Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, medizinische

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Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, medizinische
Urteilsdatenbank - Medizinrecht - Stand 11.09.2010
LG Münster 171 O 1176/08 vom 17.06.2010
In dem Rechtssteit der Frau … Klägerin gegen Klinik …
Hat die 11. Zivilkammer des Landgericht Münster auf die mündliche Verhandlung vom 17.06.2010 durch den
Vorsitzenden Richter am Labndgericht Dr. Terharn, den Richter am Landgericht Busche-Köckemann und den
Richter Kluth für Recht erkannt:
Die Klage wird abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Tatbestand:
Die Parteien streiten über Ansprüche aus einer angeblich fehlerhaften ärztlichen Behandlung.
Die Klägerin begab sich zur Durchführung einer Strabismusoperation in die stationäre Behandlung der Beklagten.
Diese wurde am 23.01.2008 auf Wunsch der Klägerin unter Allgemeinanästhesie durchgeführt.
Die Klägerin wog bei einer Körpergröße von 158 cm 93 kg. Ferner litt sie unter Refluxbeschewrden und
nahrungsunabhängigem Sodbrennen. Daher entschied der behandelnde Anästhesist sich für eine „RapidSequence Induction―. Hierbei wurde ein Ring-Adair-Elwyn (RAE)- Endotrachealtubus mit einem
Innendurchmesser von 7,5 mm verwandt. Wegen des Strabismus der Klägerin sollte bei der Anästhesie auf
Substanzen, die eine maligne Hyperthermie begünstigen können, verzichtet werden. Daher wurde als
Muskelrelaxans nicht Succinylcholin verwendet, sondern Mivacurium.
Im Laufe der Operation trat bei der Klägerin eine Trachealruptur auf. Dies machte eine posterolaterale
Thorakotomie erforderlich. Dabei enstand der Klägerin eine Narbe auf der rechten Seite der Brust bis zum
Rücken.
Die Klägerin behauptet:
Die Trachealruptur sei auf eine fehlerhafte Verwendung des Trachealtubus zurückzuführen. Da der verwendete
Tubus aus PVC vorgeformt sei, müsse der behandelnde Anästhesist massiv eine falsche Technik angewandt
haben.
Seit der Opertion leide sie an Erschöpfung, erheblichen physischen und psychischen Einschränkungen sowie
Schmerzen im rechten Brustbereich.
Vor der Operation habe sie täglich 6-9 Stunden den Haushalt geführt. Dies sei ihr nun wegen des massiv
reduzierten Allgemeinzustands nicht mehr möglich.
Nachdem die Klägerin angekündigt hatte, neben den nun gestellten Anträgen auch Leistungsanträge zu stellen,
die aur den Ersatz materieller Schäden gerichtet waren, hat sie ihre Klage umgestellt und diese Anträge mit
einem Feststellungsantrag verbunden.
Die Klägerin beantragt nun,
die Beklagte zu verurteilen, an sie ein ausdrücklich in das Ermessen des erkennenden Gerichts gestelltes
Schmerzensgeld nebst 5 % Zinsen … zu zahlen, nicht unter 35000 €,
…
Die Beklagte beantragt die Klage abzuweisen.
Die Beklagte behauptet, die Klägerin fehlerfrei behandelt zu haben. Die von der Klägerin behaupteten
gesundheitlichen Beeinträchtigungen bestreitet sie mit Nichtwissen.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. R
sowie die Hinzuziehung von Krankenunterlagen. Prof. R hat sein Gutachten in der mündlichen Verhandlung vom
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17.06.2010 mündlich erläutert. Auf das Gutachten, das Protokoll der mündlichen Verhandlung, den Inhalt der
Krankenunterlagen sowie die Schriftsätze wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage hat keinen Erfolg.
Die Klage ist zulässig. Insbesondere war die Klageänderung zulässig, weil die Voraussetzngen des §§ 263 1. Fall,
267 ZPO vorliegen.
Die Klage ist jedoch unbegründet. Denn es ist der Klägerin nicht gelungen, darzulegen und zu beweisen, dass der
Beklagten ein Behandlungsfehler unterlaufen ist.
Die Kammer stützt ihre Überzeugung unter anderem auf das gut verständliche und eindeutige Gutachten des
Sachverständigen Prof. R sowie die anschaulichen Erläuterungen aus der mündlichen Verhandlung.
Es war nicht fehlerhaft, dass bei der Klägerin eine Intubationsnarkose vorgenommen wurde. Nach eingehender
Aufklärung über die alternativen Narkosemöglichkeiten, insbesondere die Möglichkeit einer Lokalanästhesie,
entschied sich die Klägerin für eine Vollnarkose. Im Rahmen der Vollnarkose konnten grundsätzlich nur die
Intubationsnarkose, eine Narkose mittels Maskenbeatmung und eine Narkose durch Verwendung einer
Larynxmaske angewandt werden. Weder die Maskenbeatmung noch die Verwendung einer Larynxmaske stellten
hier jedoch eine gleichwertige Alternative zu einer Intubationsnarkose dar.
Aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen ist die Kammer davon überzeugt, dass die Maskenbeatmung
bereits deshalb keine Alternative darstellte, weil die Nähe des Operationsgebiets zur Region von Nase und Mund
es unmöglich macht, dem Operateur optimale Operationsbedingungen zu schaffen. Des weiteren hätte die
Maskenbeatmung keinen Aspirationsschutz dargestellt, sondern im Gegenteil aufgrund der Ventilation des
Magens eine erhebliche Aspirationsgefahr bedeutet.
Die Larynxmaske war ebenfalls keine Alternative, da sie insbesondere aus zwei Gründen kontraindiziert war.
Einerseits stellte das Gewicht der Klägerin von 93 kg bei einer Körpergröße von 158 cm eine relative
Kontraindikation dar, andererseits verbot sich die Anwendung der Larynxmaske wegen des von der klägerin im
Rahmen des Aufklärungsgesprächs geschilderten nahrungsunabhängigen Sodbrennens. In diesem Fall
gewährleistet das Verfahren nämlich keinen gesicherten Atemwegsschutz. Die Anwendung einer Larynxmaske
hätte im Gegenteil eine Aspiration von Magensaft mit schweren lebensbedrohlichen Folgen wie
Aspirationspneumonie, Lungenversagen, mögliche Sepsis und schlussendlich Todesfolge bewirken können.
Auch vermag die Kammer keinen Fehler in der Auswahl des Tubus erkennen. Bei der Klägerin wurde ein RingAdair-Elwyn (RAE) Endotrachealtubus mit einem Innendurchmesser von 7,5 mm verwandt. Der
Innendurchmesser entsprach dem für Frauen vorgesehenen Standard.
Hinsichtlich der Durchführung der narkose ist ebenfalls kein zum Schadensersatz verpflichtender
Behandlungsfehler feststellbar. Die Klägerin kann sich insbesondere nicht darauf berufen, dass bei ihr als
Muskelrelaxans nicht Succinylcholin, sondern Mivacurium verwendet wurde. Nach den Ausführungen des
Sachverständigen ist die Kammer zwar davon überzeugt, dass diese Wahl ungewöhnlich ist. Ob sie deshalb auch
als fehlerhaft anzusehen ist, kann vorliegend dahinstehen. Denn die Klägerin hat nicht bewiesen, dass es
aufgrund der Wahl des Muskelrelaxanz zu der Ruptur gekommen ist. Standardrelaxanzien wie Succinylcholin
werden wegen der geringen Anschlagzeit empfohlen. Damit soll verhindert werden, dass der Patient durch einen
Sättigungsabfall der Gefahr einer Hypoxie ausgesetzt ist. Im Falle der Klägerin ist ein derartiger Sättigungsabfall
jedoch nicht eingetreten.
Die Kammer kann auch nicht erkennen, dass dem Personal der Beklagten sonstige Behandlungsfehler
vorzuwerfen sind. Zwar kommen als Ursache für eine Trachealruptur auch Fehler wie das Herausragen des
Führungsmandrins über den Tubus oder ein zu hoher Cuff-Druck in Betracht. Die Kammer ist aufgrund der
Erörterung in der mündlichen Verhandlung aber davon überzeugt, dass eine derartige Ruptur auch bei
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vollständiger Wahrung des ärztlichen Standards eintreten kann und sie keineswegs zwingend den Rückschluss
auf einen Behandlungsfehler gebietet.
Aus vorstehenden Gründen ist auch der Feststellungsantrag unbegründet.
Da die Klägerin keine Anspruch auf Schadenersatz gegen die Beklagte hat, hat sie auch keinen Anspruch auf
Ersatz derr außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten, die mit dem Antrag zu 3. Geltend gemacht werden.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 Abs. 1 S 1 709 S 1, 2 ZPO
Dr. Terharn, Busche-Köckemann, Kluth
BGH VI ZR 204/09 Verkündet am: 15. Juni 2010- In einfach gelagerten Fällen kann der Arzt den Patienten
grundsätzlich auch in einem telefonischen Gespräch über die Risiken eines bevorstehenden Eingriffs
aufklären, wenn der Patient damit einverstanden ist.
BGH, Urteil vom 15. Juni 2010 - VI ZR 204/09 - OLG München, LG Traunstein
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juni 2010 durch den
Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Zoll und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Stöhrfür
Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 4. Juni 2009
wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von den Beklagten Schmerzensgeld und Feststellung der Schadensersatzpflicht wegen
vermeintlicher Fehler im Zusammenhang mit einer bei ihr im Alter von drei Wochen vorgenommenen
Leistenhernien-Operation, die der Beklagte zu 1 als Operateur und der Beklagte zu 2 als Anästhesist in einem
Kreiskrankenhaus durchgeführt haben.
Der Beklagte zu 1 führte bei einem Besuch der Eltern der Klägerin in seiner Praxis im Behandlungszimmer ein
Aufklärungsgespräch mit der Mutter der Klägerin. Der Vater befand sich zu diesem Zeitpunkt im Wartezimmer. Er
hatte ein Aufklärungsformular über die geplante Operation erhalten, welches er ausfüllte und auf dem er - ebenso
wie später seine Ehefrau - durch seine Unterschrift die Einwilligung zu dem Eingriff erklärte.
Der Beklagte zu 2 führte zwei Tage vor dem Eingriff mit dem Vater der Klägerin ein Telefonat über die
bevorstehende Operation, dessen Inhalt streitig ist. Am Morgen vor der Operation unterzeichneten die Eltern der
Klägerin ein Einwilligungsformular.
Bei der Operation kam es zu atemwegsbezogenen Komplikationen. Die Sauerstoffsättigung fiel ab, es kam zu
einer Kreislaufdestabilisierung und Pulsabfall. Zunächst wurde die Klägerin mit einer Larynxmaske beatmet, dann
erfolgte eine Intubation. Es wurde auch eine Herzdruckmassage durchgeführt. Die Klägerin erwachte nach
Beendigung der Operation nicht aus der Narkose und musste auf die Intensivstation eines Kinderkrankenhauses
verlegt werden. Infolge des Narkosezwischenfalls erlitt die Klägerin eine schwere zentralmotorische Störung, die
insbesondere die Fein- und Grobmotorik, die Koordinations- und Artikulationsfähigkeit beeinträchtigt (spastische
Tetraparese mit Linksbetonung und dystoner Komponente, Strabismus convergens).
Die Klägerin macht geltend, sowohl die chirurgische als auch die anästhesiologische Aufklärung sei unzureichend
gewesen, da nicht beide Elternteile aufgeklärt worden seien. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das
Oberlandesgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer vom
Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
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Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht ist - wie schon zuvor das Landgericht - aufgrund sachverständiger Beratung zu dem
Ergebnis gelangt, dass Behandlungsfehler nicht vorliegen. Darüber hinaus hat es auch Aufklärungsfehler
verneint.
Was die chirurgische Aufklärung durch den Beklagten zu 1 anbelangt, hat sich das Berufungsgericht aufgrund
seiner Beweisaufnahme die Überzeugung gebildet, dass die Eltern der Klägerin einige Tage vor der Operation in
der Praxis des Beklagten zu 1 erschienen seien, wo dieser mit der Mutter der Klägerin, die bereits durch den
Kinderarzt vorinformiert gewesen sei, im Behandlungszimmer die Indikation und die Art des Eingriffs besprochen
habe. Der Vater der Klägerin sei zwar in der Praxis anwesend gewesen, er habe seine Frau jedoch nicht in das
Behandlungszimmer begleitet. Er habe ein Aufklärungsformular über die geplante Operation erhalten, welches er
ausgefüllt und auf dem er - ebenso wie später seine Ehefrau - durch seine Unterschrift in den Eingriff eingewilligt
habe. Nicht geklärt werden könne, weshalb der Vater der Klägerin nicht mit in das Behandlungszimmer
gekommen sei. Insbesondere sei die Behauptung des Vaters der Klägerin nicht bewiesen, ihm sei von der
Sprechstundenhilfe gesagt worden, es dürfe nur ein Elternteil in das Behandlungszimmer. Möglicherweise sei der
Vater der Klägerin im Wartezimmer geblieben, um sich zwischenzeitlich die übergebenen Unterlagen
durchzulesen und auszufüllen. Inhaltlich sei die Aufklärung des Beklagten zu 1 zutreffend und vollständig
gewesen. Beide Sachverständige hätten übereinstimmend bestätigt, dass es sich bei der Leistenhernienoperation
bei Mädchen, auch wenn diese neugeborenseien, um einen einfachen Eingriff handele. Die Operation sei objektiv
dringlich gewesen. Ein Abwarten hätte ganz erhebliche Risiken für die Klägerin zur Folge gehabt und dies als
Alternative darzustellen, wäre ein Fehler gewesen. Die Aufklärung durch den Beklagten zu 1 sei auch nicht
deshalb unzureichend gewesen, weil er nur mit der Mutter der Klägerin gesprochen habe. Aus chirurgischer Sicht
habe es sich bei der Operation nur um einen einfachen Eingriff gehandelt, so dass eine ausführliche Besprechung
der Vorgehensweise und der Risiken mit beiden Elternteilen nicht erforderlich gewesen sei. Der Vater der
Klägerin sei in die Aufklärung und Einwilligung insoweit einbezogen gewesen, als er das Aufklärungsformular
erhalten, dieses ausgefüllt und unterzeichnet habe. Beide Elternteile seien demnach ausreichend über die
chirurgische Seite des Eingriffs informiert und mit der Operation einverstanden gewesen.
Was die anästhesiologische Aufklärung anbelangt, hält es das Berufungsgericht für ausreichend, dass der
Beklagte zu 2 den Vater der Klägerin über die bevorstehende Anästhesie seiner Tochter telefonisch aufgeklärt
hat. In dem cirka 15 Minuten dauernden Telefonat, das der Vater der Klägerin als angenehm und vertrauensvoll
geschildert habe, habe dieser hinreichend Gelegenheit gehabt, sich zu informieren. Dabei habe ihn der Beklagte
zu 2 in dem vom Sachverständigen als vollständig und zutreffend bezeichneten Aufklärungsgespräch in
gebotenem Umfang über die Risiken der Anästhesie aufgeklärt, insbesondere auf die Gefahren hingewiesen, die
sich bei der Operation verwirklicht haben (Atemstörungen, Beatmungsprobleme, Herz-Kreislaufprobleme und
Querschnittslähmung). Im Übrigen habe der Sachverständige Narkosezwischenfälle sowohl bei einem drei
Wochen alten Neugeborenen als auch bei wenige Monate alten Säuglingen als extrem selten bezeichnet. Die
Tatsache, dass der Beklagte zu 2 nur mit dem Vater gesprochen habe, sei angesichts des im unteren bis
allenfalls mittleren Anforderungs- und Risikoprofil liegenden Eingriffs rechtlich unbedenklich. Der Beklagte zu 2
habe sichergestellt, dass nicht allein der Vater über die Operation seiner Tochter entschieden habe, indem er
darauf bestanden habe, dass beide Elternteile vor der Operation anwesend gewesen seien. Er habe dabei beiden
Elternteilen nochmals Gelegenheit zu Fragen gegeben und beide hätten sodann ihr Einverständnis zur Operation
erteilt, indem sie den Anästhesiebogen (einschließlich der handschriftlich vermerkten Risiken) unterzeichnet
hätten. Da sich die Rechtsprechung jedoch bislang nicht mit der Möglichkeit einer telefonischen Aufklärung
befasst habe, sei die Revision wegen der Frage zuzulassen:
"Genügt eine telefonische Aufklärung über die Risiken einer Anästhesie bei einer ansonsten einfachen Operation
zwei Tage vor dem Eingriff den Anforderungen der Rechtsprechung an ein "vertrauensvolles
Aufklärungsgespräch zwischen Arzt und Patient", insbesondere, wenn der Arzt unmittelbar vor der Operation
nochmals ausdrücklich nachfragt, ob noch Unklarheiten bestehen oder Fragen offen sind?"
II.Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.
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1. Die Revision greift das Berufungsurteil nicht an, soweit dieses Behandlungsfehler verneint hat. Rechtsfehler
sind insoweit auch nicht ersichtlich.
2. Das Berufungsgericht ist - entgegen der Auffassung der Revision - in tatrichterlicher Würdigung ohne
Rechtsfehler zu dem Ergebnis gelangt, dass die Eltern der Klägerin aufgrund einer hinreichenden Aufklärung
durch den Beklagten zu 1 über die chirurgische Seite der Operation wirksam ihre Einwilligung in den Eingriff erteilt
haben.
a) Aufklärungspflichtig ist grundsätzlich jeder Arzt für diejenigen Eingriffs- und Behandlungsmaßnahmen, die er
selbst durchführt, und nur soweit sein Fachgebiet betroffen ist (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 6. Aufl., C
Rn. 106 f. m.w.N.). Da die anästhesiologische Aufklärung durch den Beklagten zu 2 - wenn auch später - erfolgt
ist, konnte sich der Beklagte zu 1 auf eine Aufklärung über die chirurgischen Risiken des Eingriffs beschränken
und musste nicht auch noch - wie die Revision meint - über die Risiken der für den Eingriff erforderlichen
Anästhesie aufklären.
b) Das Berufungsgericht hat die Einwilligung in den Eingriff mit Recht nicht deshalb für unwirksam erachtet, weil worauf die Revision abheben will - der Beklagte zu 1 das Aufklärungsgespräch nur mit der Mutter der Klägerin geführt hat.
aa) Nach gefestigter Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Senatsurteile BGHZ 144, 1, 4; 105, 45, 47 ff.)
bedarf es bei einem minderjährigen Kind in den Fällen, in denen die elterliche Sorge beiden Eltern gemeinsam zusteht, zu einem ärztlichen Heileingriff der Einwilligung beider Elternteile. Jedoch wird man jedenfalls in
Routinefällen davon ausgehen können, dass der mit dem Kind beim Arzt erscheinende Elternteil ermächtigt ist,
die Einwilligung in die ärztliche Behandlung für den abwesenden Elternteil mitzuerteilen, worauf der Arzt in
Grenzen vertrauen darf, solange ihm keine entgegenstehenden Umstände bekannt sind. In anderen Fällen, in
denen es um ärztliche Eingriffe schwererer Art mit nicht unbedeutenden Risiken geht, wird sich der Arzt darüber
hinaus vergewissern müssen, ob der erschienene Elternteil die Ermächtigung des anderen hat und wie weit diese
reicht; er wird aber, solange dem nichts entgegensteht, auf eine wahrheitsgemäße Auskunft des erschienenen
Elternteils vertrauen dürfen. Darüber hinaus kann es angebracht sein, auf den erschienenen Elternteil dahin
einzuwirken, die vorgesehenen ärztlichen Eingriffeund deren Chancen und Risiken noch einmal mit dem anderen
Elternteil zu besprechen. Geht es um schwierige und weit reichende Entscheidungen über die Behandlung des
Kindes, etwa um eine Herzoperation, die mit erheblichen Risiken für das Kind verbunden sind, dann liegt eine
Ermächtigung des einen Elternteils zur Einwilligung in ärztliche Eingriffe bei dem Kind durch den anderen nicht
von vornherein nahe. Deshalb muss sich der Arzt in einem solchen Fall die Gewissheit verschaffen, dass der
nicht erschienene Elternteil mit der vorgesehenen Behandlung des Kindes einverstanden ist (vgl. Senatsurteil
BGHZ 105, 45, 47 ff.).
bb) Im Streitfall führte der Beklagte zu 1 zwar das Aufklärungsgespräch allein mit der Mutter der Klägerin. Er
konnte aber - wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat - aufgrund der vorliegenden Umstände davon
ausgehen, dass auch der Vater einverstanden war.
Nach den Feststellungen des sachverständig beratenen Berufungsgerichts handelte es sich im Streitfall aus
chirurgischer Sicht um einen relativ einfachen Eingriff. Der Vater der Klägerin war in der Praxis mit erschienen, er
begleitete lediglich seine Ehefrau nicht in das Behandlungszimmer, in dem das Aufklärungsgespräch stattfand. Er
hatte jedoch nach den weiteren Feststellungen des Berufungsgerichts ein einschlägiges Aufklärungsformular
erhalten, dieses ausgefüllt und es - ebenso wie seine Ehefrau - unterschrieben. Unter diesen Umständen durfte
der Beklagte zu 1 davon ausgehen, dass der Vater der Klägerin die Mutter ermächtigt hatte, das
Aufklärungsgespräch allein zu führen. Dass der Vater der Klägerin - wie sie behauptet - von der
Sprechstundenhilfe des Beklagten zu 1 davon abgehalten worden sein soll, ihrer Mutter in das
Behandlungszimmer zu folgen, hat das Berufungsgericht gerade nicht festgestellt und musste es deshalb entgegen der Auffassung der Revision - seiner Beurteilung auch nicht zugrunde legen.
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3. Entgegen der Auffassung der Revision ist es rechtlich auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht
aufgrund der getroffenen Feststellungen von einer hinreichenden Aufklärung über die Risiken der Anästhesie
durch den Beklagten zu 2 ausgegangen ist.
aa) Das Berufungsgericht ist in tatrichterlicher Würdigung verfahrensfehlerfrei zu der Überzeugung gelangt, dass
der Beklagte zu 2 den Vater der Klägerin in einem Telefongespräch zwei Tage vor der Operation in gebotenem
Umfang vollständig und zutreffend über die Risiken der Anästhesie aufgeklärt hat. Der Auffassung der Revision,
dass das Telefongespräch nicht den Anforderungen genügte, die der Senat an ein vertrauensvolles Gespräch
zwischen Arzt und Patient stellt, kann unter den besonderen Umständen des Streitfalles nicht gefolgt werden.
bb) Grundsätzlich kann sich der Arzt in einfach gelagerten Fällen auch in einem telefonischen
Aufklärungsgespräch davon überzeugen, dass der Patient die entsprechenden Hinweise und Informationen
verstanden hat. Ein Telefongespräch gibt ihm ebenfalls die Möglichkeit, auf individuelle Belange des Patienten
einzugehen und eventuelle Fragen zu beantworten (vgl. Senatsurteil BGHZ 144, 1, 13). Dem Patienten bleibt es
unbenommen, auf einem persönlichen Gespräch zu bestehen. Handelt es sich dagegen um komplizierte Eingriffe
mit erheblichen Risiken, wird eine telefonische Aufklärung regelmäßig unzureichend sein.
cc) Das Aufklärungsgespräch betraf im Streitfall die typischen Risiken einer Anästhesie im Zusammenhang mit
einem - nach den Feststellungen des Berufungsgerichts - eher einfachen chirurgischen Eingriff. Die Anästhesie
hatte gewisse, durchaus erhebliche, aber insgesamt seltene Risiken. Nach den weiteren Feststellungen des
Berufungsgerichts dauerte das Telefonat 15 Minutenund wurde von dem Vater der Klägerin selbst als angenehm
und vertrauensvoll bezeichnet. Unter diesen Umständen begegnet es aus revisionsrechtlicher Sicht keinen
Bedenken, dass das Berufungsgericht die Vorgehensweise des Beklagten zu 2 als zulässige Möglichkeit der
Aufklärung über die Risiken der Anästhesie angesehen hat. Dabei hat es mit Recht dem Umstand besondere
Bedeutung beigemessen, dass der Beklagte zu 2 bei seinem Telefongespräch mit dem Vater darauf bestanden
hat, dass beide Elternteile am Morgen vor der Operation anwesend sind, nochmals Gelegenheit zu Fragen
erhalten und sodann ihre Einwilligung zur Operation durch Unterzeichnung des Anästhesiebogens einschließlich
der handschriftlichen Vermerke erteilen. Dabei durfte der Beklagte zu 2 mangels entgegenstehender
Anhaltspunkte aufgrund des vorangegangenen telefonischen Aufklärungsgesprächs mit dem Vater davon
ausgehen, dass dieser bereits die vorgesehenen ärztlichen Eingriffe und deren Chancen und Risiken mit der
Mutter besprochen hatte (vgl. Senatsurteil BGHZ 144, 1, 4). Soweit die Revision geltend macht, die
handschriftlichen Vermerke aufdem Anästhesiebogen seien unleserlich gewesen, vermag dies angesichts der
Tatsache, dass die Eltern Gelegenheit zu Fragen hatten, keine abweichende Beurteilung zu rechtfertigen.
Galke Zoll WellnerDiederichsen StöhrVorinstanzen:
LG Traunstein, Entscheidung vom 16.04.2008 - 3 O 2127/04 OLG München, Entscheidung vom 04.06.2009 - 1 U 3200/08 –
BGH- Urteil vom 06.06.2010 – 5 StR 386/09. Die Präimplantationsdiagnostik zur Entdeckung schwerer
genetischer Schäden des extrakorporal erzeugten Embryos ist nicht strafbar
Das Landgericht Berlin hat den Angeklagten, einen Frauenarzt mit dem Schwerpunkt Kinderwunschbehandlung,
vom Vorwurf einer dreifachen strafbaren Verletzung des Embryonenschutzgesetzes freigesprochen.
In den Jahren 2005 und 2006 wandten sich drei Paare mit dem Ziel einer extrakorporalen Befruchtung an den
Angeklagten. In allen Fällen wies einer der Partner genetische Belastungen auf. Aufgrund dessen bestand die
Gefahr, dass auch die erzeugten Embryonen genetisch belastet sein würden, was einen Abort, eine Totgeburt,
ein Versterben des Neugeborenen nach der Geburt oder die Geburt eines schwerkranken Kindes
hochwahrscheinlich machte.
Im Hinblick auf die Gefahrenlage und dem Wunsch seiner Patienten entsprechend führte der Angeklagte jeweils
eine sog. Präimplantationsdiagnostik (im Folgenden: PID) an pluripotenten, d.h. nicht zu einem lebensfähigen Organismus
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entwicklungsfähigen Zellen durch. Die Untersuchung diente dem Zweck, nur Embryonen ohne genetische
Anomalien übertragen zu können. Dies geschah in allen Fällen. Embryonen mit festgestellten
Chromosomenanomalien wurden hingegen nicht weiter kultiviert und starben in der Folge ab.
Der 5. ("Leipziger") Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat das freisprechende Urteil des Landgerichts bestätigt und die
Revision der Staatsanwaltschaft demgemäß verworfen. Der Senat ist in Übereinstimmung mit dem Landgericht zu
der Auffassung gelangt, dass der Angeklagte § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG (missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken) und § 2
Abs. 1 ESchG (missbräuchliche Verwendung menschlicher Embryonen) nicht verletzt hat.
Aus den genannten Strafbestimmungen kann nicht mit der im Strafrecht erforderlichen Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG)
ein Verbot der bei Erlass des Embryonenschutzgesetzes im Jahr 1990 erst im Ausland entwickelten PID
abgeleitet werden, die den Embryo nach derzeitigem medizinisch-naturwissenschaftlichem Kenntnisstand
überdies nicht schädigt. Das Vorgehen des Angeklagten verstößt weder gegen den Wortlaut noch gegen den
Sinn des Gesetzes. Dem bei jeder Gesetzesauslegung zu würdigenden Willen des historischen Gesetzgebers
lässt sich ein Verbot einer solchen PID, die der Gesetzgeber nicht ausdrücklich berücksichtigt hat, nicht
entnehmen.
Dem mit dem Gesetz verfolgten Zweck des Schutzes von Embryonen vor Missbräuchen läuft die PID nicht
zuwider. Das Embryonenschutzgesetz erlaubt die extrakorporale Befruchtung zur Herbeiführung einer
Schwangerschaft ohne weitere Einschränkungen. Ein strafbewehrtes Gebot, Embryonen auch bei genetischen
Belastungen der Eltern ohne Untersuchung zu übertragen, birgt hohe Risiken in sich; vor allem ist zu besorgen,
dass sich die Schwangere im weiteren Verlauf nach einer ärztlicherseits angezeigten und mit denselben
Diagnosemethoden durchgeführten Pränataldiagnostik, hinsichtlich derer eine ärztliche Aufklärungspflicht besteht,
für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet. Die PID ist geeignet, solch schwerwiegende Gefahren zu
vermindern. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber sie verboten hätte, wenn sie bei
Erlass des Embryonenschutzgesetzes schon zur Verfügung gestanden hätte. Dagegen spricht auch eine
Wertentscheidung, die der Gesetzgeber in § 3 Satz 2 des Embryonenschutzgesetzes getroffen hat. Dort ist eine
Ausnahme vom Verbot der Geschlechtswahl durch Verwendung ausgewählter Samenzellen normiert worden. Mit
dieser Regelung ist der aus dem Risiko einer geschlechtsgebundenen Erbkrankheit des Kindes resultierenden
Konfliktlage der Eltern Rechnung getragen worden, die letztlich in einen Schwangerschaftsabbruch einmünden
kann. Eine gleichgelagerte Konfliktlage hat in den zu beurteilenden Fällen bestanden.
Der Bundesgerichtshof hat betont, dass Gegenstand seiner Entscheidung nur die Untersuchung von Zellen auf
schwerwiegende genetische Schäden zur Verminderung der genannten Gefahren im Rahmen der PID sei. Einer
unbegrenzten Selektion von Embryonen anhand genetischer Merkmale, etwa die Auswahl von Embryonen, um
die Geburt einer "Wunschtochter" oder eines "Wunschsohnes" herbeizuführen, wäre damit nicht der Weg
geöffnet.
Urteil vom 6. 07.2010 – 5 StR 386/09. Landgericht Berlin – Urteil vom 14. 05.2009 – (512) 1 Kap Js 1424/06 KLs
(26/08)
Karlsruhe, den 6. 07.2010. § 1 Abs1 Nr. 2 ESCHG lautet:
(1)
Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer …
es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau
herbeizuführen, von der die Eizelle stammt, …
§ 2 Abs.1 ESchG lautet:
Wer einen extrakorporal erzeugten oder einer Frau vor Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter
entnommenen menschlichen Embryo veräußert oder zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck abgibt,
erwirbt oder verwendet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(1)
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BGH-Urteil vom 25.06.2010 – 2 StR 454/09. Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des
Patientenwillens ist nicht strafbar
BGHR: ja BGHSt: ja Veröffentlichung: ja, StGB §§ 212, 216, 13, BGB §§ 1901a ff.
1. Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung
(Behandlungsabbruch) ist gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen
entspricht (§ 1901a BGB) und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess
seinen Lauf zu lassen.
2. Ein Behandlungsabbruch kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden.
3. Gezielte Eingriffe in das Leben eines Menschen, die nicht in einem Zusammenhang mit dem Abbruch einer
medizinischen Behandlung stehen, sind einer Rechtfertigung durch Einwilligung nicht zugänglich.
BGH, Urteil vom 25. Juni 2010 - 2 StR 454/09 - LG Fulda
in der Strafsachegegen
wegen versuchten Totschlags
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. Juni 2010 auf Grund der Hauptverhandlung
vom 2. Juni 2010, an denen teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am BundesgerichtshofProf. Dr. Rissing-van Saan,Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,Richterin am BundesgerichtshofRoggenbuck,Richter am BundesgerichtshofDr. Appl,
Prof. Dr. Schmitt,Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof ,in der Verhandlung vom 2. Juni 2010,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof ,bei der Verkündung am 25. Juni 2010,als Vertreter der
Bundesanwaltschaft,
der Angeklagte,Rechtsanwalt
für Recht erkannt:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Fulda vom 30. April 2009 aufgehoben.
Der Angeklagte wird freigesprochen.
2. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das vorbezeichnete Urteil wird als unbegründet verworfen.
3. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten
verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Der Angeklagte verfolgt mit seiner auf die Sachrüge
gestützten Revision die Aufhebung des Urteils und seine Freisprechung. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit
ihrer auf die Sachrüge gestützten, zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Revision die Strafzumessung. Das
Rechtsmittel des Angeklagten hat in vollem Umfang Erfolg, das der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.
A Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte ist ein für den Fachbereich des Medizinrechts, insbesondere auf Palliativmedizin spezialisierter
Rechtsanwalt. Er beriet seit 2006 die beiden Kinder der 1931 geborenen E. K. , nämlich die ursprünglich
Mitangeklagte G. und deren inzwischen verstorbenen Bruder P. K. .
Frau K. lag seit Oktober 2002 nach einer Hirnblutung im Wachkoma. Sie war seither nicht ansprechbar und wurde
in einem Altenheim in B. H. gepflegt und über einen Zugang in der Bauchdecke, eine sog. PEG-Sonde, künstlich
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 8
ernährt. Frau K. , der nach einer Fraktur im Jahr 2006 der linke Arm amputiert worden war, war im Dezember
2007 bei einer Größe von 1,59 m auf ein Gewicht von 40 kg abgemagert. Eine Besserung ihres
Gesundheitszustands war nicht mehr zu erwarten.
Nachdem schon ihr Vater im Jahr 2002 eine Hirnblutung ohne schwerwiegende gesundheitliche Folgen erlitten
hatte, hatte Frau G. ihre Mutter Ende September 2002 befragt, wie sie und ihr Bruder sich verhalten sollten, falls
Frau K. etwas zustoßen sollte. Diese hatte darauf u.a. erwidert, falls sie bewusstlos werde und sich nicht mehr
äußern könne, wolle sie keine lebensverlängernden Maßnahmen in Form künstlicher Ernährung und Beatmung,
sie wolle nicht an irgendwelche "Schläuche" angeschlossen werden.
Zunächst war für Frau K. deren Ehemann als Betreuer bestellt und später zu dessen Unterstützung eine
Berufsbetreuung eingerichtet worden. Die Berufsbetreuerin nahm seit Ende 2005 die Betreuung allein wahr,
nachdem der Ehemann der Betreuten verstorben war. Frau G. teilte der Berufsbetreuerinim März 2006 mit, dass
sie und ihr Bruder den Wunsch hätten, dass die Magensonde entfernt würde, damit ihre Mutter in Würde sterben
könne. Hierbei berichtete Frau G. auch von dem mit ihrer Mutter im September 2002 geführten Gespräch, dessen
Inhalt diese trotz der Bitte der Tochter, die Angelegenheit mit ihrem Ehemann zu besprechen und sodann
schriftlich zu fixieren, nicht schriftlich niedergelegt hatte. Die Berufsbetreuerin lehnte die Entfernung der
Magensonde unter Hinweis auf den ihr nicht bekannten mutmaßlichen Willen der Betreuten ab und blieb auch auf
mehrere Interventionen des inzwischen mandatierten Angeklagten bei ihrer Ablehnung.
Der Angeklagte bemühte sich in der Folgezeit zusammen mit Frau G. und deren Bruder um die Einstellung der
künstlichen Ernährung. Auf seinen Antrag wurden beide Kinder im August 2007 zu Betreuern ihrer Mutter bestellt.
Der behandelnde Hausarzt unterstützte das Vorhaben der Betreuer, weil aus seiner Sicht eine medizinische
Indikation zur Fortsetzung der künstlichen Ernährung nicht mehr gegeben war. Die Bemühungen stießen aber auf
Widerstand bei Heimleitung und -personal. Nachdem auch eine ausdrückliche Anordnung des Arztes zur
Einstellung der künstlichen Ernährung vom Pflegepersonal nicht befolgt worden war, schlug die Heimleiterin
schließlich einen Kompromiss vor. Um den moralischen Vorstellungen aller Beteiligten gerecht zu werden, sollte
sich das Personal nur noch um die Pflegetätigkeiten im engeren Sinn kümmern, während Frau G. und Herr K.
selbst die Ernährung über die Sonde einstellen, die erforderliche Palliativversorgung durchführen und ihrer Mutter
im Sterben beistehen sollten. Nach Rücksprache mit dem Angeklagten erklärten sich Frau G. und Herr K. hiermit
einverstanden.
Demgemäß beendete Frau G. am 20. Dezember 2007 die Nahrungszufuhr über die Sonde und begann, auch die
Flüssigkeitszufuhr zu reduzieren. Am nächsten Tag wies die Geschäftsleitung des Gesamtunternehmens
jedochdie Heimleitung an, die künstliche Ernährung umgehend wieder aufzunehmen. Frau G. und Herrn K. wurde
ein Hausverbot für den Fall angedroht, dass sie sich hiermit nicht einverstanden erklären sollten. Darauf erteilte
der Angeklagte ihnen am gleichen Tag telefonisch den Rat, den Schlauch der Sonde unmittelbar über der
Bauchdecke zu durchtrennen, weil gegen die rechtswidrige Fortsetzung der Sondenernährung durch das Heim
ein effektiver Rechtsschutz nicht kurzfristig zu erlangen sei. Nach seiner Einschätzung der Rechtslage werde
keine Klinik eigenmächtig eine neue Sonde einsetzen, so dass Frau K. würde sterben können. Frau G. folgte
diesem Rat und schnitt Minuten später mit Unterstützung ihres Bruders den Schlauch durch. Nachdem das
Pflegepersonal dies bereits nach einigen weiteren Minuten entdeckt und die Heimleitung die Polizei eingeschaltet
hatte, wurde Frau K. auf Anordnung eines Staatsanwalts gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus
gebracht, wo ihr eine neue PEG-Sonde gelegt und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde. Sie
starb dort am 5. Januar 2008 eines natürlichen Todes auf Grund ihrer Erkrankungen.
B.Das Landgericht hat das Handeln des Angeklagten am 21. Dezember 2007 als einen gemeinschaftlich mit Frau
G. begangenen versuchten Totschlag durch aktives Tun gewürdigt, der weder durch eine mutmaßliche Einwilligung der Frau K. noch nach den Grundsätzen der Nothilfe oder des rechtfertigenden Notstandes gerechtfertigt
sei. Auch auf einen entschuldigenden Notstand könne sich der Angeklagte nicht berufen. Soweit er sich im Erlaubnisirrtum befunden habe, sei dieser für ihn als einschlägig spezialisierten Rechtsanwalt vermeidbar gewesen.
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Die Mitangeklagte G. hat das Landgericht freigesprochen, weil sie sich angesichts des Rechtsrats des
Angeklagten in einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum befunden und deshalb ohne Schuld gehandelt habe.
I. Die Revision des Angeklagten
Der Angeklagte rügt mit seiner Revision die Verletzung sachlichen Rechts. Sie führt zur Aufhebung des Urteils
und zum Freispruch des Angeklagten. Die Annahme des Landgerichts, das Verhalten des Angeklagten P. und
das ihm nach § 25 Abs. 2 StGB zurechenbare, auf seinen Rat hin erfolgte Durchtrennen des
Versorgungsschlauchs der PEG-Sonde durch die frühere Mitangeklagte G. seien als versuchter Totschlag weder
durch Einwilligung noch auf Grund des Eingreifens sonstiger Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt, hält im
Ergebnis rechtlicher Prüfung nicht stand.
1. Eine ausdrückliche rechtliche Würdigung des Geschehens, welches den der Verurteilung zugrunde gelegten
Tathandlungen vorausging, hat das Landgericht nicht vorgenommen. Seine Ansicht, dass die vom Heimbetreiber
beabsichtigte Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung gegen den Willen der Betreuer und des behandelnden
Arztes ein rechtswidriger Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen gewesen wäre, setzt jedoch
voraus, dass die vorausgehende Beendigung der Ernährung rechtmäßig war. Davon ist das Landgericht im
Ergebnis zutreffend ausgegangen.
a) Bereits mit Urteil vom 13. September 1994 (1 StR 357/94 = BGHSt 40, 257, 261) hat der 1. Strafsenat des
Bundesgerichtshofs über einen Fall des Abbruchs der künstlichen Ernährung bei einer irreversibel schwerst
hirngeschädigten, entscheidungsunfähigen Patientin im Zusammenwirken von deren zumPfleger bestellten Sohn
und dem behandelnden Arzt entschieden. Da die Grunderkrankung - wie im vorliegenden Fall - noch keinen
unmittelbar zum Tod führenden Verlauf genommen hatte, lag, wie der 1. Strafsenat festgestellt hat, kein Fall der
so genannten "passiven Sterbehilfe" nach den Kriterien der damaligen "Richtlinien für die Sterbehilfe" der
Deutschen Ärztekammer vor (vgl. Deutsches Ärzteblatt 1993 B-1791 f.). Gleichwohl hat der Bundesgerichtshof
erkannt, "dass angesichts der besonderen Umstände des hier gegebenen Grenzfalls ausnahmsweise ein
zulässiges Sterbenlassen durch Abbruch einer ärztlichen Behandlung oder Maßnahme nicht von vornherein
ausgeschlossen (sei), sofern der Patient mit dem Abbruch mutmaßlich einverstanden ist. Denn auch in dieser
Situation ist das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten, gegen dessen Willen eine ärztliche
Behandlung grundsätzlich weder eingeleitet noch fortgesetzt werden darf" (BGHSt 40, 257, 262).
In seinem Beschluss vom 17. März 2003 (XII ZB 2/03 - BGHZ 154, 205 = NJW 2003, 1588), der den Fall eines an
einem apallischen Syndrom leidenden Patienten betraf, hat der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs allerdings
entschieden, das Unterlassen lebenserhaltender oder -verlängernder Maßnahmen bei einem
einwilligungsunfähigen Patienten setze voraus, dass dies dessen tatsächlich geäußerten oder mutmaßlichen
Willen entspreche und dass die Grunderkrankung einen "irreversibel tödlichen Verlauf" angenommen habe.
Hieraus ist in der Literatur vielfach abgeleitet worden, zwischen der zivilrechtlichen und der strafrechtlichen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestehe in der Frage der Zulässigkeit so genannter "passiver
Sterbehilfe" eine Divergenz (vgl. etwa Höfling/Rixen JZ 2003, 884, 885 ff.; Ingelfinger JZ 2006, 821; Otto NJW
2006, 2217, 2218 f.; Saliger MedR 2004, 237, 240 f.; Sternberg-Lieben in FS für Eser (2005) S. 1185, 1198 ff.;
Verrel, Gutachten zum 66. DJT, 2006, C 43 ff.). Diese Ansicht bestand auch fort, nachdem der XII. Zivilsenat in
einem Kostenbeschluss vom 8. Juni 2005 (XII ZR 177/03 - BGHZ 163, 195 =NJW 2005, 2385) entschieden hatte,
ein Heimbetreiber sei zur Fortsetzung einer künstlichen Ernährung bei einem entscheidungsunfähigen, an einem
apallischen Syndrom leidenden Patienten gegen dessen durch den Betreuer verbindlich geäußerten Willen nicht
berechtigt und das Vormundschaftsgericht zu einer Entscheidung nicht berufen, wenn Betreuer und Arzt sich
übereinstimmend gegen eine weitere künstliche Ernährung entschieden hatten; der Eintritt in eine mutmaßlich
unmittelbar zum Tod führende Phase der Grunderkrankung war danach nicht vorausgesetzt.
Die hierdurch in der öffentlichen Wahrnehmung entstandene Unsicherheit über Voraussetzungen und Reichweite
der Erlaubnis, eine lebenserhaltende medizinische Behandlung auf Grund des Patientenwillens zu beenden, ist
durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl I 2286) jedenfalls insoweit
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beseitigt worden (näher dazu unten), als es nach § 1901a Abs. 3 BGB nicht (mehr) auf Art und Stadium der
Erkrankung ankommt.
b) Allerdings war, wie das Landgericht im Ergebnis zutreffend erkannt hat, die Beendigung der künstlichen
Ernährung durch Unterlassen bzw. Reduzierung der Zufuhr kalorienhaltiger Flüssigkeit durch die frühere
Mitangeklagte und ihren Bruder schon auf der Grundlage des zur Tatzeit geltenden Rechts zulässig, denn die
anerkannten Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Behandlungsabbruch durch so genannte "passive
Sterbehilfe" lagen vor. Dabei kam es hier nicht auf einen - im Einzelfall möglicherweise schwer feststellbaren (vgl.
BGHSt 40, 257, 260 f.) - mutmaßlichen Willen der Betroffenen an, da ihr wirklicher, vor Eintritt ihrer
Einwilligungsunfähigkeit ausdrücklich geäußerter Wille zweifelsfrei festgestellt war. Zwischen den Betreuern und
dem behandelnden Arzt bestand überdies Einvernehmen, dass der Abbruch der künstlichen Ernährung dem
Willen der Patientin entsprach. Unter diesen Voraussetzungen durftedie Fortsetzung der künstlichen Ernährung
unterlassen werden, ohne dass eine betreuungsgerichtliche Genehmigung erforderlich oder veranlasst gewesen
wäre.
c) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht daher angenommen, dass die von der Heimleitung angekündigte
Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung einen rechtswidrigen Angriff gegen die körperliche Integrität und das
Selbstbestimmungsrecht der Patientin dargestellt hätte. Nach der schon zur Tatzeit ganz herrschenden
Rechtsauffassung verliehen weder der Heimvertrag noch die Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) der
Heimleitung oder dem Pflegepersonal das Recht, sich über das Selbstbestimmungsrecht von Patienten
hinwegzusetzen und eigenmächtig in deren verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf körperliche Unversehrtheit
einzugreifen (vgl. BGHZ 163, 195, 200; Dirksen GesR 2004, 124, 128; Höfling JZ 2006, 145, 146; Hufen NJW
2001, 849, 853; ders. ZRP 2003, 248, 252; Ingelfinger JZ 2006, 821, 829; Lipp FamRZ 2004, 317, 324; Müller
DNotZ 2005, 927, 928 f.; Sternberg-Lieben in FS für Eser (2005) S. 1185, 1203; Uhlenbruck NJW 2003, 1710,
1711 f.; Verrel, Gutachten zum 66. DJT, 2006, C 41 ff.; Wagenitz FamRZ 2005, 669, 670 f.; anders noch OLG
München NJW 2003, 1743, 1745; LG Traunstein NJW-RR 2003, 221, 224).
2. Zutreffend hat das Landgericht die Frage verneint, ob die der Verurteilung zugrunde gelegten Handlungen des
Angeklagten und der früheren Mitangeklagten, mit denen die rechtswidrige Wiederaufnahme der künstlichen
Ernährung und der hierin liegende Angriff auf die körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht
verhindert werden sollten, schon nach den Regeln der Nothilfe (§ 32 StGB) gerechtfertigt waren. Zwar lag, wie
sich aus Vorstehendem ergibt, eine Notwehrlage im Sinne von § 32 StGB vor, welche den Angeklagten und die
Betreuerin zur Nothilfe gem. § 32 Abs. 2 StGB berechtigt hätte. Die Verteidigungshandlungen richteten sich hier
aber nicht oder nicht allein gegen
Rechtsgüter des Angreifers (Sachbeschädigung durch Zerschneiden des Schlauchs), sondern vor allem gegen
ein höchstrangiges, anderes Rechtsgut der Angegriffenen selbst. Der Eingriff in das Rechtsgut Leben der
angegriffenen Person kann aber ersichtlich nicht durch Nothilfe gegen einen Angriff auf das Rechtsgut der
körperlichen Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht derselben Person gerechtfertigt sein. Er bedurfte
als selbständige Rechtsgutsverletzung vielmehr einer eigenen, von der Nothilfelage unabhängigen Legitimation.
Auch eine Rechtfertigung aus dem Gesichtspunkt des Notstands gem. § 34 StGB scheidet, wie das Landgericht
im Ergebnis zutreffend gesehen hat, vorliegend schon deshalb aus, weil sich der Eingriff des Angeklagten hier
gegen das höchstrangige Rechtsgut (Leben) derjenigen Person richtete, welcher die gegenwärtige Gefahr (für die
Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit und des Selbstbestimmungsrechts) im Sinne von § 34 StGB drohte
(a.A. Otto, Gutachten zum 56. DJT, 1986, D 44 ff.; Merkel ZStW Bd. 107 (1995) S. 454, 570 f.; ders.,
Früheuthanasie (2000) S. 523 ff.; Neumann NK-StGB vor § 211 Rn. 127; H. Schneider in MüKo-StGB vor §§ 211
ff. Rn. 111 f.; Chr. Schneider, Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung
1998 S. 242 ff.). Eine Entschuldigung gem. § 35 StGB oder aus dem Gesichtspunkt des "übergesetzlichen"
Notstands scheidet ebenfalls aus.
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3. Eine Rechtfertigung für die Tötungshandlung konnte sich daher hier allein aus dem von den Kindern der Frau
K. als deren Betreuern geltend gemachten Willen der Betroffenen, also ihrer Einwilligung ergeben, die künstliche
Ernährung abzubrechen und ihre Fortsetzung oder Wiederaufnahme zu unterlassen.
Im Unterschied zu den bislang vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fällen weist der vorliegende die
Besonderheit auf, dass die die Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung verhindernde, direkt auf die
Lebensbeendigung abzielende Handlung der früheren Mitangeklagten, die dem Angeklagten vom Landgericht
rechtsfehlerfrei als eigene Handlung gemäß § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet worden ist, nach den allgemeinen
Regeln nicht als Unterlassen, sondern als aktives Tun anzusehen ist. Für diesen Fall ist eine Rechtfertigung direkt lebensbeendender Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt der "Sterbehilfe" von der Rechtsprechung bisher
nicht anerkannt worden. Hieran hält der Senat, auch im Hinblick auf die durch das Dritte Gesetz zur Änderung des
Betreuungsrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl I 2286) geänderte zivilrechtliche Rechtslage, nicht fest.
a) Der Gesetzgeber hat den betreuungsrechtlichen Rahmen einer am Patientenwillen orientierten
Behandlungsbegrenzung durch Gesetz vom 29. Juli 2009 - so genanntes Patientenverfügungsgesetz - (BGBl I
2286) festgelegt. Das am 1. September 2009 in Kraft getretene Gesetz hatte vor allem auch zum Ziel, Rechtsund Verhaltenssicherheit zu schaffen (vgl. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses BT-Drucks. 16/13314
S. 3 f. und 7 f.). Maßstäbe für die gesetzliche Neuordnung waren zum einen das verfassungsrechtlich garantierte
Selbstbestimmungsrecht der Person, welches das Recht zur Ablehnung medizinischer Behandlungen und
gegebenenfalls auch lebensverlängernder Maßnahmen ohne Rücksicht auf ihre Erforderlichkeit einschließt, zum
anderen der ebenfalls von der Verfassung gebotene Schutz des menschlichen Lebens, der unter anderem in den
strafrechtlichen Normen der §§ 212, 216 StGB seinen Ausdruck findet.
