublot in Gold. Und es funktioniert. Biver, extrovertiert und stets im blauen Sennerkittel, verkauft teure Träume. Die 50 Tonnen Käse, die er nebenher auf der eigenen Alm erwirtschaftet, verschenkt er. Teuer sind auch andere, die Uhren machen. Und die Zahlen widerlegen die Annahme, die Uhr am Arm befinde sich in ihrer Endzeit-Phase. Aber richtig ist schon, dass sie einem Bedeutungswandel unterliegt. Wir wollten in Basel auf Sinnsuche gehen und nach Uhren forschen, die möglichst viele Wünsche erfüllen, unabhängig davon, ob man sie sich leisten kann oder nicht. Und da war der Branchenprimus Patek Philippe, der 2014 seinen 175. Geburtstag feiert, auch die erste Adresse. Die „sensationelle“ Neuheit wird zwar erst im Oktober in Genf enthüllt. Aber nach Basel hatte man neben dem Jahreskalender-Chronographen im Stahlgehäuse (41 320 Euro) als echte Neuheit die Sportuhren-Ikone des Hauses, die Nautilus Travel Time Chronograph (Ref. 5990_1A/43 160 Euro) mitgebracht. Das Kultmodell von 1976 im Bullaugen-Design ist mit den harmonisch integrierten tikwerk der konzerneigenen ETA, Datum, nachtleuchtende Birnenzeiger und arabische Ziffern. Etwas extravaganter der Eindrücker-Chronograph in Stahl oder Rotgold mit roter römischer XII und außen schönen Bügel-Anstößen für das Lederband. Er basiert auf dem ersten Chronographen der Marke, wird aber heute von einem modernen Automatikwerk angetrieben. Glashütte Original, ebenfalls eine Tochter der Swatch Group, ist für seine aufwändigen mechanischen Konstruktionen im Stil der sächsischen Uhrenmetropole bekannt und bringt ein wenig den deutschen Akzent in den Schweizer Konzern. Mit einem neuen Chronographenwerk 37-01 treibt sie den sehr ansehnlichen Senator Chronograph mit Panoramadatum an, eine Flyback-Funktion und Gangreserve sind an Bord der 26 000 Euro teuren Uhr in Rotgold. Letzte Jahr hatte die konzernunabhängige Oris aus Hölstein bei Basel mit einer Taucheruhr überrascht, die einen einfachen, aber funktionalen Tiefenmesser an Bord hat. Diesmal feiert die für solide Uhren bekannte Manufaktur ihr 110-jähriges Jubiläum mit einem eigenen Handaufzugwerk (Cal. 110) mit zehntägiger Gangreserveanzeige. Den Mond vor Augen Zwei Topstars von Basel: Hublot baut die offizielle Uhr der Fußball-WM (l.) in einem kühnen Materialmix aus Karbon, Keramik, Kautschuk und Gold. Mit ihr kann man die Dauer der Halbzeiten stoppen; Schiedsrichter werden den Edel-Ticker aber kaum tragen. Rechts die neue Nautilus von Patek Philippe mit Chronograph, Datum und zweiter Zeitzone. Bilder: Werksfotos lagen im Aufwind befindet, machte vor allem mit zwei Retro-Modellen Eindruck: Dem technisch modernisierten Armband-Chronographen Speedmaster Mark II, den es im bis 10 bar druckfesten Stahlgehäuse mit schwarzem oder grauem Zifferblatt für 4600 Euro zu kaufen gibt; Automatikwerk mit Koaxial-Hemmung (Cal. 3330, umgebautes ETA-Valjoux 7750), Silizium-Spiralfeder und Chronometer-Zertifikat inklusive. Neu ist die nachtleuchtende TachymeterSkala. Mit 42,4mm Durchmesser und 181g Gewicht ein schönes Stück Uhr im Stil der 70er Jahre für das etwas selbstbewusstere Handgelenk. Noch weiter zurück, nämlich bis 1957, geht der neu aufgelegte Klassiker Seamaster 300, eine ausgewogene Taucheruhr (ohne Datum) im 41mm-Gehäuse, druckfest bis 30 bar, mit schwarzem Ke- ist ihre Welt jetzt wieder in Ordnung – für 