In Abwägung dieser Grundsätze hat der Gesetzgeber des Dritten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes nach
umfassenden Beratungen und Anhörungen unter Einbeziehung einer Vielzahl von Erkenntnissen und Meinungen
unterschiedlichster Art entschieden, dass der tatsächliche oder mutmaßliche, etwa in konkreten
Behandlungswünschen zum Ausdruck gekommene Wille eines aktuell einwilligungsunfähigen Patienten
unabhängig von Art und Stadium seiner Erkrankung verbindlich sein und den Betreuer sowie den behandelnden
Arzt binden soll (§ 1901a Abs. 3 BGB; vgl. dazu die Begründung des Gesetzentwurfs BT-Drucks. 16/8442 S. 11 f.;
Diederichsen in Palandt BGB 69. Aufl. § 1901a Rn. 16 ff. u. 29). Eine betreuungsgerichtliche
Genehmigungsbedürftigkeit für Entscheidungen über die Vornahme, das Unterlassen oder den Abbruch
medizinischer Maßnahmen ist auf Fälle von Meinungsdivergenzen zwischen Arzt und Betreuer oder
Bevollmächtigtem über den Willen des nicht selbst äußerungsfähigen Patienten oder über die medizinische
Indikation von Maßnahmen beschränkt (§ 1904 Abs. 2 und 4 BGB). Die Regelungen der §§ 1901a ff. BGB
enthalten zudem betreuungsrechtliche Verfahrensregeln zur Ermittlung des wirklichen oder mutmaßlichen Willens
des Betreuten (vgl. dazu Diederichsen aaO Rn. 4 ff. u. 21 ff.; Diehn/Rebhan NJW 2010, 326; Höfling NJW 2009,
2849, 2850 f.).
b) Diese Neuregelung entfaltet auch für das Strafrecht Wirkung. Allerdings bleiben die Regelungen der §§ 212,
216 StGB von den Vorschriften des Betreuungsrechts unberührt, welche schon nach ihrem Wortlaut eine Vielzahl
weit darüber hinaus reichender Fallgestaltungen betreffen und auch nach dem Willen des Gesetzgebers nicht
etwa strafrechtsspezifische Regeln für die Abgrenzung erlaubter Sterbehilfe von verbotener Tötung enthalten (vgl.
BT-Drucks. 16/8442 S. 7 f. u. 9). Im Übrigen ergibt sich schon aus dem grundsätzlich schrankenlosen und die
unterschiedlichsten betreuungsrechtlichen Fallgestaltungen erfassenden Wortlaut des § 1901a BGB selbst, dass
die Frage einer strafrechtlichen Rechtfertigung von Tötungshandlungen nicht nur als zivilrechtsakzessorisches
Problem behandelt werden kann. Wo die Grenze einerrechtfertigenden Einwilligung verläuft und der Bereich
strafbarer Tötung auf Verlangen beginnt, ist, ebenso wie die Frage nach der Reichweite einer eine
Körperverletzung rechtfertigenden Einwilligung (§ 228 StGB), eine strafrechtsspezifische Frage, über die im Lichte
der Verfassungsordnung und mit Blick auf die Regelungen anderer Rechtsbereiche, jedoch im Grundsatz
autonom nach materiell strafrechtlichen Kriterien zu entscheiden ist (ebenso Verrel, Gutachten zum 66. DJT,
(2006) C 34 ff. und 57 ff.; vgl. auch AE-Sterbebegleitung GA 2005, 533, 564; a.A. Lipp FamRZ 2004, 317;
Neumann/Saliger HRRS 2006, 280, 284; offengelassen für das frühere Betreuungsrecht von Bernsmann ZRP
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 12
1996, 87, 90). Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte diese Grenze durch die Regelungen der §§ 1901a ff.
BGB nicht verschoben werden (BT-Drucks. 16/8442 S. 9). Die §§ 1901a ff. BGB enthalten aber auch eine
verfahrensrechtliche Absicherung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts von Patienten, die selbst
zu einer Willensäußerung nicht (mehr) in der Lage sind. Sie sollen gewährleisten, dass deren Wille über den
Zeitpunkt des Eintritts von Einwilligungsunfähigkeit hinaus gilt und beachtet wird. Diese Neuregelung, die
ausdrücklich mit dem Ziel der Orientierungssicherheit für alle Beteiligten geschaffen wurde, muss unter dem
Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Rechtsordnung (vgl. Reus JZ 2010, 80, 83 f.) bei der Bestimmung der
Grenze einer möglichen Rechtfertigung von kausal lebensbeendenden Handlungen berücksichtigt werden.
4. Das Landgericht hat eine Rechtfertigung des Angeklagten und der Mittäterin durch Einwilligung der betroffenen
Patientin abgelehnt, weil nach seiner Auffassung die Voraussetzungen einer nach bisherigem Recht zulässigen
so genannten passiven Sterbehilfe durch Unterlassen der weiteren künstlichen Ernährung nicht vorgelegen
haben; es hat das Durchtrennen des Schlauchs der PEG-Sonde als aktives Handeln gewertet und deshalb der
Einwilligung der Patientin eine rechtfertigende Wirkung abgesprochen.
a) Diese Ansicht entspricht der bisher in Rechtsprechung und Literatur ganz überwiegend vertretenen Auffassung,
wonach zwischen (unter bestimmten Bedingungen) erlaubter "passiver" und "indirekter" sowie stets verbotener
"aktiver" Sterbehilfe zu unterscheiden sei (vgl. hierzu allgemein: Eser in Schönke/Schröder StGB 27. Aufl.
Vorbem. §§ 211 ff. Rn. 21 ff.; Fischer StGB 57. Aufl. vor §§ 211-216 Rn. 16 ff.; Otto NJW 2006, 2214 ff.; Roxin in
Roxin/Schroth Handbuch des Medizinstrafrechts 4. Aufl. S. 83 ff.; Chr. Schneider, Tun und Unterlassen beim
Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung, 1998 S. 33 ff.; H. Schneider in MüKo-StGB vor §§ 211 ff.
Rn. 88 ff.; Schöch in FS für Hirsch (1999) S. 693 ff.; Schreiber NStZ 2006, 473, 474 ff.; Schroth GA 2006, 549 ff.;
Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis 4. Aufl. (2008) S. 336, Rn. 275 ff., alle mwN; vgl. auch Sterbehilfe und
Sterbebegleitung, Bericht der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz v. 23. April 2004 S. 64 ff.). Das bloße
Einstellen künstlicher Ernährung ist danach schon wegen seines äußeren Erscheinungsbildes, jedenfalls aber
nach dem Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens, nicht als aktives Tun, sondern als Unterlassen
und damit als "passives" Verhalten angesehen worden (BGHSt 40, 257, 265 f.; vgl. dazu auch Coeppicus FPR
2007, 63; Eser aaO Rn. 27 ff.; Fischer aaO Rn. 19 ff.; Rn. 92 u. 104 ff.; Helgerth JR 1995, 338, 339; Kutzer NStZ
1994, 110, 113 f.; ders. FPR 2007, 59, 62; Merkel ZStW Bd. 107 (1995), 545, 554; H. Schneider aaO; Schöch
NStZ 1995, 153, 154; Schroth GA 2006, 549, 550 ff.; Verrel, Gutachten zum 66. DJT, 2006, C 13 ff. u. C 56 f.;
Vogel MDR 1995, 337, 338 f.; Weigend in LK 12. Aufl. § 13 Rn. 8; jew. mwN; grundlegend dazu schon Geilen,
"Euthanasie" und Selbstbestimmung, 1975, S. 22 ff.). Eine zulässige "passive Sterbehilfe" setzt auf der Grundlage
dieser Differenzierung nach bisher herrschender Meinung deshalb stets ein Unterlassen im Rechtssinn (§ 13
StGB) voraus; aktives Handeln im natürlichen Sinne soll danach stets als rechtswidriges Tötungsdelikt im Sinne
der §§ 212, 216 StGB strafbar sein (vgl. Helgerth JR 1995, 338, 339).
b) An diesem an den äußeren Erscheinungsformen von Tun und Unterlassen orientierten Kriterium für die
Abgrenzung zwischen gerechtfertigter und rechtswidriger Herbeiführung des Todes mit Einwilligung oder
mutmaßlicher Einwilligung des betroffenen Patienten hält der Senat nicht fest.
aa) Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat sich in der Vergangenheit selbst auch nicht durchgängig
hieran orientiert, denn ein pflichtwidriges Unterlassen kann den Tatbestand des § 216 StGB ebenfalls erfüllen
(BGHSt 13, 162, 166; 32, 367, 371). Schon dies zeigt, dass die Kriterien für die Abgrenzung zwischen erlaubtem
und verbotenem Verhalten nicht allein in der äußerlichen Handlungsqualität gefunden werden können. Zwar
unterscheidet das Gesetz zwischen dem pflichtwidrigen Unterlassen einer erfolgsabwendenden Handlung und
dem aktiv erfolgsverursachenden Tun grundsätzlich wertungsmäßig, da es in § 13 Abs. 2 StGB für den Fall der
Erfolgsverursachung durch Unterlassen eine fakultative Strafmilderung bereit hält (vgl. Kargl GA 1999, 459 ff.;
Ulsenheimer aaO S. 336). Diese generelle Differenzierung lässt jedoch gleichzeitig die Möglichkeit offen, Tun und
Unterlassen wertungsmäßig gleich zu gewichten und damit auch gleich zu behandeln, wenn der zugrunde
liegende Lebenssachverhalt dies erfordert.
bb) Die Grenze zwischen erlaubter Sterbehilfe und einer nach den §§ 212, 216 StGB strafbaren Tötung kann
nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln bestimmt
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 13
werden. Die Umdeutung der erlebten Wirklichkeit in eine dieser widersprechende normative Wertung, nämlich
eines tatsächlich aktiven Verhaltens, etwa beim Abschalten eines Beatmungsgeräts, in ein "normativ
verstandenes Unterlassen"- mit dem Ziel, dieses Verhalten als "passive Sterbehilfe" rechtlich legitimieren zu
können - ist in der Vergangenheit zu Recht auf Kritik gestoßen und als dogmatisch unzulässiger "Kunstgriff"
abgelehnt worden (vgl. etwa Fischer StGB 57. Aufl. vor §§ 211-216 Rn. 20; Gropp in GS für Schlüchter (2002) S.
173, 184; Hirsch in FS für Lackner (1987) S. 597, 605; Kargl GA 1999, 459, 478 ff.).
Eine solche wertende Umdeutung aktiven Tuns in ein normatives Unterlassen wird den auftretenden Problemen
nicht gerecht. Ein "Behandlungsabbruch" erschöpft sich nämlich nach seinem natürlichen und sozialen Sinngehalt
nicht in bloßer Untätigkeit; er kann und wird vielmehr fast regelmäßig eine Vielzahl von aktiven und passiven
Handlungen umfassen, deren Einordnung nach Maßgabe der in der Dogmatik und von der Rechtsprechung zu
den Unterlassungstaten des § 13 StGB entwickelten Kriterien problematisch ist und teilweise von bloßen Zufällen
abhängen kann. Es ist deshalb sinnvoll und erforderlich, alle Handlungen, die mit einer solchen Beendigung einer
ärztlichen Behandlung im Zusammenhang stehen, in einem normativ-wertenden Oberbegriff des Behandlungsabbruchs zusammenzufassen, der neben objektiven Handlungselementen auch die subjektive
Zielsetzung des Handelnden umfasst, eine bereits begonnene medizinische Behandlungsmaßnahme gemäß dem
Willen des Patienten insgesamt zu beenden oder ihren Umfang entsprechend dem Willen des Betroffenen oder
seines Betreuers nach Maßgabe jeweils indizierter Pflege- und Versorgungserfordernisse zu reduzieren (zum
Begriff des "tätigen Behandlungsabbruchs" vgl. schon Jähnke in LK-StGB 11. Aufl. vor § 211 Rn. 18; ähnl. Roxin
in Roxin/Schroth Handbuch des Medizinstrafrechts 4. Aufl. S. 94 f.; vgl. § 214 AE-Sterbehilfe 1986 und § 214 AESterbebegleitung GA 2005, 552, 560 f. sowie Nr. II u. III der Grundsätze der BÄK zur ärztlichen Sterbebegleitung,
Fassung 2004). Denn wenn ein Patient das Unterlassen einer Behandlung verlangen kann, muss dies
gleichermaßen auch für die Beendigung einer nicht (mehr) gewollten Behandlung gelten, gleich, ob dies durch
Unterlassen weitererBehandlungsmaßnahmen oder durch aktives Tun umzusetzen ist, wie es etwa das
Abschalten eines Respirators oder die Entfernung einer Ernährungssonde darstellen. Dasselbe gilt, wenn die
Wiederaufnahme einer dem Patientenwillen nicht (mehr) entsprechenden medizinischen Maßnahme in Rede
steht (so etwa Eser in Schönke/Schröder/Eser StGB 27. Aufl. vor § 211 Rn. 31 f.; Roxin NStZ 1987, 345, 350; LG
Ravensburg NStZ 1987, 229), die verhindert werden soll.
cc) Da eine Differenzierung nach aktivem und passivem Handeln nach äußerlichen Kriterien nicht geeignet ist,
sachgerecht und mit dem Anspruch auf Einzelfallgerechtigkeit die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer eine
Rechtfertigung des Handelns durch den auf das Unterlassen oder den Abbruch der medizinischen Behandlung
gerichteten Willen des Patienten anzuerkennen ist, müssen andere Kriterien gelten, anhand derer diese
Unterscheidung vorgenommen werden kann. Diese ergeben sich aus den Begriffen der "Sterbehilfe" und des
"Behandlungsabbruchs" selbst und aus der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter vor dem Hintergrund der
verfassungsrechtlichen Ordnung.
Der Begriff der Sterbehilfe durch Behandlungsunterlassung, -begrenzung oder -abbruch setzt voraus, dass die
betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt ist und die betreffende Maßnahme medizinisch zur Erhaltung oder
Verlängerung des Lebens geeignet ist. Nur in diesem engen Zusammenhang hat der Begriff der "Sterbehilfe"
einen systematischen und strafrechtlich legitimierenden Sinn. Vorsätzliche lebensbeendende Handlungen, die
außerhalb eines solchen Zusammenhangs mit einer medizinischen Behandlung einer Erkrankung vorgenommen
werden, sind einer Rechtfertigung durch Einwilligung dagegen von vornherein nicht zugänglich; dies ergibt sich
ohne Weiteres aus § 216 und § 228 StGB und den diesen Vorschriften zugrunde liegenden Wertungen unserer
Rechtsordnung.
Eine durch Einwilligung gerechtfertigte Handlung der Sterbehilfe setzt überdies voraus, dass sie objektiv und
subjektiv unmittelbar auf eine medizinische Behandlung im oben genannten Sinn bezogen ist. Erfasst werden
hiervon nur das Unterlassen einer lebenserhaltenden Behandlung oder ihr Abbruch sowie Handlungen in der
Form der so genannten "indirekten Sterbehilfe", die unter Inkaufnahme eines möglichen vorzeitigen Todeseintritts
als Nebenfolge einer medizinisch indizierten palliativen Maßnahme erfolgen.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 14
Das aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG abgeleitete Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen legitimiert die Person zur
Abwehr gegen nicht gewollte Eingriffe in ihre körperliche Unversehrtheit und in den unbeeinflussten Fortgang
ihres Lebens und Sterbens; es gewährt ihr aber kein Recht oder gar einen Anspruch darauf, Dritte zu
selbständigen Eingriffen in das Leben ohne Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung zu veranlassen.
Eine Rechtfertigung durch Einwilligung kommt daher nur in Betracht, wenn sich das Handeln darauf beschränkt,
einen Zustand (wieder-)herzustellen, der einem bereits begonnenen Krankheitsprozess seinen Lauf lässt, indem
zwar Leiden gelindert, die Krankheit aber nicht (mehr) behandelt wird, so dass der Patient letztlich dem Sterben
überlassen wird. Nicht erfasst sind dagegen Fälle eines gezielten Eingriffs, der die Beendigung des Lebens vom
Krankheitsprozess abkoppelt (vgl. zu dieser Unterscheidung auch Höfling JuS 2000, 111, 113; Verrel, Gutachten
zum 66. DJT, 2006, C 64).
Eine solche Unterscheidung nach den dem Begriff des Behandlungsabbruchs immanenten Kriterien der
Behandlungsbezogenheit und der Verwirklichung des auf die Behandlung bezogenen Willens der betroffenen
Person ist besser als die bisherige, dogmatisch fragwürdige und praktisch kaum durchführbare Unterscheidung
zwischen aktivem und passivem Handeln geeignet,dem Gewicht der betroffenen Rechtsgüter in der Abwägung
Geltung zu verschaffen und für alle Beteiligten eine klare rechtliche Orientierung zu bieten.
Die tatbestandlichen Grenzen des § 216 StGB bleiben hierdurch unberührt. Dies entspricht auch der Intention des
Gesetzgebers des Dritten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes, wonach Handlungen, die der Ablehnung einer
medizinischen Maßnahme oder der Untersagung ihrer Fortführung durch den betroffenen Patienten Rechnung
tragen, von einer Tötung auf Verlangen i.S.d. § 216 StGB strikt zu unterscheiden sind (vgl. BT-Drucks. 16/8442 S.
3, 7 f.).
dd) Für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens gelten beweismäßig strenge Maßstäbe, die
der hohen Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter Rechnung zu tragen haben (vgl. schon BGHSt 40, 257, 260 f.).
Dies hat insbesondere zu gelten, wenn es beim Fehlen einer schriftlichen Patientenverfügung um die Feststellung
eines in der Vergangenheit mündlich geäußerten Patientenwillens geht. Die Verfahrensregeln der §§ 1901a ff.
BGB, insbesondere das zwingend erforderliche Zusammenwirken von Betreuer oder Bevollmächtigtem und Arzt
sowie gegebenenfalls die Mitwirkung des Betreuungsgerichts, sichern die Beachtung und Einhaltung dieser
Maßstäbe.
c) Die Anwendung der oben dargelegten Grundsätze einer Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs ist nicht auf
das Handeln der den Patienten behandelnden Ärzte sowie der Betreuer und Bevollmächtigten beschränkt,
sondern kann auch das Handeln Dritter erfassen, soweit sie als von dem Arzt, dem Betreuer oder dem
Bevollmächtigten für die Behandlung und Betreuung hinzugezogene Hilfspersonen tätig werden. Dies folgt schon
daraus, dass sich ein Behandlungsabbruch in der Regel nicht in einzelnen Handlungen oder Unterlassungen
erschöpft, sondern unter Umständen ein Bündel von meist palliativmedizinischen Maßnahmen erfordert, die nicht
notwendig vom behandelnden Arzt selbst vorgenommen werden müssen.
5. Ob der Senat mit der dargelegten Auslegung des § 216 StGB und der Inhaltsbestimmung des
Rechtfertigungsgrunds der Einwilligung im Rahmen der Sterbehilfe von früheren tragenden Entscheidungen
anderer Senate des Bundesgerichtshofs abweicht, kann dahinstehen, weil der Senat auf der Grundlage der
neuen gesetzlichen Regelung der §§ 1901a ff. BGB zu entscheiden hatte; eine Anfrage gem. § 132 Abs. 3 GVG
war daher nicht geboten (vgl. BGHSt 44, 121, 124; BGH NStZ 2002, 160 f.). Wäre nach der Rechtslage vor dem
1. September 2009 das Handeln des Angeklagten nicht gerechtfertigt gewesen, so wäre die Rechtsänderung
jedenfalls gemäß § 2 Abs. 3 StGB und § 354a StPO zu seinen Gunsten zu berücksichtigen.
6. Der Angeklagte hat als von den Betreuern der Frau K. hinzugezogener und sie beratender Rechtsanwalt
ebenso wenig rechtswidrig gehandelt wie die Betreuer selbst. Er war deshalb gemäß § 354 Abs. 1 StPO durch
den Senat freizusprechen.
II. Die Revision der Staatsanwaltschaft
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 15
Die allein gegen die Strafzumessung gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft ist nach alledem unbegründet
und war deshalb zu verwerfen.
Rissing-van Saan Fischer RoggenbuckAppl Schmitt
VI ZR 252/08 Verkündet am: 11.05.2010.
Will ein Patient abweichend von den Grundsätzen des totalen Krankenhausaufnahmevertrags seine
Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff auf einen bestimmten Arzt beschränken, muss er seinen
entsprechenden Willen eindeutig zum Ausdruck bringen. Der von einem Patienten geäußerte Wunsch
oder seine subjektive Erwartung, von einem bestimmten Arzt operiert zu werden, reichen nicht für die
Annahme einer auf eine bestimmte Person beschränkten Einwilligung aus. Die Klage des Patienten auf
Schmerzensgeld wurde abgewiesen.
BGH, Urteil vom 11. 05.2010 - VI ZR 252/08 - OLG Köln
LG Aachen Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 11. 05.2010 durch
die Richter Zoll, Wellner, Pauge und Stöhr und die Richterin von Pentz
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 25. 08.2008
aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das
Berufungsgericht zurückverwiesen.
1. Nach einer Operation am Kniegelenk im M.Hospital in A. wurde die gesetzlich krankenversicherte Klägerin von
Januar bis 07.2001 drei Mal durch den leitenden Oberarzt Dr. E. im Klinikum der Beklagten behandelt. Dieser
führte im 01.2001 eine Tibiakopfosteotomie mit Fibulakopfosteotomie linksseitig durch, entfernte im 05.2001 die
gelockerte Osteosyntheseklammer und nahm im 07.2001 eine Reosteotomie und Plattenosteosynthese vor. Nach
einem Vorgespräch zwischen der Klägerin und Dr. E. wurde die Klägerin am 18. 10.2001 durch Dr. S. aufgeklärt,
wobei sie einen Aufklärungsbogen unterzeichnete. Am 19. Oktober entfernte der in der Facharztausbildung
befindliche Arzt Dr. L. unter Aufsicht des Oberarztes Dr. H. das Osteosynthesematerial. Intraoperativ kam es zu
einer Blutung und Übernahme der Operation durch Dr. H. Am 20. 10.2001 wurde eine Läsion des Nervus
peronaeus festgestellt. Trotz weiterer Operationen kann die Klägerin seit der Verletzung des Nervs nicht mehr
normal stehen und gehen.
2. Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schmerzensgeld und Ersatz ihres Verdienstausfalls bis Ende 10.2004 in
Anspruch. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht
die Beklagte verurteilt, an die Klägerin einen Schmerzensgeldbetrag von 30.000 € sowie weitere 26.994 € zu
zahlen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren
Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe:
I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Urteil unter anderem in VersR 2009, 785 veröffentlicht ist, war
der Eingriff vom 19. 10.2001 nicht von der Einwilligung der Klägerin gedeckt, weil die Einwilligung auf einen
Eingriff durch Dr. E. beschränkt gewesen sei. Infolge eines Organisationsverschuldens der Beklagten sei es zu
der rechtswidrigen Operation durch die Ärzte Dr. L. und Dr. H. gekommen. Nach dem Sachvortrag der Beklagten
und der inhaltsgleichen Aussage des Zeugen Dr. E. habe dieser auf die Bitte der Klägerin in dem Vorgespräch
erklärt, er werde die Operation, sofern möglich, selbst durchführen. Dass die unbedingte Zusage einer Operation
durch den Arzt Dr. E. nicht vorgelegen habe, bedeute nicht notwendig, dass eine Beschränkung der Einwilligung
der Klägerin nicht in Betracht komme. Da die Frage, wer operiere, während des Aufklärungsgesprächs nicht
angesprochen oder erörtert worden sei, seien keine neuen Abreden getroffen worden. Daher habe die Klägerin
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 16
nicht in die von anderen Ärzten durchgeführte Operation eingewilligt, weil eine Operation durch andere Ärzte nicht
aus sachlichen Gründen geboten gewesen sei. Wer eine - verbindliche oder aber auch unverbindliche Absprache über die Person des Operateurs treffe, sei in aller Regel nicht mit einer ihm nicht offenbarten
Durchführung der Operation durch einen anderen Arzt einverstanden.
II.
4. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des
Berufungsgerichts war die Einwilligungserklärung der Klägerin in die Operation nicht auf einen Eingriff durch Dr.
E. beschränkt. Die abweichende Auffassung des Berufungsgerichts wird den Grundsätzen, die für den so
genannten totalen Krankenhausaufnahmevertrag gelten, nicht gerecht.
5. 1. a) Die Klägerin hat mit der Beklagten einen einheitlichen, so genannten totalen
Krankenhausaufnahmevertrag geschlossen. Bei dieser Regelform der stationären Krankenhausbetreuung hat der
Patient grundsätzlich keinen Anspruch darauf, von einem bestimmten Arzt behandelt und operiert zu werden. Zur
Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Behandlungsvertrag kann sich der Krankenhausträger vielmehr
grundsätzlich seines gesamten angestellten Personals bedienen (vgl. OLG Celle VersR 1982, 46 f.; OLG Düsseldorf VersR 1985, 1049, 1051; OLG
Stuttgart MedR 1986, 201, 202; OLG München, Urteil vom 9. 03.2006 - 1 U 4297/05 - juris Rn. 13; OLG Oldenburg MedR 2008, 295) . Dem Krankenhausträger als alleinigem
Vertragspartner ist es insbesondere überlassen, den Operationsplan so aufzustellen, dass alle Krankenhausärzte
nach Möglichkeit gleichmäßig herangezogen und entsprechend ihrem jeweiligen Können eingesetzt werden, so
dass einerseits die höher qualifizierten und erfahrenen Ärzte für die schwierigeren Eingriffe zur Verfügung stehen
und andererseits den noch nicht so erfahrenen Assistenzärzten - unter Überwachung durch einen erfahrenen
Kollegen - die Möglichkeit gegeben werden kann, sich anhand von weniger schwierigen Eingriffen weiter zu
bilden. Anders wäre die Aufstellung eines den verschiedenen Schwierigkeitsgraden der Eingriffe gerecht
werdenden Operationsplans wie auch eine vernünftige Aus- und Weiterbildung der Ärzte in Krankenhäusern nicht
möglich (vgl. OLG Celle, aaO).
6. b) Auch beim totalen Krankenhausaufnahmevertrag bleibt es dem Patienten allerdings unbenommen zu
erklären, er wolle sich nur von einem bestimmten Arzt operieren lassen. In diesem Fall darf ein anderer Arzt den
Eingriff nicht vornehmen. Einen Anspruch darauf, dass der gewünschte Operateur tätig wird, hat der Patient
jedoch nicht; er muss sich, wenn er nicht doch noch darin einwilligt, dass ein anderer Arzt den Eingriff vornimmt,
gegebenenfalls damit abfinden, unbehandelt entlassen zu werden (OLG Celle, aaO). Ist ein Eingriff durch einen
bestimmten Arzt, regelmäßig den Chefarzt, vereinbart oder konkret zugesagt, muss der Patient rechtzeitig
aufgeklärt werden, wenn ein anderer Arzt an seine Stelle treten soll. Sofern die Einwilligung nicht eindeutig auf die
Behandlung durch einen bestimmten Arzt beschränkt ist, erstreckt sie sich grundsätzlich auch auf die Behandlung
durch einen anderen Arzt (vgl. OLG Oldenburg, aaO; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 6. Aufl., C 15). Denn ein gesetzlich versicherter Patient
erklärt sich beim totalen Krankenhausaufnahmevertrag im Regelfall mit der Behandlung durch alle diejenigen
Ärzte einverstanden, die nach dem internen Dienstplan zuständig sind (vgl. Kollhosser/Kubillus JA 1996, 339, 341; Staudinger/Hager, BGB (2009),
§ 823 Rn. I 109).
7. c) Die beim totalen Krankenhausaufnahmevertrag bestehende Situation ist von den Fällen zu unterscheiden, in
denen der Patient aufgrund eines Zusatzvertrags Wahlleistungen, insbesondere die so genannte
Chefarztbehandlung, in Anspruch nimmt. In diesen Fällen ist der Arzt gegenüber dem Patienten aus einer
ausdrücklichen Wahlleistungsvereinbarung verpflichtet und muss seine Leistungen gemäß § 613 Satz 1 BGB
grundsätzlich selbst erbringen. Der Patient schließt einen solchen Vertrag nämlich im Vertrauen auf die
besonderen Erfahrungen und die herausgehobene medizinische Kompetenz des von ihm ausgewählten Arztes
ab, die er sich in Sorge um seine Gesundheit gegen Entrichtung eines zusätzlichen Honorars für die
Heilbehandlung sichern will. Demzufolge muss der Wahlarzt die seine Disziplin prägende Kernleistung persönlich
und eigenhändig erbringen. Insbesondere muss der als Wahlarzt verpflichtete Chirurg die geschuldete Operation
grundsätzlich selbst durchführen, sofern er mit dem Patienten nicht eine Ausführung seiner Kernleistungen durch
einen Stellvertreter wirksam vereinbart hat (vgl. BGHZ 175, 76 Rn. 7 ff. m.w.N.).
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 17
8. 2. Das Berufungsgericht meint, aus objektiver Sicht der behandelnden Ärzte, die den Informationsfluss zu
gewährleisten hatten, sei das Verhalten der Klägerin dahin zu verstehen gewesen, dass sie das Krankenhaus nur
deshalb aufgesucht habe, weil nach der - wenn auch unverbindlichen - Erklärung von Dr. E. grundsätzlich eine
Operation durch diesen zu erwarten gewesen sei, während die Klägerin sich für den Fall seiner Verhinderung
oder der Einteilung eines anderen Operateurs eine endgültige Entscheidung vorbehalten habe. Insofern sei
unerheblich, dass die Frage des Operateurs nicht Gegenstand des Aufklärungsgesprächs am Vortag der
Operation gewesen sei und die Klägerin ihren Wunsch, durch Dr. E. operiert zu werden, in dem
Aufklärungsgespräch nicht erwähnt habe.
9. Gegen diese Würdigung wendet sich die Revision mit Erfolg. Die tatrichterliche Auslegung ist für das
Revisionsgericht nicht bindend, wenn gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, Denkgesetze
oder Erfahrungssätze verletzt sind. Zu den allgemein anerkannten Auslegungsregeln gehört der Grundsatz einer
nach beiden Seiten hin interessengerechten Auslegung (vgl. BGHZ 131, 136, 138; 137, 69, 72; 149, 337, 353; 150, 32, 39). Im Streitfall beruht
die Würdigung des Berufungsgerichts auf der Auslegungsregel, dass auch derjenige, welcher eine unverbindliche
Absprache über die Person des Operateurs trifft, in aller Regel nicht mit einer Operation durch einen anderen Arzt
einverstanden ist. Dieser Ansatz ist rechtsfehlerhaft, weil er beim totalen Krankenhausaufnahmevertrag dem
Grundsatz einer nach beiden Seiten hin interessengerechten Auslegung nicht gerecht wird. Bei einem solchen
Vertrag kann der Patient grundsätzlich nicht erwarten, von einem bestimmten Arzt behandelt zu werden. Wenn
der Patient ausschließlich in die Operation durch einen bestimmten Arzt einwilligen will, obgleich er keinen
entsprechenden Arztzusatzvertrag abgeschlossen hat, muss er demgemäß in Anbetracht des dem
Krankenhausträger grundsätzlich zustehenden Rechts, sich für die Behandlung seines gesamten Personals zu
bedienen, eindeutig zum Ausdruck bringen, dass er nur von einem bestimmten Arzt operiert werden will. Der von
einem Patienten geäußerte Wunsch oder seine subjektive Erwartung, von einem bestimmten Arzt operiert zu
werden, reichen nicht für die Annahme einer auf eine bestimmte Person beschränkten Einwilligung aus (vgl. OLG Celle,
aaO, 47; OLG München, Urteil vom 9. 03.2006 - 1 U 4297/05 - juris Rn. 16; Bender, VersR 2010, 450, 451).
10. Dies gilt auch dann, wenn ein Krankenhausarzt auf die Bitte des Patienten in einem Vorgespräch erklärt, er
werde die Operation, sofern möglich, selbst durchführen. Eine solche Erklärung bringt zum Ausdruck, dass die
persönliche Übernahme des Eingriffs nicht verbindlich zugesagt werden soll. Es würde den Interessen der
behandelnden Ärzte und der Krankenhausträger nicht gerecht, wenn bereits eine solche nicht verbindliche
Erklärung eines Arztes die erteilte Einwilligung auf seine Person beschränken und dazu führen würde, dass ein
von einem anderen Krankenhausarzt durchgeführter Eingriff wegen der fehlenden Einwilligung rechtswidrig wäre.
Könnte in solchen Fällen keine wirksame Einwilligung in die Behandlung durch andere Ärzte vorliegen, bestünde
eine erhebliche Rechtsunsicherheit, weil Krankenhausärzte und Krankenhausträger beim totalen
Krankenhausaufnahmevertrag grundsätzlich darauf vertrauen dürfen, dass die erteilte Einwilligung nicht an die
Behandlung durch eine bestimmte Person gebunden ist. Es würde die Organisation vor allem in großen
medizinischen Einrichtungen über Gebühr erschweren, wenn auch nicht verbindliche Erklärungen zu einer
Haftung aus Organisationsverschulden führen könnten, und dies - wie im Streitfall - sogar dann, wenn der Wille
des Patienten, nur von einem bestimmten Arzt behandelt zu werden, im Aufklärungsgespräch und bei der
Einwilligung des Patienten in den Eingriff nicht erklärt wird. Dies wäre weder im Hinblick auf eine möglichst
wirtschaftliche Organisation der Krankenhäuser, zu deren Aufgaben es gehört, im Interesse aller Patienten einen
den verschiedenen Schwierigkeitsgraden der Eingriffe gerecht werdenden Operationsplan aufzustellen und eine
vernünftige Aus- und Weiterbildung der Ärzte zu gewährleisten, noch im Hinblick auf eine Gleichbehandlung der
gesetzlich versicherten Patienten sachgerecht. Andererseits wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten
nicht über Gebühr beeinträchtigt, wenn man die von den Grundsätzen des totalen Krankenhausaufnahmevertrags
abweichende Beschränkung der Einwilligung auf einen bestimmten Arzt nur dann annimmt, wenn der Patient
seinen entsprechenden Willen eindeutig zum Ausdruck bringt.
11. 3. Nach den getroffenen Feststellungen war die Einwilligung der Beklagten nicht auf einen Eingriff durch Dr. E.
als Operateur beschränkt. Das Berufungsurteil ist mithin aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht
zurückzuverweisen, damit es die bisher von seinem Standpunkt aus folgerichtig nicht getroffenen Feststellungen
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 18
zu dem mit der Berufung geltend gemachten vermeintlichen Behandlungsfehler und der behaupteten
unzureichenden Qualifikation des Arztes Dr. L. nachholen kann.
Zoll Wellner Pauge Stöhr von Pentz
Vorinstanzen: LG Aachen, Entscheidung vom 09.01.2008 - 11 O 524/05 AG Gmünden vom 03.02.2010
Verurteilung des gynäkologischen Operateurs und des Assistenten zu Freiheitsstrafen auf Bewährung wegen
fahrlässiger Tötung und des Narkosearztes zu einer Geldstrafe wegen fahrlässiger Körperverletzung.
Gynäkologischer Operateur und Assistent im fachübergreifenden Bereitschaftsdienst hatten nach einer
Kaiserschnittentbindung nicht fachgerecht auf eine Blutung reagiert, die Patientin verstarb an den Folgen eines
unbehandelten Volumenmangelschocks. Der Narkosearzt hatte telefonisch in Verkennung der Situation eine
falsche medikamentöse Maßnahme angeordnet.
VI ZB 51/09 vom 15.12.2009.
Versäumter Blutzuckertest wird alsgrober Behandlungsfehler bewertet: Die Rechtsbeschwerde des
Patienten hat Erfolg, das Landgericht hat unter Verkennung der Rechtsprechung des Senats eine bloße
Mitursächlichkeit des groben Behandlungsfehlers für den Zustand des Klägers nicht in Erwägung
gezogen.
in dem Rechtsstreit Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15. 12.2009 durch den Vorsitzenden
Richter Galke, den Richter Zoll, die Richterin Diederichsen, den Richter Stöhr und die Richterin von Pentz
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 12. Zivilsenats des Brandenburgischen
Oberlandesgerichts vom 21. 07.2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das
Berufungsgericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 221.066,68 €
Gründe:
I.
1. Der Kläger verlangt von der Beklagten Zahlung von Schmerzensgeld und die Feststellung, dass die Beklagte
zum Ersatz der künftigen materiellen und immateriellen Schäden aus der ärztlichen Behandlung in ihrer
Einrichtung am 25. und 26. 02.2003 verpflichtet ist. Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines
gerichtlichen Sachverständigengutachtens abgewiesen.
2. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Behandlung des Klägers durch die Ärzte der Beklagten unter
medizinischen Gesichtspunkten weitgehend nicht zu beanstanden sei. Dies gelte trotz der in der Notaufnahme am
25. 02.2003 unterbliebenen Untersuchung auf die genetisch bedingte Stoffwechselstörung MCAD (Medium Chain AcylCoA
Dehydrogenase) und der Unterlassung einer sofortigen Wärmezufuhr nach der stationären Aufnahme am folgenden Tag.
Der Kläger sei hinreichend mit Sauerstoff versorgt worden. Nicht akzeptabel und aus medizinischer Sicht
unverständlich sei allerdings, dass die Ärzte der Beklagten versäumt hätten, unmittelbar nach der stationären
Aufnahme die bestehende Hypoglykämie des Klägers festzustellen und Glukose zuzuführen. Jedoch habe sich
dieses Versäumnis auf die gesundheitliche Situation des Klägers nicht mehr ausgewirkt. Aus dem Zustand des
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Klägers bei seiner Einlieferung müsse geschlossen werden, dass auch mit der früheren Gabe von Glukose dem
Kläger nicht genug Kalorien zugeführt worden wären, um die Wirkung der bereits im Körper des Klägers
vorhandenen Giftstoffe zu vermindern.
3. Gegen das am 20. 01.2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 19. 02.2009 Berufung eingelegt. Nach
Verlängerung der Begründungsfrist hat er die Berufung mit Schriftsatz vom 20. 04.2009 begründet. Das
Berufungsgericht hat nach Erteilung eines Hinweises mit Fristsetzung zur Stellungnahme die Berufung durch den
angefochtenen Beschluss als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.
II.
4. 1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt:
5. Die Berufungsbegründung genüge nicht den Anforderungen nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 ZPO. Sie
beschränke sich auf die Wiederholung der Auffassung des Klägers, dass die Behandlung im Hause der Beklagten
fehlerhaft gewesen sei, ohne jedoch konkret auf die dem Urteil zugrunde liegenden Ausführungen des
Sachverständigen einzugehen und darzulegen, aufgrund welcher konkreten Anhaltspunkte im vorliegenden Fall
Anlass zu einer erneuten Tatsachenfeststellung bestehe. Soweit der Kläger im Schriftsatz vom 9. 07.2009
ausführlich zu den Ausführungen des Sachverständigen Stellung nehme und die Feststellungen des
Sachverständigen teilweise als falsch oder widersprüchlich angreife und dazu ausführe, die fehlende bzw. nicht
rechtzeitige Glukosezufuhr sei jedenfalls mitursächlich für die beim Kläger eingetretene Schädigung des Gehirns
gewesen, seien diese Ausführungen nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist erfolgt und könnten daher die
fehlende Auseinandersetzung mit den tragenden Urteilsgründen im Rahmen der Berufungsbegründung nicht
mehr heilen.
6. 2. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO). Sie ist auch im Übrigen zulässig. Das
Berufungsgericht versagt aufgrund von überspannten Anforderungen an die Ordnungsmäßigkeit der
Berufungsbegründung dem Kläger den Zugang zur Berufungsinstanz. Die angefochtene Entscheidung beruht
mithin auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und der Versagung wirkungsvollen
Rechtsschutzes für den Beschwerdeführer (BGHZ 154, 288, 296; 159, 135, 139 f. zu § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO).
7. a) § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 bis 4 ZPO konkretisiert die inhaltlichen Anforderungen an die Berufungsgründe und
trägt der verstärkten Funktionsdifferenzierung zwischen erster und zweiter Instanz Rechnung. Da die Berufung in
erster Linie ein Instrument zur Fehlerkontrolle und Fehlerbeseitigung sein soll, muss sich sinnvoller Weise auch
der Inhalt der Berufungsbegründung an dieser Zielsetzung orientieren. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 ZPO sind
auf das Prüfungsprogramm des § 513 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugeschnitten, § 520 Abs. 3
Satz 2 Nr. 4 ZPO auf das des § 513 Abs. 1 ZPO i.V.m. §§ 529 Abs. 1 Nr. 2, 531 Abs. 2 ZPO. Nach § 520 Abs. 3
Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des
Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt. Dazu
gehört eine aus sich heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der
Berufungskläger bekämpft und welche Gründe er ihnen entgegensetzt (BGH, Beschluss vom 27. 05.2008 - XI ZB 41/06 - NJWRR 2008, 1308, 1309;
Urteile vom 14. 11.2005 - II ZR 16/04 - NJWRR 2006, 499, 500; vom 24. 06.2003 - IX ZR 228/02 - NJW 2003, 3345 und vom 18. 06.1998 - IX ZR 389/97 - NJW 1998, 3126). Die Darstellung
muss dabei auf den Streitfall zugeschnitten sein (BGH, Beschluss vom 5. 03.2007 - II ZB 4/06 - NJWRR 2007, 1363). Da das Berufungsgericht
an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen grundsätzlich gebunden ist (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO),
muss die Berufung, die den festgestellten Sachverhalt angreifen will, eine Begründung dahin enthalten, warum die
Bindung an die festgestellten Tatsachen ausnahmsweise nicht bestehen soll. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 und 4
ZPO regeln diese Anforderungen näher. Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO muss der Berufungsführer konkrete
Anhaltspunkte bezeichnen, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im
angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Dazu gehört eine aus sich
heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der Berufungskläger
bekämpft und welche Gründe er ihnen entgegensetzt (Senat, Beschluss vom 18. 10.2005 - VI ZB 81/04 - VersR 2006, 285 Rn. 8; BGHZ 162, 313, 317 f.; Beschluss
vom 27. 05.2008 - XI ZB 41/06 - NJWRR 2008, 1308 Rn. 11 m.w.N.). Zur Darlegung der Fehlerhaftigkeit genügt die Mitteilung der Umstände, die
das Urteil aus der Sicht des Berufungsklägers in Frage stellen. Besondere formale Anforderungen werden nicht
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 20
gestellt; für die Zulässigkeit der Berufung ist es insbesondere ohne Bedeutung, ob die Ausführungen in sich
schlüssig oder rechtlich haltbar sind (vgl. BGH, Beschluss vom 21. 05.2003 - VIII ZB 133/02 - NJWRR 2003, 1580). Die Begründung des
Beschwerdeführers genügt diesen Anforderungen.
8. b) In der Rechtsmittelschrift wendet er sich gegen die Würdigung des Landgerichts, dass der Beklagten ein
Behandlungsfehler bei der ersten Behandlung des Klägers am 25. 02.2003 in der Notfallaufnahme nicht
anzulasten sei. Hierzu trägt der Beschwerdeführer vor, den Ärzten der Beklagten habe zum ersten
Einlieferungszeitpunkt am 25. 02.2003 bekannt sein müssen, dass im Gegensatz zu anderen Bundesländern im
Lande Brandenburg bei älteren, aber auch bei im Jahr 2001 geborenen Kindern, im Rahmen der Untersuchung
U1 ff. keine MCAD-Mangel-Untersuchungen über eine Stoffwechselerkrankung durchgeführt worden seien und
deshalb dem Kläger in jedem Fall Flüssigkeit hätte zugeführt werden müssen. Hierfür bietet er Beweis an durch
den Zeugen F. und Sachverständigengutachten. Er weist darauf hin, dass bei ausreichender Flüssigkeitszufuhr
am 25. 02.2003 die Krampfanfälle nicht aufgetreten wären.
9. Des Weiteren bemängelt der Kläger, dass das Landgericht Behandlungsfehler der Beklagten in Form von
unterlassenen Maßnahmen gegen die Unterkühlung und die Sauerstoffunterversorgung nach der stationären
Aufnahme des Klägers am 26. 02.2003 verneint habe. Auch hierzu bietet er Beweis durch
Sachverständigengutachten an.
10. Im Übrigen stimmt die Berufungsbegründung zwar in der Würdigung des Behandlungsgeschehens mit der im
Urteil des Landgerichts überein, dass es inakzeptabel gewesen sei, dem Kläger nicht sofort nach der Aufnahme in
das Krankenhaus Glukose zuzuführen. Doch behauptet der Beschwerdeführer, dass es bei rechtzeitiger richtiger
Behandlung zu keiner Störung in dem nunmehr vorliegenden Ausmaße gekommen wäre und das Landgericht die
damit verbundenen Leiden des Klägers verkannt habe. Mit Recht sieht die Rechtsbeschwerde darin die Rüge,
dass das Landgericht unter Verkennung der Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsurteil vom 1. 10.1996 - VI ZR 10/96 - VersR 1997, 362 f.)
eine bloße Mitursächlichkeit des groben Behandlungsfehlers für den Zustand des Klägers nicht in Erwägung
gezogen habe.
11. c) Da mithin innerhalb der Berufungsfrist Gründe der Anfechtung genannt worden sind, ist die Berufung
zulässig. Das Berufungsgericht wird danach zu prüfen haben, ob und gegebenenfalls inwieweit das Vorbringen im
Schriftsatz des Klägers vom 9. 07.2009 im Berufungsverfahren zu berücksichtigen ist (vgl. Senat, BGHZ 159, 245, 249).
Galke Zoll Diederichsen Stöhr von Pentz Vorinstanzen: LG Potsdam, Entscheidung vom 15.01.2009 - 11 O 55/05,
OLG Brandenburg, Entscheidung vom 21.07.2009 - 12 U 31/09
BGH, Urteil vom 12.11.2009 - III ZR 110/09 - OLG Zweibrücken, LG Frankenthal
Vereinbarungen zwischen Krankenhausträgern und niedergelassenen Ärzten über deren Zuziehung im
Rahmen allgemeiner Krankenhausleistungen (Konsiliararztverträge) unterliegen nicht den Vorschriften
der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ).Demzufolge darf der Einfachsatz unterschritten werden. Die Klage
der niedergelassenen Ärzte wurde abgewiesen.
GOÄ § 1 Abs. 1; KHEntgG § 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2; RhPfBerufsO Ärztinnen und Ärzte §§ 12, 31
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 12. 11.2009 durch den
Vizepräsidenten Schlick und die Richter Dörr, Hucke, Seiters und Tombrinkfür Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken
vom 10. 03.2009 wird zurückgewiesen.Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsrechtszugs zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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[1] Die Klägerin, eine Gemeinschaftspraxis von Röntgenärzten, erbrachte in den Jahren 2004 und 2005 für das
von der Beklagten betriebene St. V. Krankenhaus in S. in 561 Fällen radiologische Leistungen für
Regelleistungspatienten des Krankenhauses. Sie berechnete der Beklagten hierfür insgesamt 197.491,94 €,
wobei sie für einen Großteil ihrer Leistungen einen Steigerungssatz von 1,2 des Gebührensatzes der GOÄ(GOÄ)
zugrunde legte. Mit Rücksicht auf eine mit dem früheren Praxisinhaber geschlossene mündliche Vereinbarung
zahlte die Beklagte unter Zugrundelegung eines einheitlichen Steigerungssatzes von 0,75 des Gebührensatzes
hierauf nur 122.917,09 € .
[2] Die Klägerin, die diese Vereinbarung bereits wegen Nichteinhaltung der in § 2 Abs. 2 GOÄ vorgesehenen
Schriftform für unwirksam hält, nimmt die Beklagte auf den Unterschiedsbetrag von 74.574,85 € nebst Zinsen in
Anspruch. Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Oberlandesgericht zugelassenen
Revision verfolgt die Klägerin ihren Antrag weiter.
Entscheidungsgründe
[3] Die Revision ist nicht begründet.
[4] I. Hintergrund der hier zu beurteilenden Leistungsbeziehungen zwischen der radiologischen Praxis der
Klägerin und dem Krankenhaus ist der Umstand, dass das Krankenhaus über keine radiologische Abteilung
verfügte. Soweit daher für stationär aufgenommene Patienten radiologische Leistungen erforderlich waren,
musste sich das Krankenhaus diese Leistungen durch externe Ärzte beschaffen. Diese Leistungen sind nach § 2
Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 KHEntgG Bestandteil der allgemeinen Krankenhausleistungen; bei diesen handelt es sich um
die Krankenhausleistungen, die unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Krankenhauses im Einzelfall
nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinisch zweckmäßige und ausreichende Versorgung des
Patienten notwendig sind. Mit den Entgelten für die allgemeinen Krankenhausleistungen (§ 7 KHEntgG) werden die für
die sachgerechte Behandlung der Patienten erforderlichen Leistungen vergütet. Soweit es sich um
sozialversicherte Patienten oder Privatpatienten handelt, die darauf verzichten, wahlärztliche Leistungen in
Anspruch zu nehmen, sind auch die Leistungen eines vom Krankenhaus hinzugezogenen externen Arztes als
Bestandteil der allgemeinen Krankenhausleistungen mit diesen Entgelten abgegolten (vgl. Senatsurteile BGHZ 151, 102, 106; 172, 190,
195 f Rn. 19). Die Leistungen der Klägerin sind daher aus den Mitteln des Krankenhauses zu honorieren, ohne dass die
Patienten in Anspruch genommen werden könnten oder die Honorierung über die kassenärztliche Vereinigung
vorgenommen werden könnte (vgl. allgemein zum Honorararzt im Krankenhaus Quaas, GesR 2009, 459).
[5] II. Das Berufungsgericht (GesR 2009, 415) ist der Auffassung, dass die nur mündlich getroffene, das Einfache des
Gebührensatzes unterschreitende Vergütungsabrede wirksam ist. Denn auf die von dem Rechtsvorgänger der
Klägerin und dem Krankenhausträger geschlossene Vereinbarung, die als Rahmenvertrag im Sinne eines
Konsiliararztvertrags anzusehen sei, sei die GOÄnicht anzuwenden. Eine zwingende Anwendung der GOÄ auf
das Vertragsverhältnis der Parteien lasse sich nicht mit den in der Verordnung getroffenen Regelungen unter
Berücksichtigung der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage in § 11 der Bundesärzteordnung (BÄO) vereinbaren.
Sie berücksichtige zwar die Interessen des selbst zahlenden Patienten und der öffentlichen Leistungsträger, trage
aber der hier gegebenen Vertragsgestaltung nicht ausreichend Rechnung.
[6] Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung stand.
[7] 1. Nach § 1 Abs. 1 GOÄ bestimmen sich die Vergütungen für die beruflichen Leistungen der Ärzte nach dieser
Verordnung, soweit nicht durch Bundesgesetz etwas anderes bestimmt ist. In § 11 BÄO wird die Bundesregierung
ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Entgelte für ärztliche Tätigkeit in einer
Gebührenordnung zu regeln. In dieser Gebührenordnung sind Mindest- und Höchstsätze für die ärztlichen
Leistungen festzusetzen. Dabei ist den berechtigten Interessen der Ärzte und der zur Zahlung der Entgelte
Verpflichteten Rechnung zu tragen. Danach handelt es sich bei der ärztlichen Gebührenordnung, wie der Senat
entschieden hat (Urteil vom 23. 03.2006 - III ZR 223/05 - NJW 2006, 1879, 1880 Rn. 10), um ein für alle Ärzte geltendes zwingendes Preisrecht,
das verfassungsrechtlich unbedenklich ist und weder die Kompetenzordnung des Grundgesetzes noch die
Berufsfreiheit der Ärzte verletzt (vgl. BVerfGE 68, 319, 327 ff = NJW 1985, 2185 ff; BVerfG <Kammerbeschlüsse> NJW 1992, 737; 2005, 1036, 1037).