8350 Euro. Retro ist auch bei Breitling angesagt, wo die Fliegeruhren-Ikone Navitimer von 1952 Auferstehung feiert, eine bei Sammlern sehr beliebte Uhr mit kreisrundem Rechenschieber, den vermutlich die wenigsten Nutzer brauchen oder bedienen können. Die 46 mm Gehäusegröße, die das Chronographenwerk 01 schützen, kommen der Ablesbarkeit des Bordinstruments zugute, das 6870 Euro kostet und das es auch mit GMT-Funktion gibt (7650 Euro). Neue-alte Uhren, die den Uhrenliebhaber ansprechen, hat auch die Swatch Group-Tochter Longines im Programm, etwas das Stahlmodell Heritage 1935 mit seiner gerändelten Lünette, perfekt ablesbar, mit allem, was eine alltagstaugliche Uhr braucht: Großserien-Automa- Eine andere Neuheit hat uns mehr fasziniert: Die Artix Pointer Moon (1900 CHF), mit einer um das ganze Zifferblatt umlaufenden Zeigeranzeige für die Mondphase, die sogar zweimal in 24 Stunden geschaltet wird. Deutlicher kann man den Erdtrabanten nicht vor Augen haben. Reden wir jetzt, nach soviel Rückgriff auf die gute alte Zeit, noch von wirklich Neuem: Seit Tissot 1999 die erste elektronische, multifunktionale T-Touch mit Sensorbedienung herausgebrachte, hat uns diese eierlegende Wollmilchsau unter den Handgelenksinstrumenten immer wieder fasziniert. Die neue Tissot TTouch Expert Solar im schwarz beschichteten Titangehäuse macht die Sache jetzt perfekt und die Uhr unabhängig von Batteriestrom. Wasserdicht bis 10 bar wartet sie mit der bekannten Fülle von Funktionen auf, als da wären: Ewiger Kalender, Datums- und Wochentagsanzeige, zwei Alarmfunktionen, zwei Zeitzonen, Luftdruckmesser, Höhendifferenzmesser, Split-Chronograph, Kompass – und natürlich Uhrzeit. Und Hintergrundbeleuchtung gibt es auch dazu. Je nach Band verlangt Tissot ab etwa 800 CHF (ohne Mehrwertsteuer) für den horologischen Einstieg ins Solarzeitalter. Da könnte man glatt schwach werden. Die sächsische Unabhängigkeitserklärung Nomos in Glashütte macht sich frei vom Schweizer Monopol mit ihrem eigenen Swing-System Hightech: Die T-Touch von Tissot, deren zahlreiche Funktionen über das Sensorglas angesteuert werden, hat das Solarzeitalter erreicht; Batteriewechsel überflüssig. Großer Mond: Nicht „romantisch“, sondern über einen Zeiger wird bei der Oris Artix Pointer Moon die sichtbare Lichtgestalt des Erdtrabanten im Laufe eines Zyklus dargestellt. Alte Bekannte: Die Sea Dweller von Rolex im 40-mm-Format und jetzt mit Keramik-Lünette kehrt zurück – für alle, die keine Lupe auf dem Datum mögen; wasserdicht bis 1220 m. mf. Vorsicht, jetzt wird es technisch. Schuld daran sind die Uhrenmacher von Nomos in Glashütte. Denn sie wollen partout nicht länger abhängig sein von der mächtigen Schweizer Swatch Group, deren eine Tochterfirma ETA 75 Prozent aller Uhrenmarken mit fertigen Werken, und deren andere Tochter Nivarox sogar 95 Prozent der Hersteller mit den wichtigsten Teilen jedes Uhrwerks beliefert dem Schwingsystem oder Assortiment. Es sorgt dafür, dass die im Federhaus aufgewickelte Federkraft Tick für Tack über einen langen Zeitraum gleichmäßig abgegeben wird. Schweizer Ankerhemmung heißt der Mechanismus, ohne den sich die Feder sofort entspannen würde. Ratsch. Das aber verhindert jenes als Unruh bekannte Drehpendel – in Kooperation mit Spirale, Ankerrad und Anker: Vom Federhaus her steht die Räderkette bis hin zum Ankerrad mit seinen Hakenzähnen unter „Druck“ und will sich drehen. In die Ankerrad-Zähne fallen aber abwechselnd die zwei Rubinpaletten des Ankers ein, bremsen das Rad und zerlegen seine Bewegung in kleinste Schritte. Der Stopp mit der anschließenden Hebung (wenn der Ankerradzahn über die schräge Ankerpalette gleitet und diese „hebt“) lässt das lange Ende des Ankers ausschwingen und gibt (über die sogenannte Ellipse aus Rubin auf dem Unruhplateau) dem Unruhreif einen Schubs. Dabei spannt er die Spirale. Wenn die Unruh (das Pendel) zum Stillstand kommt, zwingt die Spirale den Reif zurück in die andere Richtung, die Ellipse stößt dabei die Ankergabel ebenfalls in die entgegengesetzte Richtung an, wodurch die zweite Ankerpalette in den nächsten Zahn des Ankerrades einfällt. Üblicherweise 28 800 Mal passiert das pro Stunde, fünf Millionen Mal pro Woche. Wenn davon nur ein paar hundert „Schläge“ fehlgehen, geht auch die Uhr nicht genau. Nicht umsonst nennt man diese Partie das Herz der Uhr. Die Swatch Group hat die Belieferung von Fremdfirmen mit diesen Teilen auf den Stand von 2010 eingefroren. Ab 2016 soll weiter reduziert werden. Deshalb haben die Leute bei Nomos, die ihren Erfolg mit Modellen wie Tangente, Tetra, Ludwig, Zürich oder Ahoi weiter steigern wollen, zur Selbsthilfe gegriffen: 11,5 Millionen Euro wurden für Knowhow und Maschinen investiert, um das neu gerechnete Assortiment in eigener Regie herstellen zu können. Sächsische Unabhängigkeitserklärung nennen sie den Schritt zum eigenen „Swing-System“. Beim schwierigsten Teil, der nur 0,05 mm dünnen Spiralfeder, haben sie sich das Knowhow des deutschen Spezialisten Carl Haas gesichert. Die Nomos-Spiralen werden temperaturgebläut, die Werke tragen nun die Signatur: Nomos Glashütte, Deutsche Uhrenwerke, abgekürzt DUW. Das neue Hemmsystem soll sukzessive in alle Modelle – ohne Aufpreis – integriert werden. Um diesem Kraftakt einen eindrucksvollen Rahmen zu geben, erschufen sie auch gleich eine neue Uhr, die erstmals nach Nomos-Art swingt – die Metro im 37 x 7,8 mm großen Gehäuse aus Stahl. Sie tritt großstädtisch auf, stilistisch etwas weg von der ewigen Tangente, mit dem Handaufzugwerk DUW 4401 hinter Saphirglas, einer originellen Gangreserveanzeige in Mint und Rot, neu geformten Zeigern, Datumsanzeige und Bandanstößen in Bügelform (2600 Euro). Der große Messeerfolg des letzten Jahres, die sportive Ahoi mit AutomatikKaliber und Wasserdichtigkeit bis 200m, bekam außerdem Zuwachs: Als Ahoi Atlantik macht sie mit dunkelblauem Zifferblatt und den roségoldenen Indizes eine super Figur. Und der Meerblick kostet nicht mal extra. Ein schöner Zug. Ohne Hemmung, mit dem Unruhreif als Drehpendel und der Spirale, die den Schwung der Unruhe umkehrt, läuft keine Uhr. Die von Nomos entwickelte Baugruppe (r.) wird (umgedreht) dort eingesetzt, wo in der Platine (l.) der sog. Anker endet. Die Unruhschwingungen geben dem Anker Impulse und lassen dessen Rubinpaletten abwechselnd in das Ankerrad einfallen. Dadurch läuft die im (großen) Federhaus gespeicherte Kraft über das Räderwerk gleichmäßig ab. Im Handaufzugswerk der neuen Metro (l.) mit Datum und Gangreserve wird das Nomos-Swingsystem zum ersten Mal eingesetzt. Nach und nach erhalten es auch die anderen Modelle. Rechts die sportliche Ahoi Atlantik, jetzt quasi mit Meerblick bzw. tiefblauem Zifferblatt.