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[8] 2. Ungeachtet des weit gefassten Wortlauts des § 1 Abs. 1 GOÄ, der die Vergütungen für ärztliche Leistungen
insgesamt zu erfassen scheint, teilt der Senat jedoch die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die GOÄ für die
hier entfaltete Tätigkeit der Ärzte der Klägerin nicht anwendbar ist. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass
die Vertragsschließenden, was ohne weiteres zulässig ist, sich für die Vergütung der von den Ärzten der Klägerin
erbrachten Leistungen am Gebührenverzeichnis der Gebührenordnung orientiert und einen bestimmten
Steigerungsfaktor vereinbart haben. Eine Schriftform war daher für die Vereinbarung nicht zu beachten.
[9] a) Die GOÄ regelt, für welche Leistungen und in welcher Höhe Ärzte von Privatpatienten und von in § 11 Abs.
1 GOÄ genannten Leistungsträgern, die für einen bestimmten Kreis von Patienten einstehen, die die Vergütung
nicht selbst bezahlen müssen, Honorare verlangen können (vgl. Lang/Schäfer/Stiel/Vogt, Der GOÄKommentar, 2. Aufl. 2002, § 1 Rn. 9; Quaas/Zuck,
Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, § 13 Rn. 42 f). Um eine solche Fallgestaltung handelt es sich hier nicht. Das Krankenhaus ist kein
(öffentlichrechtlicher) Leistungsträger, sondern - wie die Ärzte der Klägerin - ein Leistungserbringer, der dem Patienten die
allgemeinen Krankenhausleistungen schuldet, zu denen auch die von der Klägerin erbrachten Leistungen
rechnen (s.o. I). Wenn auch nicht unmittelbar der in § 1 Abs. 1 GOÄ geregelte Fall einer anderen Bestimmung durch
Bundesgesetz vorliegt, werden die hier in Rede stehenden Leistungen der Klägerin - im rechtlichen Sinne - weder
dem Patienten noch zur Erfüllung einer vertragsärztlichen Pflicht erbracht, sondern auf Grund eines
Dienstvertrags mit dem Krankenhaus zur Komplettierung der vom diesem geschuldeten allgemeinen
Krankenhausleistungen, die insgesamt nach dem Krankenhausentgeltgesetz abgerechnet werden. Es geht daher
nicht um den in der Ermächtigungsnorm des § 11 BÄO geforderten Interessenausgleich zwischen den Interessen
der Ärzte und der zur Zahlung der Entgelte Verpflichteten, der Patienten, sondern um eine Einbindung und
Vergütung einer ärztlichen Tätigkeit, die weder unmittelbar dem Privatpatienten noch vertragsärztlich erbracht
wird, sondern gleichsam zwischen diesen beiden Honorierungssystemen wirtschaftlich in die Finanzierung der
Krankenhausleistungen eingepasst werden muss. Aus dieser Besonderheit ergeben sich, wie beiden
Vertragsteilen bewusst ist, die für die Angemessenheit der Vergütung wesentlichen Parameter. Dies im Einzelnen
zu regeln, ist Sache der jeweiligen Vertragsparteien, die sich am ärztlichen Gebührenrecht orientieren können (vgl.
Quaas GesR 2009, 459, 460). Die GOÄ verhält sich zum Inhalt einer solchen Vereinbarung jedoch nicht. Sie nimmt sich dieser
Gestaltung nur an, wenn eine Zahlung solcher externer Leistungen durch den Patienten geschuldet wird, etwa im
Sinne der Gebührenminderungspflicht nach § 6a Abs. 1 GOÄ, die bei der Vereinbarung wahlärztlicher Leistungen
auch den externen Arzt betrifft (vgl. Senatsurteil BGHZ 151, 102).
[10] b) Die Materialien zur GOÄ vom 12. 11.1982 (BGBl. I S. 1522) belegen den Befund, dass Vereinbarungen zwischen
Krankenhausträgern und externen Ärzten über deren Hinzuziehung im Rahmen allgemeiner
Krankenhausleistungen nicht Gegenstand der Regelungen geworden sind.
[11] In § 2 Abs. 1 GOÄ 1982 wurde geregelt, dass durch Vereinbarung eine von dieser Verordnung abweichende
Höhe der Vergütung festgelegt werden kann. In der Begründung zur Verordnung wird zu dieser Bestimmung
ausgeführt, sie gelte sowohl für Einzelvereinbarungen zwischen Arzt und Zahlungspflichtigem als auch für
Kollektivvereinbarungen wie z.B. für Vereinbarungen zwischen Ärzteverbänden und der
Postbeamtenkrankenkasse oder der Krankenversorgung der Bundesbahnbeamten (vgl. BRDrucks. 295/82 S. 13). Der
Verordnungsgeber hat daher nicht nur Vereinbarungen des Arztes mit dem Patienten in die Regelung
einbezogen, sondern mit den so genannten Kollektivvereinbarungen auch solche mit Leistungsträgern, die
anstelle des Patienten die Vergütungspflicht zu übernehmen haben. Verträge mit Leistungserbringern werden
demgegenüber nicht genannt, obwohl schon während der Geltung der Bundespflegesatzverordnung vom 25.
04.1973 (BGBl. I S. 333) mit den allgemeinen Pflegesätzen die allgemeinen Krankenhausleistungen einschließlich der
Leistungen von nicht am Krankenhaus angestellten Konsiliarärzten abgegolten wurden, so dass insoweit eine
vertragliche Regelung zwischen Krankenhaus und Arzt erforderlich war (vgl. § 3 Abs. 1 BPflV 1973).
[12] In § 2 Abs. 2 Satz 1 GOÄ 1982 war bestimmt, dass "eine Vereinbarung nach Absatz 1 zwischen Arzt und
Zahlungspflichtigem" vor Erbringung der Leistung des Arztes in einem Schriftstück zu treffen sei, das keine
anderen Erklärungen enthalten dürfe. In der Begründung wird hierzu ausgeführt, Absatz 2 enthalte eine
Schutzvorschrift für die Individualvereinbarung zwischen Arzt und Zahlungspflichtigem (BRDrucks. 295/82 S. 13). Aus dem
Kreis der nach Absatz 1 zulässigen Vereinbarungen wurden daher durch Absatz 2 solche Vereinbarungen einer
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besonderen Regelung unterworfen, die zwischen dem Arzt und Zahlungspflichtigem anlässlich und vor einer
konkreten Behandlung geschlossen werden. Auch wenn die Verordnung den Begriff des "Zahlungspflichtigen"
verwendet, liegt es auf der Hand, dass es um den Schutz des Patienten oder eines mitversicherten Angehörigen
geht, der durch eine klare, der Schriftform bedürftige Vereinbarung vor Erbringung der Leistung wissen soll, was
hinsichtlich der abweichenden Vergütungshöhe auf ihn zukommt. Die hier in Rede stehende Vereinbarung, die
nicht mit dem Patienten, sondern mit dem Krankenhaus getroffen wurde und nur den Rahmen für die Honorierung
einer Vielzahl von Einzelbehandlungen durch das Krankenhaus darstellt, wird von dieser Zielsetzung nicht erfasst.
[13] c) An diesem Rechtszustand hat sich aus Sicht des Senats durch spätere Änderungen der ärztlichen und
zahnärztlichen Gebührenordnungen, die vor allem dem weitergehenden Schutz des Zahlungspflichtigen gedient
haben, nichts geändert.
[14] aa) Der Schutz des Zahlungspflichtigen wurde zunächst bei der anstehenden Novellierung der
Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) vom 22. 10.1987 (BGBl. I S. 2316) weiter ausgebaut. Während § 2 Abs. 1 GOZ
wörtlich mit § 2 Abs. 1 GOÄ 1982 übereinstimmt, sieht § 2 Abs. 2 GOZ für eine Vereinbarung zwischen Zahnarzt
und Zahlungspflichtigem - neben den soeben erörterten Erfordernissen des § 2 Abs. 2 GOÄ 1982 - zusätzlich vor,
dass das Schriftstück die Feststellung enthalten müsse, dass eine Erstattung der Vergütung durch
Erstattungsstellen möglicherweise nicht in vollem Umfang gewährleistet sei. In der Begründung wird hierzu
ausgeführt, die Bestimmung enthalte zwingende Schutzvorschriften zugunsten des Patienten. Durch den
vorgesehenen Hinweis solle dem besonderen Informationsbedürfnis der privat krankenversicherten und
beihilfeberechtigten Patienten Rechnung getragen werden, deren Erstattungsansprüche in der Regel auf den
Umfang der nach der Verordnung vorgesehenen Vergütungshöhe begrenzt seien (vgl. BRDrucks. 276/87 S. 63 f). Die Regelung
betrifft damit das Verhältnis zwischen Zahnarzt und Patient und trifft Vorkehrungen dafür, dass der Patient die
Folgen einer über die Sätze der Gebührenordnung hinausgehenden Honorarvereinbarung rechtzeitig und richtig
einschätzt (vgl. Senatsurteil BGHZ 138, 100, 103).
[15] bb) Durch die Dritte Verordnung zur Änderung der GOÄ vom 9. 06.1988 (BGBl. I S. 797) wurde § 2 Abs. 2 GOÄ an
die Regelung des § 2 Abs. 2 GOZ angeglichen, verfolgt daher wie diese den Schutz des privat
krankenversicherten und beihilfeberechtigten Patienten, um diesen Personenkreis durch den gebotenen Hinweis
vor Überraschungen zu schützen (BRDrucks 118/88 S. 45).
[16] cc) Seine heute noch geltende Fassung hat § 2 GOÄ durch die Vierte Verordnung zur Änderung der GOÄ
vom 18. 12.1995 (BGBl. I S. 1861) erhalten. Die bisherige Regelung in § 2 Abs. 1 GOÄ 1982 ist mit einer geringfügigen
Änderung (statt "abweichende Höhe der Vergütung" jetzt "abweichende Gebührenhöhe") § 2 Abs. 1 Satz 1 geworden. Daneben enthält die
Bestimmung jetzt einige zusätzliche Modifikationen, die die Zulässigkeit einer Vereinbarung betreffen. So ist in
Fällen eines unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 StGB vorgenommenen Abbruchs einer
Schwangerschaft, für die § 5a GOÄ eine besondere Bemessung vorsieht, eine Vereinbarung ausgeschlossen (§ 2
Abs. 1 Satz 2 GOÄ). Ferner ist nach § 2 Abs. 1 Satz 3 GOÄ die Vereinbarung einer abweichenden Punktzahl (§ 5 Abs. 1 Satz 2 GOÄ)
oder eines abweichenden Punktwerts (§ 5 Abs. 1 Satz 3 GOÄ) nicht zulässig. Der Verordnungsgeber hat insoweit im
Interesse einer größeren Transparenz eine Klarstellung vorgenommen, die der vorherrschenden Auffassung zu
dem bereits davor geltenden Recht entsprochen hat (vgl. BRDrucks. 211/94 S. 94). Schließlich wird in § 2 Abs. 1 Satz 3 GOÄ
bestimmt, dass Notfall- und akute Schmerzbehandlungen nicht von einer Vereinbarung abhängig gemacht
werden dürfen. Daraus ergibt sich, dass § 2 Abs. 1 GOÄ grundsätzlich weiterhin Vereinbarungen zulässt, die die
Gebührenhöhe abweichend nach einem anzuwendenden Steigerungssatz bestimmen.
[17] In § 2 Abs. 2 ist der Schutz des Patienten weiter verstärkt worden; die Vorschrift nimmt die Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs (BGHZ 115, 391, 394 ff) auf, dass es zur Wirksamkeit einer abweichenden Honorarvereinbarung
der individuellen Absprache im Einzelfall zwischen Arzt und Zahlungspflichtigem bedarf (§ 2 Abs. 2 Satz 1 GOÄ), und
ergänzt die Regelung zur Verbesserung der Transparenz dahin, dass das Schriftstück auch die Nummer und
Bezeichnung der Leistung, den Steigerungssatz und den vereinbarten Betrag enthalten muss (§ 2 Abs. 2 Satz 2 GOÄ). Alle
diese Tatbestandsmerkmale betreffen die hier zu beurteilende Rahmenvereinbarung zwischen dem Krankenhaus
und den zugezogenen Ärzten nicht. Dies belegt, dass die Vorschrift des § 2 GOÄ vor allem
Individualvereinbarungen zwischen dem einzelnen Arzt und dem Zahlungspflichtigen im Auge hat (vgl. Lang/Schäfer/Stiel/Vogt
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. Ob sie
nach Maßgabe des § 2 Abs. 1 auch noch auf Kollektivvereinbarungen anzuwenden ist (vgl. hierzu Lang/Schäfer/Stiel/Vogt aaO § 11 Rn.
8 und § 12 Rn. 16; Miebach aaO; Hoffmann aaO Stand 09.1998, § 2 Rn. 1 am Ende), bedarf hier keiner Entscheidung. Jedenfalls lassen sich der
Rechtsentwicklung keine Hinweise darauf entnehmen, dass der Verordnungsgeber mit der GOÄ und ihren
Einzelregelungen, die durchweg dem Patientenschutz dienen, zugleich einen verbindlichen Rahmen für
Vereinbarungen zwischen Krankenhausträgern und externen Ärzten über deren Zuziehung im Rahmen
allgemeiner Krankenhausleistungen setzen wollte. Es wird daher auch im Schrifttum vertreten, dass
Dauerschuldverhältnisse, mit denen Krankenhäuser unter Verzicht auf eigenes Personal niedergelassene Ärzte
zu bestimmten Dienstleistungen heranziehen, nicht der Gebührenordnung unterliegen, so dass auch pauschale
Vergütungsvereinbarungen, die nach § 2 GOÄ unwirksam wären, geschlossen werden könnten (vgl. Brück, GOÄ, 3. Aufl. Stand
1.4.2007, § 1 Rn. 4 Anm. 4.2.2). Eine solche Dienstleistungspflicht ist hier zwar nicht vereinbart worden; gleichwohl haben die
Beklagte und der Rechtsvorgänger der Klägerin eine Rahmenvereinbarung geschlossen, auf deren Grundlage
eine längerfristige - wenngleich kündbare - Zusammenarbeit vorgesehen war.
aaO § 2 Rn. 2; ähnlich Miebach, in: Uleer/Miebach/Patt, Abrechnung von Arzt- und Krankenhausleistungen, 3. Aufl. 2006, § 2 GOÄ Rn. 14; Hoffmann, GOÄ, 3. Aufl. Stand 11.1999, § 2 Rn. 1)
[18] 3. Die hier zu beurteilende Vereinbarung ist auch nicht deshalb unwirksam, weil sie eine Honorierung
unterhalb des Gebührenrahmens der Gebührenordnung vorsieht oder aus berufsrechtlichen Gründen zu
beanstanden wäre. Wie die vertragsärztliche Versorgung insgesamt zeigt, ist die Gebührenordnung nicht das
einzige Vergütungssystem, das für eine leistungsgerechte und angemessene Vergütung ärztlicher Leistungen den
Maßstab bildet. Im Übrigen liegt es, wenn der Verordnungsgeber für die Vergütung Mindest- und Höchstsätze
festlegt und zugleich zur Höhe abweichende Vereinbarungen zulässt, grundsätzlich in der Konsequenz dieser
Regelung, dass Abweichungen in beide Richtungen gehen können (vgl. Erman/Edenfeld, BGB, 12. Aufl. 2008, § 612 Rn. 16; Pflüger MedR 2003, 276,
277; zurückhaltend Dahm MedR 1994, 13, 14; zur GOZ KG NJWRR 2008, 910, 911; a.A. Kamps/Kiesecker MedR 2000, 72, 73 f, die - nicht bei einer Überschreitung, aber bei einer Unterschreitung - § 11 BÄO
. Auch die Berufsordnungen der Ärztekammern gehen davon aus, dass bei der privatärztlichen
Liquidation eine Unterschreitung der Mindestgebühr nicht generell verboten ist. § 12 Abs. 1 Satz 3 der
Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Rheinland-Pfalz sieht (lediglich) vor, dass die Sätze nach der
Gebührenordnung nicht in unlauterer Weise unterschritten werden dürfen (vgl. hierzu auch Brück aaO Stand 1. 07.2004, § 2 Anm. 1.3.2).
Darüber hinaus erlaubt sie in § 12 Abs. 2, dass der Arzt gegenüber einem bestimmten Kreis von Personen Verwandten, Kollegen, deren Angehörigen, mittellosen Patienten - das Honorar ganz oder teilweise erlassen darf.
Um einen Erlass geht es hier freilich nicht, sondern um die Befugnis, für einen gesamten Behandlungsbereich
konsiliarärztlicher Tätigkeit eine Vergütung unter dem Einfachsatz zu vereinbaren. Ob das unlauter ist, lässt sich
nicht - wie die Klägerin dies vertritt - allein mit der Unterschreitung des Rahmens der Gebührenordnung
begründen. Vielmehr kann es selbst im Anwendungsbereich der Gebührenordnung gerade auch unter dem
Gesichtspunkt der Berufsfreiheit erforderlich sein, dem Arzt eine Unterschreitung des Einfachsatzes zu erlauben,
wie es insbesondere für Laborärzte vertreten wird, die mit nicht ärztlich geleiteten Einrichtungen im Wettbewerb
stehen (vgl. hierzu Ratzel, in: Ratzel/Lippert, Kommentar zur Musterberufsordnung der deutschen Ärzte, 4. Aufl. 2006, § 12 Rn. 13; Pflüger aaO). Dass die hier in Rede
stehende Unterschreitung des Einfachsatzes den Wettbewerb in unlauterer Weise beeinflusst hätte, hat das
Berufungsgericht nicht festgestellt; auch die Klägerin verweist auf keinen Vortrag, nach dem sie oder das
Krankenhaus durch ein zu niedrig bemessenes Honorar andere Radiologen in unlauterer Weise in ihrer Tätigkeit
behindert hätten. Dagegen spricht vor allem, dass nach dem übereinstimmenden Vorbringen der Parteien mit der
die Gebührenhöhe betreffenden Rahmenvereinbarung nicht die Pflicht für das Krankenhaus verbunden war, alle
Patienten, die radiologische Leistungen benötigten, den Ärzten der Klägerin zuzuführen, und dass auch die Ärzte
der Klägerin entscheiden konnten, ob sie vom Krankenhaus der Beklagten zugewiesene Patienten behandeln
wollten. Dass die Klägerin ihre Tätigkeit für das Krankenhaus der Beklagten fortgesetzt und von einer Kündigung
der Rahmenvereinbarung abgesehen hat, nachdem sich die Beklagte nach der ersten Rechnungsstellung vom
24. 03.2005 am 29. 04.2005 auf die mit dem Praxisvorgänger geschlossene Vereinbarung berufen hatte, spricht
im Übrigen dafür, dass die Klägerin die getroffene Regelung selbst nicht für unangemessen gehalten hat. Dass
man sie als eine unerlaubte Vorteilsgewährung im Sinne von § 31 der genannten Berufsordnung seitens der
Klägerin an das Krankenhaus für eine Zuweisung von Patienten ansehen müsste
für verletzt ansehen)
Schlick Dörr Hucke Seiters Tombrink
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BGH VI ZR 325/08 vom 10.11.2009. GG Art. 103 Abs. 1, ZPO § 286 A
a) Nach allgemeinem Grundsatz macht sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zutage tretenden ihr
günstigen Umstände regelmäßig zumindest hilfsweise zu Eigen.
b) In der Nichtberücksichtigung eines Beweisergebnisses, das sich eine Partei als für sie günstig zu Eigen
macht, kann eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegen.
BGH, Beschluss vom 10. 11.2009 - VI ZR 325/08 - OLG Düsseldorf LG Düsseldorf –
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. 11.2009 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die
Richterin Diederichsen, die Richter Pauge, Stöhr und die Richterin von Pentz beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten wird das Urteil des 18. Zivilsenats des Oberlandesgerichts
Düsseldorf vom 5. 11.2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der
Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 35.811,79 €
Gründe:
1. 1. Die Klägerin, die sich vom 17. 02.1997 bis zum 28. 01.2000 in zahnärztlicher Behandlung des Beklagten
befand, hat diesen auf Rückzahlung von Honorar sowie auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in
Anspruch genommen. Das Landgericht hat der Klage (nur) hinsichtlich eines Teils des Feststellungsantrags
stattgegeben, weil die Versorgung der Frontzähne des Unterkiefers (Kronen 33 bis 43) behandlungsfehlerhaft erfolgt sei.
Auf die Berufung hat das Oberlandesgericht der Klägerin zusätzlich Ersatz materiellen Schadens (Nachbehandlungskosten)
sowie ein Schmerzensgeld von 5.000,00 € zuerkannt und den Feststellungsausspruch erweitert. Es hat, anders
als das Landgericht, einen Behandlungsfehler nicht für erwiesen erachtet, eine Ersatzpflicht des Beklagten jedoch
deshalb bejaht, weil dieser die ihm obliegende Pflicht zur therapeutischen Aufklärung hinsichtlich der
Notwendigkeit regelmäßiger Pflege und regelmäßiger Kontrolle des Zahnersatzes verletzt und dadurch die
Notwendigkeit der Nachbehandlung verursacht habe. Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen.
Dagegen wendet sich der Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
2. 2. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des
angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Dieses hat den
Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise
verletzt.
3. a) Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Recht, dass das Berufungsgericht die Höhe des der Klägerin
zuerkannten Schadensersatzanspruchs (§ 249 Abs. 2 Satz 1 BGB) aufgrund verfahrensfehlerhafter Tatsachenfeststellungen
beurteilt hat.
4. Das Landgericht hat mit Beweisbeschluss vom 30. 06.2005 die Einholung eines zahnmedizinischen
Sachverständigengutachtens angeordnet und an den mit Beschluss vom 17. 08.2005 bestellten
Sachverständigen Dr. Dr. B. u.a. die Frage gerichtet, ob zur Sanierung des Gebisses der Klägerin die in dem von
ihr vorgelegten Heil- und Kostenplan des Zahnarztes A. vom 30. 07.2004 aufgeführten Maßnahmen mit
voraussichtlichen Kosten in Höhe von 25.811,79 € ausgeführt werden müssen. Diese Frage hat der gerichtliche
Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten vom 28. 12.2005 teilweise verneint und erklärt, die
Maßnahmen gemäß diesem Heil- und Kostenplan müssten nicht ausgeführt werden. Der Heil- und Kostenplan
habe sich und werde sich noch gravierend ändern. So sei ein Implantat an Stelle des Zahns 21 nicht erforderlich,
weil dieser Zahn fest im Kieferknochen stehe. Im Unterkiefer seien nur zwei und nicht sechs Implantate gesetzt.
Da die Folgekonstruktion etwas anders ausfalle, dürfte sich die Summe etwa um die Hälfte reduzieren.
5. Diese Ausführungen des Sachverständigen durfte das Berufungsgericht bei seiner Entscheidungsfindung nicht
mit der von ihm gegebenen Begründung unberücksichtigt lassen, dass der Beklagte erhebliche Einwendungen
gegen die Richtigkeit und Angemessenheit des Heil- und Kostenplans nicht erhoben habe. Das Berufungsgericht
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hat verkannt, dass sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zutage tretenden ihr günstigen Umstände
regelmäßig zumindest hilfsweise zu eigen macht (vgl. Senatsurteil vom 8. 01.1991 - VI ZR 102/90 - VersR 1991, 467, 468 mit Anm. Jaeger). Gegen diesen
allgemeinen Grundsatz hat das Berufungsgericht verstoßen. Es hat die Höhe des Ersatzanspruchs nämlich allein
auf der Grundlage des von der Klägerin vorgelegten Heil- und Kostenplans bemessen, in dem jedoch
Maßnahmen aufgeführt sind, die nach Beurteilung des gerichtlichen Sachverständigen teilweise gar nicht
notwendig sind, so dass die für die Sanierung des Gebisses erforderlichen Kosten voraussichtlich deutlich unter
dem von dem Zahnarzt A. genannten Betrag liegen werden.
6. Dafür, dass der Beklagte sich dieses für ihn günstige Beweisergebnis nicht wenigstens hilfsweise zu Eigen
gemacht hat, ist nichts ersichtlich. Das Berufungsgericht durfte dieses Beweisergebnis bei seiner
Entscheidungsfindung deshalb nicht als unerheblich bewerten. Die Nichtberücksichtigung des für den Beklagten
günstigen Beweisergebnisses bedeutet, dass das Berufungsgericht erhebliches Vorbringen des Beklagten
übergangen und damit dessen verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
verletzt hat.
7. b) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das
Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Beweisergebnisses zu einer anderen Beurteilung der
Höhe des der Klägerin zuerkannten Ersatzanspruchs gekommen wäre.
8. 3. Bei der neuen Verhandlung und Entscheidung wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, der im
angefochtenen Urteil nicht erörterten Frage eines etwaigen Mitverschuldens der Klägerin nachzugehen, die das
Landgericht bejaht hat. Gegebenenfalls wird das Berufungsgericht auch die von dem Beklagten in der
Nichtzulassungsbeschwerdebegründung aufgezeigten Bedenken gegenüber der Beweiswürdigung hinsichtlich
der therapeutischen Aufklärung und der Absicht der Klägerin, die Behandlung durchführen zu lassen, zu
berücksichtigen haben.
Galke Diederichsen Pauge Stöhr von Pentz
Vorinstanzen: LG Düsseldorf, Entscheidung vom 30.08.2007 - 3 O 606/04 - OLG Düsseldorf, Entscheidung vom
05.11.2008 - I18 U 7/08
BGH, Urteil vom 06.10.2009 - VI ZR 24/09 - OLG Braunschweig, LG Braunschweig
Die Revision der Haftpflichtversicherung gegen die Insolvenzverwalterin der Klinik wird zurückgewiesen.
Beweislasterleichterungen sind keine Sanktion für grobes ärztliches Behandlungsverschulden, sondern
dienen der „Waffengleichheit von Arzt und Patient“.
Trifft eine Geburtskomplikation aufgrund grob fehlerhafter zu später Schnittentbindungsentscheidung
des Gynäkologen ein, so ist im Nachgang das Organisationsverschulden durch zu spätes Eintreffen des
Anästhesisten (45 Min.) nicht mehr kausal für den Verlauf.
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 6. 10.2009 durch den
Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Zoll und Wellner sowie die Richterin Diederichsen und den Richter Pauge
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 18. 12.2008 wird auf
Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1. Die Klägerin, bei der der Gynäkologe Dr. B. haftpflichtversichert ist, macht aus übergegangenem Recht
gegenüber dem Beklagten als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Belegklinik Dr. Bo. GmbH den
gesamtschuldnerischen Ausgleichsanspruch geltend.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 27
2. Am 8. 08.1997 wurde die Schwangere N. A. von Dr. B. in die geburtshilfliche Abteilung der Belegklinik der
Insolvenzschuldnerin wegen prätibialer Ödeme eingewiesen. Am 9. 08.1997 gegen 4.00 Uhr morgens hatte N. A.
einen Blasensprung. Gegen 9.15 Uhr legte die Hebamme E. einen Wehentropf an und kontrollierte die kindliche
Herzfrequenz mittels eines CTG. Da die Herzfrequenz schon kurz nach Beginn der Aufzeichnungen bei 200
s/min. lag, verabreichte die Hebamme gegen 9.45 Uhr der Schwangeren Isoptin. Daraufhin sank die Frequenz auf
165 s/min. bis kurz vor 10.00 Uhr und bis 11.00 Uhr auf etwas unter 160 s/min. Dr. B. untersuchte die
Schwangere gegen 11.00 Uhr. Dabei sah er die CTG-Kurve nicht ein. Ohne weitere medizinische Maßnahmen zu
veranlassen, verließ er die Klinik. Um die Mittagszeit begann N. A. aus der Scheide zu bluten. Da die Herztöne
des Kindes gegen 13.15 Uhr auf 70 s/min. absanken, rief die Hebamme E. um 14.15 Uhr Dr. B. an, der um 14.20
Uhr eine sofortige Kaiserschnittentbindung anordnete. Um 14.25 Uhr verständigte E. den Anästhesisten N., der
gegen 15.00 Uhr im Krankenhaus eintraf. Die Narkose zur Durchführung der Notsectio wurde um 15.20 Uhr
eingeleitet. Um 15.24 Uhr erfolgte die Geburt des Mädchens H. A., das als Folge einer geburtsassoziierten
hypoxisch-ischämischen Hirnschädigung unter einem schweren psychoneurologischen Restschadensyndrom
leidet. Es besteht ein fokales cerebrales Anfallsleiden. H. A. kann weder allein essen noch trinken und muss über
eine Sonde ernährt werden. Die Mutter N. A. musste wegen einer Uterusruptur und der Folgen einer vorzeitigen
Plazentaablösung in die Frauenklinik in W. verlegt werden, wo die Gebärmutter entfernt werden musste.
3 Die Insolvenzschuldnerin hatte im Rahmen des Belegarztvertrages mit Dr. N. vereinbart, dass er wegen der
räumlichen Entfernung zu seinem Wohnort während der Bereitschaftszeit innerhalb von 45 Minuten nach
Alarmierung in der Klinik eintreffen müsse. Dr. B. kannte die Vereinbarung. Er erklärte sich am 23. 01.1995
trotzdem damit einverstanden, dass Dr. N. als Facharzt für Anästhesie die gesamte operative und postoperative
anästhesiologische Betreuung seiner Patienten in der Belegklinik der Insolvenzschuldnerin auf Dauer übernimmt.
4. N. A. und H. A. haben Dr. B. und die Insolvenzschuldnerin auf materiellen Schadensersatz und Zahlung eines
Schmerzensgeldes in Anspruch genommen (Az.: 4 O 2113/00 Landgericht Braunschweig). Die Klage gegen die Insolvenzschuldnerin
hat das Landgericht durch rechtskräftig gewordenes Teilurteil vom 5. 07.2001 abgewiesen. Danach ist die
Insolvenzschuldnerin nach Streitverkündung dem Rechtsstreit gegen Dr. B. beigetreten. Mit Grundurteil vom 13.
06.2002 hat das Landgericht die Klage gegen Dr. B. dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Das
Oberlandesgericht Braunschweig hat mit Urteil vom 16. 01.2003 (Az.: 1 U 70/02) die Berufung gegen die Verurteilung zur
Zahlung von Schmerzensgeld an H. A. zurückgewiesen und festgestellt, dass Dr. B. verpflichtet ist, ihr sämtliche
künftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder
andere Dritte übergegangen sind oder übergehen. Am 24. 05.2005 haben die Parteien einen Vergleich gemäß §
278 Abs. 6 ZPO abgeschlossen, aufgrund dessen Dr. B. u. a. ein Schmerzensgeld von 500.000 € an H. A. zu
zahlen hat.
5. Im Streitfall hat das Landgericht der Klage auf Ausgleich der von der Klägerin erbrachten Zahlungen teilweise
stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts teilweise
abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Die Anschlussberufung, mit der die Klägerin Ersatz von
Rechtsverfolgungskosten begehrt hat, hat es zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen
Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
6. Das Berufungsgericht verneint einen Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich für die Klägerin, weil nicht
erwiesen sei, dass das späte Eintreffen des Anästhesisten Dr. N. in der Belegklinik der Insolvenzschuldnerin
schadensursächlich geworden sei. Der Senat neige zwar dazu, einen groben Organisationsfehler der
Insolvenzschuldnerin anzunehmen. Nach dem medizinischen Standard sei nämlich bei einer Notsectio die
Einhaltung einer Zeit von 20 bis 30 Minuten zwischen der Entscheidung zur Sectio bis zur Entbindung (EEZeit)
erforderlich. Bei der vereinbarten Anreisezeit von maximal 45 Minuten für den Anästhesisten werde dieser
Zeitraum nicht eingehalten. Beweiserleichterungen wegen eines groben Behandlungsfehlers fänden für den
Anspruch auf selbständigen Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 Abs. 1 BGB zwischen grob fehlerhaft
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 28
handelnden Personen oder Einrichtungen jedoch keine Anwendung. Die Figur des groben Behandlungsfehlers sei
entwickelt worden, um zur Waffengleichheit zwischen Patient und Arzt im Arzthaftungsprozess beizutragen. Sie
sei keine Sanktion für ärztliches Behandlungsverschulden, sondern diene der Ausgleichung der durch den groben
Behandlungsfehler zu Lasten des Patienten verschlechterten Beweissituation. Im Streitfall komme hinzu, dass der
Versicherungsnehmer der Klägerin, Dr. B., aufgrund der groben Fehlerhaftigkeit der Behandlung und der
Unterlassung der möglichen weitergehenden Befunderhebungen und Dokumentationen die Beweissituation zur
Frage der Schadenskausalität und für die Abgrenzung etwaiger Verursachungsbeiträge verschlechtert habe. Es
spreche viel dafür, dass bei der Abwägung der beidseitigen Verschuldens- und Verursachungsanteile (§ 254 BGB) die
Mitverantwortung der Insolvenzschuldnerin hinter dem überwiegenden Verschulden des Dr. B. zurücktrete. Dr. B.
habe die Gebärende trotz erkennbarer schwerster Komplikationen letztlich sich selbst überlassen. Ein schwerer
Behandlungsfehler sei schon darin zu sehen, dass Dr. B. aufgrund der Nachlässigkeit bei der Visite die absolut
kontraindizierte Gabe von Isoptin durch die Hebamme nicht bemerkt habe. Zusätzlich zu den bereits festgestellten
Fehlern sei auch noch zu berücksichtigen, dass der Schwangeren am Vortag bei der Aufnahme kontraindikativ
das Medikament Lasix verabreicht worden sei.
7. Soweit die Klägerin ihren Anspruch nach § 426 Abs. 2 BGB i.V.m. § 67 VVG a.F. auf den übergegangenen
Anspruch der Geschädigten gegen die Insolvenzschuldnerin stütze, müsse sie die rechtskräftige Abweisung der
Klage durch Teilurteil des Landgerichts B. vom 5. 07.2001 - 4 O 2113/00 - gegen sich gelten lassen. Das
Klagebegehren und der zugrunde liegende Lebenssachverhalt seien identisch mit dem des rechtskräftig
entschiedenen Vorprozesses.
8. Zur Klärung der Frage, ob der Grundsatz der Beweiserleichterung aufgrund eines groben ärztlichen
Behandlungsfehlers auch auf den selbständigen Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich (§ 426 Abs. 1 BGB) zugunsten
eines Behandlers Anwendung findet, der einen der Behandlungsseite zuzuordnenden Mitschädiger in Anspruch
nimmt, hat das Berufungsgericht die Revision zugelassen.
II.
9. Die Revision der Klägerin bleibt erfolglos.
10. 1. Für den ausgleichsberechtigten Gesamtschuldner sind in der Regel drei Anspruchsgrundlagen in Betracht
zu ziehen, zum einen der Regressanspruch aus § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB, der gleichzeitig mit der Gesamtschuld
entsteht, zum andern der zur Bestärkung des Regressrechts des Ausgleichsberechtigten kraft Gesetzes
übergehende Anspruch des Gläubigers gegen die anderen Gesamtschuldner nach § 426 Abs. 2 BGB und des
Weiteren außerhalb der Gesamtschuld stehende vertragliche oder gesetzliche Ansprüche z.B. aus
Geschäftsführung ohne Auftrag oder Bereicherung zwischen dem ausgleichsberechtigten und den anderen
Gesamtschuldnern. Diese Ansprüche können in Anspruchskonkurrenz zu § 426 Abs. 1 BGB und dem gemäß §
426 Abs. 2 BGB übergegangenen Anspruch eine dritte Anspruchsgrundlage bilden, ihnen kommt vor allem die
Wirkung zu, das Maß der offenen Regel des § 426 Abs. 1 Satz 1 BGB abweichend von der kopfteiligen Haftung
zu bestimmen (vgl. BGH, Urteil vom 15. 01.1988 - V ZR 183/86 - NJW 1988, 1375, 1376; Erman/Ehmann, BGB, 12. Aufl., § 426 Rn. 14 und 32). Der gemäß § 426 Abs. 2
BGB übergegangene Anspruch und der selbständige Regressanspruch aus § 426 Abs. 1 BGB wie auch der unter
Umständen hinzutretende dritte Anspruch aus eigenem Recht sind selbständige Ansprüche, die auf
unterschiedlichen Rechtsgründen beruhen, verschiedene Voraussetzungen haben und in Anspruchskonkurrenz
zueinander stehen (vgl. BGHZ 59, 97, 102 f.). Unabhängig davon können sich die konkurrierenden Regressansprüche
gegenseitig beeinflussen. So wird zwar in der Regel der Anspruch aus § 426 Abs. 1 BGB von den Einreden und
Einwendungen gegen den übergegangenen Anspruch nicht berührt (vgl. BGH, Urteil vom 9. 07.2009 - VII ZR 109/08 - WM 2009, 1854 Rn. 10 ff. zur
Einrede der Verjährung; Erman/Ehmann, aaO, Rn. 33; Soergel/Wolf, BGB, 13. Aufl., § 426 Rn. 53). Jedoch geht der Anspruch aus fremdem Recht nur
insoweit über als der Ausgleichsberechtigte gemäß § 426 Abs. 1 Satz 1 Regress verlangen kann, womit die Höhe
der Ansprüche aneinander angepasst wird.
11. a) Außerhalb der Gesamtschuld stehende vertragliche oder gesetzliche Ansprüche gegen die
Insolvenzschuldnerin werden von der Klägerin nicht geltend gemacht und sind ersichtlich nicht gegeben.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 29
12. b) Der Streitfall wirft auch nicht die Frage auf, ob die für den Patienten geltenden Beweiserleichterungen bei
Geltendmachung eines übergeleiteten Anspruchs im Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 Abs. 2 BGB
Anwendung finden (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 14. 07.2005 - III ZR 391/04 - VersR 2005, 1443 und BGHZ 163, 53 zur Beweislast bei der Haftung wegen eines voll beherrschbaren Risikos;
OLG Hamm, GesR 2005, 70; OLG Stuttgart, Urteil vom 18. 04.2006 - 1 U 127/04 - rechtskräftig durch Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch den erkennenden Senat vom 10. 07.2007 - VI ZR
94/06 und OLG Stuttgart, Urteil vom 19. 10.2004 - 1 U 87/03 - rechtskräftig durch Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch den erkennenden Senat vom 31. 05.2005 - VI ZR 300/04 ;
Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 6. Aufl., B V Rn. 256; Frahm/Nixdorf/Walter, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., Rn. 139; Schramm, Der Schutzbereich der Norm im Arzthaftungsrecht, Diss. 1992, S. 268 ff.;
. Da die
Klage der Geschädigten gegen die Insolvenzschuldnerin durch das rechtskräftige Teilurteil des Landgerichts
Braunschweig vom 5. 07.2001 (Az.: 4 O 2113/00) abgewiesen worden ist, kann die Klägerin wegen der
Rechtskraftwirkung nach § 325 Abs. 1 ZPO einen übergeleiteten Anspruch gegen die Insolvenzschuldnerin nicht
geltend machen. Dies stellt die Revision nicht in Frage. Dagegen ist rechtlich auch nichts zu erinnern.
verneinend für den Fall der Überleitung eines Anspruchs wegen vorsätzlicher Körperverletzung gegen den das Opfer falsch behandelnden Arzt OLG Köln, VersR 1989, 294 = AHRS 6551/14)
13. c) Hier ist nicht zu entscheiden, ob die für die Arzthaftung anerkannte Umkehrung der Beweislast bei grobem
Behandlungsfehler bei dem Gesamtschuldnerausgleich unter Entschädigern Platz greift. Unter den besonderen
Umständen des Streitfalls hat das Berufungsgericht im Ergebnis mit Recht auch für den Ausgleichsanspruch nach
§ 426 Abs. 1 BGB die Beweislastumkehr zu Gunsten der Klägerin für die Schadensursächlichkeit eines groben
Organisationsverschuldens der Insolvenzschuldnerin verneint. Die vom Berufungsgericht offen gelassene Frage,
ob die Organisation des Bereitschaftsdienstes des Anästhesisten durch die Insolvenzschuldnerin grob fehlerhaft
gewesen ist, bedarf deshalb keiner weiteren Klärung.
14. aa) Die beweisrechtlichen Konsequenzen aus einem grob fehlerhaften Behandlungsgeschehen folgen nicht wie die Revision insoweit in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht fälschlich meint - aus dem Gebot der
prozessrechtlichen Waffengleichheit (vgl. BVerfGE 52, 131, 156). Sie knüpfen vielmehr daran an, dass die nachträgliche
Aufklärbarkeit des tatsächlichen Behandlungsgeschehens wegen des besonderen Gewichts des
Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in einer Weise erschwert ist, dass der Arzt nach
Treu und Glauben - also aus Billigkeitsgründen - dem Patienten den vollen Kausalitätsnachweis nicht zumuten
kann. Die Beweislastumkehr soll einen Ausgleich dafür bieten, dass das Spektrum der für die Schädigung in
Betracht kommenden Ursachen gerade durch den Fehler besonders verbreitert oder verschoben worden ist (ständige
Rechtsprechung so etwa Senat, BGHZ 72, 132, 136; 132, 47, 52; 159, 48, 55; Urteile vom 7. 06.1983 - VI ZR 284/81 - VersR 1983, 983; vom 28. 06.1988 - VI ZR 217/87 - VersR 1989, 80, 81; vom 4. 10.1994 VI ZR 205/93 - VersR 1995, 46, 47; vom 16. 04.1996 - VI ZR 190/95 - VersR 1996, 976, 979; und vom 11. 06.1996 - VI ZR 172/95 - VersR 1996, 1148, 1150; Steffen in Festschrift für Brandner 1996 S. 327,
. Unter dem Gesichtspunkt der gleichmäßigen Beweislastrisikoverteilung kann ferner die Mitverursachung von
Unklarheiten in der Ursachenaufklärung durch den Patienten wegen der damit verbundenen Erschwerung der
Aufklärung des Behandlungsgeschehens sogar die Beweislastumkehr wegen des groben Behandlungsfehlers
ausschließen. Voraussetzung ist, dass der Patient durch sein Verhalten eine selbständige Komponente für den
Heilungserfolg vereitelt und dadurch in gleicher Weise wie der grobe Behandlungsfehler des Arztes dazu
beigetragen hat, dass der Verlauf des Behandlungsgeschehens nicht mehr aufgeklärt werden kann (vgl. Senat, BGHZ 159,
335 f.)
aaO; KG VersR 1991, 928 mit Nichtannahmebeschluss des Senats vom 19. 02.1991 - VI ZR 224/90; OLG Braunschweig, VersR 1998, 459 mit Nichtannahmebeschluss des Senats vom 20. 01.1998 - VI ZR
. Bei der Frage der Beweislastumkehr im Rechtsstreit über den Gesamtschuldnerausgleich sind im Verhältnis
zwischen mehreren Mitschädigern diese Gesichtspunkte in gleicher Weise maßgebend.
161/97)
15. bb) Nach diesen Grundsätzen kann der Klägerin eine Beweislastumkehr nicht zugutekommen. Hätte nämlich
Dr. B. die für ihn gebotenen Maßnahmen durchgeführt, wäre die Verzögerung der Sectio durch die lange Anreise
des Anästhesisten nicht ursächlich geworden. Dr. B. war die Vereinbarung zwischen dem Anästhesisten Dr. N.
und der Insolvenzschuldnerin bekannt, ihn traf vorderhand die persönliche Verantwortung für die Patientin N. A.,
die er in das Krankenhaus eingewiesen hatte. Er hätte bei seiner Visite um 11.00 Uhr das CTG einsehen müssen,
dessen Inhalt ihm Veranlassung gegeben hätte, die Hebamme zu den näheren Umständen zu befragen. Hierbei
wäre ihm die fehlerhafte Verabreichung von Isoptin, die geeignet war, einen eventuell bedenklichen Zustand des
Kindes zu verschleiern, mitgeteilt worden. Keinesfalls durfte Dr. B. die Gebärende trotz erkennbarer schwerster
Komplikationen sich selbst überlassen. Da unstreitig die technischen Voraussetzungen für eine
Mikroblutuntersuchung der Schwangeren in der Klinik der Streithelferin nicht gegeben waren, hätte die Geburt
durch eine Schnittentbindung sofort beendet werden müssen. Dass eine Schnittentbindung zu diesem Zeitpunkt
die hypoxische Schädigung des Kindes selbst dann verhindert hätte, wenn die Zeit zwischen der Entscheidung
zur Entbindung bis zu deren Durchführung tatsächlich 64 Minuten gedauert hätte, wird auch von der Klägerin
nicht in Zweifel gezogen.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 30
16. Im Rechtsstreit der Geschädigten gegen den Versicherungsnehmer der Klägerin hat das Oberlandesgericht
Braunschweig deshalb im Urteil vom 16. 01.2003 (Az.: 1 U 70/02) einen für die Schädigung der H. A. ursächlichen
Behandlungsfehler des Dr. B. bejaht. Im Streitfall waren die Akten des Rechtsstreits gegen Dr. B. Gegenstand der
mündlichen Verhandlung, wobei die Klägerin die der Verurteilung zugrunde liegenden Tatsachen nicht in Frage
gestellt hat. Der Versicherungsnehmer der Klägerin hat mithin die Notsectio erst aufgrund seines pflichtwidrigen
Verhaltens erforderlich gemacht, obwohl ihm bekannt war, dass Dr. N. eine längere Wegezeit benötigen würde,
um in das Krankenhaus zu kommen. Es handelte sich keineswegs um einen plötzlich auftretenden, nicht
kalkulierbaren Notfall, vielmehr hat einen solchen Dr. B. durch seine Nachlässigkeit erst herbeigeführt, so dass
ihn der weit überwiegende Verursachungsanteil an dem weiteren tragischen Verlauf der Geburt trifft, dem
gegenüber das Organisationsverschulden der Insolvenzschuldnerin nicht mehr zum Tragen kommt. Eine
rechtliche Verpflichtung des Beklagten, sich am Ersatz des Schadens zu beteiligen, besteht danach schon
deshalb nicht, weil ein Gesamtschuldverhältnis nicht gegeben ist.
III.
17. Damit erweist sich die Revision der Klägerin als unbegründet und ist mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO
zurückzuweisen.
Galke Zoll Wellner Diederichsen Pauge
Vorinstanzen: LG Braunschweig, Entscheidung vom 26.04.2007 - 4 O 3529/04 OLG Braunschweig, Entscheidung
vom 18.12.2008 - 1 U 40/07
Berufsgericht für Heilberufe 1/09 vom 03.06.2009 BG-H 1/09.MZ
Verurteilung eines Orthopäden vor dem Berufsgericht zu einer Geldstrafe und Erteilung eines Verweis
wegen unzureichender Aufklärung (§ ( BÄO) und unzureichender Dokumentation (§ 10 MBO).
BUNDESFINANZHOF Urteil vom 18. 12.2008 VI R 34/07
1. Ein Fahrzeug, das aufgrund seiner objektiven Beschaffenheit und Einrichtung typischerweise so gut wie
ausschließlich nur zur Beförderung von Gütern bestimmt ist, unterfällt nicht der Bewertungsregelung des § 8
Abs. 2 Satz 2 EStG (1 %Regelung).
2. Ob ein Arbeitnehmer ein solches Fahrzeug auch für private Zwecke eingesetzt hat, bedarf der Feststellung im
Einzelnen. Die Feststellungslast obliegt dem FA. Dieses kann sich nicht auf den sog. Beweis des ersten
Anscheins berufen.
Gründe
I.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, betreibt ein Unternehmen für ... . Ihrem GesellschafterGeschäftsführer A stellte die Klägerin zwei Firmenfahrzeuge zur Verfügung, einen Opel Astra und einen Opel
Combo. Letzterer ist ein zweisitziger Kastenwagen, dessen fensterloser Aufbau mit Materialschränken und –
fächern sowie Werkzeug ausgestattet und mit einer auffälligen Beschriftung versehen ist.
Nach einer Lohnsteuer-Außenprüfung erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt FA) für die Streitjahre
2001 und 2002 gegen die Klägerin Haftungsbescheide wegen der auf die private Nutzung des Opel Astra
entfallenden Lohnsteuer. Auf den Einspruch der Klägerin änderte das FA nach entsprechendem Hinweis die
angefochtenen Bescheide, indem es nunmehr für beide Fahrzeuge einen privaten Nutzungswert von 1 % des
Listenpreises sowie zusätzlich für den Opel Combo 0,03 % des Listenpreises pro Kilometer der Entfernung
zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ansetzte.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 31
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Haftungsbescheide dahingehend
zu ändern, dass wegen der Überlassung des Opel Combo von einer Besteuerung nach der 1 %Regelung
abgesehen wird.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Klage teilweise stattzugeben (§ 126 Abs. 3
Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung FGO). Entgegen der Auffassung des FG kommt § 8 Abs. 2 Satz 2 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht zur Anwendung, soweit die Nutzung des Opel Combo für private Fahrten
betroffen ist.
Gemäß § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er einzubehalten und abzuführen
hat. Die Lohnsteuer wird bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit erhoben, soweit der Arbeitslohn von einem
inländischen Arbeitgeber gezahlt wird (§ 38 Abs. 1 Satz 1 EStG). Der Haftungstatbestand ist, soweit es um die private
Nutzung des Opel Combo geht, teilweise nicht erfüllt.
a) Zum Arbeitslohn gehören nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 EStG alle geldwerten Vorteile, die für
eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt werden. Auch die unentgeltliche bzw. verbilligte
Überlassung eines Dienstwagens durch den Arbeitgeber an den Arbeitnehmer für dessen Privatnutzung führt zu
einer Bereicherung des Arbeitnehmers und damit zum Lohnzufluss (Urteile des Bundesfinanzhofs BFH- vom 6. 11.2001 VI R 62/96, BFHE 197, 142,
BStBl II 2002, 370; vom 7. 11.2006 VI R 19/05, BFHE 215, 256, BStBl II 2007, 116; VI R 95/04, BFHE 215, 252, BStBl II 2007, 269; vom 4. 04.2008 VI R 68/05, BFHE 221, 17, BStBl II 2008, 890).
Gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 EStG gilt ab dem Veranlagungszeitraum 1996 für die Nutzung eines betrieblichen
Kraftfahrzeugs zu privaten Fahrten die in § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG getroffene Regelung entsprechend; diese
Nutzung ist daher für jeden Kalendermonat mit 1 % des inländischen Listenpreises im Zeitpunkt der
Erstzulassung zuzüglich der Kosten für Sonderausstattungen einschließlich der Umsatzsteuer anzusetzen
(1 %Regelung). Dieser Wert erhöht sich gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG für jeden Kalendermonat um 0,03 % des
genannten Listenpreises für jeden Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (Zuschlag), wenn
das Fahrzeug für solche Fahrten genutzt werden kann.
b) Das Einkommensteuergesetz definiert den Begriff "Kraftfahrzeug" weder in § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 noch in § 8
Abs. 2 Satz 2 EStG. Nach dem Wortlaut der Vorschriften wird von den Regelungen jedwedes zum
Betriebsvermögen des Arbeitgebers rechnendes "Kraftfahrzeug" erfasst. Nach der Rechtsprechung des X. Senats
des BFH, der sich der erkennende Senat anschließt, ist es nach Sinn und Zweck jedoch geboten, bestimmte
Arten von Kraftfahrzeugen, namentlich auch LKW, von der Anwendung der 1 %Regelung auszunehmen (BFHUrteil vom
13. 02.2003 X R 23/01, BFHE 201, 499, BStBl II 2003, 472; vgl. auch Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen BMF- vom 21. 01.2002, BStBl I 2002, 148, Tz. 1 am Ende). Unter dem
Begriff LKW werden üblicherweise solche Kraftfahrzeuge erfasst, die nach ihrer Bauart und Einrichtung
ausschließlich oder vorwiegend zur Beförderung von Gütern dienen (BFHEntscheidungen in BFHE 201, 499, BStBl II 2003, 472; vom 21. 08.2006
VII B 333/05, BFHE 213, 281, BStBl II 2006, 721, jeweils m.w.N.).
Im Streitfall ist der Opel Combo, wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist, kraftfahrzeugsteuer- und
verkehrsrechtlich als LKW klassifiziert. Zwar ist nach der BFH-Entscheidung in BFHE 201, 499, BStBl II 2003, 472
diese Klassifizierung für die Feststellung des sachlichen Anwendungsbereichs des § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG
unmaßgeblich. Der Senat lässt offen, ob dieser Auffassung nach Aufhebung des § 23 Abs. 6a der
Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung(vgl. dazu BFHBeschluss in BFHE 213, 281, BStBl II 2006, 721; Strodthoff, Kraftfahrzeugsteuer, § 2 Rz 4; § 8 Rz 18i) gefolgt
werden kann. Denn jedenfalls ist das Fahrzeug der Klägerin als Werkstattwagen aufgrund seiner objektiven
Beschaffenheit und Einrichtung typischerweise so gut wie ausschließlich nur zur Beförderung von Gütern
bestimmt. Ein Fahrzeug dieser Art wird allenfalls gelegentlich und ausnahmsweise auch für private Zwecke
eingesetzt. Insbesondere die Anzahl der Sitzplätze (2), das äußere Erscheinungsbild, die Verblendung der hinteren
Seitenfenster und das Vorhandensein einer Abtrennung zwischen Lade- und Fahrgastraum machen deutlich,
dass das Fahrzeug für private Zwecke nicht geeignet ist (vgl. zu den Abgrenzungsmerkmalen Strodthoff, a.a.O., § 8 Rz 17a; 18h am Ende).
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c) Nach diesen Grundsätzen ist im Streitfall die Vorschrift des § 8 Abs. 2 Satz 2 EStG nicht anwendbar. Ob ein
Arbeitnehmer in einem solchen Fall das Fahrzeug für private Zwecke eingesetzt hat, ist im Einzelnen
festzustellen; die Bewertung richtet sich nach § 8 Abs. 2 Satz 1 EStG. Die Feststellungslast trifft das FA. Zwar
spricht nach der Rechtsprechung des Senats bei Überlassung eines Dienstwagens an einen Arbeitnehmer
aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung der Beweis des ersten Anscheins für eine auch private Nutzung des
Dienstwagens (vgl. BFHUrteile in BFHE 215, 256, BStBl II 2007, 116, m.w.N.; vom 15. 03.2007 VI R 94/04, BFH/NV 2007, 1302). Diese Grundsätze kommen jedoch
nicht zur Anwendung, wenn es sich um ein Fahrzeug handelt, das typischerweise nicht zum privaten Gebrauch
geeignet ist.
Im Streitfall liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass A das Fahrzeug tatsächlich privat genutzt hat.
Die Revision richtet sich nicht gegen die Anwendung der Zuschlagsregelung gemäß § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG.
BGH VIII ZR 132/07. vom 14.07.2009.
Revision der Patientin wird abgewiesen, weil der Streitwert unter 20.000 € liegt und ohne
Erfolgsaussichten ist.
in dem Rechtsstreit Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. 07.2009 durch den Vorsitzenden
Richter Ball, den Richter Dr. Frellesen, die Richterin Dr. Milger, den Richter Dr. Achilles und die Richterin Dr.
Fetzer beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil der 5. Zivilkammer des
Landgerichts Arnsberg vom 27. 03.2007 wird auf ihre Kosten als unzulässig verworfen, weil der Wert der von der
Klägerin mit einer Revision geltend zu machenden Beschwer zwanzigtausend Euro nicht übersteigt (§ 26 Nr. 8 EGZPO, §§
544, 97 Abs. 1 ZPO).
Streitwert: 16.600 €
Gründe:
1. Bei der Bemessung der Beschwer der Klägerin ist zwar neben der Abweisung des unbezifferten
Schmerzensgeldantrages auch der Wert des daneben verfolgten Feststellungsantrags anzusetzen (§ 5 ZPO). Der
Wert dieses weiteren Klagantrags ist jedoch lediglich mit 1.600 € (80 % von 2.000 €) zu bemessen. Zur Erheblichkeit und
zur Dauer der behaupteten Beeinträchtigungen fehlen konkrete Angaben; eine Glaubhaftmachung ist ebenfalls
nicht erfolgt (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 25. 07.2007 - V ZR 118/02, WM 2002, 1899, unter II). Zudem sind alle erkennbaren immateriellen Folgen
bereits von Klagantrag Ziffer 1 (unbeziffertes Schmerzensgeld) erfasst und haben daher bei der Bestimmung der Beschwer
außer Betracht zu bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 20. 03.2003 - VI ZR 325/99, NJW 2001, 3414, unter II 2, m.w.N.). Die von der Klägerin befürchteten
materiellen Lasten werden sich in Grenzen halten, da die Kosten für etwaige Behandlungen und Therapien
überwiegend von den Sozialversicherungsträgern zu tragen sind.
2. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Nichtzulassungsbeschwerde auch in der Sache keinen Erfolg
hätte.
Ball Dr. Frellesen Dr. Milger Dr. Achilles Dr. Fetzer
Vorinstanzen: AG Menden, Entscheidung vom 30.10.2006 - 3 C 557/04 - LG Arnsberg, Entscheidung vom
27.03.2007 - 5 S 148/06 –
BGH, Urteil vom 09.06.2009 - Xa ZR 99/06 - OLG Celle
BGB § 651g Abs. 1. Der Sozialversicherungsträger, der es schuldhaft versäumt hat, auf ihn
übergegangene reisevertragliche Schadensersatzansprüche innerhalb eines Monats nach der
vorgesehenen Beendigung der Reise gegenüber dem Reiseveranstalter geltend zu machen, ist auch dann
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 33
mit seinen Ansprüchen ausgeschlossen, wenn der Reisende bei ihm verbliebene Ansprüche rechtzeitig
geltend gemacht hat (Fortführung von BGHZ 159, 350).
LG Hannover Der XaZivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 9. 06.2009 durch
den Richter Prof. Dr. MeierBeck, die Richterin Mühlens und die Richter Dr. Lemke, Gröning und Dr. Berger für
Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil des 11. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 27. 07.2006 wird auf Kosten
der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1. Die klagende Krankenkasse nimmt die beklagte Reiseveranstalterin aus übergegangenem Recht ihrer
Versicherten wegen eines Reisemangels auf Ersatz von Heilbehandlungskosten und auf Feststellung in
Anspruch, dass die Beklagte ihr auch zukünftig noch entstehenden Schaden ersetzen muss.
2. Die bei der Klägerin versicherten Eheleute T. buchten bei der Beklagten für die Zeit vom 18. März bis 2.
04.2004 eine Reise nach Mexiko. Zum gebuchten Leistungsumfang gehörte eine MexikoRundreise per Bus.
Während der Rundreise wurden die Reisenden am 24. 03.2004 bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt, als der
Reisebus von der Fahrbahn abkam. Die Beklagte organisierte daraufhin ein Sanitätsflugzeug, mit dem die
Reisenden nach Deutschland zurücktransportiert wurden.
3. Mit Schreiben vom 29. 03.2004 minderte die Beklagte den Reisepreis um 100% und erstattete ihn zugleich
durch Übersendung eines Schecks. Mit weiterem Schreiben vom 7. 04.2004 bat sie die Eheleute um Mitteilung
noch nicht ausgeglichener materieller Schäden. Die Beklagte zahlte ihnen in der Folgezeit Schmerzensgeld und
ersetzte Haushaltsführungskosten. Während die Reisende T. keine Ansprüche anmeldete, machte ihr Ehemann
mit Schreiben vom 13. 05.2004 bei der Beklagten eigene Ansprüche geltend, ohne dass ihm eine frühere
Anmeldung möglich war.
4. Die klagende Krankenversicherung nahm die Beklagte erstmals unter dem 8. 09.2004 durch Übersendung
einer Rechnung über Heilbehandlungskosten für den Reisenden T. in Anspruch. Hinsichtlich der Reisenden T.
meldete die Klägerin ihre Ansprüche erstmals unter dem 2. 02.2005 an. Für die nach dem Rücktransport der
Eheleute in Deutschland durchgeführte Heilbehandlung entstanden in der Zeit vom 28. März bis zum 30. 09.2004
Kosten in Höhe von insgesamt 136.649,67 €, welche die Klägerin getragen hat und mit ihrer Klage geltend macht.
5. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben; das Berufungsgericht hat sie auf die Berufung der Beklagten
abgewiesen. Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin die erhobenen
Schadensersatzansprüche weiter.
Entscheidungsgründe:
6. Die Revision hat keinen Erfolg. Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, dass reisevertragliche
Gewährleistungsansprüche der Klägerin aus übergegangenem Recht durch Versäumung der Ausschlussfrist für
die Anmeldung (§ 651g Abs. 1 BGB) verloren gegangen sind und übergegangene Ansprüche aus deliktischer Haftung nicht
bestehen.
7. I. Das Berufungsgericht hat sein Urteil (veröffentlicht in RRa 2006, 212) im Wesentlichen wie folgt begründet:
8. Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 22. 06.2004 (BGHZ 159, 350) müsse der
Sozialversicherungsträger, auf den ein Schadensersatzanspruch des Reisenden nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X
übergegangen sei, seinen Anspruch innerhalb der Ausschlussfrist des § 651g Abs. 1 BGB selbst gegenüber dem
Reiseveranstalter anmelden. Diese Frist habe die Klägerin versäumt. Selbst wenn, was der Bundesgerichtshof
offengelassen habe, die rechtzeitige Anmeldung des übergegangenen Anspruchs durch den
Sozialversicherungsträger entbehrlich sein sollte, wenn der Reisende selbst rechtzeitig bei ihm verbliebene
Teilansprüche geltend mache, stehe der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung von Heilbehandlungskosten für die
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Reisende T. nicht zu. Die Klägerin behaupte selbst nicht, dass diese jemals Ansprüche bei der Beklagten
angemeldet habe.
9. Auch die Anspruchsanmeldung durch den Ehemann vom 13. 05.2004 habe die Klägerin nicht von ihrer
Anmeldeobliegenheit befreien können. Verfolge der Reisende wie im Streitfall ausschließlich seine eigenen
Ansprüche, bedinge das gerade nicht auch die Anmeldung anderer Ansprüche und gebe dem Reiseveranstalter
mithin auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass nach Ablauf der Ausschlussfrist noch weitere, bislang nicht geltend
gemachte Ansprüche Dritter auf ihn zukommen könnten. Im Gegenteil müsse die beschränkte Geltendmachung
dem Reiseveranstalter ein Hinweis darauf sein, das ein Sozialversicherungsträger für die Heilbehandlungskosten
aufkomme und deshalb mit Ansprüchen auf ihn zutreten könnte. Melde sich der Sozialversicherungsträger aber
nicht, könne der Reiseveranstalter davon ausgehen, dass Ansprüche auch nicht geltend gemacht würden. Da die
Ausschlussfrist dazu diene, dem Reiseveranstalter sichere Kenntnis der auf ihn zukommenden Ansprüche zu
verschaffen, habe die Beklagte aufgrund der Umstände sicher davon ausgehen können, mit
Heilbehandlungskosten nicht konfrontiert zu werden.
10. Die Klägerin könne auch nicht mit Erfolg geltend machen, dass die Beklagte des Schutzes des § 651g BGB
nicht bedürfe, weil die gesetzgeberischen Gründe für diese Vorschrift im Streitfall nicht vorlägen. Der Umstand,
dass die schnellere Abwicklung von Gewährleistungsansprüchen Hauptziel des Gesetzgebers gewesen sei,
bedeute nicht, dass die Ausschlussfrist deshalb bei unstreitigem Reisemangel nicht zum Tragen kommen könne.
Sie gelte nach dem Wortlaut des Gesetzes ausnahmslos für alle Ansprüche nach den §§ 651c bis 651f BGB. Die
Berufung auf die Ausschlussfrist in Fällen, in denen Sachaufklärung betrieben und der Versicherer eingeschaltet
worden sei, sei schließlich auch nicht rechtsmissbräuchlich.
11. Übergegangene Ansprüche der Klägerin aus § 831 BGB bestünden nicht, da das Busunternehmen als
Leistungsträger der Beklagten wegen fehlender Abhängigkeits- und Weisungsgebundenheit nicht als deren
Verrichtungsgehilfe angesehen werden könne. Auch habe die Klägerin keine durchgreifenden Anhaltspunkte
dafür aufgezeigt, dass die Beklagte eine eigene Verkehrssicherungspflicht verletzt haben und deshalb deliktisch
haften könnte.
12. II. Diese Beurteilung hält den Angriffen der Revision stand.
13. 1. Der Klägerin stehen vertragliche Ansprüche aus übergegangenem Recht gegen die Beklagte nicht zu.
14. a) Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht angenommen, dass die Klägerin, auf die schon zum Zeitpunkt
des Unfalls gemäß § 116 Abs. 1 SGB X die Gewährleistungsansprüche der Reisenden übergegangen waren, ihre
Ansprüche selbst innerhalb der Ausschlussfrist bei der Beklagten hätte anmelden müssen. Denn die Obliegenheit
des "Reisenden" nach § 651g Abs. 1 Satz 1 BGB, die Ansprüche innerhalb der Monatsfrist geltend zu machen,
trifft den jeweiligen Anspruchsinhaber (BGHZ 159, 350, 354) und damit auch den Zessionar, auf den die Ansprüche durch
Abtretung oder gesetzlichen Forderungsübergang übergegangen sind.
15. b) Dem Berufungsgericht ist auch darin beizutreten, dass die rechtzeitige Anmeldung der übergegangenen
Ansprüche durch den Zessionar auch dann nicht entbehrlich ist, wenn der Reisende rechtzeitig eigene
Schadensersatzansprüche erhoben hat (ebenso OLG Koblenz, Urt. v. 16.05.2008 - 10 U 1165/07; vgl. auch Palandt/Sprau, BGB, 68. Aufl., § 651g Rdn. 2;
MünchKomm./Tonner, BGB, 5. Aufl. § 651g Rdn. 26; krit.: Erman/Seiler, BGB, 12. Aufl., § 651g Rdn. 2; a.A. Führich, Urteilsanm. zu BGH, Urt. v. 22.06.2004 - X ZR 171/03, LMK 2004, 204; Brüning, Probleme
des Reisevertrags- und Reiseversicherungsrechts, Diss. Hamburg 2008, S. 68 f.)
.
16. aa) Sinn und Zweck der Ausschlussfrist ist es, dem Reiseveranstalter Gewissheit darüber zu verschaffen, ob
und in welchem Umfang Gewährleistungsansprüche auf ihn zukommen, damit er unverzüglich die notwendigen
Beweissicherungsmaßnahmen treffen, etwaige Regressansprüche gegen seine Leistungsträger geltend machen
und gegebenenfalls seinen Versicherer benachrichtigen kann (vgl. BGHZ 90, 363, 367, 369; 97, 255, 262; 102, 80, 86; 145, 343, 349; Urt. v. 11.01.2005 - X
ZR 163/02, NJW 2005, 1420). Wie der Bundesgerichtshof bereits im Urteil vom 22. 06.2004 (BGHZ 159, 350, 354) ausgeführt hat,
erlangt der Reiseveranstalter sichere Kenntnis der auf ihn zukommenden Gewährleistungsansprüche allerdings
nur durch eine Anmeldung des Anspruchsinhabers. Daher hat der Bundesgerichtshof jedenfalls in jenem Fall, in
dem lediglich eine vom Reisenden vorgenommene Anmeldung des für ihn fremden, weil auf den
Sozialversicherungsträger übergegangenen Teilanspruchs auf Ersatz der Heilbehandlungskosten in Frage
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gestanden hat, die eigene rechtzeitige Anmeldung des Anspruchsinhabers aus übergegangenem Recht für
unentbehrlich erachtet.
17. Der Schutzzweck der Ausschlussfrist des § 651g Abs. 1 Satz 1 BGB, dem Reiseveranstalter möglichst bald
Sicherheit hinsichtlich der auf ihn zukommenden Ansprüche zu verschaffen, kann indes gleichermaßen nicht
hinreichend erfüllt sein, wenn lediglich der Reisende die ihm selbst zustehenden Ansprüche geltend macht. Denn
damit steht für den Reiseveranstalter noch keineswegs sicher fest, ob weitere Ansprüche aufgrund
übergegangenen Rechts gegen ihn erhoben werden und in welchem Umfang sich hierdurch seine
Inanspruchnahme entwickeln könnte. Während für den Reiseveranstalter bei einer Anspruchsanmeldung durch
einen Dritten offenbleiben kann, ob der Anspruchsinhaber selbst überhaupt einen Anspruch erheben wird (vgl. BGHZ
159, 350, 355), kann bei der Anmeldung lediglich eigener Ansprüche durch den Reisenden für den Reiseveranstalter
unklar bleiben, welche weiteren Forderungen Dritter noch auf ihn zukommen können. Auch hier sind
Fallgestaltungen denkbar, bei denen der Reiseveranstalter zunächst noch keinen hinreichenden Anlass hat, sich
umfassend um die Aufklärung des Sachverhalts und um die Beweissicherung zu kümmern, etwa weil die Höhe
der von dem Reisenden selbst angemeldeten Forderungen gering ist oder schon Kulanzgründe deren
Begleichung nahelegen oder im Verhältnis zur Höhe der angemeldeten Ansprüche die Durchsetzung von
Regressforderungen unwirtschaftlich erscheint. Das von der Rechtsprechung als schützenswert angesehene
Interesse des Reiseveranstalters, seine Überprüfungs- und Beweissicherungstätigkeiten nicht vergeblich in Gang
zu setzen (BGHZ 145, 343, 349; 159, 350, 355), ist auch bei solchen Fallgestaltungen anzuerkennen. Müsste der
Reiseveranstalter nach der Anmeldung von Forderungen eines Anspruchsinhabers zeitlich unbegrenzt mit der
Geltendmachung weiterer Ansprüche in unbekannter Höhe durch ihm bislang unbekannte Anspruchsinhaber
rechnen, würde der von § 651g Abs. 1 Satz 1 BGB verfolgte Schutzzweck insoweit verfehlt.
18. bb) Überdies würde es zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führen, wenn die Entscheidung, ob der
Inhaber eines Anspruchs aus übergegangenem Recht sich auf die Anmeldung des Reisenden berufen kann,
davon abhängig wäre, ob dem Reisenden (noch) eigene Forderungen in einer Höhe zustehen, die ohnehin das
Erfordernis einer schnellen Beweissicherung begründen. Diese Unsicherheit bestünde nicht nur bei dem vom
Normzweck geschützten Reiseveranstalter, sondern auch auf Seiten des Anspruchsinhabers aus
übergegangenem Recht, der im Einzelfall zu prüfen hätte, ob bereits die Anmeldung des Reisenden rechtzeitig
und von ihrem Inhalt geeignet wäre, eine eigene fristgemäße Anmeldung entbehrlich zu machen. Auch der als
Auslegungsmaßstab heranzuziehende Normzweck des § 651g Abs. 1 Satz 1 BGB, eine notwendige
Beweissicherung sicherzustellen, rechtfertigt es nicht, bei der Gesetzesanwendung jeweils im Einzelfall zu fragen,
ob die Einhaltung der gerade auch der Rechtssicherheit dienenden Ausschlussfrist durch den Zessionar
ausnahmsweise entbehrlich ist.
19. cc) Der Zessionar wird durch die für ihn bestehende Pflicht, seinen Anspruch innerhalb der Frist des § 651g
Abs. 1 BGB anzumelden, auch nicht im Hinblick darauf unzumutbar belastet, dass er gegebenenfalls erst bei
Abrechnung seiner Leistungen und damit erst nach Ablauf der Ausschlussfrist von seinem Anspruch gegen den
Reiseveranstalter Kenntnis erlangt. Auch für ihn gilt die der Vermeidung von Härtefällen dienende Regelung in §
651g Abs. 1 Satz 3 BGB, wonach der Anspruchsinhaber nach Ablauf der Monatsfrist seine Ansprüche noch
geltend machen kann, wenn er ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist verhindert war.
20. c) Entgegen der Auffassung der Revision scheitert eine schuldhafte Versäumung der Ausschlussfrist des §
651g Abs. 1 BGB auch nicht daran, dass die Klägerin die Frist nicht gekannt hat und nicht hat kennen müssen.
21. Die zum Schutz des Verbrauchers bei Reisen bestehende Pflicht des Reiseveranstalters nach § 6 Abs. 2 Nr. 8
BGBnfoV, einen Vertragspartner bei Vertragsschluss über die nach § 651g Abs. 1 BGB einzuhaltende Frist zu
belehren, erstreckt sich nur auf den Reisenden, nicht jedoch auf den ihm Leistungen gewährenden Dienstherrn
oder Sozialversicherungsträger. Daher lässt sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach
zugunsten eines Reisenden eine widerlegbare Vermutung besteht, dass dieser die Ausschlussfrist nicht gekannt
und damit nicht schuldhaft versäumt hat, wenn der Reiseveranstalter ihn pflichtwidrig nicht belehrt hat (vgl. BGH, Urt. v.
12.06.2007 - X ZR 87/06, NJW 2007, 2549, 2552), von vornherein nicht auf Dritte übertragen, die gegen den Reiseveranstalter aus
übergegangenem Recht mit eigenständigen Forderungen vorgehen.
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22. Sonstige Gründe für eine unverschuldete Unkenntnis der Klägerin von der Ausschlussfrist werden auch von
der Revision nicht geltend gemacht.
23. d) Auch das von der Revision herangezogene und als Anerkenntnis gewertete eigene Verhalten der Beklagten
gegenüber den Reisenden, für die sie von sich aus die erforderlichen Rettungsmaßnahmen einschließlich der
Erstversorgung übernommen hat, denen sie den Reisepreis erstattet hat und die sie von sich aus um
Bekanntgabe der noch nicht ausgeglichenen Schäden gebeten hat, begründet keine ausnahmsweise
Entbehrlichkeit einer Anmeldung der Ansprüche durch die Klägerin. Die Annahme der Revision, dass es auch
zugunsten des Sozialversicherungsträgers wirke, wenn der Reisende seinen Anspruch nicht mehr anmelden
müsse, verkennt, dass die dem Geschädigten verbleibenden Ansprüche und die auf einen
Sozialversicherungsträger übergegangenen Ansprüche selbständige Forderungen sind, die unterschiedliche
Schicksale erleiden können. Zu Recht hat das Berufungsgericht in dem Umstand, dass die Beklagte ihre
vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Reisenden ernst genommen und sich umgehend um deren Belange
und eine Schadensregulierung gekümmert hat, noch keine rechtsgeschäftliche Erklärung gegenüber weiteren
Anspruchsgegnern gesehen. Ohnehin hat die Klägerin nicht behauptet, eine rechtzeitige Anmeldung eigener
Ansprüche wegen einer Kenntnis vom Verhalten der Beklagten den Reisenden gegenüber unterlassen zu haben.
Damit ist auch für die Annahme rechtsmissbräuchlicher Berufung auf den Fristablauf kein Raum. Denn
Voraussetzung für rechtsmissbräuchliches Verhalten ist, dass derjenige, zu dessen Gunsten eine Verjährungsoder Ausschlussfrist eingreift, durch sein Verhalten dem Anspruchsberechtigten gegenüber einen
Vertrauenstatbestand dahingehend geschaffen hat, dass er auf die Einhaltung der Frist verzichte (vgl. zur ähnlichen
Problematik treuwidrigen Berufens auf eine Fristversäumung bei der ehemals in § 12 Abs. 3 VVG geregelten Ausschlussfrist Prölss/Martin, VVG, 27. Aufl., § 12 Rdn. 52). Im Streitfall kann die
Revision auf kein entsprechendes Verhalten der Beklagten gegenüber der Klägerin verweisen.
24. 2. Ebenfalls ohne Erfolg wendet sich die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht eine deliktsrechtliche
Haftung der Beklagten unter dem Gesichtspunkt der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht (§ 823 Abs. 1 BGB)
verneint hat.
25. Das Berufungsgericht hat dabei die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zugrunde gelegt,
wonach den Reiseveranstalter bei der Vorbereitung und Durchführung der von ihm veranstalteten Reisen eigene
Verkehrssicherungspflichten treffen. Der Reiseveranstalter hat diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die
ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der jeweiligen Berufsgruppe für
ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schaden zu bewahren, und die ihm den Umständen nach
zuzumuten sind. Dabei gehört es zu den Grundpflichten eines Reiseveranstalters, die Personen, deren er sich zur
Ausführung seiner vertraglichen Pflichten bedient, hinsichtlich ihrer Eignung und Zuverlässigkeit sorgfältig
auszuwählen und seine Leistungsträger und deren Leistung regelmäßig den jeweiligen Umständen entsprechend
zu überwachen (BGHZ 103, 298, 305; BGH, Urt. v. 12.03.2002 - X ZR 226/99, NJWRR 2002, 1056; Urt. v. 18.07.2006 - X ZR 142/05, RRa 2006, 206).
26. Das Berufungsgericht hat zutreffend erkannt, dass an diesen Grundsätzen gemessen der Beklagten ein
Organisationsverschulden nicht anzulasten ist. Denn auch unter Berücksichtigung der der revisionsrechtlichen
Beurteilung zugrunde zu legenden Behauptung der Klägerin, der Busfahrer sei wegen Übermüdung von der
Fahrbahn abgekommen, erweist sich die Annahme des Berufungsgerichts als rechtsfehlerfrei, es lasse sich nicht
feststellen, dass das Unfallgeschehen durch eine Kontrolle des Fahrpersonals in der konkreten Situation oder
durch von der Beklagten zu erwartende Kontrollen vorausgehender Fahrt- und Ruhezeiten zu verhindern
gewesen wäre. Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts zu dem
sechsstündigen Ausflugsprogramm am Vortage des Unfalls, an dem der Busfahrer angemessene Lenkzeiten
nicht überschritten hat, und zu dem Ablauf der Reise am Tage des Unfalls, der sich rund eine Stunde nach einer
längeren Mittagspause ereignet hat, sind für die Beklagte keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich gewesen, dass
der Fahrer hätte übermüdet sein können. Insoweit konzediert auch die Revision für den Unglückstag eine
„minimale Belastung― des Fahrers. Sonstige konkrete, auf eine Übermüdung des Busfahrers hindeutende
Umstände, die für einen verständigen und sorgfältigen Reiseveranstalter nahegelegen und durch entsprechende
Kontrollen hätten aufgedeckt werden können, waren nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht zu
erkennen und werden auch von der Revision nicht aufgezeigt. Insbesondere ist hinsichtlich der von der Revision
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aus dem Unfallgeschehen gefolgerten Vermutung, der Fahrer müsse die gebotene Nachtruhe nicht eingehalten
oder gesundheitliche Probleme gehabt haben, nicht ersichtlich, woher der Reiseleiter der Beklagten derartige
Erkenntnis gewinnen und daraus auf eine Übermüdung des Fahrers hätte schließen können. Zu Recht hat das
Berufungsgericht insoweit angenommen, dass die beklagte Reiseveranstalterin, die umsichtig dem Busfahrer in
demselben Hotel wie den Reisenden eine Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt hat, nicht hat davon
ausgehen müssen, dass der Fahrer am Folgetag übermüdet sein könnte. Zu der von der Revision für geboten
erachteten Belehrung des - nicht von ihr angestellten - Fahrers über die Notwendigkeit, die Nachtruhe
einzuhalten, war die Beklagte nicht verpflichtet.
27. III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
MeierBeck Mühlens Lemke Gröning Berger Vorinstanzen: LG Hannover, Entscheidung vom 12.09.2005 - 20 O
57/05 - OLG Celle, Entscheidung vom 27.07.2006 - 11 U 263/05 –
BGH VI ZB 2/09. vom 19.05.2009.
Die Klage des Patienten hat Erfolg: Fehlleitungen im Gericht gehen nicht zu seinen Lasten.
in dem Rechtsstreit Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. 05.2009 durch die Vizepräsidentin Dr.
Müller, den Richter Zoll, die Richterin Diederichsen, den Richter Pauge und die Richterin von Pentz beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 4. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts
vom 22. 12.2008 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 321.000 € festgesetzt.
Gründe:
I.
1. Der Kläger begehrt Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen eines behaupteten ärztlichen
Behandlungsfehlers. Das Landgericht hat die gegen die Beklagte zu 2 gerichtete Klage durch Teilurteil vom 18.
09.2008 abgewiesen. Das Urteil ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 23. 09.2008 zugestellt worden.
Mit am 23. 10.2008 beim Berufungsgericht eingegangenem Schriftsatz haben die Prozessbevollmächtigten des
Klägers gegen dieses Teilurteil Berufung eingelegt. Auf den am 21. 11.2008 eingegangenen Antrag der
Prozessbevollmächtigten des Klägers hat der Vorsitzende des Berufungsgerichts die Berufungsbegründungsfrist
bis 19. 12.2008 verlängert. Am 19. 12.2008 ging die Berufungsbegründung per Telefax ordnungsgemäß in der
gemeinsamen Posteingangsstelle des Justizzentrums Jena ein. Durch ein justizinternes Versehen gelangte sie
nicht zur Geschäftsstelle des Berufungsgerichts, sondern wurde an das Amtsgericht weitergeleitet und dort in
einer Akte abgelegt. Mit Beschluss vom 22. 12.2008 hat das Berufungsgericht die Berufung des Klägers gegen
das Teilurteil des Landgerichts Erfurt als unzulässig verworfen. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger
mit der Rechtsbeschwerde, mit der er die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Zurückverweisung
der Sache an das Berufungsgericht beantragt.
II.
2. 1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch
im Übrigen zulässig, weil gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine
Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (vgl. BVerfG NJWRR 2002, 1004).
3. 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht durfte die Berufung nicht mit der
Begründung als unzulässig verwerfen, das Rechtsmittel sei nicht rechtzeitig begründet worden. Der Kläger hat die
Begründungsfrist gewahrt. Seine Berufungsbegründung ging am 19. 12.2008 und damit am letzten Tag der vom
Vorsitzenden des Berufungsgerichts wirksam verlängerten Berufungsbegründungsfrist bei der gemeinsamen
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Posteingangsstelle und damit beim Berufungsgericht ein. Der Umstand, dass sie zunächst nicht zur zuständigen
Geschäftsstelle gelangte, kann sich nicht zu Lasten des Klägers auswirken.
Müller Zoll Diederichsen Pauge von Pentz
Vorinstanzen: LG Erfurt, Entscheidung vom 18.09.2008 - 10 O 178/07 - OLG Jena, Entscheidung vom
22.12.2008 - 4 U 850/08 –
BGH VI ZR 56/08 Verkündet am: 19.05.2009.
SGB VII §§ 108, 135, 2 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2. Hat der Unfallversicherungsträger die Versicherung des Unfalls
nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII angenommen und ist die Entscheidung gegenüber den Beteiligten
unanfechtbar geworden, ist der Zivilrichter nach § 108 SGB VII daran gebunden. Der Haftungsfall darf
keinem weiteren Unternehmer nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII zugeordnet werden.
BGH, Urteil vom 19. 05.2009 - VI ZR 56/08 - OLG Koblenz
LG Koblenz Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 19. 05.2009 durch
die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Zoll, die Richterin Diederichsen, den Richter Pauge und die Richterin
von Pentz für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Teil- und Grundurteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz
vom 8. 02.2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das
Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1. Die Klägerin verlangt Ersatz ihres materiellen und immateriellen Schadens infolge eines Unfalls in einem
Kindergarten, dessen Träger die beklagte Kirchengemeinde ist.
2. Die Klägerin, eine gelernte Zahntechnikerin, begann im 09.2003 wegen eines Asthmaleidens eine von der
Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik (künftig: BGFE) finanzierte Umschulung zur Erzieherin. Im
04.2004 absolvierte sie im Rahmen der Ausbildung ein Praktikum im Kindergarten der Beklagten. Als auf dem
Spielplatz des Kindergartens eine 1993 errichtete Markisenkonstruktion zusammenbrach, deren tragende
Holzpfosten in Bodennähe verfault waren, wurde die Klägerin durch herabfallende Teile verletzt. Dem
Rechtsanwalt der Klägerin teilte die BGFE am 31. 03.2005 mit: "Sachstandsmitteilung/Zuständigkeit … nach
aktuellem Stand sind wir nach § 2 Abs. 1 Nr. 15 c SGB VII der zuständige Kostenträger, da die Verletzte … zum
Unfallzeitpunkt ein Praktikum im Rahmen einer Umschulung gemäß § 3 Berufskrankheitenverordnung …
absolvierte".
3. Der Klage auf Schmerzensgeld von mindestens 10.000 €, Schadensersatz von 6.571,18 € und Feststellung der
Ersatzpflicht für künftige Schäden hat das Landgericht im Wesentlichen stattgegeben. Dagegen haben die
Beklagte Berufung und die Klägerin Anschlussberufung eingelegt. Die Berufung der Beklagten hat das
Berufungsgericht mit einem Teil- und Grundurteil zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen
Revision verfolgt die Beklagte das Ziel der Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
4. Das Berufungsgericht, dessen Urteil in r+s 2009, 171 veröffentlicht ist, hat die Berufung zurückgewiesen,
soweit sie sich gegen die dem Grunde nach zugesprochenen Ansprüche der Klägerin und die Feststellung der
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Ersatzpflicht der Beklagten für künftige materielle und immaterielle Schäden, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte
übergegangen sind, gerichtet hat. Zur Begründung hat es ausgeführt:
5. Dem Grunde nach seien Ansprüche aus § 836 BGB gegen die Beklagte gegeben. Die Markisenkonstruktion sei
ein mit dem Grundstück verbundenes Werk. Es spreche bereits der Beweis des ersten Anscheins für dessen
Fehlerhaftigkeit, da die tragenden Holzpfosten in Erdnähe verfault waren und teilweise mit den Fingern zerbröselt
werden konnten. Das Umkippen der Konstruktion beruhe nicht auf einem außergewöhnlichen Geschehensablauf.
Das nach § 836 BGB vermutete Verschulden habe die Beklagte nicht widerlegt. Sie habe insbesondere nicht
substantiiert dargetan, welche Maßnahmen sie zum Schutz des Holzes gegen Witterungseinflüsse ergriffen habe.
6. Eine Haftungsprivilegierung der Beklagten als Unternehmerin gemäß § 104 SGB VII scheide aus. Dabei sei der
Umstand, dass die BGFE ihre Einstandspflicht unter Hinweis auf § 2 Abs. 1 Nr. 15 c SGB VII anerkannt habe,
ohne Bedeutung. Selbst wenn darin eine unanfechtbare Entscheidung im Sinne des § 108 SGB VII zu sehen sei,
erstrecke sich die Bindungswirkung nicht auf die Frage, ob ein weiterer Unternehmer hafte oder ein
Haftungsprivileg in Anspruch nehmen könne. Es sei anerkannt, dass ein Schadensereignis mehreren Betrieben
zugerechnet werden könne. Der streitgegenständliche Unfall sei jedoch kein Arbeitsunfall im Betrieb der
Beklagten, weil die Klägerin dort weder nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 SGB VII noch nach § 2 Abs. 2 Satz 1
SGB VII versichert gewesen sei. Sie sei nicht "für den Unfallbetrieb" der Beklagten, sondern "für die Schule" tätig
gewesen, weil das Praktikum der Überprüfung ihrer Eignung für den von ihr eingeschlagenen Ausbildungsweg
gedient habe. Die Praktikantenausbildung werde durch inhaltliche Vorgaben von der Schule gelenkt, deshalb sei
die Klägerin nicht in die betriebliche Organisation des Unfallbetriebs der Beklagten eingegliedert gewesen.
II.
7. Das Urteil hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
A.
8. Soweit die Revision rügt, das Berufungsurteil umfasse nicht die von der Klägerin mit der Anschlussberufung in
zweiter Instanz geltend gemachten weiteren Ansprüche, weshalb insoweit eine Entscheidung zum Grunde dieser
Ansprüche nicht gegeben sei und widersprechende Entscheidungen künftig nicht auszuschließen seien, vermag
sich der erkennende Senat dieser Sichtweise nicht anzuschließen. Nach dem Wortlaut der Entscheidungsgründe
des Berufungsurteils hat das Berufungsgericht alle zum Entscheidungszeitpunkt rechtshängigen Ansprüche dem
Grunde nach für gerechtfertigt gehalten. Das Berufungsgericht hat mithin über die Anträge der Berufung und der
Anschlussberufung dem Grunde nach entschieden. Bei dem unter Einbeziehung der Urteilsgründe gebotenen
Verständnis umfasst somit die Urteilsformel sowohl die mit der Berufung angegriffenen als auch die mit der
Anschlussberufung gestellten Ansprüche.
B.
9. Das Urteil begegnet aber im Übrigen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
10. I. Die Revision wendet sich nicht dagegen, dass das Berufungsgericht die Anspruchsvoraussetzungen nach
§§ 836 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB bejaht hat. Dies ist rechtlich auch nicht zu beanstanden (vgl. OLG Celle, VersR 1985, 345 mit
NABeschluss des Senats vom 13. 11.1984 - VI ZR 20/84).
11. II. Jedoch hat das Berufungsgericht bei der Prüfung, ob die Beklagte gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII von
dieser Haftung befreit ist, den Umfang der Bindungswirkung des § 108 Abs. 1 SGB VII verkannt. Zwar geht das
Berufungsgericht im Ansatz zutreffend davon aus, dass die Zivilgerichte grundsätzlich von Amts wegen die
Bindungswirkung des § 108 SGB VII zu beachten haben, weil diese ihrer eigenen Sachprüfung - auch der des
Revisionsgerichts - Grenzen setzt (Senat, BGHZ 158, 394, 397; Urteile vom 19. 10.1993 - VI ZR 158/93 - VersR 1993, 1540, 1541; 12. 06.2007 - VI ZR 70/06 - VersR 2007, 1131,
1132; vom 20. 11.2007 - VI ZR 244/06 - VersR 2008, 255, 256 und vom 22. 04.2008 - VI ZR 202/07 - VersR 2008, 820, 821). Jedoch hat es fälschlicherweise
angenommen, dass es auf die Bindung an die versicherungsrechtliche Zuordnung des Schadensfalls unter
Hinweis auf § 2 Abs. 1 Nr. 15 c SGB VII an die BGFE im zivilrechtlichen Haftungsprozess nicht ankomme, weil
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der Zivilrichter unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt einen Unfall als versicherten Arbeitsunfall einem
weiteren Unternehmer zurechnen dürfe.
12. 1. Diese Sichtweise des Berufungsgerichts beruht auf der früheren, inzwischen aufgegebenen
Rechtsprechung des Senats, wonach die Zivilgerichte durch § 108 SGB VII nicht grundsätzlich gehindert waren,
einen Arbeitsunfall einem weiteren Unternehmer zuzurechnen mit der Folge, dass auch diesem Unternehmer eine
Haftungsprivilegierung zugute kommen konnte (grundlegend BGHZ 24, 247, 248 ff. und Urteil vom 11. 07.1972 - VI ZR 21/71 - VersR 1972, 945, 946; daran anknüpfend
BGHZ 129, 195, 198 f. und Urteile vom 1. 07.1975 - VI ZR 87/74 - VersR 1975, 1002; vom 7. 06.1977 - VI ZR 99/76 - VersR 1977, 959; vom 6. 12.1977 - VI ZR 79/76 - VersR 1978, 150, 151; vom 29. 01.1980 VI ZR 125/79 - VersR 1980, 578; vom 22. 06.1982 - VI ZR 240/79 - VersR 1983, 31, 32; vom 3. 05.1983 - VI ZR 68/81 - VersR 1983, 728; vom 3. 04.1984 - VI ZR 288/82 - VersR 1984, 652 f.; vom 15. 05.1990
. Insofern vertritt der erkennende Senat im Hinblick auf die
geänderte Rechtslage diese Rechtsauffassung nicht mehr (Senatsurteil vom 22. 04.2008 - VI ZR 202/07 - VersR 2008, 820, 821 m.w.N.). Die
Zivilgerichte sind nunmehr durch § 108 SGB VII hinsichtlich der Frage, ob ein Versicherungsfall vorliegt, in
welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist, an
unanfechtbare Entscheidungen der Sozialbehörden und Sozialgerichte gebunden. Das gilt unabhängig davon, ob
sie diese Entscheidungen für richtig halten (Senat, Urteil vom 22. 04.2008 - VI ZR 202/07 - aaO m.w.N.).
- VI ZR 266/89 - VersR 1990, 995, 996; vom 26. 06.1990 - VI ZR 233/89 - VersR 1990, 1161, 1162)
13. a) Für die Frage, ob Unfälle unter den sozialrechtlichen Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3, 6 SGB VII
fallen, ist in der Regel maßgebend, dass zwischen der Verrichtung und der versicherten Tätigkeit im Zeitpunkt des
Unfalls ein sachlicher Zusammenhang besteht (vgl. BTDrs. 13/2204, S. 77), während ein rein örtlicher oder zeitlicher
Zusammenhang nicht genügt (vgl. KassKomm Sozialversicherungsrecht/Ricke, Stand: 60. Lfg. 2009, § 8 Rn. 10). Der sachliche Zusammenhang
zwischen der versicherten Tätigkeit und der den Unfall verursachenden Verrichtung ist wertend zu ermitteln.
Maßgebliches Kriterium hierfür ist die Handlungstendenz des Versicherten (BSG, NZS 2006, 100 f.; 154, 155 jeweils m.w.N.). Ergibt die
wertende Betrachtung, dass die Verrichtung mit mehreren versicherten Tätigkeiten in einem inneren
Zusammenhang steht und somit die Merkmale mehrerer Versicherungsschutztatbestände erfüllt sind (BSG, NZS 2007, 38
zu § 2 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 5 a SGB VII; NJW 2009, 937 zu § 2 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 13 a SGB VII; KassKomm/Ricke, aaO, § 2 Rn. 4, § 8 Rn. 10, § 133 Rn. 8, § 135 Rn. 2; Brackmann/Kruschinsky, SGB VII,
, führt dies allerdings nicht zu einem mehrfachen
Versicherungsschutz und zur Zuständigkeit mehrerer Unfallversicherungsträger. Das verhindern seit der
Regelung der Unfallversicherung im Sozialgesetzbuch VII die Konkurrenzregelungen für die "Versicherung nach
mehreren Vorschriften" in § 135 SGB VII. Nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift soll es auch dann, wenn der
Arbeitsunfall von zwei verschiedenen Unfallversicherungsträgern anzuerkennen und zu entschädigen wäre, keine
Doppelzuständigkeiten geben. Dem entspricht der zwingende Charakter der Zuständigkeitsregeln im
Sozialgesetzbuch VII, mit denen verwaltungspraktischen Bedürfnissen sowohl auf Seiten der
Unfallversicherungsträger als auch des Verletzten Rechnung getragen wird, für den damit der Ansprechpartner für
seinen Versicherungsfall feststeht (BSG, NZS 2007, 38, 39). § 135 SGB VII hat mit seiner umfassenden Regelung der
Konkurrenzen beim Zusammentreffen mehrerer Versicherungstatbestände in dieser Form kein Vorbild in der
Reichsversicherungsordnung, sondern ist im Zuge der Einordnung des Rechts der gesetzlichen
Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch VII neu geschaffen worden (vgl. BSG, NJW 2009, 937, 939). Zuvor hatte das
Bundessozialgericht unter Geltung der Reichsversicherungsordnung die damals bestehende Regelungslücke
ausgefüllt, indem es, wenn mehrere Versicherungstatbestände in Frage kamen, die Zuständigkeit des
Unfallversicherungsträgers nach dem Schwerpunkt der Tätigkeit unter Berücksichtigung der Handlungstendenz
des Verletzten bestimmte (BSGE 5, 168, 174 f.; anknüpfend an RVA, EuM Bd. 18, S. 101, 103 f.; Bd. 40, S. 185, 186). Aufgrund der Regelung in § 135
SGB VII besteht hierfür inzwischen kein Bedarf mehr (BSG, NJW 2009, 937, 939 entgegen LSG RheinlandPfalz, Breith. 2007, 408, 412; BereiterHahn/Mehrtens,
Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl., Stand: 02.2009, § 135 Rn. 4; Quabach in jurisPKSGB VII, § 135 Rn. 21; Hauck/NoftzGraeff, SGB VII, Stand: 38. Lfg. 2009, § 135 Rn. 3). Einzig in § 135
Abs. 6 SGB VII wird auf das Schwerpunktkriterium noch abgestellt (vgl. BSG, NZS 2007, 38, 39).
12. Aufl., Stand: 172. Lfg. 2008, § 2 Rn. 820; so schon zur RVO BSG, BSGE 5, 168, 175; 56, 279, 282)
14. b) Für die bisherige Rechtslage war folgendes kennzeichnend:
15. Das Reichsgericht hatte für die zivilrechtliche Haftung die Auffassung vertreten, dass eine bindende
Bestimmung des Unternehmers im sozialrechtlichen Verfahren, dem der geschädigte Beschäftigte
versicherungsrechtlich zuzuordnen sei, für die Zivilgerichte die Annahme ausschließe, dass noch ein anderer
Unternehmer sei und auch diesem eine Haftungsprivilegierung zugute komme (RGZ 111, 159, 160 f.; 171, 393, 397; anders noch RGZ 97, 202,
206).
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16. Demgegenüber hat der erkennende Senat zur Vermeidung von Privilegierungslücken die Auffassung
vertreten, dass der Zivilrichter durch die Zuordnung des Unfalls zu einem Unternehmer im Sozialverfahren nicht
gehindert sei, einen versicherten Arbeitsunfall für einen weiteren Unternehmer anzunehmen (grundlegend BGHZ 24, 247, 248 ff.
und BGHZ 129, 195, 198 f. m.w.N.). Indessen hat er für die Frage der Versicherung des Nothelfers nach § 539 Abs. 1 Nr. 9 a
RVO die Bindungswirkung der unanfechtbaren sozialrechtlichen Entscheidung für den Zivilrichter stets bejaht (BGHZ
129, 195; v. Gerlach, DAR 1996, 205, 207 ff.; H. Müller, VersR 1995, 1209 ff.). Dementsprechend hat der erkennende Senat im Urteil vom 24.
01.2006 (BGHZ 166, 42) auch für eine nach der neuen Regelung in § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII versicherte Nothilfe die
Bindungswirkung der unanfechtbaren sozialrechtlichen Entscheidung im zivilrechtlichen Haftungsprozess
angenommen und die Möglichkeit der Zuordnung des Versicherungsfalls zu einem anderen Unternehmen nach §
2 Abs. 1 Nr. 1 oder Abs. 2 Satz 1 SGB VII mit der Begründung abgelehnt, dass eine weitere Zuordnung in diesen
Fällen nicht in Frage komme, weil der Versicherungsschutz für Verletzungen, für die eine Berufsgenossenschaft
ihre Leistungspflicht aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen Hilfeleistungen unter dem Gesichtspunkt der
öffentlichen Unfallfürsorge anerkannt hat, subsidiär sei zum Versicherungsschutz nach anderen Vorschriften (BGHZ
166, 42, 45). Die Feststellung des Sozialversicherungsträgers oder des Sozialgerichts, dass die Einstandspflicht der
Unfallversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 13 a SGB VII (früher § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO) gegeben sei, schließe somit die
Entscheidung mit ein, dass die Versicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 oder § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII im
betreffenden Fall ausgeschlossen sei (BGHZ 166, 42, 45).
17. Mit dem Urteil vom 22. 04.2008 - VI ZR 202/07 - (aaO) hat der erkennende Senat für den Fall, dass der
Unfallversicherungsträger die Versicherung des Unfalls nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII angenommen hat und die
Entscheidung gegenüber den Beteiligten unanfechtbar geworden ist, eine Zuordnung des Unfalls zu einem
weiteren Unternehmer nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ebenfalls abgelehnt, weil der Zivilrichter nach § 108 SGB
VII gebunden sei. Nach der Konkurrenzregelung in § 135 Abs. 1 Nr. 7 SGB VII geht die Versicherung nach § 2
Abs. 1 Nr. 1 SGB VII der nach § 2 Abs. 2 SGB VII vor. Im Hinblick auf die Regelung in § 135 Abs. 1 Nr. 7 SGB VII
muss nun nicht mehr geprüft werden, ob die Aufgaben dem Stamm- oder Fremdbetrieb des Tätigen zuzuordnen
sind, bei deren Verrichtung es zum Unfall gekommen ist (Wannagat/Waltermann, Sozialgesetzbuch VII, 18. Lfg. 2009, § 104 Rn. 12, § 108 Rn. 4). Die
entsprechenden Kriterien (BSG, BSGE 5, 168, 174; 57, 91, 93; SozR 2200 § 539 RVO Nr. 25, S. 71; NZA 1986, 410; SozR 32200 § 539 RVO Nr. 25, S. 86 f.; SozR 32200 § 539 RVO Nr.
28 S. 105 f.; VersR 1999, 1517, 1518; Spellbrink in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2, § 24 Rn. 36 ff.) spielen nur noch dann eine Rolle, wenn es
um die Abgrenzung einer nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII versicherten Tätigkeit von einer privaten, nicht
versicherten Tätigkeit geht (vgl. BSG, NZS 2006, 100 f.; 154 f.; 375 f.). Frühere Absprachen der Unfallversicherungsträger, mit denen
Konkurrenzfragen bei Tätigkeiten, die mehreren Unternehmen dienten, geregelt worden sind, werden vom
Schrifttum als "gegenstandslos" betrachtet (Lauterbach/Schwerdtfeger, Unfallversicherung, 4. Aufl. Stand 172. Lfg. 2008, § 135 Rn. 4, § 2 Rn. 720; Bereiter/HahnMehrtens,
aaO, § 2 Rn. 34.31). - 11 18. aa) Soweit gegen dieses Verständnis des § 135 SGB VII eingewendet wird, dass die Regelung zum
Unterabschnitt "Gemeinsame Vorschriften über die Zuständigkeit" gehöre und bei Vorliegen mehrerer
Versicherungstatbestände lediglich die Leistungszuständigkeit und nicht den Versicherungsschutz regle (vgl. Lemcke, r+s
2008, 309), kann dieser formale Gesichtspunkt nicht überzeugen. Eine solche Beschränkung des Regelungsgehalts
legen weder der Wortlaut der Vorschrift noch die Gesetzesmaterialien nahe (vgl. BTDrs. 13/2208, S. 108; zur Frage des Regelungsgehalts des §
135 SGB VII im Einzelnen Meike Lepa, Haftungsbeschränkungen bei Personenschäden nach dem Unfallversicherungsrecht, 2004, S. 69, 71). Die Vorschrift enthält nicht nur
Zuständigkeitsregelungen. Vielmehr sind an die einzelnen Tatbestände sowohl leistungsrechtliche - weil sich die
Leistungsgrundlagen im Rahmen der Satzungsermächtigungen unterscheiden können (vgl. Quabach in jurisPKSGB VII, § 135 Rn. 49)als auch beitragsrechtliche - weil das nach der Konkurrenzregelung mit dem Versicherungsfall belastete
Unternehmen gemäß § 162 SGB VII Nachteile im Beitragsausgleichsverfahren hat (vgl. KassKomm/Ricke, aaO, § 135 Rn. 2)Konsequenzen geknüpft. Auch andere Vorschriften des Unterabschnitts regeln nicht nur Fragen der
Zuständigkeit. So bestimmt sich etwa nach § 136 Abs. 3 SGB VII, wer Unternehmer im Sinne der §§ 104 ff. SGB
VII ist.
19. bb) Auch kommt es auf Seiten des Schädigers nicht zu unbilligen "Privilegierungslücken", wenn der
Arbeitsunfall im Haftungsprozess nicht einem weiteren Unternehmer zugeordnet werden kann. Zwar kommt die
Haftungsfreistellung des Unternehmers des Fremdbetriebs und der dort Beschäftigten nach den §§ 104, 105 SGB
VII nicht mehr in Betracht, doch hat sich inzwischen die Rechtslage mit der Haftungsprivilegierung nach § 106
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Abs. 3 Alt. 3 SGB VII geändert (vgl. zur früheren Rechtslage: Senat, BGHZ 8, 330 und BGHZ 24, 247 und zur Rechtslage nach Inkrafttreten des SGB VII: BSG, NJOZ 2008, 3465,
3469 ff.; Meike Lepa, aaO, S. 67 f.).
20. Danach ist ein Beschäftigter gegenüber dem Betriebsfremden ebenso haftungsbefreit wie der Unternehmer
des Unfallbetriebs, wenn er mit dem Geschädigten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte tätig und selbst
versichert war (vgl. Senat, BGHZ 148, 209, 211 ff.; 148, 214, 217 ff. und Urteil vom 20. 11.2007 - VI ZR 244/06 - aaO, 256). Konzeptionell bedeutet die
Erweiterung der Haftungsbeschränkung über den Unternehmer und seine Repräsentanten hinaus auf alle im
Betrieb tätigen Personen eine Weiterentwicklung von der reinen Haftungsbeschränkung aufgrund von
Beitragszahlungen zu einer Haftungsbeschränkung aufgrund der bestehenden Gefahrengemeinschaft und des
der gesetzlichen Unfallversicherung innewohnenden sozialen Schutzprinzips im Grundverhältnis Unternehmer
(=Arbeitgeber) und Beschäftigter (= Arbeitnehmer)(vgl. BSG, NJOZ 2008, 3465, 3469; Meike Lepa, aaO, S. 49 f.; Waltermann, NJW 2002, 1225, 1227). Auch wenn
Haftungsfälle verbleiben werden, für die kein Haftungsprivileg eingreift, so wenn beispielsweise der nicht auf der
gemeinsamen Betriebsstätte tätige Unternehmer die Pflicht zur Gefahrensicherung in seinem
Organisationsbereich verletzt hat (vgl. KassKomm/Ricke, aaO, § 106 Rn. 13) oder die Voraussetzungen für das Zusammenwirken auf
einer gemeinsamen Betriebsstätte fehlen (vgl. Meike Lepa, aaO, S. 68), muss dies im nunmehr geltenden System in Kauf
genommen werden. Hierfür spricht auch, dass im Sozialgesetzbuch VII eine § 1739 RVO entsprechende
Vorschrift fehlt, wonach bei Arbeitsunfällen die Teilung der Entschädigung unter mehreren
Unfallversicherungsträgern vorgesehen war (vgl. Senat, BGHZ 24, 247, 249). Hierdurch zeigt sich, dass die Beschränkung der
Zuordnung eines Arbeitsunfalls zu einem bestimmten Unternehmen mit Hilfe der Konkurrenzregelungen des §
135 SGB VII dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Aus der Regelung in § 174 SGB VII folgt nichts anderes,
da diese lediglich die Lastenteilung bei Berufskrankheiten betrifft (vgl. BTDrs. 13/2204, S. 114; Münch in jurisPKSGB VII, § 174 Rn. 6; Wolber, SozVers
1997, 121 und 1999, 225; Schlaeger, BG 2009, 144).
21. Somit ist der Zivilrichter an die Zuordnung des Unfalls zu einem bestimmten Unternehmen durch die
Sozialbehörden oder das Sozialgericht gebunden, wenn die Feststellung unanfechtbar geworden ist.
22. 2. Hiernach wird das Berufungsgericht festzustellen haben, ob es sich bei dem Schreiben der BGFE vom 31.
05.2005 um eine gegenüber der Beklagten bindende Entscheidung im Sinne von § 108 SGB VII handelt. Das
bedarf tatsächlicher Feststellungen, weil die Bestandskraft der Entscheidung voraussetzt, dass die Beklagte an
dem Verfahren in der gebotenen Weise beteiligt worden ist, denn ihre Rechte dürfen durch die Bindungswirkung
nach § 108 SGB VII nicht verkürzt werden.
23. a) Um das rechtliche Gehör von Personen, für die der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltende Wirkung
hat, zu gewährleisten, bestimmt § 12 Abs. 2 SGB X, dass sie auf ihren Antrag zu dem Verfahren hinzuzuziehen
sind. Für die Anwendung dieser Vorschrift reicht es aus, dass der Bescheid ihre Rechtsstellung berührt oder
berühren kann. Die Rechtsstellung des Schädigers ist einerseits berührt, wenn ein Unfall nicht als
Versicherungsfall anerkannt wird, weil er dann für den Personenschaden des Geschädigten grundsätzlich selbst
aufkommen muss (Senat, Urteil vom 20. 11.2007 - VI ZR 244/06 - VersR 2008, 255; dazu Konradi, BG 2008, 245 ff.). Die Rechtsstellung wird aber auch
dadurch berührt, dass der Unfall als Versicherungsfall für einen anderen Unternehmer anerkannt wird, weil die im
sozialrechtlichen Verfahren getroffene Zuordnung eine weitere Zuordnung unter einem anderen
Versicherungstatbestand ausschließt. Die sozialrechtliche Entscheidung wirkt mithin zu Lasten desjenigen, dem
die Zuordnung des Unfalls als Arbeitsunfall die Möglichkeit der Haftungsprivilegierung nach den §§ 104, 105 SGB
VII eröffnen könnte (vgl. Senatsurteil, BGHZ 129, 195, 201 zur Rechtslage nach der RVO).
24. b) Diese Voraussetzungen liegen bei der Beklagten vor. Ist der Unfall bindend als Versicherungsfall der BGFE
zugeordnet, scheidet eine Haftungsprivilegierung für die Beklagte und ihre Bediensteten nach den §§ 104, 105
SGB VII von vornherein aus. Ist die Beklagte nicht in der gebotenen Weise an dem Verfahren zwischen der BGFE
und der Klägerin beteiligt gewesen, was mangels entsprechender Feststellungen revisionsrechtlich zu unterstellen
ist, ist das sozialrechtliche Verfahren mit einem Fehler behaftet, mit der Folge, dass der Bescheid an die Klägerin
der Beklagten gegenüber nicht bindend geworden ist. Das Berufungsgericht ist dann an einer Entscheidung über
die Klage gehindert (Senat, BGHZ 129, 195, 202; 158, 394, 397 f.; Urteil vom 20. 11.2007 - VI ZR 244/06 - aaO, 257). Nach § 108 Abs. 2 SGB VII hat es sein
Verfahren auszusetzen, bis eine Entscheidung nach Abs. 1 ergangen ist. Die Bestandskraft eines etwaigen
Bescheides gegenüber der Klägerin tritt gegenüber der Beklagten erst ein, wenn sie auf Anfrage erklärt, an einer
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Wiederholung des Verfahrens kein Interesse zu haben, oder wenn sie keine Erklärung abgibt (vgl. BSGE 55, 160, 163).
Andernfalls wäre das Verwaltungsverfahren auf ihren Antrag zu wiederholen und die Beteiligung nachzuholen
(Senat, Urteil vom 12. 06.2007 - VI ZR 70/06 - aaO; Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht/Rolfs 9. Aufl., § 108 SGB VII Rn. 5), wodurch der in einem etwaigen Verstoß
gegen § 12 Abs. 2 Satz 2 SGB X liegende Verfahrensmangel gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 6 SGB X geheilt würde (vgl. v.
Wulffen/v. Wulffen SGB X, 5. Aufl., § 12 Rn. 13). Dann könnte die Entscheidung auch der Beklagten gegenüber unanfechtbar werden
und Bindungswirkung im vorliegenden Haftpflichtprozess haben. Bis dahin hätte das Berufungsgericht das
Verfahren gemäß § 108 Abs. 2 SGB VII - gegebenenfalls unter Fristsetzung - auszusetzen (Senat, BGHZ 129, 195, 202; Urteil vom
12. 06.2007 - VI ZR 70/06 - aaO; Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht/Rolfs aaO). Die Aussetzung steht nicht im Ermessen des Berufungsgerichts (vgl.
Senat, Urteil vom 22. 04.2008 - VI ZR 202/07 - aaO). Eine eigenständige Prüfung, ob die Beklagte grundsätzlich zivilrechtlich haftet, aber
nach § 104 SGB VII haftungsprivilegiert ist, ist dem Berufungsgericht vor Abschluss des sozialrechtlichen
Verfahrens grundsätzlich verwehrt (Senat, Urteil vom 20. 11.2007 - VI ZR 244/06 - aaO).
25. c) Die Aussetzung ist auch nicht schon deshalb entbehrlich, weil die Beklagte im Streitfall durch die
Entscheidung der BGFE in ihrer Rechtsstellung nicht nachteilig betroffen würde (vgl. Senat, Urteil vom 17. 06.2008 - VI ZR 257/06 - VersR
2008, 1260, 1261). Ob den von der Revision ins Auge gefassten nicht näher bezeichneten "Mitarbeitern und Organen" der
Beklagten als Erstschädiger bei persönlicher Haftung eine Haftungsprivilegierung zugute käme und die Beklagte,
wie die Revision meint, als Zweitschädiger nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld von der Haftung
frei würde (vgl. etwa Senatsurteile BGHZ 61, 51, 55; 94, 173, 176; 155, 205, 212 ff.; 157, 9, 14; vom 13. 03.2007 - VI ZR 178/05 - VersR 2007, 948, 949 und vom 22. 01.2008 - VI ZR 17/07 - VersR
2008, 642, 643), lässt sich schon deshalb nicht beantworten, weil auch hierfür vorrangig zu klären ist, welchem Betrieb
der Unfall als Arbeitsunfall zuzuweisen ist. Außerdem fehlen zur Frage der persönlichen Haftung der Mitarbeiter
der Beklagten mangels des erforderlichen Sachvortrags hinreichende Feststellungen des Berufungsgerichts.
C.
26. Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das
Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Müller Zoll Diederichsen Pauge von Pentz
Vorinstanzen: LG Koblenz, Entscheidung vom 20.02.2007 - 1 O 50/05 - OLG Koblenz, Entscheidung vom
08.02.2008 - 8 U 397/07 –
BGH VI ZR 39/09. vom 18.05.2009.
Der Antrag des Klägers auf Beiordnung eines Notanwalts für das Verfahren über die
Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom
15. 01.2009 wird zurückgewiesen. Die Klage des Patienten wird abgewiesen, dessen eigener Anwalt die
Weiterverfolgung vor dem BGH ablehnte.
in dem Rechtsstreit Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 18. 05.2009 durch die Vizepräsidentin Dr.
Müller, die Richter Zoll und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Stöhr
Gründe:
I.
1. Der Kläger begehrt von den Beklagten Schmerzensgeld, materiellen Schadensersatz und die Feststellung der
weiteren Verpflichtung des Beklagten zum Ersatz materieller und immaterieller Schäden wegen behaupteter
Folgen einer Injektionsbehandlung mit dem Lokalanästhetikum Xylonest. Das Landgericht hat die Klage mit Urteil
vom 28. 03.2007 abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht nach
einer weiteren Beweisaufnahme durch ergänzende Anhörung des Sachverständigen Dr. K. und Einholung eines
mündlichen Sachverständigengutachtens des Chefarztes der Klinik für Dermatologie, Allergologie und
Umweltmedizin des katholischen Klinikums T. zurückgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen
richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers, die am 11. 02.2009 durch den Prozessvertreter des
Klägers eingelegt worden ist. Mit eigenem Schreiben vom 27. 04.2009 beantragt der Kläger die Beiordnung eines
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beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts und die Verlängerung der Frist zur Begründung der
Nichtzulassungsbeschwerde, weil sein Prozessbevollmächtigter die Sache nicht mehr weiterführen wolle, da sie
keine Aussicht auf Erfolg habe.
II.
2. 1. Der Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts gemäß § 78b ZPO, um welchen es sich bei dem Begehren des
Klägers handelt, setzt voraus, dass die Partei trotz zumutbarer Anstrengungen einen zu ihrer Vertretung bereiten
Rechtsanwalt nicht findet und die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig oder aussichtslos erscheint. Der
Kläger hat schon nicht dargetan, dass ein anderer beim Bundesgerichtshof zugelassener Rechtsanwalt zu seiner
Vertretung nicht bereit sei. Darauf, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung nach Auffassung des derzeitigen
Prozessvertreters des Klägers aussichtslos erscheint, kommt es deshalb nicht an.
3. 2. Dem Antrag des Klägers auf Verlängerung der Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ist
bereits entsprochen worden.
Müller Zoll Wellner Diederichsen Stöhr
Vorinstanzen: LG Mönchengladbach, Entscheidung vom 28.03.2007 - 6 O 110/04 - OLG Düsseldorf,
Entscheidung vom 15.01.2009 - I8 U 66/07
BGH VI ZA 1+2/08. vom 17.03.2009.
Der Antrag des Beklagten auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Rechtsbeschwerde gegen den
Beschluss des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 23. 11.2007 wird abgelehnt.
Der Antrag des Beklagten auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen
das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 23. 11.2007 wird abgelehnt.
Gründe:
1. Beide Anträge des Beklagten auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe waren abzulehnen, weil die beabsichtigte
Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 114 Abs. 1 ZPO).
2. Die Einlegung einer Rechtsbeschwerde gegen die Ablehnung der Prozesskostenhilfe im Berufungsverfahren
wäre unstatthaft, weil das Gesetz weder eine Rechtsbeschwerde gegen einen die Bewilligung von
Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss vorsieht noch das Beschwerdegericht die Rechtsbeschwerde
zugelassen hat (vgl. § 127 Abs. 2, § 574 Abs. 1 ZPO). Soweit der Beklagte geltend macht, der angefochtene Beschluss, durch den
das Oberlandesgericht die Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren weiterhin versagt hat, sei erst nach
Durchführung der Beweisaufnahme erfolgt, weist der Senat darauf hin, dass das Oberlandesgericht die
beantragte Prozesskostenhilfe bereits durch Beschluss vom 8. 08.2007 abgelehnt hat. Dieser Beschluss wurde
vor der Beweisaufnahme erlassen, die erst am 18. 10.2007 durchgeführt wurde.
3. Der Prozesskostenhilfeantrag für die Durchführung einer Nichtzulassungsbeschwerde hat schon deswegen
keine Aussicht auf Erfolg, weil die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das
Berufungsgericht nur zulässig ist, wenn der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 €
übersteigt (§ 26 Nr. 8 EGZPO). Im Streitfall beträgt die Beschwer des Beklagten jedoch nur 2.341,74 € (Schmerzensgeld: 2.000 €, 66,74 €
Behandlungskosten, 25 € vorgerichtliche Mahnkosten und eine weitere Zahlung von 250 €, vgl. Urteil des Landgerichts NürnbergFürth vom 8. 02.2007, S. 2; Berufungsurteil S. 2, 5 f.).
Müller Wellner Pauge Stöhr von Pentz
Vorinstanzen: LG NürnbergFürth, Entscheidung vom 08.02.2007 - 4 O 9823/02 - OLG Nürnberg, Entscheidung
vom 23.11.2007 - 5 U 516/07 –
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BGH VI ZR 39/08 Verkündet am: 10.03.2009.
Zur Frage der Haftung des zum Notfalldienst verpflichteten niedergelassenen Arztes, an dessen Stelle ein
anderer Arzt tätig wird. Die Klage des Patienten hat Erfolg, der Praxisinhaber kann auch für Fehler eines
Arztes einstehen müssen, die er als Vertreter im Rahmen des ärztlichen Notdienstes begangen hat.
BGH, Urteil vom 10. 03.2009 - VI ZR 39/08 - OLG Köln
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 14. 01.2008
aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das
Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1. Die Kläger verlangen von den Beklagten Schadensersatz wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung, die zum
Tod ihres Ehemannes bzw. Vaters (künftig: Patient) geführt habe.
2. Die Klägerin zu 1 rief am Morgen des 6. 08.2000 gegen 3.13 Uhr in der Gemeinschaftspraxis der Beklagten zu
2 und 3 an, weil ihr Ehemann an starken Schmerzen litt. Der Anrufbeantworter verwies sie an den ärztlichen
Notfalldienst. Der Beklagte zu 1, der für die Beklagten zu 2 und 3 den Notfalldienst übernommen hatte, suchte
den Patienten um 3.50 Uhr zu Hause auf. Er diagnostizierte eine Gastroenteritis, verordnete Buscopan und
verabreichte 2 ml MCP. Das Formular für das Rezept und der "Notfall/Vertretungsschein" wiesen den
Praxisstempel der Beklagten zu 2 und 3 auf. Der Beklagte zu 1 übermittelte die Unterlagen für die vorgenommene
Behandlung an die Praxis der Beklagten zu 2 und 3. Diese rechneten die ärztlichen Leistungen bei der
kassenärztlichen Vereinigung als Praxisleistungen ab. An den Beklagten zu 1 entrichteten sie ein entsprechendes
Honorar. Der Patient erlitt am Nachmittag des folgenden Tages einen Herzinfarkt, an dessen Folgen er am 22.
11.2000 verstarb.
3. Die Kläger machen geltend, der Beklagte zu 1 habe aufgrund unzureichender Anamnese und Untersuchung
die Anzeichen für den Herzinfarkt verkannt. Hierfür müssten auch die Beklagten zu 2 und 3 einstehen, weil der
Beklagte zu 1 den Notfalldienst als ihr Erfüllungs- bzw. Verrichtungsgehilfe übernommen habe.
4. Das Landgericht hat der Klage auf Schmerzensgeld, Erstattung der Begräbniskosten und Feststellung der
Ersatzpflicht von gegenwärtigen und künftigen Unterhaltsschäden stattgegeben. Gegen das Urteil haben die
Kläger, die das zugesprochene Schmerzensgeld für zu gering erachten, und die Beklagten Berufung eingelegt.
Das Berufungsgericht hat unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage gegen die Beklagten zu 2 und
3 durch Teilurteil abgewiesen. Dagegen wenden sich die Kläger mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen
Revision.
Entscheidungsgründe:
I.
5. Das Berufungsgericht hat die Auffassung vertreten, dass eine Haftung der Beklagten zu 2 und 3 schon deshalb
nicht gegeben sei, weil ein Behandlungsvertrag lediglich mit dem Beklagten zu 1 zustande gekommen sei. Durch
die Verweisung an den Notfalldienst hätten die Beklagten zu 2 und 3 klar zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht
in eine vertragliche Beziehung zu Anrufern treten wollten. Die öffentlich-rechtliche Verpflichtung des
niedergelassenen Arztes zum Notfalldienst begründe keine zivilrechtlichen Pflichten gegenüber einem Anrufer.
Die Bestellung eines Vertreters im Sinne von § 1 Abs. 2 der Notfalldienstordnung für den Notfalldienst könne auch
nicht als Vollmacht zum Abschluss eines Behandlungsvertrages des Patienten mit den vertretenen Ärzten
verstanden werden. Bei der Abrechnung der Kosten gegenüber der kassenärztlichen Vereinigung handle es sich
um eine interne Abrechnungsmodalität im Verhältnis zum Kostenträger. Eine deliktische Haftung der Beklagten zu
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2 und 3 scheide aus, da der Beklagte zu 1 nicht im zivilrechtlichen Sinn als Vertreter tätig geworden und somit
auch nicht Verrichtungshilfe der Beklagten zu 2 und 3 gewesen sei (§ 831 BGB).
II.
6. Das Berufungsurteil hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
A.
7. 1. Es unterliegt allerdings nicht schon deshalb der Aufhebung, weil es die Berufungsanträge nicht wörtlich
wiedergibt. Insoweit hat das Berufungsgericht auf das Sitzungsprotokoll vom 5. 12.2007 Bezug genommen und im
Berufungsurteil noch ausreichend deutlich gemacht, was die Parteien mit ihren Rechtsmitteln erstreben (vgl. Senat, BGHZ
156, 216, 218; Zöller/Heßler, ZPO, 27. Aufl., § 540 Rn. 8).
8. 2. Auch der Erlass des Teilurteils begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Zutreffend hält das Berufungsgericht
als Voraussetzung für ein Teilurteil für erforderlich, dass über selbständige prozessuale und entscheidungsreife
Ansprüche geurteilt wird, für die nicht die Gefahr eines Widerspruchs zur Schlussentscheidung entstehen kann (vgl.
Senat zur subjektiven Klagehäufung, Urteil vom 12. 01.1999 - VI ZR 77/98 - VersR 1999, 734 und zur objektiven Klagehäufung Urteil vom 5. 12.2000 - VI ZR 275/99 - VersR 2001, 610). Im Streitfall
besteht die Gefahr eines Widerspruchs schon deshalb nicht, weil die von den Klägern geltend gemachten
Ansprüche nur auf deliktische Anspruchsgrundlagen gestützt werden können. Die Kläger begehren
Schmerzensgeld, Beerdigungskosten, die von ihnen aufgewendeten Kosten für ein Sachverständigengutachten
zur Vorbereitung des Prozesses und die Feststellung der Ersatzpflicht für künftigen materiellen Schaden, welcher
nur in Form von entgangenem Unterhalt in Frage käme. Hinsichtlich des materiellen Schadens kommt somit als
Anspruchsgrundlage nur § 844 BGB in Betracht, wobei es sich bei den Sachverständigenkosten um
Schadensfolgekosten handelt. Da sich der Schadensfall im Jahr 2000 ereignet hat, können die Kläger auch den
Schmerzensgeldanspruch nur auf § 847 BGB a.F. (Art. 229 § 5 Satz 1 EGBGB) stützen. Die Frage der deliktischen Haftung
des Beklagten zu 1 kann, ohne dass ein Widerspruch zur Klageabweisung hinsichtlich der Beklagten zu 2 und 3
entsteht, beantwortet werden.
B.
9. 1. Da nur deliktische Ansprüche Gegenstand des Rechtsstreits sind, kommt es nicht darauf an, ob der Beklagte
zu 1 als rechtsgeschäftlicher Vertreter und Erfüllungsgehilfe für die Beklagten zu 2 und 3 tätig geworden ist.
10. 2. In Betracht kommt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts die Haftung der Beklagten zu 2 und 3
nach § 831 BGB. Diese ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Beklagte zu 1 nicht rechtsgeschäftlicher
Vertreter der Beklagten zu 2 und 3 gewesen sei.
11. a) Voraussetzung für die Stellung des Verrichtungsgehilfen ist nicht, dass er den Geschäftsherrn
rechtsgeschäftlich vertritt. Vielmehr kann eine Verrichtung jede entgeltliche oder unentgeltliche Tätigkeit sein, die
in Abhängigkeit von einem anderen zu leisten ist. Rein tatsächliche Handlungen bilden in gleicher Weise ihren
Gegenstand wie die Vornahme von Rechtsgeschäften. Verrichtungsgehilfe im Sinne von § 831 BGB ist, wer von
den Weisungen des Geschäftsherrn abhängig ist. Ihm muss von einem anderen, in dessen Einflussbereich er
allgemein oder im konkreten Fall ist und zu dem er in einer gewissen Abhängigkeit steht, eine Tätigkeit
übertragen worden sein (vgl. Senat, Urteil vom 14. 02.1989 - VI ZR 121/88 - VersR 1989, 522, 523). Das dabei vorausgesetzte Weisungsrecht
braucht nicht ins Einzelne zu gehen. Verrichtungsgehilfe kann vielmehr jemand auch dann sein, wenn er auf
Grund eigener Sachkunde und Erfahrung zu handeln hat. Entscheidend ist nur, dass die Tätigkeit in einer
organisatorisch abhängigen Stellung vorgenommen wird. Hierfür genügt es, dass der Geschäftsherr dem Gehilfen
die Arbeit entziehen bzw. diese beschränken sowie Zeit und Umfang seiner Tätigkeit bestimmen kann (vgl. BGHZ 45, 311,
313; Soergel/Krause BGB, 13. Aufl. § 831 Rn. 19). Für die Frage der Abhängigkeit kommt es auf die konkreten Bedingungen an, unter
denen die schadenstiftende Tätigkeit geleistet wurde. So kann ein an sich Selbständiger derart in einen fremden
Organisationsbereich eingebunden sein, dass er als Verrichtungsgehilfe einzustufen ist (BGH, Urteile vom 12. 06.1997 - I ZR 36/95 VersR 1998, 862, 863 "Testesser"; vom 5. 10.1979 - I ZR 140/77 - VersR 1980, 66 und vom 29. 06.1956 - I ZR 129/54 - NJW 1956, 1715 f.).
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12. b) Der erkennende Senat hat nach diesen Grundsätzen bei einem Arzt, der mit der Verwaltung der Praxis
eines anderen Arztes während dessen vorübergehender Abwesenheit beauftragt war, eine Stellung als
Verrichtungsgehilfe des vertretenen Arztes angenommen. Daran ändert es nichts, dass im Einzelfall der Patient
nach eigener Entschließung und ärztlicher Erkenntnis des vor Ort tätigen Arztes zu behandeln ist (Senat, Urteile vom 16.
10.1956 - VI ZR 308/55 - NJW 1956, 1834, 1835 = AHRS 0485/2 und vom 20. 09.1988 - VI ZR 296/87 - VersR 1988, 1270, 1272, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 105, 189; OLG Stuttgart, VersR 1992, 55,
56 und MedR 2001, 311, 314; OLG Oldenburg, VersR 2003, 375, 376; Palandt/Sprau, BGB 68. Aufl., § 831 Rn. 6; allgemein zum Vertreter im Notfalldienst vgl. Ratzel/Lippert, Kommentar zur
. Ob die Stellung des Beklagten zu 1 im
Notfalldienst der eines solchen Praxisvertreters vergleichbar war, lässt sich derzeit mangels ausreichender
tatsächlicher Feststellungen nicht beurteilen.
Musterberufsordnung der deutschen Ärzte - MBO - 4. Aufl. § 26 Rn. 13; Rieger, Lexikon des Arztrechts 1984, Rn. 1290)
13. c) Zwar waren die Beklagten zu 2 und 3 nach § 1 Abs. 1 und 2 der Gemeinsamen Notfalldienstordnung der
Ärztekammer N. und der Kassenärztlichen Vereinigung N. 1998 (NFDO 1998), die im Streitfall zur Anwendung kommt (zu
den Rechtsgrundlagen für den Notfalldienst BGHZ 120, 184, 186 m.w.N.; BGH, Urteil vom 25. 01.1990 - III ZR 283/88 - BGHR BGB § 839 Abs. 1 Satz 1 Notfalldienst 1 = juris Rn. 4; BSGE 44, 252, 254; Urteil
, grundsätzlich zur Erfüllung des Notfalldienstes persönlich
verpflichtet. Sie konnten sich aber von einem anderen Arzt, der entweder Vertragsarzt oder Arzt mit einem
erfolgreichen Abschluss einer allgemeinmedizinischen Weiterbildung oder einer Weiterbildung in einem anderen
Fachgebiet oder der in das Vertreterverzeichnis gemäß § 5 Abs. 2 NFDO 1998 aufgenommen worden war,
vertreten lassen. Von der zuletzt genannten Möglichkeit haben sie Gebrauch gemacht. Als zum Notfalldienst
originär eingeteilte Ärzte hatten sich die Beklagten zu 2 und 3 allerdings zu vergewissern, dass der Beklagte zu 1
als Vertreter die persönlichen und fachlichen Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Vertretung erfüllt, und
sie hatten die für den Notfalldienst zuständige Stelle zu benachrichtigen (§ 1 Abs. 3 NFDO 1998). Der Notfallarzt hatte den
Notfalldienst in der Notfallpraxis zu versehen (§ 8 Abs. 2 NFDO 1998). Demzufolge hielt sich der Beklagte zu 1 dort auf, als
die Klägerin zu 1 anrief. Er benutzte die Rezeptvordrucke und Formulare mit dem Praxisstempel der Beklagten zu
2 und 3. Den Notfalleinsatz rechneten die Beklagten zu 2 und 3 gegenüber der kassenärztlichen Vereinigung als
Leistung der Praxis ab und entrichteten an den Beklagten zu 1 ein Honorar (vgl. § 4 Abs. 3 des Honorarverteilungsmaßstabes der
kassenärztlichen Vereinigung N. vom 30. 11.1996 i.d.F. vom 13. 05.2000, Rheinisches Ärzteblatt 2000, 75 ff.).
vom 12. 10.1994 - 6 RKa 29/93 - RegNr. 21737 juris Rn. 9 ff.; BVerwGE 65, 362, 363)
14. Dagegen haben die Beklagten zu 2 und 3 vorgetragen, dass zwischen ihnen und dem Beklagten zu 1 ein
persönlicher Kontakt nicht stattgefunden habe, weil die Organisation der Vertretung im Notfalldienst von der
kassenärztlichen Vereinigung selbständig und ohne konkrete Informationen an die Mitglieder des Notfalldienstes
erfolge. Das könnte eine Qualifizierung der Beklagten zu 2 und 3 als Geschäftsherren im Sinne des § 831 BGB in
Frage stellen. Indessen fehlt es hierzu an tatsächlichen Feststellungen, weil es derer nach der Rechtsauffassung
des Berufungsgerichts bisher nicht bedurfte.
15. d) Wäre der Beklagte zu 1 Verrichtungsgehilfe, würde das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob der in diesem
Fall den Beklagten zu 2 und 3 gemäß § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB obliegende Entlastungsbeweis geführt ist (vgl.
Senatsurteil vom 14. 03.1978 - VI ZR 273/76 - VersR 1978, 542). Auch hierzu fehlen die erforderlichen Feststellungen. Die Beklagten zu 2 und
3 haben geltend gemacht, sie hätten darauf vertrauen dürfen, dass die persönlichen und fachlichen
Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Vertretung beim Beklagten zu 1 schon infolge der gemäß § 5 NFDO
1998 erfolgten Aufnahme des Beklagten zu 1 in das Vertreterverzeichnis vorliegen, weil die kassenärztliche
Vereinigung den Beklagten zu 1 ausgesucht und ihn berechtigt habe, niedergelassene Ärzte im Notfalldienst zu
vertreten.
16. 3. Gegebenenfalls wird sich das Berufungsgericht mit der Frage der Verjährung zu befassen haben. Auch
hierzu fehlen die erforderlichen Feststellungen.
III.
17. Nach alledem war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung an das
Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Müller Zoll Wellner Diederichsen Stöhr
Vorinstanzen: LG Köln, Entscheidung vom 02.05.2007 - 25 O 250/03 - OLG Köln, Entscheidung vom
14.01.2008 - 5 U 119/07 –
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 48
Landgericht Dortmund 1 S 38/08 vom 10.02.2009: Das Honorar eines medizinischen SachverständigenGutachtens ist auch zu zahlen, wenn dieses für den Auftraggeber negativ ausfällt.
In dem Rechtsstreit des Herrn … Beklagter und Berufungskläger
Gegen
Dr. …. Kläger und Berufungsbeklagter
Prozessbevollmächtigte Rechtsanwälte Rauh, Rauh, Stotko, Bahnhofstr. 63, 58452 Witten
hat die 1. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10.02.2009 durch
den Vorsitzenden Richter am Landgericht Müller und die Richterinnen am Landgericht Scholz und Kersting für
Recht erkannt:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Dortmund vom 26.09.2007 (AZ 411 C 4373/07)
wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Amtsgericht dem Kläger den geltend gemachten Anspruch auf
Zahlung eines Honorars für das von ihm angefertigte medizinische Gutachten zugesprochen. Insoweit wird
zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung
verwiesen.
Der Kläger hatte in erster Instanz substantiiert vorgetragen, er habe vor Erteilung des Gutachtenauftrags lediglich
eine kostenfreie Vorprüfung der Rechtslage zugesagt und dem Beklagten erläutert, dass eine Erfolgsaussicht
aufgrund eines Behandlungsfehlers nur auf eine fehlende ordnungsgemäße Einwilligung des Beklagten in die
Operation gestützt werden könne; der Beklagte habe zunächst immer wieder beteuert, keine Aufklärung erhalten
zu haben; daraufhin sei die unbedingte Beauftragung erfolgt. Erst in der Folgezeit habe der Beklagte dann doch
eine entsprechende Einwilligungserklärung vorgelegt, so dass der Kläger seine ursprünglich positive
Einschätzung habe revidieren müssen. Die Richtigkeit des vorgenannten Sachvortrags hat der Beklagte in erster
Instanz nicht bestritten. Selbst wenn die von ihm behauptete Honorarvereinbarung getroffen worden wäre – wobei
die Kammer allerdings die Auffassung des Amtsgerichts teilt, dass dieses nicht hinreichend substantiiert dargetan
worden ist – hätte es der Beklagten durch Vorenthaltung wichtiger Informationen und somit durch eine
Obliegenheitsverletzung verursacht, dass ein für ihn überflüssiges weil negatives Gutachten erstattet worden ist.
Soweit der Beklagte nunmehr auf das in dem arzthaftungsverfahren eingeholte Gutachten verweist, ist sein
Vorbringen ebenfalls unerheblich. Vorliegend geht es um Vergütung aus einem Dienstvertrag; geschuldet werden
die Dienste und nicht ein bestimmter Erfolg. Selbst bei einer Schlechtleistung bestehen keine
Minderungsansprüche, sondern kann allenfalls ein Schadensersatz verlangt werden. Die hierfür notwendigen
Voraussetzungen sind vom Beklagten jedoch nicht dargetan worden, zumal auch der Ausgang des Verfahrens 4
O 307/06 LG Dortmund noch offen ist.
Soweit der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer sich erneut auf Angaben Dritter über ein
bestimmtes Kostenvolumen für ein Gutachten berufen hat, ist dies unerheblich, es hat sich insoweit nicht um
Zusagen seines Vertragspartners – des Klägers – gehandelt, sondern um Angaben von Personen, von denen
mangels entsprechender Darlegung nicht auszugehen ist, dass diese vom Kläger autorisiert gewesen wären,
Zusagen über eine Kostenbegrenzung zu machen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708
Nr. 10 ZPO.
Müller – Scholz - Kersting
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Bundessozialgericht, BSG, Urteil vom 28.01.2009 - B 6 KA 5/ 08 R
Kassenärztliche Vereinigung - keine Hinderung der Steigerung des Honorars von Praxen mit
unterdurchschnittlichem Umsatz innerhalb von fünf Jahren bis zum Durchschnittsumsatz ihrer
Fachgruppe durch Honorarverteilung - Zulässigkeit des Ausschlusses unterdurchschnittlicher Praxen
von jeglicher Wachstumsmöglichkeit für einen begrenzten Zeitraum - Prüfung des Erreichens des
Durchschnittsumsatzes einschließlich der Honorarverteilungsregelungen der Folgequartale
1. Tatbestand: Im Streit steht die Höhe vertragsärztlichen Honorars für die Quartale III/ 2003 bis II/ 2004.
2. Die Klägerin ist seit 1992 als Anästhesistin zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen; sie erbringt nahezu
ausschließlich Leistungen auf Überweisung für Patienten einer Praxis für Kiefer- und Gesichtschirurgie. Mit
Honorarbescheiden vom 14. 1. 2004 (für das Quartal III/ 2003), vom 20. 4. 2004 (Quartal IV/ 2003), vom 14. 7. 2004 (Quartal I/ 2004) und
vom 14. 10. 2004 (Quartal II/ 2004) setzte die beklagte Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) die Honoraransprüche der
Klägerin fest. Dabei wandte sie die Honorarbegrenzungen in Gestalt individueller Punktzahlvolumina (IPZ) an, die in
§ 12 ihres Honorarverteilungsmaßstabes (HVM) in der ab 1. 7. 2003 geltenden Fassung geregelt waren.
3. Diese im Zusammenhang mit der Aufhebung der Bestimmungen zum Praxisbudget im Einheitlichen
Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen (EBMÄ) eingeführten Regelungen sahen die Bildung von IPZ für die
meisten Arztgruppen einschließlich der Gruppe der Anästhesisten und für den ganz überwiegenden Teil der
Leistungen vor. Für die Bildung der IPZ in den sogenannten Startquartalen (den Quartalen III/ 2003 bis II/ 2004) wurde auf das um 3 % reduzierte - praxisindividuelle Honorar aus dem Jahr 2002 zurückgegriffen. Bei Praxen, die in den Jahren
2001 und 2002 keinen Statuswechsel vollzogen hatten, wurden auch die Quartale des Jahres 2001
berücksichtigt; in diesen Fällen wurde von dem Honorar des entsprechenden "Bestquartals" ausgegangen. Für
Leistungen innerhalb der IPZ wurde ein Punktwert von 4, 5 Cent angestrebt; darüber hinausgehende
Mehrleistungen wurden mit 0, 05 Cent vergütet. Für die Weiterentwicklung der Vergütung nach Ablauf der
Startquartale (sogenannte Folgequartale ab III/ 2004) traf § 12. 4. 3 HVM gesonderte Regelungen, nach denen sich ein
Honorarwachstum im Wesentlichen nach dem Maß der Überschreitung oder Unterschreitung der IPZ und nach
dem Abrechnungsverhalten der übrigen Ärzte der Fachgruppe richtete. Die erreichbare Zugewinnmenge im
Vergleich zum entsprechenden Quartal des Vorjahres wurde zudem auf 10 % der durchschnittlichen
Punktzahlanforderung je Arzt innerhalb der Fachgruppe begrenzt.
4. Auf der Grundlage dieser HVM-Regelungen umfassten die IPZ der Klägerin Punktzahlvolumina von weniger als
einem Drittel des Fachgruppendurchschnitts. Die Klägerin erhob gegen die jeweiligen Honorarbescheide, gegen
die Mitteilungen der Punktzahlvolumina für die Quartale III/ 2003 und IV/ 2003 sowie gegen die Ablehnung ihres
Härtefallantrags durch Bescheid vom 14. 1. 2004 erfolglos Widerspruch (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 14. 4. 2005) und Klage
(Urteil des Sozialgerichts vom 13. 9. 2006) . Auch ihre Berufung ist ohne Erfolg geblieben.
5. Im Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ist ausgeführt, die Beklagte sei nicht gehalten gewesen, bei der grundsätzlich zulässigen - Bildung von Individualbudgets die Gruppe der Anästhesisten auszunehmen; dies folge
bereits aus dem Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses vom 19. 12. 2002 (DÄ 2003, A218). Geklärt sei,
dass Individualbudgets auch Leistungen umfassen dürften, die zu einem maßgeblichen Teil auf Überweisung
erbracht würden. Die Klägerin könne sich auch nicht mit Erfolg auf eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung,
etwa gegenüber Radiologen, berufen. Ebenso wenig ergebe sich ein Anspruch darauf, von der Budgetierung
ausgenommen zu werden, unter dem Gesichtspunkt, dass es sich bei der Praxis der Klägerin um eine kleine
Praxis mit unterdurchschnittlichem Honorarvolumen handele. Zwar müsse der HVM generell Wachstumsraten in
einer Größenordnung zulassen, die es einer Praxis mit unterdurchschnittlichem Umsatz noch gestatte, den
durchschnittlichen Umsatz in absehbarer Zeit - innerhalb von fünf Jahren - zu erreichen. Die hier maßgebenden
Regelungen über die Bildung eines IPZ ermöglichten für die Startquartale kein effektives Wachstum in diesem
Sinne. Gleichwohl sei der HVM der Beklagten rechtmäßig, da es dieser im Rahmen des ihr zustehenden
Gestaltungsspielraums nicht verwehrt sei, bei der erstmaligen Einführung von IPZ zunächst Startquartale ohne
Wachstumsmöglichkeit zu bilden, auf deren Grundlage sich die Weiterentwicklung der IPZ vollziehe. Dass in den
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Startquartalen keine effektive Steigerung des IPZ möglich gewesen sei, sei bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit
der für die Folgequartale geltenden Regelungen zu berücksichtigen; diese seien jedoch nicht Gegenstand des
anhängigen Verfahrens.
6. Nicht zu beanstanden sei auch die Ablehnung des Härtefallantrags. Weder seien die Punktzahlanforderungen
der Klägerin gerade in den Bemessungsquartalen besonders gering noch sei eine Erhöhung der IPZ aus
Sicherstellungsgründen geboten gewesen. Entscheidend sei, dass die Klägerin zur Begründung ihres
Härtefallantrags einen Anstieg der Anästhesien auf das Doppelte geltend gemacht habe und ein solcher Anstieg
bei weitem nicht eingetreten sei. Aus diesem Grund könnten auch keine hohen Anforderungen an die Begründung
des ablehnenden Bescheides gestellt werden (Urteil vom 13. 11. 2007).
7. Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von Bundesrecht, insbesondere des Gebots der
leistungsproportionalen Verteilung des Honorars sowie des Grundsatzes der Honorarverteilungsgerechtigkeit. Aus
dem Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses vom 19. 12. 2002 könne keine Berechtigung oder gar
Verpflichtung hergeleitet werden, auch für die Fachgruppe der Anästhesisten Individualbudgets einzuführen.
Speziell für diese Fachgruppe seien Honorarverteilungsregelungen zur effektiven Begrenzung des
Leistungsumfangs auf Arztgruppenebene ungeeignet, da der Umfang der zu erbringenden Anästhesien
ausschließlich von der Leistungsanforderung durch die Operateure abhängig sei, mit denen die Anästhesisten
langfristig vertraglich verbunden seien. Diese Verknüpfung bedinge, dass die konkrete Leistungsmenge der
einzelnen Anästhesisten typischerweise erheblichen Schwankungen unterliege, insbesondere im Falle des
Hinzukommens oder des Wegfalls eines zuweisenden Operateurs. Die Rechtmäßigkeit der HVM-Regelungen
dürfe unter diesen Umständen nicht auf der Basis einer unzutreffenden Prämisse - gleich bleibende
Punktzahlanforderungen bei etablierten Ärzten - geprüft werden.
8. Das LSG habe sich nicht mit den Besonderheiten der Fachgruppe der Anästhesisten auseinander gesetzt. So
verkenne es, dass eine Kompensation der Individualbudgetierung durch höhere Punktwerte linear nur auf
Arztgruppenebene eintrete. Der einzelne Anästhesist erhalte faktisch eine Pauschalvergütung unabhängig von
Leistungssteigerungen und -minderungen. Die HVM-Regelungen erfüllten bezogen auf die Anästhesisten nicht
die förderungswürdigen Ziele, die eine Abweichung vom Grundsatz der leistungsproportionalen Vergütung
rechtfertigten. Insbesondere könnten die überwiegend nicht schmerztherapeutisch, sondern im Bereich der
Betreuung ambulanter Operationen tätigen Anästhesisten ihre Leistungsmenge gerade nicht effektiv steuern.
9. Das LSG hätte den Streitgegenstand zudem nicht eng fassen dürfen, sondern eine Gesamtschau der
Wirkungsweise und Auswirkungen der Honorarbegrenzungsregelungen vornehmen müssen. Eine Beschränkung
auf die streitbefangenen Startquartale führe zu Wertungswidersprüchen, weil die Beklagte in den Folgequartalen
sehr hohe Wachstumsraten für unterdurchschnittliche Praxen zubilligen müsse, um den Vorgaben des
Bundessozialgerichts (BSG) Rechnung zu tragen; damit würden ihr erhebliche Gestaltungsspielräume genommen.
Unabhängig davon sei der Ausschluss jeglichen Wachstums in den vier Startquartalen rechtswidrig, da
"effektives" Wachstum bedinge, dass eine Praxis kontinuierlich wachsen könne. Der im HVM vorgesehenen
"Weiterentwicklung" im Anschluss an die Startphase stehe entgegen, dass gerade kleine Praxen es sich
wirtschaftlich nicht leisten könnten, über einen längeren Zeitraum gering vergütete Mehrleistungen zu erbringen.
In Anbetracht der Sachkosten führe jede über das IPZ hinausgehende Operation zu einem Honorarverlust in
Höhe von rund 80 Euro.
10. Die Verweigerung der Härtefallanpassung durch die Beklagte beruhe auf einem Verstoß gegen den
Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit sowie gegen die Begründungspflicht des § 35 Abs 1 SGB X. Aus
der Urteilsbegründung gehe nicht hervor, welchen Prüfungsmaßstab das LSG seiner Entscheidung zugrunde
gelegt habe. Es habe sich an Stelle einer einzelfallbezogenen Ermessensprüfung mit der Prüfung begnügt, ob
durch die verweigerte Härtefallanpassung Sicherstellungsprobleme entstünden.
11. Die Klägerin beantragt, die Urteile des Schleswig-holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. 11. 2007 und
des Sozialgerichts Kiel vom 13. 9. 2006 aufzuheben, die Honorarbescheide vom 14. 1. 2004, vom 20. 4. 2004,
vom 14. 7. 2004 und vom 14. 10. 2004 sowie den ihren Härtefallantrag ablehnenden Bescheid vom 14. 1. 2004 Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 51
jeweils in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. 4. 2005 - abzuändern und die Beklagte zu
verpflichten, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
12. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
13. Die Rechtsprechung des BSG, wonach Praxen die Möglichkeit haben müssten, in gewissem Umfang ihre
Fallzahlen steigern zu können, könne nicht auf Honorarbegrenzungsmodelle übertragen werden, bei denen - wie
vorliegend - nicht isoliert an der Fallzahl angesetzt, sondern umfassend der Honoraranspruch der einzelnen
Praxis durch ein Individualbudget begrenzt werde. Dass der Umfang der zu erbringenden Anästhesien nicht durch
die Fachgruppe gesteuert werden könne, könne sich zwar mittelbar im Rahmen der Honorarverteilung auswirken,
müsse aber bei der Honorarverteilung nicht berücksichtigt werden; ob und in welcher Form sich Anästhesisten
gegenüber Operateuren vertraglich verpflichteten, stelle ihre Entscheidung dar. Es sei erforderlich gewesen, bei
der Erstfestlegung der Volumina für bereits etablierte Praxen kein Wachstum zuzulassen, da andernfalls der
vorgesehene Zielpunktwert kaum noch zu kalkulieren gewesen wäre. Der HVM hindere keine Praxis daran, zu
wachsen und dadurch Honorarsteigerungen zu erlangen. Die Regelung sei bewusst so ausgestaltet worden, dass
keine Praxis im Vorhinein sicher sein könne, ob sie am Wachstum teilnehme; dadurch bestehe kein planbarer
Ansatz für eine Leistungsmengensteigerung. Gerade kleine Praxen hätten aber ausreichende
Entwicklungsmöglichkeiten, weil sie leichter von den Wachstumsmöglichkeiten profitieren könnten.
14. Entscheidungsgründe: Die Revision der Klägerin ist begründet. Das LSG hat die für die angefochtenen
Bescheide maßgeblichen Regelungen des HVM der Beklagten zu Unrecht als rechtmäßig angesehen. Diese
Vorschriften berücksichtigen nicht in erforderlichem Umfang die Belange unterdurchschnittlich abrechnender
Praxen.
15. 1. Nicht zu beanstanden ist allerdings entgegen der Ansicht der Klägerin, dass die Beklagte in ihrem HVM
Honorarbegrenzungsregelungen in Form von Individualbudgets normiert und in deren Regelungsbereich auch die
Fachgruppe der Anästhesisten einbezogen hat.
16. Rechtsgrundlage für Regelungen über Honorarbegrenzungen durch sog individuelle Leistungsbudgets ist § 85
Abs 4 Satz 1 bis 3 SGB V (in der bis zum 31. 12. 2003 bzw. in der ab 1. 1. 2004 geltenden Fassung). Danach haben die KVen die
Gesamtvergütung nach Maßgabe des HVM an die Vertragsärzte zu verteilen; bei der Verteilung sind Art und
Umfang der Leistungen der Vertragsärzte zu Grunde zu legen. Bei der Ausgestaltung des HVM haben die KVen
einen Gestaltungsspielraum (stRspr des Senats, vgl BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr 50 mwN; BSG SozR 42500 § 85 Nr. 40 RdNr 17); diese
Gestaltungsfreiheit geht typischerweise mit Rechtssetzungsakten einher und wird erst dann rechtswidrig
ausgeübt, wenn die jeweilige Gestaltung in Anbetracht des Zwecks der konkreten Ermächtigung unvertretbar oder
unverhältnismäßig ist (BSG SozR 42500 § 85 Nr. 40 aaO mwN). Der HVM muss jedoch mit der Ermächtigungsgrundlage in Einklang
stehen und insbesondere das in § 85 Abs 4 Satz 3 SGB V angesprochene Gebot der leistungsproportionalen
Verteilung des Honorars (vgl BVerfGE 33, 171, 184 = SozR Nr. 12 zu Art 12 GG S Ab 15 R; BSGE 81, 213, 217 = SozR 32500 § 85 Nr. 23 S 152) sowie den aus Art 12
Abs 1 iVm Art 3 Abs 1 GG herzuleitenden Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit beachten (s ua BSGE 75, 187, 191
f = SozR 32500 § 72 Nr. 5 S 9; zuletzt BSG, Urteil vom 28. 11. 2007, B 6 KA 23/ 07 R = SozR 42500 § 85 Nr. 36 RdNr 10).
17. In Anwendung dieser Maßstäbe hat der Senat auch sog Individualbudgets für rechtmäßig erklärt, die nach
Abrechnungsergebnissen der jeweiligen Arztpraxis aus vergangenen Zeiträumen bemessen wurden und deren
gesamtes Leistungsvolumen umfassen (BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 10 ff; BSG SozR
42500 § 85 Nr. 6 RdNr 9, 11; BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr 53, 55; BSG SozR 42500 § 87
Nr. 10 RdNr 21, 25; BSGE 96, 53 = SozR 42500 § 85 Nr. 23, jeweils RdNr 23; BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32
RdNr 16; zuletzt BSG SozR 42500 § 106 Nr. 18 S 145). Die KVen sind berechtigt, die Individualbudgets oder
individuelle Bemessungsgrenzen so auszugestalten, dass die Restvergütungsquote auf null sinkt (BSGE 92, 10 =
SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 12; zuletzt BSG SozR 42500 § 106 Nr. 18 S 145).
18. Es kann dahingestellt bleiben, ob sich die Beklagte bereits aufgrund des Beschlusses des Erweiterten
Bewertungsausschusses vom 19. 12. 2002 (DÄ 2003, A218), durch den die Praxisbudgets mit Ablauf des 30. 6. 2003
außer Kraft gesetzt wurden, verpflichtet fühlen musste, auch die - bislang den Praxisbudgets unterworfene Fachgruppe der Anästhesisten in die Honorarbegrenzungsregelungen einzubeziehen. Denn nach der
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Rechtsprechung des Senats ist es jedenfalls zulässig, derartige Individualbudgets auch für solche Fachgruppen
einzuführen, die vorwiegend oder ausschließlich auf Überweisung tätig werden (vgl zB BSGE 97, 170 = SozR 42500 § 87 Nr. 13, jeweils RdNr
50 - Laborärzte; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 24 S 164 - Laborärzte), ebenso für Leistungen, die überweisungsgebunden und einer
Mengenausweitung grundsätzlich nicht zugänglich sind (BSG SozR 42500 § 85 Nr. 40 RdNr 18; BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr 50; BSGE
93, 258 = SozR 42500 § 85 Nr. 12, jeweils RdNr 15 und RdNr 30; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 48 S 409) .
19. Zwar ist einziger und damit zugleich wesentlicher Leistungsbereich der Fachgruppe der Anästhesisten - mit
Ausnahme vorwiegend schmerztherapeutisch tätiger Ärzte, zu denen die Klägerin aber nicht gehört - die
anästhesistische Begleitung ambulanter Operationen (vgl BSG SozR 42500 § 85 Nr. 40 RdNr 21). Damit besteht naturgemäß eine
starke Abhängigkeit der Anästhesisten von den zuweisenden Operateuren. Der Senat hat jedoch bereits
entschieden, dass die Berechtigung zur Einführung von Honorarbegrenzungsregelungen ungeachtet des
Umstandes besteht, dass die Menge der von einer Arztgruppe erbrachten Leistungen vorwiegend vom
Überweisungsverhalten der anderen Vertragsärzte abhängig ist (BSGE 97, 170 = SozR 42500 § 87 Nr. 13, jeweils RdNr 50). Die Zuordnung
zu einem Honorarkontingent wird nicht einmal ohne Weiteres dadurch rechtswidrig, dass die Leistungsmengen
erkennbar durch andere Ärzte und deren Überweisungsaufträge ausgeweitet werden (BSGE 94, 50 = SozR 42500
§ 72 Nr. 2, jeweils RdNr 50). Nichts anderes trägt aber die Klägerin vor, wenn sie geltend macht, von einem
Mengenzuwachs infolge des Eintritts eines weiteren Behandlers in der zuweisenden Praxis betroffen zu sein.
20. Speziell für die Fachgruppe der Anästhesisten hat der Senat zudem bereits mit Urteil vom 29. 8. 2007 (B 6 KA
43/ 06 R = SozR 42500 § 85 Nr. 40 RdNr 28) klargestellt, dass sich weder den gesetzlichen Vorschriften noch den
Bestimmungen des EBMÄ entnehmen lässt, dass die vertragsärztlichen Leistungen der Fachärzte für
Anästhesiologie vollständig von Mengen steuernden Regelungen der Honorarverteilung, wie sie die Zuordnung zu
fachgruppen- oder leistungsbezogenen Kontingenten darstellt, freigestellt werden müssten.
21. Hieran hält der Senat auch nach erneuter Prüfung bezogen auf ein Individualbudget fest. Die von der Klägerin
angeführten Gesichtspunkte - insbesondere die geltend gemachten Schwankungen der Leistungsmenge in
Abhängigkeit von den zuweisen Operateuren - gebieten keine abweichende Entscheidung. Abgesehen davon,
dass die Anästhesisten den Umfang der Leistungsmenge durch entsprechende vertragliche Gestaltungen mit
Operateuren sehr wohl (mit) steuern können, kann davon ausgegangen werden, dass sich auftretende
Schwankungen im Laufe eines längeren Betrachtungszeitraums - wie hier von bis zu zwei Jahren - mehr oder
weniger ausgleichen.
22. So lässt die Umsatzstatistik der Klägerin über die gesamte Dauer ihrer Tätigkeit stark schwankende
Fallzahlen in Form eines quartalsweisen Auf und Ab erkennen; zudem ergeben die unterschiedlichen Fallzahlen
ein vergleichsweise willkürliches Muster. Die Umsatzstatistik belegt auch keineswegs die Behauptung der
Klägerin, ihre Fallzahlen durch das Hinzutreten eines weiteren Zuweisers drastisch gesteigert zu haben, denn die
zum 1. 1. 2003 eingetretene "Verdoppelung" der Zahl der zuweisenden Operateure hat sich nicht entsprechend in
den Fallzahlen niedergeschlagen. So ist es lediglich im Quartal IV/ 2003 zu einem gravierenden Anstieg der
Fallzahlen gekommen, während sich die - weiterhin schwankenden - Fallzahlen in den übrigen streitbefangenen
Quartalen weitgehend auf einem Niveau bewegen, das die Klägerin bereits in früheren Quartalen erreicht hatte.
23. 2. Die für die Beurteilung des Rechtsstreits maßgeblichen Regelungen des HVM der Beklagten entsprechen
jedoch nicht den Grundsätzen, die in der Rechtsprechung des Senats zur Berücksichtigung der Belange
unterdurchschnittlich abrechnender Praxen entwickelt worden sind. Zu dieser Gruppe gehört auch die Praxis der
Klägerin, da die ihr in den strittigen Quartalen zugewiesenen Punktzahlen weniger als ein Drittel des
Fachgruppendurchschnitts betrugen.
24. a) In der Rechtsprechung des Senats ist wiederholt klargestellt worden, dass umsatzmäßig
unterdurchschnittlich abrechnende Praxen die Möglichkeit haben müssen, zumindest den durchschnittlichen
Umsatz der Arztgruppe zu erreichen (BSGE 83, 52, 58 f = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 206 ff; BSG SozR 32500 §
85 Nr. 27 S 195; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 48 S 411; BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19;
BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18 ff; BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr
53; BSG SozR 42500 § 87 Nr. 10 RdNr 21; BSG, Beschluss vom 19. 7. 2006, B 6 KA 1/ 06 B, RdNr 10 - juris;
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 53
BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16, sowie das weitere Urteil vom 28. 3. 2007, B 6 KA 10/ 06 R = MedR 2007,
560 = USK 200726; Beschluss vom 28. 11. 2007, B 6 KA 45/ 07 B, RdNr 8; zuletzt Beschluss vom 6. 2. 2008, B 6
KA 64/ 07 B, RdNr 9 - juris; vgl auch BSGE 96, 53 = SozR 42500 § 85 Nr. 23, jeweils RdNr 28; BSG SozR 42500
§ 85 Nr. 6, RdNr 16, 19; BSGE 89, 173, 182 = SozR 32500 § 85 Nr. 45 S 378). Dem Vertragsarzt muss die
Chance bleiben, durch Qualität und Attraktivität seiner Behandlung oder auch durch eine bessere Organisation
seiner Praxis neue Patienten für sich zu gewinnen und so legitim erweise seine Position im Wettbewerb mit den
Berufskollegen zu verbessern (BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18; BSGE 92, 10 = SozR
42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19).
25. Auch wenn es sich bei Praxen mit unterdurchschnittlichem Umsatzniveau typischerweise insbesondere um
solche handeln wird, die neu gegründet worden sind (vgl ua BSG SozR 32500 § 85 Nr. 27 S 195; BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19), ist
deren Erwähnung in der Senatsrechtsprechung lediglich beispielhaft zu verstehen; nichts anderes gilt für den
Begriff der "im Aufbau" befindenden Praxen (vgl ua BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16). Die grundsätzliche Verpflichtung zur
Gewährleistung einer gewissen Wachstumsmöglichkeit beschränkt sich nicht allein auf diese, sondern erfasst alle
Praxen, deren Umsatz den durchschnittlichen Umsatz der Fachgruppe unterschreitet. Bereits in seinem
grundlegenden Urteil vom 21. 10. 1998 (B 6 KA 71/ 97 R, BSGE 83, 52, 60 = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 209) hat
der Senat klargestellt, dass der Umstand einer dauerhaften Festschreibung einer ungünstigen Erlössituation als
Folge unterdurchschnittlicher Umsätze für alle kleinen Praxen - nicht nur für neu gegründete - berücksichtigt
werden und ein HVM so ausgestaltet werden muss, dass auch solche Vertrags (zahn)-ärzte mit
unterdurchschnittlicher Patientenzahl, die nicht mehr als Praxisneugründer angesehen werden können, nicht
gehindert werden, durch Erhöhung der Patientenzahl zumindest einen durchschnittlichen Umsatz zu erzielen (in
diesem Sinne ua auch BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16, sowie das weitere Urteil vom 28. 3. 2007, B 6 KA 10/ 06 R = MedR 2007, 560 = USK 200726; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils
RdNr 18: "aber nicht nur"; BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19; BSG SozR 42500 § 87 Nr. 10 RdNr 21: "jeder Arzt"; zuletzt BSG, Beschluss vom 6. 2. 2008, B 6 KA 64/ 07 B, RdNr 9 - juris;
vgl auch Clemens in Wenzel [Hrsg], Handbuch des Fachanwalts Medizinrecht, 2. Aufl 2009, Kap 11 RdNr 268)
.
26. Dem steht auch nicht entgegen, dass der Senat seine Rechtsprechung damit begründet hat, das über lange
Jahre hinweg relativ konstante Umsatzniveau einer etablierten Praxis stelle einen zuverlässigen Indikator des von
dem Vertrags (zahn)-arzt gewünschten oder erreichbaren Ausmaßes seiner Teilnahme an der Vertrags (zahn)ärztlichen Versorgung dar (BSGE 83, 52, 57 f = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 206 f), denn diese typisierende
Betrachtung stellt darauf ab, dass das erreichte Umsatzniveau das Ergebnis einer bewussten Entscheidung des
Praxisinhabers ist. Ist dies hingegen nicht der Fall, ist auch Inhabern bislang unterdurchschnittlicher Praxen die
Möglichkeit zu eröffnen, ein anderes, höheres Umsatzniveau anzustreben und zu erreichen.
27. Ob sich die Wachstumsmöglichkeit allein auf eine Erhöhung der Zahl der von den Vertragsärzten behandelten
Fälle bzw. Patienten beziehen muss (so die bisherige Rechtsprechung des Senats, vgl BSGE 83, 52, 58 = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 207 f; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 27 S 195;
BSG SozR 32500 § 85 Nr. 48 S 411; BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18; BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr
, oder ob eine Steigerungsmöglichkeit auch in der Form
gewährt werden kann oder muss, dass anstelle eines Fallzahlzuwachses (oder zumindest gleichberechtigt daneben) auch
Fallwertsteigerungen zu berücksichtigen sind, die etwa auf einer Veränderung in der Morbidität des behandelten
Patientenstamms oder einer Veränderung der Behandlungsausrichtung beruhen (siehe hierzu auch Engelhard in Hauck/ Noftz, SGB V, Stand
12.2003, § 85 RdNr 254f; vgl ferner Clemens, aaO, RdNr 268), kann offen bleiben, denn die Klägerin hat in den strittigen Quartalen sowohl
ihre Fallzahl wie auch ihren Umsatz gesteigert.
53; BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16; Beschluss vom 28. 11. 2007, B 6 KA 45/ 07 B, RdNr 8)
28. Die danach allen Praxen mit unterdurchschnittlichen Umsätzen einzuräumende Möglichkeit, durch
Umsatzsteigerung jedenfalls bis zum Durchschnittsumsatz der Fachgruppe aufzuschließen (BSGE 83, 52, 58 =
SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 206 f; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 27 S 195; BSG SozR 42500 § 85 Nr. 6 RdNr 19;
BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 19; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr
18; BSG SozR 42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16), bedeutet jedoch nicht, dass diese Praxen von jeder Begrenzung des
Honorarwachstums verschont werden müssten (BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5 RdNr 20; BSGE 92, 233 =
SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18). Derartiges ist allein den neu gegründeten Praxen einzuräumen, solange
diese sich noch in der Aufbauphase befinden (BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18); diese
Praxen sind für die Zeit des Aufbaus von der Wachstumsbegrenzung völlig freizustellen (BSG, aaO, RdNr 19).
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29. Im Hinblick auf die mit der Einführung individueller Leistungsbudgets verfolgten Ziele der
Punktwertstabilisierung und der Gewährleistung von Kalkulationssicherheit ist es vielmehr auch
unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen zumutbar, dass ihr pro Jahr zulässiges Honorarwachstum beschränkt
wird. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese Begrenzung nicht zu eng ist (BSGE 92, 10 =
SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18). Daher sind
Wachstumsraten in einer Größenordnung zuzulassen, die es noch gestattet, den durchschnittlichen Umsatz in
absehbarer Zeit zu erreichen (BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR
42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18). Absehbar in diesem Sinne ist ein Zeitraum von fünf Jahren (BSGE 92, 10 =
SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18; BSG SozR
42500 § 85 Nr. 32 RdNr 16, sowie das weitere Urteil vom 28. 3. 2007, B 6 KA 10/ 06 R = MedR 2007, 560 = USK
200726).
30. Im Gegensatz zur sog "Aufbauphase" bei neu gegründeten Praxen ist dieser Fünf-Jahres-Zeitraum nicht in
dem Sinne statisch, dass er ab einem fixen Zeitpunkt - dem der Praxisneugründung oder -übernahme - beginnt
und durch Zeitablauf endet. Ebenso wenig erschöpft sich die Verpflichtung in der Gewährung einer einmaligen
Wachstumsmöglichkeit, die nach Ablauf des Zeitraums nicht mehr eingeräumt werden muss; vielmehr besteht sie
solange fort, bis die Praxis den Durchschnittsumsatz erreicht hat. Dementsprechend sind Zeitraum und
Wachstumsmöglichkeit dynamisch auf die jeweilige, zur gerichtlichen Überprüfung anstehende
Honorarbegrenzungsregelung zu beziehen. Alle für die betroffene Praxis maßgeblichen HVM-Regelungen,
insbesondere Honorarbegrenzungsregelungen, müssen so viel Spielraum zulassen, dass der
Durchschnittsumsatz innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren erreicht werden kann.
31. Schon daraus folgt, dass bei der rechtlichen Prüfung auch die HVM-Regelungen mit in den Blick zu nehmen
sind, die für nachfolgende, prozessual nicht streitbefangene, jedoch innerhalb des Fünf-Jahres-Zeitraums
liegende Folgequartale Geltung beanspruchen. Denn nur auf diesem Wege kann - sofern nicht bereits die im
streitbefangenen Zeitraum maßgeblichen Regelungen das erforderliche Wachstum ermöglichen - festgestellt
werden, ob die Vorgaben der Senatsrechtsprechung eingehalten werden. Sollte die Prüfung ergeben, dass auch
die nachfolgend maßgeblichen Regelungen es unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen nicht ermöglichen,
den Durchschnittsumsatz innerhalb des maßgeblichen Zeitraums zu erreichen, begründet dies zugleich die
Rechtswidrigkeit der für den streitbefangenen Zeitraum geltenden Regelung.
32. Die Einbeziehung der für den nachfolgenden Zeitraum maßgeblichen HVM-Regelungen in die Prüfung ist erst
recht dann unabdingbar, wenn der HVM - wie hier - Bestimmungen der Art enthält, die ein Wachstum für einen
begrenzten Zeitraum völlig ausschließen. Zwar ist es rechtlich nicht geboten, unterdurchschnittlich abrechnenden
Praxen außerhalb der Aufbauphase eine Wachstumsmöglichkeit zu jeder Zeit - dh in jedem einzelnen Abschnitt
(bzw. Abrechnungszeitraum) innerhalb des Fünf-Jahres-Zeitraums - einzuräumen; lediglich Neugründer müssen die
Gelegenheit erhalten, ihren Umsatz sofort zu steigern (siehe oben). Auch wenn der Senat ausgeführt hat, dass der
HVM es dem einzelnen Vertragsarzt mit unterdurchschnittlichem Umsatz nicht nur überhaupt, sondern auch "in
effektiver Weise" ermöglichen muss, den durchschnittlichen Umsatz der Fachgruppe zu erreichen (BSGE 92, 10 =
SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 20; BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 85 Nr. 9, jeweils RdNr 18; zuletzt BSG,
Beschluss vom 6. 2. 2008, B 6 KA 64/ 07 B, RdNr 9 - juris), erfordert eine "effektive" Möglichkeit keine
kontinuierliche Steigerungsmöglichkeit, sondern ist auf das Ergebnis - das Erreichen des Durchschnittsumsatzes ausgerichtet. Somit sind - für Praxen außerhalb der Aufbauphase - auch HVM-Regelungen nicht grundsätzlich
ausgeschlossen, die ein Honorarwachstum innerhalb eines gewissen Zeitraums vollständig unterbinden.
33. Dies gilt für unterdurchschnittlich abrechnende Praxen wie die der Klägerin jedoch nur unter der
Voraussetzung, dass sie jedenfalls in der nach Ablauf des Moratoriums verbleibenden restlichen Zeit noch die
"effektive", dh realistische, Möglichkeit haben, den Durchschnittsumsatz zu erreichen. Mit dem Grundsatz der
Honorarverteilungsgerechtigkeit nicht im Einklang stehen daher nicht allein Regelungen, die den für ein
Wachstum verbleibenden Zeitraum derart einschränken, dass nicht erreichbare Steigerungsraten erforderlich
wären, um zum Durchschnitt aufzuschließen, sondern bereits solche, die für die Folgezeit
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Wachstumsbeschränkungen normieren, welche ein Erreichen des Durchschnittsumsatzes innerhalb des FünfJahres-Zeitraums realistischer Weise nicht erwarten lassen.
34. b) Letzteres ist vorliegend der Fall. Die für die Zeit nach Beendigung der "Startphase" geltenden Regelungen
in § 12. 4. 3 des HVM der Beklagten ermöglichen es unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen nicht, in den
verbleibenden vier Jahren den Durchschnittsumsatz zu erreichen. Theoretisch ist zwar im jeweiligen Folgequartal
eine Erhöhung des IPZ um bis zu 10 % der durchschnittlichen Punktzahlanforderung je Arzt der Arztgruppe
möglich, doch hängt dies von weiteren Faktoren ab. Der einzelne Arzt hat nur begrenzten Einfluss darauf, ob und
in welchem Umfang er von dieser Wachstumsmöglichkeit profitiert, da das Ausmaß der Möglichkeit der
"Weiterentwicklung" nicht primär vom eigenen Abrechnungsverhalten abhängig ist, sondern sich maßgeblich nach
dem der übrigen Ärzte der Fachgruppe richtet. Die im Falle einer Überschreitung des individuellen
Gesamtvolumens bestehende Möglichkeit einer sockelwirksamen Anhebung hängt, wie dies der HVM in § 12. 4. 3
Buchst a Satz 3 selbst formuliert, "jedoch von den Überschreitungen aller Praxen sowie von den für Zuwächse
der Volumina zur Verfügung stehenden Punktzahlmenge" ab.
35. Bereits die für ein Wachstum aller Praxen einer Arztgruppe pro Jahr insgesamt zur Verfügung stehende
Punktzahlmenge ist gemäß § 12. 4. 3 Buchst a. a. 2 Satz 3 HVM auf zwei Prozent der "Summe der individuellen
Gesamtvolumen" (dh des Gesamtpunktzahlvolumens) in der Arztgruppe beschränkt; sie wird zusätzlich dadurch verringert, dass
sie ggf. durch eine von allen Praxen der Arztgruppe zu zahlende "Wachstumsumlage" zu finanzieren ist. Hinzu
kommt, dass gemäß § 12. 4. 3 Buchst a. a. 3 HVM die zur Verteilung anstehende "Zugewinnmenge" nach einem
bestimmten Modus verteilt wird. Danach erhält zunächst die Praxis mit der höchsten prozentualen Überschreitung
ein Prozent Zuwachs ihres individuellen Gesamtvolumens zugesprochen. Im Folgeschritt wird die
Zugewinnmenge um die zugesprochene Punktzahl vermindert sowie die rechnerische prozentuale Überschreitung
der begünstigten Praxis um einen Prozentpunkt reduziert. Danach wiederholt sich das Verfahren bei derjenigen
Praxis, die nun die höchste prozentuale Überschreitung aufweist; dies kann weiterhin die erstgenannte Praxis
sein. Dieses Verfahren wird so lange fortgesetzt, bis die vorgesehene "Zugewinnmenge" aufgebraucht ist.
Innerhalb des Verfahrens wird eine Praxis dann nicht mehr berücksichtigt, wenn sie einen absoluten
Punktzahlzuwachs von 10 % der durchschnittlichen Punktzahlanforderung erreicht hat.
36. Für unter dem (Punktzahl) Durchschnitt der Fachgruppe liegende Praxen wie die der Klägerin ist angesichts dieser
Vorgaben ein Erreichen des Durchschnittsumsatzes ausgeschlossen. Schon rein rechnerisch besteht angesichts
einer auf zwei Prozent des Gesamtpunktzahlvolumens beschränkten "Zugewinnmenge" bei gleichmäßigem
Verhalten aller Praxen auch nur eine Zuwachsmöglichkeit in entsprechender Höhe; Aussicht auf einen
zehnprozentigen Zuwachs hätte ein Fünftel aller Praxen dann, wenn alle übrigen Praxen ihren Umsatz überhaupt
nicht gesteigert hätten. Das eine wie das andere ist jedoch unrealistisch.
37. Unterdurchschnittlich abrechnende Praxen hätten im Übrigen nur dann eine reale Chance auf Gewährung
einer signifikanten Punktzahlerhöhung, wenn entweder etablierte, zumindest durchschnittlich abrechnende
Praxen ihre Leistungsmenge nicht ebenfalls signifikant steigerten, oder dann, wenn zum einen ihr Umsatz nicht
allzu weit vom durchschnittlichen Umsatz der Arztgruppe entfernt ist und sie zum anderen weit
überdurchschnittliche Umsatzzuwächse aufweisen. Nach der Rechtsprechung des Senats muss eine
Wachstumsmöglichkeit jedoch allen unterdurchschnittlichen Praxen offenstehen. Ausweislich der Umsatzstatistik
betrug das Honorar der Klägerin in den strittigen Quartalen nicht einmal ein Drittel des Fachgruppendurchschnitts.
Hinzu kommt, dass ihre Praxis - fachgruppentypisch - kein konstantes Wachstum aufweist, sondern sowohl die
Fallzahl als auch der Umsatz stärkeren Schwankungen unterliegen.
38. Die von der Beklagten hervorgehobene "Bevorzugung" unterdurchschnittlich abrechnender Praxen - bei
gleicher betragsmäßiger Überschreitung erwerben sie eine höhere Prozentualität und damit auch eine günstigere
Position im Verteilungsverfahren als größere Praxen - ergibt sich eher zufällig durch rechnerische Effekte und
stellt keine systematische Besserstellung dieser Praxen dar. Selbst wenn dies der Fall wäre, fehlte es dieser
Regelung an der erforderlichen Effektivität. Denn wie die Beklagte in ihrem Berechnungsbeispiel (in "Nordlicht" - Offizielles
Mitteilungsblatt der KÄV Schleswig-Holstein, Heft 3/ 2003 S 19) selbst veranschaulicht, hat eine unterdurchschnittlich abrechnende Praxis nur
dann Aussicht auf einen Zuwachs, wenn sie zugleich besonders hohe Zuwachsraten aufweist. Hinzu kommt, dass
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auch die der Praxis prozentual zugeteilte Zugewinnmenge an das bisherige IPZ anknüpft, mit der Folge, dass
eine größere Praxis eine betragsmäßig höhere Zugewinnmenge erhält als eine kleinere Praxis (so auch LSG Schleswig-Holstein,
Urteil vom 22. 1. 2008, L 4 KA 15/ 07 - juris, dort RdNr 34 = GesR 2008, 359, 360) und hierdurch die zur Verfügung stehende "Zugewinnmenge"
stärker reduziert.
39. Somit hätte es einer Sonderregelung für unterdurchschnittliche Praxen im HVM der Beklagten bedurft, welche
deren Belange und die Vorgaben des Senats angemessen berücksichtigt. Nach der Rechtsprechung des Senats
müssen Regelungen über die Bemessungsgrundlage für solche Vertrags (zahn)-ärzte, die wegen
unterdurchschnittlicher Fallzahlen bzw. -umsätze im Bemessungszeitraum das durchschnittliche
Punktzahlvolumen ihrer Fachgruppe (noch) nicht erreicht haben, im HVM selbst normiert werden (BSGE 83, 52, 60 =
SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 209; ebenso BSGE 92, 10 = SozR 42500 § 85 Nr. 5, jeweils RdNr 23). Der HVM der
Beklagten enthält zwar in § 12. 4 Abs 4 bestimmte Sonderregelungen, jedoch erfassen diese nur veränderte oder
neue Praxisstrukturen, Neugründungen oder Praxisübernahmen. Hingegen fehlen - abgesehen von einer
Definition der "unterdurchschnittlichen Praxis" - jegliche spezifischen Regelungen für die Fallgruppe der
unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen; für diese gilt somit die allgemeine Regelung.
40. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wirkt sich dieser Umstand auch auf die Rechtmäßigkeit der
streitbefangenen Honorarbescheide aus, da die Rechtmäßigkeit der ihnen zugrunde liegenden, für die
Startquartale geltenden HVM-Regelungen aus den oben (unter 2. a) dargestellten Gründen nicht isoliert betrachtet
werden kann, sondern vielmehr ein Junktim zwischen der Zulässigkeit einer Einbeziehung unterdurchschnittlicher
Praxen in das während der Startphase geltende Moratorium und ausreichenden Wachstumsmöglichkeiten in der
Folgezeit besteht. Wie dargelegt, muss schon bei Inkrafttreten einer - Wachstumsmöglichkeiten zeitlich begrenzt
ausschließenden - HVM-Regelung feststehen und somit normativ geregelt sein, dass und wie
unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen in der Folgezeit ermöglicht wird, den Durchschnitt zu erreichen.
41. c) Es steht der Beklagten im Rahmen ihrer Gestaltungsfreiheit bei der von ihr vorzunehmenden Neuregelung
allerdings frei, wie sie die Belange unterdurchschnittlich abrechnender Praxen angemessen berücksichtigt. So
könnte sie das Moratorium für diese Praxen außer Kraft setzen und ihnen durchgehend ausreichende
Wachstumsmöglichkeiten gewähren. Rechtlich nicht zu beanstanden wäre es aber auch, wenn sie zwar die
Wachstumsmöglichkeiten auch dieser Praxen zeitlich begrenzt aussetzte, ihnen jedoch in der - im Hinblick auf die
erfolgte Verkürzung des für ein Wachstum zur Verfügung stehenden Zeitraums besonders bedeutsamen Folgezeit ausreichende Weiterentwicklungsmöglichkeiten einräumte, die es ihnen realistischer Weise
ermöglichten, innerhalb der verbleibenden vier Folgejahre zum Durchschnitt der Fachgruppe aufzuschließen.
42. 3. Demgegenüber hat es die Beklagte im Ergebnis zu Recht abgelehnt, das Honorar der Klägerin im Wege
einer Härtefallentscheidung zu erhöhen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats muss der HVM eine mehr
oder weniger allgemein gehaltene Härteklausel enthalten (BSGE 83, 52, 61 = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 210;
BSG SozR 32500 § 85 Nr. 27 S 196; BSGE 94, 50 = SozR 42500 § 72 Nr. 2, jeweils RdNr 53; BSG SozR 42500
§ 87 Nr. 10 RdNr 21, 29; BSGE 96, 53 = SozR 42500 § 85 Nr. 23, jeweils RdNr 38). Enthält er keine oder nur eine
zu eng gefasste, so ist eine generelle Härteklausel auf Grund gesetzeskonformer Auslegung stillschweigend als
im HVM enthalten anzunehmen (vgl BSGE 96, 53 = SozR 42500 § 85 Nr. 23, jeweils RdNr 38 mwN; zur Unbeachtlichkeit des Fehlens einer ausdrücklichen allgemeinen Härteklausel
s auch BSG, Urteil vom 9. 12. 2004, B 6 KA 84/ 03 R = USK 2004146 S 1062 f; BSG SozR 42500 § 87 Nr. 10 RdNr 30) .
43. Vorliegend fehlt es jedoch bereits an Ansatzpunkten für die Annahme eines Härtefalles. Nach der
Rechtsprechung des Senats können hierzu überraschende Änderungen in der Versorgungsstruktur in einer
bestimmten Region oder eine Änderung in der Behandlungsausrichtung der Praxis im Vergleich zum
Bemessungszeitraum gehören (BSGE 83, 52, 61 = SozR 32500 § 85 Nr. 28 S 210; BSG SozR 32500 § 85 Nr. 27
S 196; zu weiteren Konstellationen siehe Clemens, aaO, RdNr 271). Derartiges ist jedoch nicht erkennbar. Selbst
wenn man auch den von der Klägerin vorgetragenen Umstand des Hinzutretens eines weiteren Operateurs in der
zuweisenden Praxis dem Grunde nach als Härtegesichtspunkt berücksichtigen würde, fehlte es an tatsächlichen
Auswirkungen, da es - wie bereits oben ausgeführt - nicht zu einer gravierenden Veränderung der Fallzahlen
gekommen ist.
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44. Die Entscheidung der Beklagten über den Hilfsantrag leidet auch nicht unter einem Begründungsmangel. Bei
der Prüfung dieser Ermessensentscheidung sind die Gerichte nicht darauf beschränkt, nur die Gründe in der
Form zu würdigen, wie sie gemäß § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X in der schriftlichen Begründung der Bescheide ihren
Niederschlag gefunden haben (BSG SozR 42500 § 87 Nr. 10 RdNr 33). Wenn die bei Erlass der Bescheide von der Behörde
tatsächlich angestellten Erwägungen lediglich unvollständig oder unklar in ihrer Begründung wiedergegeben
wurden, können sie auch noch im Laufe des anschließenden Gerichtsverfahrens in den Tatsacheninstanzen
präzisiert oder ergänzt werden (BSG, aaO). Im Übrigen lässt sich jedenfalls der Widerspruchsbegründung entnehmen,
dass die ablehnende Entscheidung (auch) darauf beruht, dass es überhaupt nicht zu einer gravierenden
Fallzahlsteigerung gekommen ist.
45. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden
Anwendung der §§ 154 ff Verwaltungsgerichtsordnung. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits, soweit
sie unterlegen ist.
BGH VI ZR 204/08. vom 29.12.2008.
Der Wert der Beschwer des Beklagten durch das Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam
vom 12. 06.2008 wird auf 7.647,21 € festgesetzt (2.147,21 € Klage, 2.500 € Widerklageantrag 1, 3.000 € Widerklageantrag 2)
Gründe:
I.
1. Das Landgericht hat im Berufungsurteil vom 12. 06.2008 den Streitwert der Klage auf 7.647,71 € festgesetzt.
Es folgte dabei den Angaben der Parteien in der Klageschrift bzw. in der Widerklageschrift. Die Berufung des in
erster Instanz verurteilten Beklagten, dessen Widerklage abgewiesen worden ist, blieb erfolglos. Das
Berufungsgericht hat die Revision gegen das Berufungsurteil nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der
Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Er beantragt den Wert der Beschwer für die Widerklage auf
mindestens 20.000 € festzusetzen und begründet dies damit, dass die Widerklage auch auf die Feststellung der
künftigen materiellen und immateriellen Schäden aus der Zahnbehandlung durch den Kläger gerichtet ist. Zwar
habe er in der Berufungsinstanz für den Schmerzensgeldanspruch einen Mindestbetrag von 3.000 € genannt.
Dabei habe er jedoch nur die bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz eingetretenen
immateriellen Beeinträchtigungen berücksichtigt. Im Hinblick auf die Folgen der die Schadensersatzpflicht
begründenden Behandlung durch den Kläger, die bis zu seinem Lebensende fortbestünden, sei der Streitwert der
Widerklage mit mindestens 20.000 € festzusetzen, sodass die Beschwer unter Einbeziehung der Klageforderung
20.000 € übersteige.
II.
2. Das Vorbringen des Beklagten rechtfertigt keine Heraufsetzung des Wertes der Beschwer.
3. Maßgebend für die Bewertung der Beschwer der Nichtzulassungsbeschwerde ist der Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht (Senatsbeschlüsse vom 8. 02.2000 - VI ZR 283/99 - VersR 2000, 869; vom 10. 06.2008 - VI ZR 316/07 - juris und
vom 27. 08.2008 - VI ZR 78/07 - juris; BGH, Urteil vom 6. 10.1977 - II ZR 4/77 - MdR 1978, 210; Beschlüsse vom 25. 04.1989 - XI ZR 18/89 - NJW 1989, 2755; vom 31. 01.2001 - XII ZB 121/00 - NJW 2001,
. Beim Feststellungsbegehren mit einer Schadensersatzklage ist maßgeblich das
Schadensbild, das der Kläger dem Tatsachengericht als Grundlage der festzustellenden Ersatzansprüche und
damit der Ermessensausübung bei der Festsetzung der Beschwer gemäß den §§ 2 und 3 ZPO unterbreitet. In
Fällen, in denen, wie im vorliegenden Fall, das Berufungsgericht bei der Festsetzung der Beschwer einen weiten
Beurteilungsspielraum hat, beschränkt sich die Überprüfung auf die Frage, ob das Berufungsgericht von dem ihm
eingeräumten Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat. Vorliegend sind die Parteien in der Berufungsinstanz
davon ausgegangen, dass die Bewertung der Beschwer durch die mit der Berufung weiterverfolgten Anträge mit
insgesamt 7.647,71 € an sich nicht zu beanstanden ist. Die nach § 26 Nr. 8 EGZPO für die Zulässigkeit der
Nichtzulassungsbeschwerde erforderliche Beschwer ist nicht danach zu bemessen, in welcher Höhe der
Beschwerdeführer die Klageforderung in der Revisionsinstanz beziffern will, sondern danach, welche Beschwer
1652 und vom 3. 05.2001 - III ZR 9/01 - juris)
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aus dem Berufungsurteil er geltend machen kann und will. Verlangt der Kläger ein angemessenes
Schmerzensgeld, so ist für seine Beschwer als Rechtsmittelkläger die geäußerte Größenvorstellung maßgebend.
Gibt er einen Mindestbetrag an, so ist die Beschwer danach zu bestimmen, inwieweit der Urteilsausspruch der
Vorinstanz dahinter zurückbleibt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 30. 09.2003 - VI ZR 78/03 - VersR 2004, 219 und vom 16. 07.2008 - VI ZR 213/07). Nach diesen
Kriterien ist der Beklagte durch die Zurückweisung der Berufung insgesamt in Höhe von 7.647,71 € beschwert.
Müller Wellner Diederichsen Stöhr Zoll
Vorinstanzen: AG Zossen, Entscheidung vom 09.01.2007 - 7 C 4/05 - LG Potsdam, Entscheidung vom
12.06.2008 - 11 S 48/07 –
BSG Az. B 6 KA 37/07 R Urteil vom 10.12.2008
Betonung der ärztlichen Schweigepflicht bei Abrechnung von Leistungen über Abrechnungsstellen. Das
bedeutet, dass die Abrechnung von Leistungen, die im Quartal III/2009 oder später erbracht werden,
unmittelbar mit der KÄV erfolgen muss, sofern nicht bis zu diesem Zeitpunkt gesetzliche Regelungen
geschaffen werden, welche zur Einschaltung externer Abrechnungsstellen berechtigen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Erstellung einer Abrechnung für vertragsärztliche Leistungen über eine private
Abrechnungsstelle erfolgen darf. Die Klägerin ist Trägerin eines im Bezirk der beklagten Kassenärztlichen
Vereinigung (KÄV) gelegenen und zur Versorgung von Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung
zugelassenen Krankenhauses. Seit dem Jahr 1997 erstellt sie die Abrechnung der bei gesetzlich
Krankenversicherten sowie bei Berechtigten der freien Heilfürsorge vorgenommenen ambulanten
Notfallbehandlungen mit Hilfe der Beigeladenen zu 1., einem Zusammenschluss mehrerer privatärztlicher
Verrechnungsstellen zu einem Dienstleistungsunternehmen in der Rechtsform einer GmbH. Hierzu nimmt die
Klägerin die im Rahmen einer Notfallbehandlung anfallenden Patientendaten über einen sog Notfallschein auf und
lässt die Patienten eine jederzeit widerrufliche Einverständniserklärung zur Bearbeitung dieser Daten durch eine
privatärztliche Verrechnungsstelle gegenzeichnen. Die Notfallscheine reicht sie an die Beigeladene zu 1. weiter.
Deren Mitarbeiter erfassen alle für die Abrechnung erforderlichen Daten auf einem computerlesbaren Datenträger
und ordnen - soweit erforderlich - die erbrachten medizinischen Leistungen den jeweils einschlägigen
Gebührenziffern des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für ärztliche Leistungen zu. Anschließend legt die
Klägerin die über die Beigeladene zu 1. erstellten Abrechnungen quartalsweise zusammen mit von ihr
unterzeichneten Abrechnungs-Sammelerklärungen bei der Beklagten vor. Mit Schreiben vom 10.12.2004 teilte die
Beklagte mit, dass vertragsärztliche Leistungen nur noch unmittelbar zwischen Leistungserbringer und KÄV
abgerechnet werden könnten. Eine Abrechnungserstellung über eine privatärztliche Verrechnungsstelle sei
datenschutzrechtlich nicht zulässig und werde ab dem Quartal I/2005 zurückgewiesen. Zudem vereinbarte die
Beklagte mit den Verbänden der Krankenkassen mit Wirkung zum 1.1.2006 eine Ergänzung des
Honorarverteilungsvertrags (HVV), der zufolge die Rechnungslegung von den Leistungserbringern "persönlich ohne die Einschaltung von Dritten, insbesondere sog Verrechnungsstellen, - vorzunehmen" sei und die "aufgrund
unzulässiger Datenverarbeitung erstellte Abrechnung" nicht verwendet werden dürfe und zurückgewiesen werde (§
4 Nr. 1 Abs 2 HVV) .
Das von der Klägerin angerufene Sozialgericht (SG) hat die Beklagte mit Beschluss vom 22.4.2005 (S 14 KA 54/05 ER - bestätigt
durch Beschluss des Landessozialgerichts <LSG> vom 13.9.2005 - L 11 B 16/05 KA ER) , vorläufig zur Abrechnung verpflichtet und im
Hauptsacheverfahren festgestellt, dass die Beklagte zur Entgegennahme und Bescheidung der mit Hilfe der
Beigeladenen zu 1. erstellten vertragsärztlichen Abrechnungen für ambulante Notfallbehandlungen verpflichtet ist
(Urteil vom 30.8.2006) . Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das LSG zurückgewiesen (Urteil 2 vom 13.6.2007) . Zur
Begründung hat das LSG ausgeführt, die Beklagte dürfe die Abrechnungen der Klägerin nicht ablehnen. Eine
solche Berechtigung könne nicht aus den §§ 284 ff SGB V hergeleitet werden. Dort sei lediglich spezialgesetzlich
geregelt, welche Sozialdaten Krankenkassen und KVen ohne eine entsprechende Einwilligung der Patienten
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erheben, speichern und verarbeiten dürften. Liege aber - wie hier - eine Einwilligung der Betroffenen vor, sei nach
§ 4 Abs 1 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), § 67b Abs 1 Satz 1 SGB X eine Erstellung der Abrechnung durch
externe Dritte datenschutzrechtlich zulässig.
Die Beklagte könne auch aus der Regelung in § 4 Nr. 1 Abs 2 HVV keine Berechtigung dafür herleiten, die
Abrechnungen der Klägerin zurückzuweisen. Zwar sei nach dem Wortlaut dieser Bestimmung eine
Rechnungslegung durch Dritte ausdrücklich ausgeschlossen; es fehle im SGB V aber an einer
Ermächtigungsgrundlage für die Aufnahme einer solchen Vorschrift in einen HVV. Eine Befugnis hierzu ergebe
sich insbesondere nicht aus dem in § 75 Abs 1 Satz 1 SGB V normierten Auftrag der KVen, eine den gesetzlichen
und vertraglichen Bestimmungen entsprechende vertragsärztliche Versorgung zu gewährleisten. Auch wenn
hierzu eine sorgfältige und wahrheitsgemäße Abrechnung der erbrachten vertragsärztlichen Leistungen gehöre,
sei nicht ersichtlich, inwiefern dies durch die Einschaltung einer externen Abrechnungsstelle gefährdet sein
könnte.
Schließlich sei auch nicht erkennbar, dass - über die Einwilligung des Patienten hinaus - für die Abrechnung
vertragsärztlicher Leistungen mit Hilfe einer externen Datenverarbeitung eine gesonderte gesetzliche Grundlage
erforderlich sei. Jedenfalls aus § 73 Abs 1b SGB V, der ua einen Datenaustausch zwischen den mit- und
weiterbehandelnden Ärzten und sonstigen Leistungserbringern desselben Patienten ermögliche, könne dies nicht
hergeleitet werden. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift lasse sich nicht auf alle Fälle einer
Datenverarbeitung mit Einwilligung des Patienten ausdehnen. Ebenso wenig könne dem
krankenversicherungsrechtlichen Sachleistungsprinzip aus § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V entnommen werden, dass
ohne gesonderte gesetzliche Grundlage eine Einverständniserklärung des Patienten für die Weitergabe seiner
Daten unzulässig sei. Aus diesem Prinzip folge zwar, dass eine vertragsärztliche Behandlung nicht von der
vorherigen Unterzeichnung einer datenschutzrechtlichen Einwilligungserklärung abhängig gemacht werden dürfe.
Eine entsprechende Beeinflussung der Patienten in der Notfallaufnahme der Klägerin sei aber nicht ersichtlich;
die diesbezüglichen Bedenken der Beklagten seien unberechtigt.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 2, 75 Abs 1 SGB V durch das Berufungsgericht. Das
LSG verkenne, dass eine Beteiligung privater Abrechnungsstellen an der Erstellung vertragsärztlicher
Abrechnungen gesetzlich nicht vorgesehen sei. Insoweit werde in § 4 Nr. 1 Abs 2 HVV ein die vertragsärztliche
Vergütung betreffender Sachverhalt geregelt, der durch den Sicherstellungsauftrag der KVen und die
Vertragsabschlusskompetenz zwischen der Beklagten und den Landesverbänden der Krankenkassen aus § 85
Abs 4 Satz 2 SGB V gedeckt sei. Ferner folge aus dem Sachleistungsprinzip, dass sowohl die Weitergabe von
Patientendaten an Dritte als auch die Einholung einer Einverständniserklärung hierzu einer gesetzlichen
Grundlage bedürfe, die im SGB V jedoch fehle. Im Übrigen könne sich das von den Notfallpatienten der Klägerin
abgegebene Einverständnis zur Weitergabe ihrer nach § 35 SGB I geschützten Sozialdaten nur auf die in dieser
Norm ausdrücklich aufgeführten Leistungsträger beziehen. Zu diesen Leistungsträgern zähle die Beigeladene als
eine private Abrechnungsstelle nicht. Vor diesem Hintergrund könne dahingestellt bleiben, ob die abgegebenen
Einverständniserklärungen den gesetzlichen Anforderungen aus § 67b Abs 2 SGB X genügten.
Die Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13.6.2007 und des
Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.8.2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Klägerin und die
Beigeladene zu 1. beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Die Klägerin hält das Berufungsurteil für zutreffend. Die Regelung in § 4 Nr. 1 Abs 2 HVV sei darauf ausgerichtet,
die Einschaltung privater Abrechnungsstellen bei der Erstellung vertragsärztlicher Abrechnungen zu unterbinden.
Zu Abrechnungsfragen weise die Regelung aber keinen Bezug auf und dürfe daher nicht in einem
Honorarverteilungsvertrag normiert werden.
Die Beigeladene zu 1. macht geltend, dass durch diese Regelung ohne rechtfertigenden Grund in die Freiheit der
Berufsausübung gemäß Art 12 Abs 1 GG eingegriffen werde. Die Klägerin werde gezwungen, entsprechend
sachkundiges Personal zur Abrechnung von Notfallbehandlungen anzustellen. Dies greife in deren
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unternehmerische Freiheit ein, über die Personal- und Organisationsstruktur im Unternehmen selbst zu
entscheiden. Die übrigen Beteiligten äußern sich im Revisionsverfahren nicht.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist die Beklagte
grundsätzlich nicht verpflichtet, Abrechnungen über erbrachte ambulante Notfallbehandlungen auch dann
entgegenzunehmen und inhaltlich zu bescheiden, wenn die Rechnungslegung durch eine externe
Abrechnungsstelle - sei es in Form privatärztlicher oder gewerblicher Abrechnungsstellen - erfolgt ist. Vielmehr ist
sie berechtigt, solche Abrechnungen zurückzuweisen. Die von den Vorinstanzen zu Recht für zulässig erachtete
Feststellungsklage (§ 55 Abs 1 Nr. 1 SGG) ist mithin abzuweisen.
Die Beklagte ist gemäß § 106a Abs 1 iVm Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V - zum 1.1.2004 eingefügt durch Art 1
Nr. 83 des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14.11.2003 (BGBl I, 2190) gesetzlich berechtigt und verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Abrechnungen in der vertragsärztlichen Versorgung
zu prüfen sowie die sachliche und rechnerische Richtigkeit der Abrechnungen der Vertragsärzte festzustellen.
Dies gilt auch für die Abrechnung von Notfallbehandlungen, die durch nicht an der vertragsärztlichen Versorgung
teilnehmende Krankenhäuser erbracht werden. Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung (vgl ua SozR 32500 § 120 Nr. 7 S 37;
SozR 42500 § 75 Nr. 2 RdNr 5 f) entschieden hat, werden die in Notfällen von Nichtvertragsärzten und Krankenhäusern
erbrachten Notfallleistungen im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung durchgeführt und sind aus der
Gesamtvergütung zu honorieren. Die Rechtsgrundlage des Vergütungsanspruchs für Nichtvertragsärzte und
Krankenhäuser ergibt sich demnach dem Grunde und der Höhe nach aus den Vorschriften des Vertragsarztrechts
über die Honorierung vertragsärztlicher Leistungen. Aus der Zuordnung dieser Notfallleistungen zur
vertragsärztlichen Versorgung folgt nach der Rechtsprechung des Senats (aaO; zuletzt Urteile vom 17.9.2008, B 6 KA 46/07 R - zur
Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - und B 6 KA 47/07 R, jeweils RdNr 18) , dass sich die Honorierung dieser Behandlungen nach den
Grundsätzen richtet, die für die Leistungen der Vertragsärzte und der zur Teilnahme an der vertragsärztlichen
Versorgung ermächtigten Personen und Institutionen gelten. Diese Gleichstellung der in Notfällen tätigen
Krankenhäuser mit Vertragsärzten bewirkt nicht allein die Anwendung der für Vertragsärzte geltenden
Honorarregelungen im engeren Sinne. Vielmehr gelten auch die übrigen für die Erbringung und Abrechnung von
Leistungen maßgeblichen Bestimmungen des Vertragsarztrechts - einschließlich derjenigen über die Berichtigung
von vertragsärztlichen Abrechnungen - entsprechend.
Gegenstand des Berichtigungsverfahrens ist es, die Abrechnung des Vertragsarztes oder des Krankenhauses auf
ihre Übereinstimmung mit den gesetzlichen, vertraglichen oder satzungsrechtlichen Vorschriften des
Vertragsarztrechts - mit Ausnahme des Wirtschaftlichkeitsgebots - zu überprüfen (vgl § 3 Abs 1 und 2 iVm § 4 der Richtlinien der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der Krankenkassen zum Inhalt und zur Durchführung der Abrechnungsprüfungen der KVen und der Krankenkassen <AbrPrRL>, DÄ 2004, A2555
. Während bislang das Richtigstellungsverfahren von Amts wegen oder auf Antrag einer Krankenkasse
durchgeführt werden konnte (vgl BSGE 89, 90, 93 f = SozR 32500 § 82 Nr. 3 S 6 und stRspr, zB BSG SozR 45520 § 32 Nr. 2 RdNr 10 und BSG SozR 45533 Nr. 40 Nr. 2 RdNr 11;
zuletzt BSG, Urteil vom 7.2.2007 - B 6 KA 32/05 R , RdNr 11 = USK 200714) , ist die Beklagte nach dem seit dem 1.1.2004 geltenden Recht unabhängig von einer weiterhin möglichen Antragstellung - zu einem Tätigwerden von Amts wegen verpflichtet.
Bei Fehlern hinsichtlich der sachlich-rechnerischen Richtigkeit berichtigt sie die Honoraranforderung. Dies kann
auch im Wege nachgehender Richtigstellung erfolgen (s die vorstehenden Nachweise). Zu den Vorschriften des
Vertragsarztrechts, die Gegenstand einer Prüfung nach § 106a SGB V sind, gehören auch die
bereichsspezifischen Vorschriften zur Datenerhebung, -verarbeitung und nutzung im Rahmen der
vertragsärztlichen Abrechnung. Denn diese Datenverarbeitungsvorschriften definieren ebenfalls Anforderungen
an eine "formal richtige Abrechnung der erbrachten Leistungen" (§ 3 Abs 1 Satz 2 AbrPrRL) bzw. an die "rechtliche
Ordnungsmäßigkeit der Leistungsabrechnung" (§ 6 Abs 1 Satz 1 AbrPrRL) .
bzw. A3135)
Die KVen sind auf der Grundlage von § 106a Abs 2 Satz 1 SGB V berechtigt, Abrechnungen von Leistungen in
der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung, die unter Weitergabe der hierfür erforderlichen Behandlungs- und
Patientendaten an eine externe Abrechnungsstelle angefertigt wurden, als in ihrer Gesamtheit nicht
ordnungsgemäß zu behandeln und von einer Berücksichtigung bei der Honorarverteilung auszuschließen. Solche
Abrechnungen sind "rechtlich nicht ordnungsgemäß" bzw. "formal unrichtig" im Sinne der Vorschriften zur
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Abrechnungsprüfung. Denn für eine Übermittlung von Patientendaten an externe Abrechnungsstellen fehlt - von
wenigen, hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen - bislang die hierfür erforderliche gesetzliche
Grundlage. Eine solche bereichsspezifische Rechtsgrundlage für die Datenweitergabe ist auch nicht entbehrlich,
wenn die betroffenen Patienten formal in die Datenweitergabe eingewilligt haben.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist das Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung nicht schrankenlos gewährleistet. Vielmehr muss der Einzelne solche Beschränkungen seines
Rechts hinnehmen, die durch überwiegende Allgemeininteressen gerechtfertigt sind; diese Beschränkungen
bedürfen jedoch einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage (stRspr des BVerfG, vgl BVerfGE 65, 1, 43 f; BVerfGE 115, 320, 345; BVerfG SozR
41300 § 25 Nr. 1 RdNr 20; zuletzt BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 25.2.2008, 1 BvR 3255/07- juris RdNr 21 = NJW 2008, 1435 f; s auch BSGE 59, 172, 181 = SozR 2200 § 368 Nr. 9 S 39) .
Ebenso ist anerkannt, dass die zwangsweise Erhebung von personenbezogenen Daten, wie sie insbesondere in
der gesetzlichen Krankenversicherungen durchgeführt wird, nicht unbeschränkt statthaft ist (vgl BVerfGE 65, 1, 45) . Gerade
in der gesetzlichen Krankenversicherung wird der Zwang der Versicherten, ihre Gesundheitsdaten offenlegen zu
müssen, noch dadurch verstärkt, dass sie dem System der gesetzlichen Krankenversicherung in der Regel
aufgrund des Bestehens von Versicherungspflicht - begrifflich also aufgrund einer Zwangsversicherung, die bei
Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen unabhängig vom Willen des Versicherten eintritt (vgl Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V,
Stand: 03.2003, K § 5 RdNr 58) - angehören (siehe hierzu ua BVerfGE 115, 25, 42 ff = SozR 4- 2500 § 27 Nr. 5; BSGE 98, 129 = SozR 42400 § 35a Nr. 1, jeweils RdNr 44) . Im Übrigen
ist schon angesichts der Gefahren der modernen Datenverarbeitung ein Schutz gegen Zweckentfremdung durch
Weitergabe- und Verwertungsverbote erforderlich (BVerfGE 65, 1, 46).
Diesen Vorgaben entsprechend sind die bereichsspezifischen datenschutzrechtlichen Regelungen im
Sozialgesetzbuch - im SGB X wie im SGB V - im Ergebnis als "Verbotsnorm mit Erlaubnisvorbehalt" ausgestaltet
worden (Bieresborn in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl 2008, § 67b RdNr 3; Rombach in Hauck/Noftz, SGB X, Stand: 03.2002, K § 67a RdNr 3 und K § 67d RdNr 25 f; Eul in Schulin, Handbuch des
Sozialversicherungsrechts, Band 1, Krankenversicherungsrecht, 1994, § 48 RdNr 6; kritisch in Bezug auf die Terminologie Simitis, Kommentar zum BDSG, 5. Aufl 2003, § 4 RdNr 3) . Die
Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der bereichsspezifischen Normen belegt, dass der Gesetzgeber dem
Sozialdatenschutz gerade in der gesetzlichen Krankenversicherung hohe Bedeutung beimisst. Der Gesetzgeber
sah sich verpflichtet, die erforderlichen Grundlagen für die Verarbeitung personenbezogener Daten im
Zusammenhang mit Leistungsabrechnungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu schaffen
(vgl BSGE 95, 199 = SozR 42500 § 106 Nr. 11, jeweils RdNr 27) ; mit den in den §§ 284 ff SGB V normierten Regelungen sollte dem Recht der
Versicherten auf informationelle Selbstbestimmung im Rahmen der krankenversicherungsrechtlichen
Datenverwendung und verarbeitung Rechnung getragen werden (BSG SozR 32500 § 295 Nr. 1 S 7). Im Bericht des Ausschusses
für Arbeit und Sozialordnung zum GesundheitsReformgesetz (GRG) wird betont, die datenschutzrechtlichen
Überlegungen müssten davon ausgehen, dass nicht nur ein besonders großer Kreis von Menschen betroffen sein
werde, sondern dass darüber hinaus die Verarbeitung personenbezogener Gesundheitsdaten, die zu einem guten
Teil der ärztlichen Schweigepflicht unterlägen, von besonderer Sensibilität sei; es sei geboten, die Grundlagen für
die Erfassung, Verwendung, Übermittlung und Löschung von personenbezogenen Daten gesetzlich zu regeln
(BTDrucks 11/3480, S 29 - zu "Transparenz") . Die Erfassung, Verwendung, und Übermittlung von Leistungs- und Gesundheitsdaten
werde ausschließlich für die im Gesetz bezeichneten Zwecke zugelassen und im Umfang auf das für den
jeweiligen Zweck unerlässliche Minimum beschränkt (BTDrucks aaO , S 67 zu §§ 292 bis 312 SGB V; s auch BSGE 95, 199 = SozR 42500 § 106 Nr. 11 RdNr 27).
Auch in den Begründungen zu den Einzelvorschriften wird wiederholt auf die datenschutzrechtliche Notwendigkeit
bzw. Unverzichtbarkeit einer Regelung hingewiesen (vgl BTDrucks aaO, ua S 68 zu 292 Abs 2, S 69, 70 zu § 304 und zu § 305 und S 70 zu § 306 SGB V) .
Die nachfolgenden Gesetzesänderungen und die hierzu gegebenen Begründungen lassen ebenfalls den hohen
Stellenwert datenschutzrechtlicher Belange erkennen (vgl auch BSG SozR 32500 § 295 Nr. 1 S 7). So wurde anlässlich der Änderung
des § 301 SGB V durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) betont, dass die von den Krankenhäusern an die
Krankenkassen zu übermittelnden Daten aus datenschutzrechtlichen Gründen enumerativ aufgeführt würden
(Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP, BTDrucks 12/3608, S 124 - zu § 301 Abs 1 SGB V) und dass in § 301 Abs 5 Satz 1 SGB V die
datenschutzrechtlich notwendige Klarstellung getroffen würde, dass der ermächtigte Krankenhausarzt befugt sei,
die für die Abrechnung der von ihm erbrachten ambulanten Leistungen erforderlichen Unterlagen seinem
Krankenhausträger zur Verfügung zu stellen (aaO, S 125 - zu § 301 Abs 5 SGB V). In der Gesetzesbegründung zum
GKVGesundheitsreformgesetz 2000 - GKVGRG 2000 - (BTDrucks 14/1245 S 101 - zu § 284 SGB V) wurde ausgeführt, die
Zulässigkeit der Verwendung von Patientendaten werde in den §§ 284 ff SGB V sehr differenziert geregelt. Ein
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abschließender Katalog umfasse die Zwecke bzw. die Aufgaben, für die die Krankenkassen Daten über ihre
Versicherten und die Leistungserbringer in der GKV erheben, verarbeiten und nutzen dürften, sowie zu welchen
Zwecken die Daten zusammengeführt werden dürften. Bezüglich der Änderung des - die Einschaltung von
Rechenzentren durch Apotheken ermächtigenden - § 300 SGB V wurde klargestellt, dass die Einbindung von
Rechenzentren auf die im Sozialgesetzbuch geregelten Zwecke zu begrenzen sei und dem informationellen
Selbstbestimmungsrecht der Versicherten und Leistungserbringer Rechnung zu tragen habe; die Vorschrift
schließe es damit aus, dass die Rechenzentren die bei ihnen auflaufenden Daten auch anderweitig verarbeiten,
nutzen und wirtschaftlichen Vorteil daraus ziehen könnten (aaO, S 105 - zu § 300 SGB V) .
Auch das Bundessozialgericht (BSG) hat in seiner Rechtsprechung wiederholt die Bedeutung der ärztlichen
Schweigepflicht wie auch des Sozialdatenschutzes, insbesondere in Bezug auf sensible Gesundheitsdaten,
hervorgehoben. In den entschiedenen Fällen ging es um die - aus Sicht des Leistungserbringers - umgekehrte
Fallkonstellation, nämlich um die Frage, ob eine Offenbarung von Patientendaten gegenüber den Institutionen des
Vertragsarztrechts unter Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht verweigert werden darf. So wurde erst durch
die Entscheidung des BSG vom 22.6.1983 (BSGE 55, 150 = SozR 2200 § 368 Nr. 8) geklärt, dass eine Offenbarung von
Patientengeheimnissen durch Leistungserbringer (dort zur Durchführung des Gutachterverfahrens nach dem BundesmantelvertragZahnärzte) zulässig ist,
wenn dies zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung erforderlich ist und eine
gesetzliche Offenbarungspflicht besteht. In seiner grundlegenden Entscheidung vom 19.11.1985 (BSGE 59, 172 = SozR 2200 §
368 Nr. 9 - zur Herausgabe von Röntgenaufnahmen zum Zweck der Qualitätsprüfung - bestätigt durch BVerfG SozR 2200 § 368 Nr. 10) hat das BSG klargestellt, dass der
gesetzlichen Regelung über die vertragsärztliche Versorgung der Versicherten die Befugnis zugrunde liegt,
Patientendaten innerhalb des vertragsärztlichen Versorgungssystems insoweit zu offenbaren, als ärztliche
Behandlung in Anspruch genommen wird und die an der Leistungserbringung Beteiligten für ihren
Leistungsbeitrag auf die Information angewiesen sind (zuletzt BSG, Urteil vom 17.2.2004, SozR 41200 § 66 Nr. 1 RdNr 19). Es hat zugleich aber
darauf hingewiesen, dass die daraus herzuleitende Offenbarungsbefugnis des Arztes beschränkt sei, und betont,
dass das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt eine wesentliche Bedingung für eine
erfolgreiche Behandlungsei (BSGE 59, 172, 179 = SozR 2200 § 368 Nr. 9 S 36). Dem Versicherten werde dementsprechend
grundsätzlich das Recht eingeräumt, unter den an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten frei zu
wählen, also den Arzt auszusuchen, der sein Vertrauen genieße; dieses Vertrauensverhältnis wäre gestört, dürfte
der Arzt alle Patientendaten offenbaren. Dem Vertragsarztrecht könne daher nur die Befugnis entnommen
werden, Patientendaten innerhalb der Zuständigkeiten des vertragsärztlichen Versorgungssystems und auch in
diesem engen Bereich lediglich insoweit mitzuteilen, als dies die Leistungserbringung erforderlich mache (BSG aaO).
Schließlich ist die Sensibilität von Gesundheitsdaten auch in Urteilen anderer Gerichte betont worden. So hat der
Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil vom 10.7.1991 (BGHZ 115, 123 = NJW 1991, 2955 - zur Nichtigkeit einer Forderungsabtretung an privatärztliche
Verrechnungsstellen) hervorgehoben, dass die häufig über intimste Dinge Auskunft gebenden Abrechnungsunterlagen
einen besonders wirksamen Schutz verdienten. Dieser sei grundsätzlich nur gewährleistet, wenn die
Honorarabrechnung in einem von vornherein und sicher für den Patienten überschaubaren Bereich erfolge; dies
sei aber in der Regel allein die Praxis des Arztes einschließlich der für die Abrechnung zuständigen Mitarbeiter.
Auch der Bayerische Verfassungsgerichtshofs hat in seinem Urteil vom 6.4.1989 (NJW 1989, 2939) die besondere
Schutzwürdigkeit von medizinischen Daten eines Krankenhauspatienten - gerade auch im Verhältnis zu den
Interessen privater (Mikrofilm)Unternehmer - bekräftigt. Aus alledem wird deutlich, dass die Zulässigkeit einer
Weitergabe von Sozialdaten an Dritte im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung von einer ausdrücklichen
gesetzlichen Ermächtigung abhängt (s auch Lang, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Patienten und die ärztliche Schweigepflicht in der gesetzlichen
Krankenversicherung; Frankfurter Studien zum Datenschutz, Veröffentlichungen der Forschungsstelle für Datenschutz an der JohannWolfgang GoetheUniversität, Frankfurt/Main, Band 9 S 93; Didong in
jurisPKSGB V, § 294 RdNr 7)
.
Für eine Übermittlung von Patientendaten durch Leistungserbringer wie Krankenhäuser an externe
Abrechnungsstellen fehlt - von wenigen Ausnahmen abgesehen - derzeit jedoch eine gesetzliche Grundlage. Die
gesetzlichen Bestimmungen erscheinen insoweit allerdings als lückenhaft. So finden die datenschutzrechtlichen
Bestimmungen des SGB I wie des SGB X nach zutreffender Ansicht (Didong in jurisPKSGB V, § 294 RdNr 7; Waschull in Krauskopf, Soziale
Krankenversicherung - Pflegeversicherung, Stand 03.2008, § 294 SGB V RdNr 5; Kullmann, MedR 2001, S 343; Kamps/Kiesecker, MedR 1997, S 216; Mrozynski, NZS 1996, 545, 551; Lang, aaO S 66; im
Sinne einer engen Auslegung auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 30.11.2005, L 10 KA 29/05 = GesR 2006, 456 = MedR 2006, 616 = Breith 2006, 904; offengelassen von BSGE 59, 8 172, 179 = SozR
2200 § 368 Nr. 9 S 37)
auf Leistungserbringer keine Anwendung, da sie allein den Schutz der Sozialdaten im
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Verwaltungsverfahren der Sozialleistungsträger regeln (Seewald in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand 1.10.2008, § 35 SGB I RdNr 4) . §
35 SGB I als Grundsatzbestimmung des sozialrechtlichen Datenschutzes (Seewald, aaO, RdNr 2) , welche bestimmt, dass
jeder Anspruch darauf hat, dass die ihn betreffenden Sozialdaten im Sinne des § 67 Abs 1 SGB X nicht unbefugt
erhoben, verarbeitet oder genutzt werden (Sozialgeheimnis), gilt allein für Sozialleistungsträger und die weiteren in § 35
Abs 1 Satz 4 SGB I aufgeführten Stellen; die Aufzählung ist enumerativ und nicht analogiefähig (Paulus in jurisPK SGB I, § 35
RdNr 21; ebenso Seewald, aaO, RdNr 15) . Nichts anderes gilt für die dieses Sozialgeheimnis konkretisierenden Normen in §§ 67 bis
85 SGB X. Aber auch das SGB V enthält in den §§ 284 ff (nahezu) ausschließlich Bestimmungen, die sich mit
datenschutzrechtlichen Anforderungen an die Erhebung, Speicherung, Verarbeitung und Nutzung von Daten
durch Krankenkassen und KVen befassen, hingegen (nahezu) keine Regelungen, welche die Weitergabe von
Patientendaten durch Leistungserbringer zum Gegenstand haben.
Der Umstand, dass die Datenweitergabe durch Leistungserbringer nur punktuell gesetzlich normiert ist, zwingt zu
dem Schluss, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass sensible personenbezogene Daten
ausschließlich zwischen den Leistungserbringern und den in § 35 SGB I näher bezeichneten Institutionen - also
innerhalb der vom Gesetz vorgegebenen Bahnen - ausgetauscht werden. Dies bestätigt zudem die Annahme,
dass der Gesetzgeber insbesondere die mögliche Einschaltung externer Abrechnungsstellen durch
Leistungserbringer - über die ausdrücklich im Gesetz geregelten Fälle hinaus - weder beabsichtigt noch in
Betracht gezogen hat. Den Leistungserbringern, die kraft Gesetzes und durch Verträge in die Erbringung der
gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V den Leistungsträgern - dh den Krankenkassen - obliegenden Sach- und
Dienstleistungen eingeschaltet sind, werden durch das für sie maßgebliche Recht ausdrücklich oder inzident
bestimmte Abrechnungswege vorgegeben. So hat etwa der Vertragszahnarzt gemäß § 29 Abs 3 Satz 1 SGB V
die kieferorthopädische Behandlung mit der Kassenzahnärztlichen Vereinigung abzurechnen; eine entsprechende
Regelung gilt gemäß der Vorgabe des § 87 Abs 1a Satz 7 SGB V iVm der entsprechenden
bundesmantelvertraglichen Bestimmung für die Abrechnung der Festzuschüsse beim Zahnersatz. Zwar fehlen
ausdrückliche gesetzliche Regelungen der Art, dass ein Vertragsarzt - entsprechend ein Krankenhausträger bei
Notfallbehandlungen - seine Leistungen mit der KÄV abzurechnen hat; eine solche findet sich lediglich für den
Sonderfall der Abrechnung der den ermächtigten Krankenhausärzten für ihre ambulante Tätigkeit zustehenden
Vergütung (§ 120 Abs 1 Satz 3 SGB V) . Jedoch setzt das Gesetz an zahlreichen Stellen eine Abrechnung zwischen
Vertragsarzt und KÄV als selbstverständlich voraus, etwa bei der Honorarverteilung (§ 85 Abs 4 SGB V) , der Zuweisung
von Regelleistungsvolumina (§ 87b Abs 5 Satz 3 SGB V) , der Abrechnungsprüfung (§ 106a SGB V) oder bei den
Datenübermittlungspflichten der KVen (etwa § 295 Abs 2 SGB V) .
Von den gesetzlich normierten oder als selbstverständlich vorausgesetzten Abrechnungswegen darf nur dann
abgewichen werden, wenn dies - wie etwa in § 17 Abs 3 Satz 2 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) - ausdrücklich
gesetzlich bestimmt ist. Danach kann ein zur Berechnung wahlärztlicher Leistungen berechtigter Arzt des
Krankenhauses eine Abrechnungsstelle mit der Abrechnung der Vergütung für die wahlärztlichen Leistungen
beauftragen (oder die Abrechnung dem Krankenhausträger überlassen); Zweck dieser aus der Pflegesatzverordnung übernommenen
Vorschrift (BTDrucks 14/6893 S 46 - zu § 17 KHEntgG) ist es, dem liquidationsberechtigten Krankenhausarzt die Wahl des
Abrechnungsverfahrens zu überlassen (Fraktionsentwurf zum GSG, BTDrucks 12/3608 S 47, 141 zu § 7 Abs 3 Satz 2 Bundespflegesatzverordnung <BPflV> in der ab 1.1.1993
geltenden Fassung, dem § 22 Abs 3 BPflV in der vom 1.1.1995 bis 31.12.2004 geltenden Fassung entsprach) .
Diese vorgegebenen Abrechnungswege verlaufen nahezu ausschließlich von den Leistungserbringern zu den
Krankenkassen und/oder zu den KVen sowie zwischen Krankenkassen und KVen. Entsprechend normiert das
Gesetz insbesondere in den für die Krankenkassen bzw. die KVen maßgeblichen §§ 284, 285 SGB V strenge
Anforderungen an die Erfassung, Nutzung und Übermittlung der Daten. Namentlich § 285 SGB V enthält
detaillierte Regelungen, welche die Übermittlung von Sozialdaten sogar innerhalb der KVen nur unter engen
Voraussetzungen zulassen. Solange die Abrechnung innerhalb dieser Bahnen verläuft, bedarf es keiner die
Leistungserbringer betreffenden ergänzenden Regelungen zum Datenschutz, da die Berücksichtigung
datenschutzrechtlicher Belange durch entsprechende Regelungen beim Datenempfänger gewährleistet ist.
Dass eine Datenübermittlung zwischen Leistungserbringern und anderen Stellen als Krankenkassen oder KVen
ebenso wie die Zwischenschaltung Dritter in den Abrechnungsweg eine seltene Ausnahme darstellt, zeigen auch
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die wenigen gesetzlich normierten Fälle, in denen dies zugelassen wird. Die für Apotheken (§ 300 Abs 2 SGB V) und für
"sonstige Leistungserbringer" (§ 302 Abs 2 Satz 2 ff SGB V) sowie für Hebammen und Entbindungspfleger (§ 301a Abs 2 iVm § 302 Abs 2 SGB
V) geltenden Sonderregelungen, welche die genannten Leistungserbringer ermächtigen, zur Erfüllung ihrer
Verpflichtungen (externe) Rechenzentren unter Beachtung weitreichender datenschutzrechtlicher Vorgaben und nach
Information der Aufsichtsbehörde zu beauftragen (vgl § 80 SGB X) , können nicht als Beleg für die grundsätzliche
Zulässigkeit der Einschaltung externer Abrechnungsstellen herangezogen werden (vgl auch OLG Hamm, Urteil vom 17.11.2006, 19 U 81/06
= BB 2007, 2763, das § 302 SGB V als "Ausnahmenorm" bezeichnet; aA wohl Siegmann/Binder, BB 2007, S 2765, 2766, die das Fehlen einer § 302 SGB V vergleichbaren Regelung für Pflegeleistungen als
. Sie stützen vielmehr die gegenteilige Annahme. Der mit dem GRG in das SGB V
eingefügte § 300 Abs 2 SGB V soll es den Apotheken ermöglichen, mit den Krankenkassen über Rechenzentren
abzurechnen (Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zum GRG, BTDrucks 11/2237 S 238 zu § 308).
planwidrige Regelungslücke ansehen)
Mit dieser Regelung wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass die Apotheken zeitgleich durch § 300 Abs 1
SGB V in der ab 1.1.1989 geltenden Fassung verpflichtet wurden, die bundeseinheitlich zu verwendenden
Kennzeichen für Fertigarzneimittel maschinenlesbar auf das Verordnungsblatt zu übertragen, seinerzeit aber nicht
alle Apotheken über die hierzu erforderliche technische Ausstattung verfügten (s Eul in Schulin, aaO, § 48 RdNr 152) . Im Übrigen
kodifiziert die Vorschrift eine seit Jahrzehnten bestehende Praxis der Abrechnung über ApothekenRechenzentren
(vgl etwa das 1954 als Abrechnungsstelle Bremer Apotheker gegründete Norddeutsche Apotheken- Rechenzentrum e.V. <NARZ e.V.>, www.narzavn.de/v07/ueberuns_historie.php) . 10
Vergleichbares gilt für die mit dem GKVGRG 2000 erfolgte Erstreckung der Regelung durch § 302 Abs 2 Satz 2
SGB V auf sonstige Leistungserbringer (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum GKVGRG 2000, BTDrucks 14/1245 S 106 - zu § 302 SGB
V) .
Die Annahme, dass die Einschaltung Dritter in den Datenfluss durch die Leistungserbringer weder gesetzlich
vorgesehen noch generell gewollt ist, bestätigt zudem ein Vergleich der für Krankenkassen und KVen geltenden
Vorschriften über die Datenverwendung und Informationsgrundlagen (§§ 284 ff SGB V) mit den für Leistungserbringer
geltenden Bestimmungen (§§ 294 ff SGB V) . In den §§ 284 bis 293 SGB V werden die Informationsgrundlagen,
insbesondere die Datenerhebungsbefugnisse der Krankenkassen und KVen geregelt und spiegelbildlich dazu in
den §§ 294 bis 303 SGB V die entsprechenden Pflichten der Leistungserbringer zur Datenübermittlung (BSGE 90, 1, 5 f =
SozR 32500 § 112 Nr. 3 S 24) . Hierbei fällt auf, dass die §§ 284 ff SGB V umfangreiche Regelungen zum Datenschutz,
insbesondere in Form von Nutzungsbeschränkungen, enthalten, während die für Leistungserbringer
maßgeblichen Bestimmungen sich (weitgehend) darauf beschränken, diese zur Datenweitergabe zu verpflichten und zu
berechtigen (vgl auch Mrozynski, NZS 1996, 545, 546) . So schafft etwa § 295 SGB V lediglich die datenschutzrechtliche Grundlage
für die Aufzeichnung und Übermittlung von Sozialdaten durch die Vertragsärzte (Didong in jurisPKSGB V, § 295 RdNr 6) , ohne dies
mit besonderen datenschutzrechtlichen Vorgaben zu verbinden . Auch die für Krankenhäuser maßgebliche
Vorschrift des § 301 SGB V beschränkt sich hierauf. Diese unterschiedliche Regelungsdichte ist nur dann
nachvollziehbar, wenn davon ausgegangen wird, dass die Krankenkassen bzw. die KVen die allein in Betracht
kommenden Empfänger und Nutzer der von den Leistungserbringern zu übermittelnden Sozialdaten sind. Würde
eine Datenübermittlung an Dritte, namentlich an externe Abrechnungsstellen, als zulässig erachtet, bedürfte es
auch insoweit detaillierter datenschutzrechtlicher Regelungen, die den für die Krankenkassen und KVen
geltenden (mindestens) entsprächen; auch hieran fehlt es jedoch. Eine Intention des Gesetzgebers, an private Dritte
geringere datenschutzrechtliche Anforderungen zu stellen als an Körperschaften des öffentlichen Rechts wie
Krankenkassen und KVen (§ 4 Abs 1, § 77 Abs 5 SGB V) , die als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung immerhin staatlicher
Aufsicht unterworfen sind, ist weder erkennbar noch wäre dies nachvollziehbar. Im Gegenteil belegen die
gesetzlich normierten Ausnahmefälle, dass der Gesetzgeber dann, wenn er ausnahmsweise die Einschaltung
Dritter in den Datenfluss zulässt, auch diese adäquaten datenschutzrechtlichen Beschränkungen unterwirft. Die in
den § 300 Abs 2 Satz 2 und 3, § 302 Abs 2 Satz 3 und 4 SGB V gesetzlich normierten, durch das GKVGRG 2000
eingefügten datenschutzrechtlichen Anforderungen dienen der Klarstellung, dass die Einbindung von
Rechenzentren auf die im Sozialgesetzbuch geregelten Zwecke zu begrenzen ist und dem informationellen
Selbstbestimmungsrecht der Versicherten und Leistungserbringer Rechnung zu tragen hat (Gesetzentwurf zum GKVGRG 2000,
BTDrucks 14/1245, S 105 - zu § 300 SGB V zu Buchst b) . Dass der Gesetzgeber die Übermittlung von Daten generell beschränken und bei
nicht vermeidbarer Übermittlung zumindest strengen Anforderungen unterwerfen wollte, belegt auch § 73 Abs 1b
SGB V. Die durch das GKVGRG 2000 eingefügte Bestimmung soll 11 insbesondere die Dokumentationsbefugnis
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des Hausarztes erweitern; dieser ist berechtigt, relevante Patientendaten bei anderen Ärzten wie auch bei
anderen seine Patienten behandelnden Leistungserbringern zu erheben und diese Daten anderen
Leistungserbringern zur Verfügung zu stellen (Gesetzentwurf zum GKVGRG 2000, BTDrucks 14/1245 S 69 - zu Buchst b) . Hierzu regelt die
Vorschrift in den Sätzen 1 bis 3 detailliert den Datenfluss zwischen dem Hausarzt und den übrigen beteiligten
Leistungserbringern sowie die Verarbeitung und Nutzung der Patientendaten durch den Hausarzt. Es ist kein
Sachgrund dafür erkennbar, dass der Gesetzgeber in den gesetzlich zugelassenen Fällen einer Einbeziehung
anderer Datenempfänger als Krankenkassen oder KVen, insbesondere bei einer Einschaltung von
Rechenzentren, detaillierte datenschutzrechtliche Vorgaben für erforderlich hält, in allen übrigen nicht normierten
Fällen jedoch eine Datenübermittlung an Dritte ohne Weiteres zulassen wollte. All dies verdeutlicht, dass der
Gesetzgeber wegen der Sensibilität gesundheitsbezogener Daten deren Weitergabe an Personen und
Institutionen, für die der strenge Sozialdatenschutz gemäß §§ 67 ff SGB X bzw. gemäß den bereichsspezifischen
Vorschriften des SGB V nicht gilt, von einer ausdrücklichen gesetzlichen Gestattung abhängig macht. Der
dargestellten gesetzlichen Konzeption einer auf das Unerlässliche beschränkten Weitergabe von
Gesundheitsdaten kann auch nicht entgegengehalten werden, dass sowohl hinsichtlich einer gesetzlichen
Befugnis zur Datenübermittlung als auch bezüglich der dabei zu beachtenden datenschutzrechtlichen
Anforderungen auf die Regelungen des BDSG zurückgegriffen werden kann. Nach § 1 Abs 3 Satz 1 BDSG
gehen, soweit andere Rechtsvorschriften des Bundes auf personenbezogene Daten einschließlich deren
Veröffentlichung anzuwenden sind (sogenanntes bereichsspezifisches Datenschutzrecht), diese den Vorschriften des BDSG vor. Für den
Umgang mit - vorliegend allein in Rede stehenden - Sozialdaten iS des § 67 Abs 1 Satz 1 SGB X findet das
BDSG nur noch Anwendung, soweit die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs ausdrücklich auf dieses Gesetz
verweisen (vgl BSGE 90, 162, 169 f = SozR 32500 § 284 Nr. 1 S 8 f; Bieresborn in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl 2008, Vor § 67 RdNr 18) . So bestimmt § 67b Abs 1 Satz 1
SGB X ausdrücklich - wenn auch explizit nur für die in § 35 Abs 1 SGB I genannten Stellen , dass eine
Verarbeitung von Sozialdaten und deren Nutzung nur zulässig sind, soweit die nachfolgenden Vorschriften oder
eine andere Rechtsvorschrift in diesem Gesetzbuch es erlauben. Damit wird bestimmt, dass die Befugnis zur
Datenverarbeitung ausschließlich im Sozialgesetzbuch geregelt wird (Rombach in Hauck/Noftz, SGB X, Stand: 08.2002, K § 67b RdNr 2) . Eine
entsprechende Regelung trifft § 67d Abs 1 SGB X für die Übermittlung von Sozialdaten. Auch in der Begründung
zum 2. SGBÄnderungsgesetz (BTDrucks 12/5187 S 36 f - zu § 67a Abs 2 Satz 2 Nr. 2 SGB X) wird klargestellt, dass das BDSG und die
Landesdatenschutzgesetze nicht zu den Rechtsvorschriften iS des § 67a Abs 2 Satz 2 Nr. 2 SGB X gehören,
welche eine Datenerhebung zulassen, da der Sozialdatenschutz allein den Regelungen des Sozialgesetzbuches
unterliegt (s auch BSGE 90, 1, 5 = SozR 32500 § 112 Nr. 3 S 23; Rombach in Hauck/Noftz, SGB X, Stand: 08.2002, K § 67a RdNr 92) . Dass das BDSG im
Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches keine Anwendung finden kann und soll, folgt auch daraus, dass der
Gesetzgeber detaillierte bereichsspezifische Regelungen in das Sozialgesetzbuch aufgenommen hat. Er ist damit
einer Forderung des BVerfG nachgekommen, welches ausgeführt hat, dass ein Zwang zur Abgabe
personenbezogener Daten voraussetze, dass der Gesetzgeber den Verwendungszweck bereichsspezifisch
bestimme (BVerfGE 65, 1, 46). Die bereichsspezifischen Regelungen 12 im SGB V sind zwar oftmals Bestimmungen des
BDSG nachgebildet, nehmen aber nicht lediglich auf diese Bezug. Zudem steht schon die Bedeutung, die der
Gesetzgeber dem Datenschutz im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung beimisst, der Annahme
entgegen, dass dieser zwar die Datenverwendung durch Sozialleistungsträger detaillierten bereichspezifischen
Beschränkungen unterwerfen wollte, hinsichtlich der übrigen Personen und Institutionen, die in die Verwendung
und Übermittlung von Gesundheitsdaten eingeschaltet werden, jedoch von einer hilfsweisen Anwendung der
unspezifischen Regelungen des BDSG ausgegangen werden muss (aA Mrozynski, Kommentar zum SGB I, 3. Aufl 2003, § 35 RdNr 3, der davon
ausgeht, dass die Anwendung der Vorschriften des BDSG nur soweit ausgeschlossen ist, als die Regelungen der §§ 35 SGB I, 67 ff SGB X reichen) .Angesichts der als
abschließend zu verstehenden bereichsspezifischen Regelungen ist eine entsprechende oder ergänzende
Anwendung des BDSG im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches daher ausgeschlossen. Somit kommt
insbesondere ein Rückgriff auf die nach den allgemeinen Regelungen des BDSG für eine Datenverarbeitung in
privaten Unternehmen (§§ 4 Abs 1, 4a iVm § 28 Abs 6 BDSG) mögliche Einwilligung als Ermächtigungsgrundlage für eine
Datenverarbeitung und Datenweitergabe nicht in Betracht. Zwar sieht auch § 67d iVm § 67b Abs 1 SGB X eine
Einwilligung als Ermächtigungsgrundlage vor (vgl Bieresborn, aaO, § 67d RdNr 3), doch findet diese Regelung nur auf die in § 35
Abs 1 SGB I genannten Stellen Anwendung. § 4 Abs 1 iVm § 4a BDSG bzw. § 67d iVm § 67b Abs 1 SGB X ("… oder
der Betroffene eingewilligt hat") können auch nicht analog - im Sinne eines rechtlichen Grundsatzes der Art, dass unabhängig
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von einer gesetzlichen Ermächtigung eine Datennutzung und übermittlung stets zulässig ist, sofern eine
Einwilligung desjenigen vorliegt, um dessen geschützte Daten es geht - auf Leistungserbringer angewandt
werden. Dem steht schon entgegen, dass es der Gesetzgeber an anderer Stelle für erforderlich gehalten hat, die
Zulässigkeit einer auf eine Einwilligung gestützten Datenübermittlung durch Leistungserbringer ausdrücklich zu
regeln. Dies gilt etwa für die bei der Abrechnung von Wahlleistungen im Krankenhaus mögliche Einschaltung
einer externen Abrechnungsstelle (§ 17 Abs 3 Satz 6 KHEntgG) , für den Datenaustausch zwischen Hausarzt und anderen
Leistungserbringern (§ 73 Abs 1b Satz 1 und 2 SGB V) , für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Daten bei Teilnahme
an strukturierten Behandlungsprogrammen bei chronischen Krankheiten (§ 137f Abs 3 Satz 2 SGB V) sowie für die
Abweichung von Vorschriften des SGB X zur Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten im
Rahmen von Modellvorhaben (§ 63 Abs 3a Satz 2 SGB V) . Nach alledem kann hier dahingestellt bleiben, ob die von der
Klägerin formularmäßig verwendeten Einwilligungserklärungen den Anforderungen des BDSG entsprechen und
welche Folgerungen sich ergäben, wenn dies nicht der Fall wäre. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass
schon die Einwilligung in die Erhebung, Nutzung und Verarbeitung "normaler" Daten voraussetzt, dass sie auf
einer freien Entscheidung des Betroffenen beruht (vgl § 4a Abs 1 Satz 1 BDSG, § 67b Abs 2 Satz 2 SGB X). Der Betroffene muss
tatsächlich die Möglichkeit haben, selbst darüber zu befinden, ob und unter welchen Bedingungen die sich auf
seine Person beziehenden Angaben benutzt werden dürfen (Simitis, aaO, § 4a RdNr 2). Daran fehlt es jedoch, wenn sich der
Betroffene in einer Situation befindet, die ihm keine Möglichkeit zu einer eigenen, selbstständigen Stellungnahme
lässt, die Einwilligung also nur dazu dienen würde, einen scheinbar von ihm gebilligten Vorgang rechtlich
abzusichern (Simitis, aaO, RdNr 21 mwN). 13 Insbesondere gilt dies in Fällen, in denen Leistungen auf dem Spiel stehen, die
für den Betroffenen unentbehrlich sind (Simitis, aaO, RdNr 3, 4) . Dass Personen, die medizinischer Notfallbehandlung
bedürfen, sich häufig in einer Situation befinden werden, in der sie in ihrer freien Willensbildung deutlich
eingeschränkt sind, spricht ebenfalls dafür, eine Datennutzung kraft Einwilligung jedenfalls im Bereich der
gesetzlichen Krankenversicherung nicht pauschal, sondern nur in ausdrücklich normierten Fällen zuzulassen.
Patienten sind - insbesondere in Notfallsituationen - zumindest subjektiv oftmals nicht frei in ihrer Entscheidung
für oder gegen die Einwilligung. Sie können den berechtigten Eindruck haben, im Interesse einer schnellen und
guten (Notfall)Versorgung die ihnen von dem Leistungserbringer vorgelegte Erklärung unterschreiben zu sollen. Auch
in unterversorgten ländlichen Gebieten oder bei der Inanspruchnahme besonders spezialisierter Fachärzte dürfte
eine freie Entscheidungsmöglichkeit allenfalls theoretischer Natur sein. Vor einer solchen zumindest subjektiven
Zwangslage sind die Patienten geschützt, solange keine gesetzliche Regelung existiert, welche die
Datenweitergabe durch Leistungserbringer im Krankenversicherungsrecht grundsätzlich zulässt - und den
Patienten damit zumutet, einem Wunsch des Leistungserbringers nach Einwilligung in eine Datenweitergabe ggf
ausdrücklich zu widersprechen. Die dargestellten Grundsätze gelten - solange und soweit abweichende
gesetzliche Regelungen nicht bestehen - für alle Personen und Institutionen, die Leistungen der ambulanten
Krankenbehandlung erbringen. Auf den Teilnahmestatus im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung Zulassung, Ermächtigung, Einbeziehung in die Notfallversorgung - kommt es insoweit nicht an. Die Grundsätze
sind somit ebenfalls maßgeblich, wenn Ärzte oder Zahnärzte auf der Grundlage von § 95b Abs 3 SGB V im Notfall
oder aufgrund sog "Systemversagens" weiterhin von Versicherten in Anspruch genommen werden können (vgl hierzu
BSGE 98, 294 = SozR 42500 § 95b Nr. 1, jeweils RdNr 26 f). Dasselbe gilt, soweit der Sicherstellungsauftrag ausnahmsweise durch die
Krankenkassen wahrzunehmen ist (§ 72a Abs 3 bis 6 SGB V). Welche Anforderungen bei der Weitergabe von Patientendaten
im Rahmen der besonderen hausärztlichen Versorgung (§ 73b SGB V), einer besonderen ambulanten ärztlichen
Versorgung (§ 73c SGB V) oder bei integrierten Versorgungsformen (§ 140a SGB V) zu beachten sind, bedarf hier keiner
Entscheidung. Es liegt allerdings wegen des Fehlens spezifischer Datenschutzregelungen in diesen Vorschriften
über besondere Versorgungsformen außerhalb des Sicherstellungsauftrags der KÄV nahe, dass insoweit
dieselben Grundsätze maßgeblich sein sollen. Die mit den dargestellten Bindungen der Weitergabe von sensiblen
Patientendaten verbundenen Einschränkungen der Organisation der Abrechnung bei den Leistungserbringern
und den von ihnen eingeschalteten Dienstleistern sind diesen zumutbar. Soweit damit der Schutzbereich des Art
12 Abs 1 GG berührt wird, handelt es sich um zulässige Berufsausübungsregelungen (vgl BVerfG <Kammer> NJW 1991, 2952, 2953 zu einem landesrechtlichen Verbot der externen Verarbeitung medizinischer Patientendaten eines Krankenhauses) . Ungeachtet des grundsätzlichen Verbots der
Weitergabe von Patientendaten an externe Abrechnungsstellen ist die Beklagte jedoch gehalten, durch die
Beigeladene zu 1. 14 erstellte Abrechnungen der Klägerin für eine Übergangsfrist von sechs Monaten - dh bis
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Mitte 2009 - weiterhin entgegenzunehmen und zu bescheiden. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist im Falle
der Unvereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz in bestimmten Fällen ausnahmsweise ihre weitere
Anwendung für eine Übergangszeit zulässig (stRspr, vgl etwa BVerfGE 84, 239, 284; 92, 53, 73; 117, 1, 70; zuletzt BVerfG, Beschluss vom 13.2.2008, 2 BvL 1/06 = NJW
2008, 1868, 1875) . Dies kann insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit (vgl BVerfGE 92, 53, 73 = SozR 32200 § 385 Nr. 6 S 23) sowie
dann geboten sein, wenn die (Verfassungs) Rechtslage bis zur Entscheidung des Gerichts noch nicht geklärt war (vgl
BVerfGE 84, 239, 284; BVerfG, Beschluss vom 13.2.2008, aaO). Diese Grundsätze sind hier entsprechend anzuwenden. Die Notwendigkeit,
den Beteiligten eine Reaktionszeit einzuräumen, folgt in der hier zu beurteilenden Konstellation daraus, dass die
Einschaltung privater Abrechnungsstellen zur Erstellung vertragsärztlicher Abrechnungen in der Vergangenheit
immer wieder praktiziert worden ist, ohne dass KVen oder Aufsichtsbehörden das beanstandet hätten; die
Zulässigkeit dieser Vorgehensweise war bislang nicht abschließend geklärt. Dem steht nicht entgegen, dass die
Klägerin bereits mit Schreiben der Beklagten vom 10.12.2004 und bekräftigt durch die zum 1.1.2006 in Kraft
getretene Regelung in § 4 Nr. 1 ihres HVV in zutreffender Weise auf die Rechtslage hingewiesen worden ist. Im
Hinblick auf die von der Klägerin erwirkten Entscheidungen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (Beschlüsse
des SG Düsseldorf vom 22.4.2005 bzw. des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13.9.2005), mit denen ihr eine Weiterführung der bisherigen Praxis bis "zur
endgültigen Klärung durch ein entsprechendes Hauptsacheverfahren" gewährt wurde, durfte sie bisher davon
absehen, Vorkehrungen nicht unerheblichen Umfangs für eine unmittelbare Abrechnung mit der Beklagten zu
schaffen. In Anbetracht dessen dürfen die KVen, soweit sie bislang mit Hilfe externer Abrechnungsstellen erstellte
Abrechnungen bearbeitet haben, diese Praxis daher nicht abrupt mit Bekanntwerden dieser Entscheidung
beenden. Leistungserbringer, die - wie nach ihrem nicht in Zweifel zu ziehenden Vortrag die Klägerin - seit Jahren
keine personellen Kapazitäten für die Abrechnung von Notfallbehandlungen nach den grundlegend anderen
Vergütungsregelungen in der ambulanten Versorgung mehr vorhalten, müssen sich auf die nunmehr geklärte
Rechtslage (insbesondere durch Schaffung personeller und räumlicher Kapazitäten sowie durch Beschaffung entsprechender Software und Schulung der Mitarbeiter) einstellen
können, ohne Gefahr zu laufen, tatsächlich korrekt erbrachte Leistungen nicht vergütet zu erhalten. Als
angemessene Frist dafür, dass sich die Leistungserbringer auf die ausschließliche Direktabrechnung mit der
zuständigen KÄV einstellen können, sieht der Senat einen Zeitraum von zwei Quartalen an. Das bedeutet, dass
die Abrechnung von Leistungen, die im Quartal III/2009 oder später erbracht werden, unmittelbar mit der KÄV
erfolgen muss, sofern nicht bis zu diesem Zeitpunkt gesetzliche Regelungen geschaffen werden, welche zur
Einschaltung externer Abrechnungsstellen berechtigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm § 154 Abs
1 und 3, § 159 und § 162 Abs 3 Verwaltungsgerichtsordnung. Die unterlegene Klägerin und die sie unterstützende
Beigeladene zu 1. haben die Kosten des Rechtsstreits zu gleichen Teilen zu tragen. Eine Erstattung der
außergerichtlichen Kosten der übrigen Beigeladenen ist nicht veranlasst, weil diese sich nicht am Verfahren
beteiligt und insbesondere keine Anträge gestellt haben (vgl BSGE 96, 257 = SozR 41300 § 63 Nr. 3, jeweils RdNr 16) .
BGH VI ZR 277/07 Verkündet am: 09.12.2008.
Ein zum Heilbehandlungsarzt der Berufsgenossenschaften bestellter Arzt darf nur bei den in § 35 des
Vertrags Ärzte/Unfallversicherungsträger 2001 im Einzelnen aufgeführten Verletzungen über die
Einleitung der besonderen berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung entscheiden.
Steht - wie hier - fest, dass ein Arzt dem Patienten durch fehlerhaftes und rechtswidriges Handeln einen
Schaden zugefügt hat, so muss der Arzt beweisen, dass der Patient den gleichen Schaden auch bei
rechtmäßigem und fehlerfreiem ärztlichem Handeln erlitten hätte.
SGB VII § 34 Abs. 3. GG Art. 34; BGB § 839 (Fe)
BGH, Urteil vom 9. 12.2008 - VI ZR 277/07 - OLG Karlsruhe
LG Karlsruhe
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 9. 12.2008 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr
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für Recht erkannt:
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 14.
11.2007 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1. Der Kläger begehrt von dem beklagten Facharzt für Chirurgie Schadensersatz, weil dieser als
Heilbehandlungsarzt der Berufsgenossenschaft (künftig: HArzt) fehlerhaft gehandelt habe.
2. Am 12. 07.2001 erlitt der am 21. 05.1947 geborene Kläger bei einem Arbeitsunfall eine Handverletzung. Sein
Hausarzt überwies ihn an den Beklagten, der den Kläger am 16. 07.2001 untersuchte, Röntgenbilder fertigte und
in seinem HArztBericht vermerkte: "Diagnose: Zerrung re. Handgelenk, Frakturausschluss. Art meiner
Erstversorgung: Anlage ZLV [ZinkLeimVerband], Schonung … Allgemeine Heilbehandlung: ja, durch mich …". Als
sich der Kläger am 19. 07.2001 wieder vorstellte, sah der Beklagte die Verletzung als ausgeheilt an. Der Kläger
suchte am 15. 08.2002 erneut den Beklagten und schließlich die Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg auf.
In deren Arztbrief vom 17. 10.2002 wird beschrieben, dass sowohl auf dem Röntgenbild vom 16. 07.2001 als
auch auf aktuellen MRT- und Röntgenbildern eine perilunäre Luxation des rechten Handgelenks erkennbar sei.
Weiter heißt es: "Aufgrund der jetzt alten Verletzung ist eine rekonstruktive Maßnahme nicht Erfolg
versprechend". Der Kläger kann seinen Beruf als Getränkeausfahrer nicht mehr ausüben und erhält eine Rente
nach den Bestimmungen des VII. Buches Sozialgesetzbuch.
3. Das Landgericht, dessen Urteil in Medizinrecht 2006, 728 veröffentlicht ist, hat die Klage abgewiesen, weil der
Beklagte in Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandelt habe (Art. 34 GG, § 839 BGB). Das Oberlandesgericht hat dieses
Urteil aufgehoben und der Klage stattgegeben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt der
Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
I.
4. Das Berufungsgericht (sein Urteil ist abgedruckt in Medizinrecht 2008, 368) hat die Haftung des Beklagten bejaht.
5. Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass der Kläger die perilunäre Luxation am 12. 07.2001 erlitten habe.
Dass der Beklagte die Luxation auf dem Röntgenbild vom 16. 07.2001 nicht erkannt habe, stelle einen als
Behandlungsfehler zu wertenden Diagnosefehler dar, der zu der fehlerhaften Behandlung (ZinkLeimVerband statt Reposition und
Operation), zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zur Berufsunfähigkeit des Klägers geführt habe. Die
Beweisaufnahme habe aber nicht ergeben, dass bei einer ordnungsgemäßen Behandlung dieselben Schäden
eingetreten wären. Das gehe zu Lasten des Beklagten, der in einem solchen Fall des rechtmäßigen
Alternativverhaltens die Beweislast trage. Deshalb komme es nicht mehr darauf an, dass sich überdies die
Beweislast für die Ursächlichkeit des Fehlers für den Primärschaden umkehre, weil ein grober Behandlungsfehler
vorliege.
6. Im Übrigen sei die Klage begründet sowohl hinsichtlich eines Schadensersatzanspruchs wegen entgangenen
Verdiensts in Höhe von 3.786,07 € für die Zeit vom 1.1.2003 bis 30.6.2005 als auch hinsichtlich eines Anspruchs
auf Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 €.
7. Der Beklagte hafte persönlich. Eine Haftung der Berufsgenossenschaft (Art. 34 GG, § 839 BGB) komme nicht in Betracht.
Die Rechtsprechung zum Durchgangsarzt (künftig: DArzt) sei auf den HArzt nicht übertragbar. Die Beteiligung des
HArztes an der besonderen berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung sei nach §§ 30, 35 des Vertrags
Unfallversicherungsträger/Ärzte auf besondere Arten von Verletzungen minderer Schwere begrenzt. Der HArzt
entscheide zwar darüber, ob bei diesen Verletzungen die allgemeine Heilbehandlung ausreiche oder ob eine
besondere Heilbehandlung notwendig sei. Die allgemeine Heilbehandlung dürfe er wie jeder Vertragsarzt, die
besondere (berufgenossenschaftliche) Heilbehandlung dagegen nur in einzeln aufgezählten leichteren Fällen selbst
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durchführen. In den übrigen Fällen müsse er den DArzt einschalten. Diesem sei generell die Aufgabe übertragen,
die Entscheidung für eine allgemeine oder eine besondere Heilbehandlung zu treffen. Verstoße ein HArzt gegen
seine Pflicht zur Vorstellung des Patienten und behandle er diesen selbst, so treffe er keine Entscheidung in
Ausübung einer Amtspflicht des Unfallversicherungsträgers (künftig: Berufsgenossenschaft, BG). Vielmehr habe er dem Patienten
gegenüber Pflichten aus einem privatrechtlichen Behandlungsvertrag. Der Beklagte habe im zu entscheidenden
Fall objektiv fehlerhaft die Behandlung des Klägers übernommen, da er gegen seine Pflicht zur Vorstellung des
Patienten beim DArzt verstoßen und nicht erkannt habe, dass eine Verletzung nach dem
Verletzungsartenverzeichnis vorgelegen habe. Zugleich habe er seine Pflichten aus dem Behandlungsvertrag mit
dem Kläger verletzt und hafte diesem deshalb nach §§ 823 Abs. 1, 847 BGB a.F., ohne den Kläger auf die BG
verweisen zu können.
II.
8. Das angefochtene Urteil hält einer rechtlichen Prüfung stand.
9. 1. Ohne Rechtsverstoß geht das Berufungsgericht nach sachverständiger Beratung davon aus, dass sich der
Beklagte bei der ärztlichen Behandlung des Klägers fehlerhaft verhalten und diesen dadurch geschädigt hat.
10. a) Auch die Revision stellt einen Diagnosefehler nicht in Frage. Der Beklagte erkannte auf dem Röntgenbild
vom 16. 07.2001 die perilunäre Luxation nicht, sondern ging fälschlich von einer Zerrung des rechten
Handgelenks aus. Deshalb war die konservative Behandlung zur Behandlung der perilunären Luxation, die
zunächst eine unblutige Reposition und sodann eine Operation erfordert hätte, verfehlt.
11. b) Diese Fehler haben Funktionsbeeinträchtigungen am Handgelenk, ständige Schmerzen und die
Berufsunfähigkeit des Klägers als Getränkeausfahrer verursacht. Dass sich aus den Feststellungen des
Berufungsgerichts ergeben mag, auch bei richtiger Diagnose und Behandlung werde lediglich in 70 % der Fälle
ein über den jetzigen Zustand hinausgehender Erfolg erreicht, führt entgegen der Ansicht der Revision nicht zu
Zweifeln an der Kausalität des Fehlverhaltens des Beklagten für den Schaden des Klägers. Ob Reposition und
Operation zu einem besseren oder zum selben Ergebnis geführt hätten, betrifft nicht die Kausalität der tatsächlich
durchgeführten konservativen Behandlung für den eingetretenen Schaden, sondern einen hypothetischen
Kausalverlauf bei rechtmäßigem Alternativverhalten, für den der Beklagte beweispflichtig ist (vgl. Senat, Urteil vom 15. 03.2005 - VI
ZR 313/03 - VersR 2005, 836, 837 m.w.N.). Steht - wie hier - fest, dass ein Arzt dem Patienten durch fehlerhaftes und rechtswidriges
Handeln einen Schaden zugefügt hat, so muss der Arzt beweisen, dass der Patient den gleichen Schaden auch
bei rechtmäßigem und fehlerfreiem ärztlichem Handeln erlitten hätte (vgl. Senat, Urteil vom 5. 04.2005 - VI ZR 216/03 - VersR 2005, 942 m.w.N.;
Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. B 230, C 151 m.w.N.). Dass das Berufungsgericht diesen dem Beklagten obliegenden Nachweis
als nicht geführt angesehen hat, weil bei hypothetisch richtiger Behandlung in (nur) 30 % der Fälle ein Ergebnis wie
beim Kläger eintritt, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
12. 2. Für den durch den Diagnose- und Behandlungsfehler verursachten Gesundheitsschaden des Klägers haftet
vertraglich (positive Vertragsverletzung) wie deliktisch (§§ 823 Abs. 1, 847 a.F. BGB; Art. 229 § 5 Satz 1, 8 Abs. 1 EGBGB) der Beklagte persönlich. Eine
Haftung der BG aus Art. 34 GG, § 839 Abs. 1 BGB hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler verneint, denn
der Beklagte handelte nicht in Ausübung eines ihm von der BG übertragenen öffentlichen Amtes.
13. a) Nach Art. 34 Satz 1 GG haftet anstelle eines Bediensteten, soweit dieser in Ausübung des ihm anvertrauten
öffentlichen Amts gehandelt hat, der Staat oder die Körperschaft, in dessen Dienst er steht. Die persönliche
Haftung des Bediensteten ist in diesem Fall ausgeschlossen. Ob sich das Handeln einer Person als Ausübung
eines öffentlichen Amts darstellt, bestimmt sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs danach,
ob die eigentliche Zielsetzung, in deren Sinn der Betreffende tätig wurde, hoheitlicher Tätigkeit zuzurechnen ist
und ob zwischen dieser Zielsetzung und der schädigenden Handlung ein so enger äußerer und innerer
Zusammenhang besteht, dass die Handlung ebenfalls als noch dem Bereich hoheitlicher Betätigung angehörend
angesehen werden muss. Dabei ist nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion, das heißt
auf die Aufgabe, deren Wahrnehmung die im konkreten Fall ausgeübte Tätigkeit dient, abzustellen (vgl. BGH, Urteil vom 22.
06.2006 - III ZR 270/05 - VersR 2006, 1684 m.w.N.). Nach diesen Grundsätzen hat der Beklagte bei Stellung der Diagnose nicht in
Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt und haftet daher persönlich.
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14. Die ärztliche Heilbehandlung von Kranken ist regelmäßig nicht Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne
von Art. 34 GG (vgl. BGHZ 63, 265, 270 f.). Anderes kann dann gelten, wenn der Arzt eine dem Hoheitsträger selbst
obliegende Aufgabe erledigt und ihm insoweit ein öffentliches Amt anvertraut ist. So ist etwa die ärztliche
Behandlung von Soldaten durch Truppenärzte im Rahmen der gesetzlichen Heilfürsorge Wahrnehmung einer
dem Dienstherrn obliegenden hoheitlichen Aufgabe und damit Ausübung eines öffentlichen Amtes (BGHZ 108, 230).
Dagegen ist die ärztliche Behandlung nach einem Arbeitsunfall keine der BG obliegende Aufgabe. Das hat der
Bundesgerichtshof unter Geltung der Reichsversicherungsordnung ausgesprochen. Aufgabe der BG gemäß §
557 Abs. 2 RVO sei lediglich, "alle Maßnahmen zu treffen", durch die eine möglichst bald nach dem Arbeitsunfall
einsetzende, schnelle und sachgemäße Heilbehandlung "gewährleistet" werde. Die Heilbehandlung als solche
stelle dagegen keine der BG obliegende Pflicht dar (vgl. Senat, BGHZ 126, 297, 301; Urteil vom 20. 09.1988 - VI ZR 37/88 - VersR 1988, 1273; vgl. auch Urteil vom
24. 11.1970 - VI ZR 215/68 - VersR 1971, 251 ff.; BGHZ 63, 265, 271 f.). Nach Inkrafttreten von § 34 Abs. 1 SGB VII, der § 557 Abs. 2 RVO
ersetzte, hat sich daran nichts geändert (vgl. Senat, Beschluss vom 4. 03.2008 - VI ZR 101/07 - juris). Auch nach dieser Bestimmung haben
"die Unfallversicherungsträger ... alle Maßnahmen zu treffen, durch die eine möglichst frühzeitig nach dem
Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung und, soweit erforderlich, besondere
unfallmedizinische oder Berufskrankheiten-Behandlung gewährleistet wird". Der Arzt, der die Heilbehandlung
durchführt, übt deshalb kein öffentliches Amt aus und haftet für Fehler persönlich (Benz in Hauck, SGB VII, § 28 Rn. 15; KassKomm/Ricke,
Sozialversicherungsrecht, Stand: 1. 10.2008, § 34 SGB VII Rn. 3). Insoweit bestehen keine wesentlichen Unterschiede zur Tätigkeit des
Vertragsarztes (Kassenarztes), dessen Verhältnis zu den gesetzlich Krankenversicherten privatrechtlicher Natur ist (vgl. § 76
Abs. 4 SGB V, früher § 368d Abs. 4 RVO).
15. b) Allerdings wird nach diesen Grundsätzen die Tätigkeit eines DArztes nicht in vollem Umfang dem
Privatrecht zugeordnet.
16. aa) Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat bereits in seinem Urteil vom 9. 12.1974 (BGHZ 63, 265, 272 ff.)
dargelegt, dass die Berufsgenossenschaften verpflichtet seien, alle Maßnahmen zu treffen, durch die eine
schnelle und sachgemäße Heilbehandlung gewährleistet werde (§ 557 Abs. 2 Satz 1 RVO), und Verletzte, bei denen dies
angezeigt sei, in besondere berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung zu nehmen (§ 1 der Bestimmungen des früheren
Reichsversicherungsamtes vom 19. 06.1936 - RABl IV S. 195). Deshalb erfülle der DArzt bei der Entscheidung, ob im Einzelfall ein Verletzter
in die berufsgenossenschaftliche Heilbehandlung übernommen werden solle, eine der Berufsgenossenschaft
obliegende Pflicht. Das spreche dafür, diese Entscheidung als Ausübung eines öffentlichen Amtes zu betrachten.
Dem hat sich der erkennende Senat angeschlossen (vgl. Senat, BGHZ 126, 297, 300).
17. bb) Daran hat sich durch die gesetzliche Neuregelung nichts geändert. Die Möglichkeit einer Fürsorge der
Krankenkasse (§ 565 RVO) ist zwar seit dem 1. 01.1991 entfallen, weil gemäß § 11 Abs. 5 (früher: Abs. 4) SGB V Leistungen
auf Grund von Arbeitsunfällen nur noch von der BG zu erbringen sind (vgl. BSG, SGb 1999, 417, 418; Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 3. Aufl., Rn.
5; Jung, Festschrift 50 Jahre BSG, S. 533, 538). Aber der früheren Entscheidung, ob ein Verletzter in die berufsgenossenschaftliche
Heilbehandlung übernommen werden sollte, entspricht die nunmehr gemäß § 34 Abs. 1 SGB VII zu treffende
Entscheidung, ob es erforderlich ist, eine besondere unfallmedizinische oder Berufskrankheiten-Versorgung
einzuleiten. Insoweit stellen die BG die Heilverfahrensarten "allgemeine Heilbehandlung" und "besondere
Heilbehandlung" zur Verfügung (vgl. BereiterHahn/Mehrtens, SGB VII, § 34 Rn. 4). Das ergibt sich aus dem von dem Hauptverband der
gewerblichen Berufsgenossenschaften, dem Bundesverband der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften,
dem Bundesverband der Unfallkassen einerseits und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung andererseits über
die Durchführung der Heilbehandlung, die Vergütung der Ärzte sowie die Art und Weise der Abrechnung der
ärztlichen Leistungen gemäß § 34 Abs. 3 SGB VII abgeschlossen Vertrag in der ab 1. 05.2001 gültigen alten
Fassung (künftig: Vertrag 2001; seit 1. 04.2008 aktuelle Fassung - künftig: Vertrag 2008). Gemäß § 12 Abs. 1 Vertrag 2001 wird Heilbehandlung
grundsätzlich als allgemeine Heilbehandlung gewährt. Das ist gemäß § 10 Vertrag 2001 "die ärztliche Versorgung
einer Unfallverletzung, die nach Art und Schwere weder eines besonderen personellen, apparativtechnischen
Aufwandes noch einer besonderen unfallmedizinischen Qualifikation des Arztes bedarf". Sie darf nach § 6 Abs. 3
Nr. 1 Vertrag 2001 von allen Ärzten geleistet werden, die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen oder
von den BG zugelassen sind, und entspricht - bezogen auf Art und Schwere der Verletzung - der bis 31. 12.1990
maßgeblichen Fürsorge der Krankenkasse (Wannagat/Jung, Sozialgesetzbuch, § 34 SGB VII Rn. 14). Dagegen ist besondere
Heilbehandlung gemäß § 11 Vertrag 2001 die "fachärztliche Behandlung einer Unfallverletzung, die wegen Art
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und Schwere besondere unfallmedizinische Qualifikation verlangt". Sie darf nach § 6 Abs. 3 Nr. 2 Vertrag 2001
nur durch von der BG zugelassene oder besonders beauftragte Ärzte geleistet werden; die freie Arztwahl ist
eingeschränkt (§ 28 Abs. 4 Satz 2 SGB VII; vgl. Wannagat/Jung, aaO, § 28 SGB VII Rn. 5). Ob die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung
erforderlich ist, entscheidet grundsätzlich der DArzt (§ 27 Abs. 1 Vertrag 2001) nach Art und Schwere der Verletzung (vgl. § 28 Abs. 4
SGB VII). Bei dieser Entscheidung erfüllt er eine der BG obliegende Aufgabe und übt damit ein öffentliches Amt aus
(vgl. Senat, Beschluss vom 4. 03.2008 - VI ZR 101/07 - juris). Ist seine Entscheidung über die Art der Heilbehandlung fehlerhaft und wird der
Verletzte dadurch geschädigt, haftet in diesem Fall für Schäden nicht der DArzt persönlich, sondern die BG (Art. 34
GG, § 839 BGB). Das entspricht der einhelligen Ansicht auch in der Literatur. Streit besteht lediglich hinsichtlich der
Frage, ob der DArzt auch bei Untersuchung zur Diagnosestellung, bei der Diagnosestellung und bei
Überwachung des Heilerfolges ein öffentliches Amt ausübt (vgl. Frahm/Nixdorf, aaO; HK AKM/Lissel, Nr. 1540 Rn. 28; Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des
Arztrechts, 3. Aufl., § 40 Rn. 33; Ratzel/Luxenburger/Lissel, Medizinrecht, § 36 Rn. 27; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl., Rn. 7; Benz in Hauck, SGB VII, K § 26 Rn. 51 und K § 28 Rn. 15;
BereiterHahn/Mehrtens, SGB VII, § 28 Rn. 6 und § 34 Rn. 8.1; Brackmann/Krasney, SGB VII, § 34 Rn. 7; Noeske/Franz, Erläuterungen zum Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger, Zu § 27 Rn. 1.1;
Plagemann/RadtkeSchwenzer, Unfallversicherung, 2. Aufl., Kap. 5 Rn. 18; Schmitt, SGB VII, 3. Aufl., § 34 Rn. 13)
. Diese Frage bedarf im Streitfall jedoch keiner
Entscheidung.
18. c) Die genannten Grundsätze sind nämlich nicht in gleicher Weise auf den HArzt zu übertragen.
19. aa) In den in § 35 Vertrag 2001 genannten Fällen obliegt allerdings auch einem HArzt die Entscheidung, ob
und in welcher Weise der Verletzte in die besondere Heilbehandlung der BG übernommen werden soll. Damit
korrespondiert § 12 Abs. 1 Vertrag 2001, wonach eine besondere Heilbehandlung vom DArzt, vom HArzt ("DArzt light",
vgl. Pfeifer, ZMGR 2006, 125, 128 in Fn. 30) oder von der BG eingeleitet wird. Hiernach macht es haftungsrechtlich keinen
Unterschied, ob die Entscheidung vom DArzt oder vom HArzt getroffen wird. Insoweit erfüllt auch letzterer eine
Aufgabe der BG und übt damit ein öffentliches Amt aus (LG Karlsruhe, MedR 2006, 728; HK AKM/Lissel, Nr. 2370 Rn. 29; Ratzel/Luxenburger/Lissel, aaO, § 36
Rn. 31; Rieger, Lexikon des Arztrechts, 1984, Rn. 816; Wolber, Die Sozialversicherung 1982, 263, 265). Die gegenteilige Auffassung, die das generell verneint
(Pfeifer, aaO, 128 ff.; Schmitt, Leistungserbringung durch Dritte im Sozialrecht, S. 299 und 308), überzeugt nicht. Nach allgemeinen Grundsätzen ist
regelmäßig nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion abzustellen, also auf die Aufgabe,
deren Wahrnehmung die im konkreten Fall ausgeübte Tätigkeit dient (vgl. BGH, Urteil vom 22. 06.2006 - III ZR 270/05 - aaO). Diese ist in
den Fällen des § 12 Vertrag 2001 dieselbe. Unerheblich ist, dass die Beteiligung eines Arztes am HArztVerfahren
(dazu BSGE 97, 47) geringeren Anforderungen unterliegt als beim DArztVerfahren. Damit korrespondiert ein kleineres
Aufgabengebiet (vgl. BSGE 37, 267, 269). Der HArzt soll in erster Linie zugelassene DÄrzte entlasten, die allein eine
flächendeckende besondere Heilbehandlung nicht gewährleisten könnten (Noeske/Franz, aaO, Zu § 30). Das entscheidende
Instrument zur Steuerung (vgl. § 12 Abs. 2 Vertrag 2001) und zum Controlling (vgl. § 29 Vertrag 2001) des berufsgenossenschaftlichen
Heilverfahrens (Benz in Hauck, SGB VII, K § 34 Rn. 24) ist das DArztVerfahren. Deshalb sind durch einen Arbeitsunfall Verletzte
grundsätzlich dem DArzt vorzustellen, nicht dem HArzt (§ 26 Abs. 1 Vertrag 2001).
20. bb) Dieser kann ausschließlich in den in § 35 Vertrag 2001 genannten Fällen eine besondere Heilbehandlung
einleiten (§ 12 Abs. 1 Vertrag 2001) und von einer Vorstellung beim DArzt absehen, diesen also "ersetzen" (§ 33 Vertrag 2001). § 35
Vertrag 2001 ordnet an, dass der HArzt eine besondere Heilbehandlung nicht "durchführen" darf, wenn keine der
dort oder eine der im Verletzungsartenverzeichnis (Anhang 1 zum Vertrag 2001) genannten Verletzungen vorliegen. Er darf
auch nicht über die Einleitung der besonderen Heilbehandlung in diesen Fällen entscheiden (Noeske/Franz, aaO, Zu § 30), weil
ihm diese Aufgabe nicht übertragen worden ist. Darauf haben auch die Landesverbände der gewerblichen
Berufsgenossenschaften in einem Rundschreiben vom 7. 11.2003 hingewiesen (abgedruckt bei Noeske/Franz, aaO, Anlage Zu § 58, Seite A
2). Deutlich ergibt sich dies nunmehr aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 Vertrag 2008. Nach dieser Bestimmung ist
der HArzt zur Einleitung der besonderen Heilbehandlung ausschließlich "in den Fällen des § 35" berechtigt;
insoweit liegt keine Änderung von § 12 Vertrag 2001, sondern eine redaktionelle Klarstellung vor (vgl. DÄ 2008, A 285).
Handelt es sich um eine im Verletzungsartenverzeichnis genannte Verletzung, muss der HArzt den Verletzten an
ein am Verletzungsartenverfahren beteiligtes Krankenhaus und den dortigen DArzt überweisen (§§ 35, 37 Vertrag 2001).
Dem HArzt ist in solchen Fällen also nicht die der BG obliegende Entscheidung übertragen, ob und in welcher
Weise der Verletzte in die besondere Heilbehandlung übernommen werden soll. Vielmehr gleicht er insoweit
einem Vertragsarzt in der gesetzlichen Krankenversicherung, der den Verletzten unter den in § 26 Vertrag 2001
genannten Voraussetzungen beim DArzt vorstellen muss. Eine Entscheidungskompetenz ist dem Vertragsarzt
und auch dem HArzt damit - anders als dem DArzt - nicht eingeräumt. Dass bei einem Verstoß gegen die
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 72
Vorstellungspflicht die Entscheidung über die Einleitung der besonderen Heilbehandlung faktisch verhindert wird,
hat nicht zur Folge, dass der HArzt dabei dem Verletzten gegenüber in Ausübung eines von der BG übertragenen
öffentlichen Amtes handelt.
21. d) Über eine solche Fallgestaltung ist hier zu entscheiden. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der
Kläger eine in Nr. 15.4 des damaligen Verletzungsartenverzeichnisses ausdrücklich genannte Verletzung erlitten
hatte (vgl. Anhang 1 zum Vertrag 2001; vgl. heute Nr. 8). Es handelt sich also nicht um einen Fall, in welchem dem HArzt eine
Entscheidung für die BG übertragen war. Der Beklagte handelte daher nicht in Ausübung eines öffentlichen
Amtes für die BG. Eine Haftung der BG gemäß Art. 34 GG, § 839 BGB kommt bei einer solchen Fallgestaltung
nicht in Betracht.
22. 3. Ebenfalls nicht zu einer Haftung der BG führen Fehler des Beklagten bei der Diagnosestellung oder der von
ihm durchgeführten allgemeinen Heilbehandlung. Teilweise wird allerdings eine Haftung der BG für die Folgen
eines Diagnosefehlers dann bejaht, wenn die Diagnose der Entscheidung des Arztes dient, ob die besondere
Heilbehandlung einzuleiten sei, weil eine einheitliche Aufgabe nicht in haftungsrechtlich unterschiedlich zu
beurteilende Tätigkeitsbereiche aufgespalten werden dürfe (HK AKM/Lissel, Nr. 2370 Rn. 29; das wird auch in Bezug auf den DArzt vertreten: HK AKM/Lissel,
Nr. 1540 Rn. 28; Olzen, aaO, 135; Ratzel/Luxenburger/Lissel, aaO, § 36 Rn. 27; Wank, SGb 1995, 316, 317; dem folgend OLG Schleswig, GesR 2007, 207; LG Karlsruhe, MedR 2006, 728). Eine
solche Fallgestaltung liegt hier nicht vor. Der Beklagte ist vielmehr im Bereich der allgemeinen Heilbehandlung
tätig geworden. Er hatte durch §§ 35, 37 Vertrag 2001 bei der Verletzung des Klägers keine
Entscheidungskompetenz eingeräumt erhalten und durfte nicht für die BG tätig werden. - 14 23. Soweit nach einer in Teilen der Literatur und der Rechtsprechung vertretenen Ansicht noch weitergehend die
gesamte Tätigkeit eines DArztes bis zur Entscheidung über das "Ob und Wie", also etwa auch die Erstversorgung
(§ 27 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII) und die Diagnosestellung, als Ausübung eines öffentlichen Amtes angesehen wird (vgl. Kreft in LM Art. 34 GG
Nr. 99a Bl. 71 f.; K. Müller SGb 1975, 511 f.; Pfeifer, aaO, 126 f.; Stein/Itzel/Schwall, Praxishandbuch des Amts- und Staatshaftungsrechts, Rn. 618; Wolber, aaO, 264; OLG Schleswig, aaO), nimmt
der Senat Bezug auf seinen Beschluss vom 4. 03.2008 (- VI ZR 101/07 - juris): Wenn in BGHZ 126, 297, 301 von einer
Zäsur durch die Entscheidung über das "Ob und Wie" die Rede ist, durch welche die (anschließende) ärztliche
Behandlung dem Privatrecht unterfällt, versteht sich dies als inhaltliches Abgrenzungskriterium, nicht als
zeitliches; ein Nebeneinander der Pflichtenkreise bei der Erstbehandlung und möglicherweise auch bei der
Diagnosestellung ist daher nicht ausgeschlossen. Gleiches gilt für den HArzt.
24. 4. Ohne Erfolg beanstandet die Revision schließlich, das Berufungsgericht habe die Klage teilweise abweisen
müssen, weil bei fehlerfreier Behandlung die Verletzung zwar nicht ohne Folgen ausgeheilt, aber jedenfalls eine
Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 % zurückgeblieben wäre. Ob sich das Berufungsgericht eine solche
Überzeugung gebildet und entsprechende Feststellungen getroffen hat, kann dabei offen bleiben.
25. a) Selbst wenn dem Vortrag der Revision zu folgen wäre, wäre eine teilweise Abweisung des
Feststellungsantrages nicht geboten. Zwar führt die Rechtskraft eines Feststellungsurteils, in dem die
Schadensersatzpflicht des in Anspruch genommenen Schädigers festgestellt worden ist, dazu, dass
Einwendungen, die sich auf Tatsachen stützen, welche schon zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung
vorgelegen haben, nicht mehr berücksichtigt werden dürfen, soweit sie das Bestehen des festgestellten
Anspruchs betreffen. Der Einwand der Revision, der Diagnose- und Behandlungsfehler des Beklagten sei für eine
Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers von 30 % nicht kausal gewesen, stellt aber nicht den Grund des
festgestellten Schadensersatzanspruchs in Frage, sondern betrifft die haftungsausfüllende Kausalität zwischen
dem durch den Diagnose- und Behandlungsfehler verursachten Gesundheitsschaden und möglichen
Folgeschäden des Klägers (§ 287 ZPO). Einwendungen wären insoweit in einem Folgeprozess zu klären (vgl. Senat, Urteile vom
24. 01.1995 - VI ZR 354/93 - VersR 1995, 469 ff.; vom 28. 06.2005 - VI ZR 108/04 - VersR 2005, 1159, 1160).
26. b) Konkrete Rügen in Bezug auf den Leistungsantrag erhebt die Revision nicht. Wo das Gesetz dem Tatrichter
ein Ermessen einräumt (§ 847 BGB a.F., § 287 ZPO), kann das Revisionsgericht lediglich überprüfen, ob das Ermessen
ausgeübt worden ist, ob die Grenzen der Ermessensausübung eingehalten wurden und ob alle wesentlichen
Umstände Beachtung gefunden haben (vgl. Senat, Urteil vom 8. 06.1976 - VI ZR 216/74 - VersR 1976, 967; Zöller/Gummer, ZPO, 27. Aufl., § 546 Rn. 14). Fehler
dieser Art in Bezug auf das festgesetzte Schmerzensgeld (§ 847 a.F. BGB) beanstandet die Revision nicht; solche sind
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 73
auch nicht ersichtlich. Die Revision zeigt ferner keinen tatsächlichen Vortrag dazu auf, dass der Verdienstentgang
des Klägers vom 1. 01.2003 bis 30. 06.2005 bei richtiger Behandlung geringer gewesen wäre.
27. 5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr
Vorinstanzen: LG Karlsruhe, Entscheidung vom 03.02.2006 - 4 O 587/05 - OLG Karlsruhe, Entscheidung vom
14.11.2007 - 7 U 101/06 –
BGH VI ZR 198/07 Verkündet am: 18.11.2008.
Verurteilung des Arztes, der keine Behandlungsfehler, aber eine unzureichende Risikoaufklärung
durchführte. Er hatte bei der Aufklärung nur ein „Schlaganfallrisiko“, jedoch kein „erhöhtes
Schlaganfallrisiko“ erwähnt. BGB § 823 Aa; ZPO § 531 Abs. 2. Wird der Einwand der hypothetischen
Einwilligung erst im zweiten Rechtszug erhoben, handelt es sich grundsätzlich um ein neues
Verteidigungsmittel im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO.
BGH, Urteil vom 18. 11.2008 - VI ZR 198/07 - OLG Oldenburg , LG Aurich
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 18. 11.2008 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Wellner, die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll für
Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 4.
07.2007 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1. Die Klägerin macht gegen die Beklagte als Trägerin eines Krankenhauses materiellen und immateriellen
Schadensersatz nach einer digitalen Subtraktionsangiographie des Kopfes (künftig: DSA) geltend.
2. Die Klägerin musste sich 1975 einer Gehirnoperation unterziehen und erlitt 1987 einen Schlaganfall. Seitdem
war sie rechtsseitig gelähmt. Im Jahr 2002 traten beidseitige Ponsblutungen (Gehirnblutungen) auf. Im 09.2003 verstarb
eine Nichte der Klägerin infolge einer Aneurysmenruptur. Am 20. 11.2003 wurde die Klägerin "wegen vor
dreieinhalb Wochen für einen Tag bestehender Kopfschmerzen links im Hinterhaupt- und Scheitelbereich und in
einem ambulanten CCT beschriebenen Blutung rechts paramedian im Ponsbereich" stationär in die neurologische
Abteilung des Krankenhauses der Beklagten aufgenommen. Am 26. 11.2003 führte der Radiologe Dr. V. mit der
Klägerin ein Aufklärungsgespräch für eine DSA, die er am Folgetag vornahm. Hierbei erlitt die Klägerin Infarkte im
Bereich des Thalamus beidseits sowie im Hirnstamm. Seitdem leidet sie an weiteren erheblichen
Gesundheitsbeeinträchtigungen.
Das Landgericht hat einen Behandlungsfehler verneint, aber eine fehlerhafte Risikoaufklärung angenommen. Es
hat daher ein Schmerzensgeld in Höhe von € 25.000 zuerkannt sowie dem Feststellungsantrag stattgegeben. Das
Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen
Revision verfolgt die Beklagte ihren Klagabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
I.
4. Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Urteil in VersR 2008, 124 f. veröffentlicht ist, steht der
Klägerin der zugesprochene Schadensersatz gemäß den §§ 280, 249, 253 BGB, §§ 823, 249, 253 BGB zu, weil
die Einwilligung der Klägerin in den Eingriff mangels hinreichender Aufklärung unwirksam gewesen sei.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 74
5. Zwar stehe fest, dass der Zeuge Dr. V. eine Risikoaufklärung vorgenommen und dabei das Schlaganfallrisiko
als Komplikationsmöglichkeit genannt habe. Zudem sei davon auszugehen, dass er das Schlaganfallrisiko nicht
verharmlost habe. Die Aufklärung sei aber nicht ordnungsgemäß gewesen, da der aufklärende Arzt die Klägerin
nicht darüber informiert habe, dass das Schlaganfallrisiko in ihrem Fall erhöht gewesen sei, weil sie bereits vor
der Untersuchung unstreitig einen Schlaganfall erlitten hatte. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr.
S. sei das Risiko, dass bei einer zerebralen angiographischen Untersuchung eine Komplikation auftrete, doppelt
so hoch, wenn der Patient bereits zuvor einen Schlaganfall erlitten habe, so dass das Risiko vorübergehender
zerebral ischämischer Komplikationen auf 2 - 4 %, das Risiko permanenter Komplikationen, insbesondere von
Schlaganfällen, auf 1 % ansteige. Zwar müsse der Arzt nicht generell über die statistische Wahrscheinlichkeit
einer Komplikation aufklären. Das entbinde ihn aber nicht von der Verpflichtung, auf eine signifikante Erhöhung
eines Risikos hinzuweisen. Eine solche sei hier anzunehmen. Zwar habe sich das Risiko einer permanenten
Schädigung lediglich um 0,5 % auf 1 % erhöht. Doch habe es sich für die Klägerin verdoppelt und könne nicht
mehr als sehr selten, sondern müsse vielmehr mit "selten" oder gar "gelegentlich" bewertet werden.
7. Der erstmals in zweiter Instanz von den Beklagten geäußerte Einwand einer hypothetischen Einwilligung sei
gemäß § 531 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Zwar deute der unstreitige Sachverhalt darauf hin, dass sich die
Klägerin auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung für den Eingriff entschieden hätte. Dies könne jedoch offen
bleiben. Denn das neue Vorbringen sei jedenfalls verspätet. Allerdings sei diese Frage höchstrichterlich nicht
geklärt und darum die Revision zuzulassen.
II.
8. Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Revision im Ergebnis stand.
9. 1. Die uneingeschränkt eingelegte Revision ist zulässig (§ 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Das Berufungsgericht hat zwar
ausgeführt, die Revision werde zugelassen, weil bislang eine Entscheidung des Revisionsgerichts zu der Frage
nicht vorliege, ob bei unstreitigem Sachverhalt der Einwand einer hypothetischen Einwilligung in den ärztlichen
Eingriff erstmals in zweiter Instanz erhoben werden könne. Darin liegt aber keine Beschränkung der Revision auf
eine bestimmte Rechtsfrage, was unzulässig wäre (vgl. BGH, BGHZ 101, 276, 278; 111, 158, 166; Urteil vom 7. 07.1983 - III ZR 119/82 - VersR 1984, 38; Beschlüsse
vom 17. 12.1980 - IVb ZB 499/80 - FamRZ 1981, 340; vom 4. 12.2007 - XI ZR 144/06 - NJW 2008, 1312, 1313). Das Berufungsgericht hat vielmehr nur erläutert,
warum es die Revision zugelassen hat.
10. 2. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht zu der Überzeugung gelangt ist, dass die Klägerin
nicht ausreichend über ihr Schlaganfallrisiko aufgeklärt wurde.
11. a) Zwar muss nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats die Aufklärung nicht über jede, noch so
entfernt liegende Gefahrenmöglichkeit erfolgen. Der Patient muss nur "im Großen und Ganzen" wissen, worin er
einwilligt. Dazu muss er über die Art des Eingriffs und seine nicht ganz außerhalb der Wahrscheinlichkeit
liegenden Risiken informiert werden, soweit diese sich für einen medizinischen Laien aus der Art des Eingriffs
nicht ohnehin ergeben und für seine Entschließung von Bedeutung sein können. Dies bedeutet nicht, dass die
Risiken in allen erdenkbaren Erscheinungsformen aufgezählt werden müssen. Es muss aber eine allgemeine
Vorstellung von der Schwere des Eingriffs und den spezifisch mit ihm verbundenen Risiken vermittelt werden,
ohne diese zu beschönigen oder zu verschlimmern (vgl. Senatsurteile BGHZ 90, 103, 106, 108; 144, 1, 5).
12. Bei einem spezifisch mit der Therapie verbundenen Risiko hängt die Erforderlichkeit der Aufklärung aber nicht
davon ab, wie oft das Risiko zu einer Komplikation führt ("Komplikations- oder Risikodichte"). Entscheidend ist vielmehr die
Bedeutung, die das Risiko für die Entschließung des Patienten haben kann. Kommt eine besonders schwere
Belastung für seine Lebensführung in Betracht, so ist die Information über ein solches Risiko für die Einwilligung
des Patienten auch dann von Bedeutung, wenn sich das Risiko sehr selten verwirklicht (vgl. Senatsurteile BGHZ 90, 103, 107; 144, 1, 5
f.; vom 2. 11.1993 - VI ZR 245/92 - VersR 1994, 104, 105).
13. Die Aufklärung hat patientenbezogen und damit den Umständen des konkreten Falles entsprechend zu
erfolgen (vgl. Senatsurteile vom 4. 11.1975 - VI ZR 226/73 - VersR 1976, 293, 294; vom 22. 04.1980 - VI ZR 37/79 - VersR 1981, 456, 457). Der Aufklärungsumfang wird
hierbei einerseits durch das Gewicht der medizinischen Indikation bestimmt, das sich wiederum aus der
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 75
Notwendigkeit des Eingriffs, seiner zeitlichen Dringlichkeit und den Heilungschancen ergibt, andererseits ist
insbesondere die Schwere der Schadensfolgen für die Lebensführung des Patienten im Fall der
Risikoverwirklichung mitbestimmend (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl. 2006, C Rn. 49). Bei diagnostischen Eingriffen ohne therapeutischen Eigenwert - wie der DSA
- sind deshalb grundsätzlich strengere Anforderungen an die Aufklärung des Patienten über damit verbundene Risiken zu stellen (vgl. Senatsurteil vom 15. 05.1979 - VI ZR 70/77 - VersR 1979, 720, 721; OLG
Düsseldorf VersR 1984, 643, 645 (Angiographie) mit Nichtannahmebeschluss des BGH vom 3. 04.1984 - VI ZR 173/83 ; OLG Stuttgart VersR 1988, 832, 833 (Angiographie); OLG Koblenz NJWRR 2002, 816,
. Bei ihnen bedarf es einer
besonders sorgfältigen Abwägung zwischen der diagnostischen Aussagekraft, den Klärungsbedürfnissen und den
besonderen Risiken für den Patienten (vgl. Senatsurteil vom 4. 04.1995 - VI ZR 95/94 - VersR 1995, 1055, 1056).
818 (Angiographie); Geiß/Greiner, aaO; Katzenmeier, Arzthaftungsrecht, 2002, S. 328; Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 68 Rn. 12)
14. b) Nach diesen Grundsätzen war es im Streitfall erforderlich, die Klägerin nicht nur über das bei einer DSA
grundsätzlich bestehende Schlaganfallrisiko aufzuklären, sondern ihr auch mitzuteilen, dass dieses Risiko für sie
durch ihre Vorgeschichte erhöht war.
15. In dem vom Zeugen Dr. V. geführten Aufklärungsgespräch wurde aber nicht auf das erhöhte
Schlaganfallrisiko der Klägerin wegen des bereits erlittenen Schlaganfalls hingewiesen. Auch in dem von der
Klägerin unterzeichneten Formularaufklärungsbogen war dieses nur undeutlich angesprochen, wenn es heißt,
dass sehr selten Hirndurchblutungsstörungen durch abgelöste und in das Gehirn verschleppte
Gefäßwandablagerungen eintreten könnten, wodurch es ausnahmsweise zu einem Schlaganfall mit bleibenden
Schäden kommen könne. Dies weist zwar auf das grundsätzlich bestehende Schlaganfallrisiko hin. Auch der
weitere Hinweis, dass das Risiko bei bereits bestehenden Nerven/und/oder schweren Gefäßschäden erhöht sei,
macht aber das bei der Klägerin wegen des erlittenen früheren Schlaganfalls bestehende besondere Risiko nicht
ausreichend klar.
16. Unter diesen Umständen ist die Würdigung des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden, dass die Klägerin
nicht vollständig aufgeklärt worden ist. Es kommt insoweit entscheidend darauf an, ob ihr alle spezifischen Risiken
aufgezeigt worden sind, die für ihre Einwilligung in den Eingriff ernsthaft ins Gewicht fallen könnten. Deshalb hat
das Berufungsgericht zu Recht angenommen, dass die Klägerin auch darüber hätte aufgeklärt werden müssen,
dass bei ihr ein erhöhtes Risiko bestand, bei der zerebralen Angiographie einen weiteren Schlaganfall zu erleiden.
Im Hinblick auf die besonders schwere Belastung für die Lebensführung der Klägerin bei Verwirklichung eines
weiteren Schlaganfalls konnte die Information über das bei ihr bestehende besondere Risiko für ihre Einwilligung
ernsthaft ins Gewicht fallen. Nur wenn ihr das bei ihr bestehende individuelle Risiko bekannt war, hatte sie alle
notwendigen Informationen für die Entscheidung, ob sie die diagnostische Maßnahme für die ihr vorgeschlagene
Klärung ihrer atypischen Hirnblutung vornehmen ließ.
17. 3. Die Revision hat auch keinen Erfolg, soweit sie zur Überprüfung des Senats stellt, ob der vom
Berufungsgericht herangezogene Sachverständige fachlich geeignet war, sich zum Inhalt eines radiologischen
Aufklärungsgesprächs zu äußern.
18. Die Auswahl des Sachverständigen steht im Ermessen des Gerichts. Es liegt jedoch eine fehlerhafte
Ermessensausübung vor, wenn das Gericht einen Sachverständigen aus einem falschen Sachgebiet ausgewählt
hat (§ 404 Abs. 1 Satz 1 ZPO; vgl. Senatsurteil vom 16. 03.1999 - VI ZR 34/98 - VersR 1999, 716; BGH, Urteil vom 25. 02.1953 - II ZR 172/52 - NJW 1953, 659 f.; BAG, Urteil vom 20. 10.1970 - 2 AZR
497/69 - AP Nr. 4 zu ZPO § 286; ZöllerGreger, ZPO, 26. Aufl., § 404 Rn. 1). Grundsätzlich ist bei der Auswahl auf die Sachkunde in dem
medizinischen Fachgebiet abzustellen, in das der Eingriff fällt (vgl. OLG Hamm VersR 2001, 249 mit Nichtannahmebeschluss des Senats vom 20. 10.2000 VI ZR 129/00; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 2. Aufl., S. 686 m.w.N.). Hierfür können die fachärztlichen Weiterbildungsordnungen
herangezogen werden (vgl. OLG Naumburg, Urteil vom 13. 03.2003 - 1 U 34/02 - juris Rn. 45 = OLGR Naumburg 2003, 348 (nur Leitsatz); LSG Niedersachsen, Urteil vom 23. 04.1997 - L 5
Ka 89/95 - juris Rn. 25; Stegers/Hansis/Alberts/Scheuch, Sachverständigenbeweis im Arzthaftungsrecht, 2. Aufl., Rn. 62). Soweit ein Eingriff mehrere Fachbereiche
berührt, kommt es darauf an, welchem Fachbereich die konkrete Beweisfrage zuzuordnen ist.
19. Die DSA gehört zur radiologischen Diagnostik und damit zum Weiterbildungsgebiet der diagnostischen
Radiologie, insbesondere Neuroradiologie (vgl. Masuhr/Neumann, Neurologie, 6. Aufl., S. 140; Weiterbildungsordnung (WBO) der Landesärztekammer Baden-Württemberg,
Stand 1. 10.2003, S. 31 f.). Diese Diagnostik ist zugleich eine unerlässliche Erkenntnisquelle für die neurologische oder
neurochirurgische Behandlung (vgl. Delank/Gehlen, Neurologie, 11. Aufl., S. 81). Ihre Indikationsstellung, Methodik und
Befundbewertung gehören daher auch zur neurologischen Weiterbildung (zum Beispiel: WBO der Landesärztekammer Baden-Württemberg, aaO,
S. 58). Der vorliegende Fall berührt somit beide Fachgebiete.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 76
20. Unter diesen Umständen ist die - in beiden Tatsacheninstanzen von den Parteien nicht beanstandete Auswahl eines Facharztes für Neurologie und Neurochirurgie als Sachverständigen nicht ermessensfehlerhaft,
obgleich die DSA von einem Radiologen durchgeführt worden ist und der Sachverständige nicht selbst als
verantwortlicher Arzt zerebrale Angiographien vorgenommen hat. Das Berufungsgericht hat darauf abgestellt,
dass es hier nicht um Fehler des Arztes bei der Durchführung der Untersuchung, sondern um Risiken geht, die
mit einer zerebralen Angiographie verbunden sind. Diese Risiken beträfen vorrangig Schädigungen des Gehirns,
so dass die Beantwortung der Beweisfrage in den Fachbereich eines Facharztes für Neurologie und
Neurochirurgie und damit in den des Sachverständigen Dr. S. falle. Dies lässt einen Ermessensfehler des
Tatrichters nicht erkennen, zumal auch ein den Auftrag für radiologische Untersuchungen erteilender Neurologe
oder Neurochirurg Zweck, Ablauf und Risiken der radiologischen Diagnostik abwägen muss (vgl. OLG Düsseldorf VersR 1984, 643
mit Nichtannahmebeschluss des Senats vom 3. 04.1984 - VI ZR 173/83). Im Übrigen haben die Parteien nicht in Zweifel gezogen, dass das Risiko
eines Schlaganfalls im Rahmen einer zerebralen Angiographie erhöht ist, wenn der Patient bereits zuvor einen
Schlaganfall erlitten hatte.
21. 4. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision jedenfalls im Ergebnis auch stand, soweit das
Berufungsgericht das Vorbringen der Beklagten zu einer hypothetischen Einwilligung als neues Vorbringen nicht
zugelassen hat (§ 531 Abs. 2 ZPO).
22. a) Zu Recht geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Einwand der Behandlungsseite, die Patientin
hätte sich dem Eingriff auch bei zutreffender Aufklärung über dessen Risiken unterzogen, grundsätzlich beachtlich
ist (st. Rspr.; vgl. Senatsurteile BGHZ 90, 103, 111; vom 17. 04.2007 - VI ZR 108/06 - VersR 2007, 999, 1000). Den Arzt trifft insoweit die Behauptungs- und
Beweislast. Erst wenn sich die Behandlungsseite auf eine hypothetische Einwilligung berufen hat, muss der
Patient darlegen, dass er sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einem Entscheidungskonflikt darüber befunden
hat, ob er den tatsächlich durchgeführten Eingriff vornehmen lassen sollte (vgl. Senatsurteile vom 9. 11.1993 - VI ZR 248/92 - VersR 1994, 682,
684; vom 9. 07.1996 - VI ZR 101/95 - VersR 1996, 1239, 1240; vom 10. 10.2006 - VI ZR 74/05 - VersR 2007, 66, 68; Geiß/Greiner, aaO, C Rn. 138 f.; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl., Rn. 444).
Wird der Einwand der hypothetischen Einwilligung erst im zweiten Rechtszug erhoben, handelt es sich
grundsätzlich um ein neues Verteidigungsmittel im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO.
23. b) Im Streitfall wurde dieser Einwand erst im zweiten Rechtszug erhoben. Der erstinstanzliche Prozessvortrag
der Beklagten, die Klägerin habe nach ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt, erfasste entgegen der Ansicht
der Revision das für die hypothetische Einwilligung erforderliche Vorbringen nicht. Er ließ es nicht, wie die
Revision meint, "anklingen", so dass sich der zweitinstanzliche Vortrag nur als Konkretisierung des
erstinstanzlichen darstellen würde. Bei dem rechtmäßigen Alternativverhalten beruft sich der Schädiger nämlich
darauf, dass im Falle seines rechtswidrigen Verhaltens der Schaden auch bei normgerechtem Verhalten
eingetreten wäre (MünchKomm/BGBOetker, aaO, § 249 Rn. 211 ff.; Staudinger/Schiemann, BGB, 2005, § 249 Rn. 102). Dem Beklagtenvortrag muss daher zu
entnehmen sein, dass er sich nicht auf die behauptete ordnungsgemäße Aufklärung, sondern auf eine fiktive
Einwilligungssituation bezieht.
24. c) Die Beklagte hatte indes Anlass, sich schon in der ersten Instanz zumindest hilfsweise auf eine
hypothetische Einwilligung zu berufen. Eine Partei muss schon im ersten Rechtszug die Angriffs- und
Verteidigungsmittel vorbringen, deren Relevanz für den Rechtsstreit ihr bekannt ist oder bei Aufwendung der
gebotenen Sorgfalt hätte bekannt sein müssen und zu deren Geltendmachung sie dort imstande ist (vgl. Senat, BGHZ 159,
245, 253; Musielak/Ball, ZPO, 6. Aufl., § 531 Rn. 19; Rimmelspacher, NJW 2002, 1897, 1904; Gehrlein, MDR 2003, 421, 428; BTDrs. 14/4722 S. 101 f.). Die Beklagte hätte daher
bereits aufgrund des Beweisbeschlusses vom 28. 04.2006 in Betracht ziehen müssen, dass das Landgericht
ihrem Sachvortrag zu einer ordnungsgemäßen Aufklärung nicht folgen würde. Darin wurde dem
Sachverständigen u.a. die Frage gestellt, ob der Zeuge Dr. V. auf eine Risikoerhöhung habe hinweisen müssen.
Jedenfalls nach Erhalt des Sachverständigengutachtens war deutlich, dass eine Verurteilung wegen einer nicht
erfolgten Aufklärung über das bei der Klägerin bestehende erhöhte Risiko im Raum stand und es geboten war,
sich zumindest hilfsweise mit rechtmäßigem Alternativverhalten zu verteidigen. Der Beklagten oblag es mithin,
sich - falls sie dies wollte - bereits im ersten Rechtszug auf das neue Verteidigungsmittel zu berufen, ohne dass
es dafür eines Hinweises nach § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO bedurfte.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 77
25. d) Bei dieser Sachlage hat das Berufungsgericht das neue Verteidigungsmittel der Beklagten gemäß § 531
Abs. 2 Nr. 3 ZPO im Ergebnis zu Recht nicht zugelassen. Im Streitfall waren nämlich die der hypothetischen
Einwilligung zugrunde liegenden Tatsachen zwischen den Parteien streitig, worauf die Revisionserwiderung mit
Recht hingewiesen hat. In einem solchen Fall findet die Präklusionsvorschrift des § 531 Abs. 2 ZPO Anwendung,
ohne dass es auf die vom Berufungsgericht vertretene und inzwischen durch eine Entscheidung des Großen
Senats für Zivilsachen des Bundesgerichtshofs (vgl. Beschluss vom 23. 06.2008 - GSZ 1/08 - NJW 2008, 3434) überholte Streitfrage
ankommt, ob bei unstreitigem Sachverhalt der Einwand einer hypothetischen Einwilligung in den ärztlichen
Eingriff erstmals in zweiter Instanz erhoben werden kann.
26. Zwar meint das Berufungsgericht, der "unstreitige" Parteivortrag deute darauf hin, dass die Voraussetzungen
einer hypothetischen Einwilligung vorgelegen hätten, weil die Klägerin während des gesamten Rechtsstreits nicht
zur Kenntnis genommen habe, dass bei ihr nach den Erläuterungen des Sachverständigen Dr. S. eine eindeutige
Indikation für den diagnostischen Eingriff bestanden habe. Dabei verkennt es jedoch die Besonderheiten der
hypothetischen Einwilligung und der Darlegung eines Entscheidungskonflikts durch den Patienten. Nach den
oben unter 4 a) dargelegten Grundsätzen hatte die Klägerin keinen Anlass, ihren Entscheidungskonflikt
substantiiert darzulegen und plausibel zu machen, bevor sich die Beklagte auf eine hypothetische Einwilligung
berufen hatte. Zudem ist nicht entscheidend, wie sich ein "vernünftiger" Patient voraussichtlich verhalten hätte,
vielmehr kommt es allein auf die persönliche Entscheidungssituation der Klägerin aus damaliger Sicht an (vgl.
Senatsurteil vom 9. 11.1993 - VI ZR 248/92 - VersR 1994, 682, 684 m.w.N.). Die Revisionserwiderung hat insoweit darauf verwiesen, dass die
Klägerin in ihrer Berufungserwiderung vorgetragen hat, sie hätte niemals in die Operation eingewilligt, wenn man
sie über das erhöhte Risiko bezüglich eines Schlaganfalls aufgeklärt hätte. Unter diesen Umständen kommt es
aus Rechtsgründen nicht darauf an, ob der Vortrag der Klägerin zur Darlegung eines Entscheidungskonflikts
ausgereicht hätte, zumal dies grundsätzlich erst nach einer Anhörung der Klägerin beurteilt werden konnte (vgl.
Senatsurteil vom 17. 04.2007 - VI ZR 108/06 - aaO).
27. 5. Nach allem hat das Berufungsgericht im Ergebnis richtig entschieden. Die Revision der Beklagten ist mithin
mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Müller Wellner Diederichsen Stöhr Zoll
Vorinstanzen: LG Aurich, Entscheidung vom 03.11.2006 - 4 O 1106/05 - OLG Oldenburg, Entscheidung vom
04.07.2007 - 5 U 106/06
VI ZR 47/08 vom 16.09.2008: Die Klage eines Patienten auf Schmerzensgeld wird beim BGH abgewiesen. Wenn
der Anwalt das Mandat ablehnt und ein Notanwalt nicht rechtzeitig beigezogen werden kann, verbleibt trotzdem
die Prüfung auf Aussichtslosigkeit.
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. 09.2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und die
Richter Wellner, Pauge, Stöhr und Zoll beschlossen:
Der Antrag des Klägers auf Beiordnung eines Rechtsanwalts für das Verfahren über die
Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 14.
02.2008 wird zurückgewiesen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aussichtslos erscheint.
Gründe:
1. Der Kläger, bei dem 1984 Morbus Bechterew diagnostiziert wurde, erhält seit 1986 zur
Schmerzlinderung das Kortisonpräparat Prednisolon. Diese Medikamentation hat bei ihm zu Diabetes Mellitus,
einer Gastritis sowie einer Infektion mit Helicobacter pylori geführt. Am 7. 06.1998 wurde ein Mediainfarkt
festgestellt, der vermutlich durch Blutgerinnsel im Halswirbelbereich als Folge des Morbus Bechterew ausgelöst
worden war. Am 30. 06.1998 wurde der Kläger in der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie der
Beklagten zu 1 aufgenommen. Dort wurden eine ausgeprägte Wirbelsäulenkrümmung, eine extreme
Verschiebung des Kopfes sowie eine Hirnnervenlähmung festgestellt. Am 6. 08.1998 wurde bei ihm eine dorsale
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 78
Spondylodese vorgenommen, wobei zur Stabilisierung ein Knochenspan aus seinem Becken verwendet wurde.
Die Operation führte der Beklagte zu 6 aus. Da sich eine Liquorfistel und eine Infektion einstellten, musste der
implantierte Span in einer zweiten Operation, die der Beklagte zu 5 ausführte, wieder entfernt werden. Am 10.
09.1998 wurde der Kläger entlassen. Sein Zustand hatte sich zunächst deutlich gebessert, verschlechterte sich
jedoch alsbald wieder. Am 27. 04.1999 wurde er stationär im Poliklinikum für Unfall- und
Wiederherstellungschirurgie der Beklagten zu 1 aufgenommen und am 27. 05.1999 in die Klinik für Neurologie der
Beklagten zu 1 verlegt, wo Morbus Parkinson ausgeschlossen wurde und von dem Beklagten zu 7 eine zervikale
Myelopathie diagnostiziert wurde. Am 3. 06.1999 erfolgte die Rückverlegung in die chirurgische Abteilung, wo der
Kläger von den Beklagten zu 2, 3, 5 und 6 behandelt wurde. Am 16. 06.1999 wurde operativ eine Flexoren- und
Adduktorentenotomie am linken und rechten Bein durchgeführt, um die spastische Beugehaltung zu korrigieren
und die Pflege des Klägers zu erleichtern. Die Operation führte die Beklagte zu 4 durch.
Der Kläger, der gehunfähig ist und dessen Arme und Beine weitestgehend bewegungsunfähig sind, führt
diesen Zustand auf Behandlungsfehler der Beklagten zu 2 bis 7 zurück. Er macht geltend, die Operationen seien
kontraindiziert gewesen; bezüglich der 1998 durchgeführten Eingriffe sei er nicht hinreichend aufgeklärt worden.
In der Zeit vom 27. 04.1999 bis zur Operation am 16. Juni sei keine ausreichende medikamentöse bzw.
physiotherapeutische Behandlung erfolgt. Dadurch hätten sich Druckulcera gebildet. Die Operation am 16.
06.1999 sei gegen seinen Willen und den seiner Ehefrau (seiner Betreuerin) erfolgt, kontraindiziert gewesen und fehlerhaft
ausgeführt worden. Durch heftiges Ziehen seien dabei Hüft- und Schultergelenk beschädigt und Knochen
gebrochen worden. Die Operation habe zu einer Tetraparese geführt.
Der Kläger begehrt Ersatz materiellen und immateriellen Schadens. Das Landgericht hat die Klage nach
Beweisaufnahme abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Das Oberlandesgericht hat die
Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der in zulässiger Weise
eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde. Sein Prozessbevollmächtigter hat das Mandat sodann niedergelegt. Die
- notariell u.a. mit den Rechtsangelegenheiten bevollmächtigte - Ehefrau des Klägers hat am 23. 06.2008, dem
letzten Tag der Begründungsfrist, einen Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts zur Begründung der
Nichtzulassungsbeschwerde gestellt und geltend gemacht, der Kläger habe sich um einen anderen beim
Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt bemüht, jedoch nur Absagen erhalten, von denen sie z.T. Kopien
eingereicht hat. Sie verweist hinsichtlich der Erfolgsaussicht u.a. auf die Berufungsbegründung und ein an die
Rechtsschutzversicherung gerichtetes Anwaltsschreiben.
II.
Die Beiordnung eines Rechtsanwalts gemäß § 78 b ZPO ist abzulehnen, wenn die Beschwerde gegen die
Nichtzulassung der Revision aussichtslos ist, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht
gegeben oder nicht dargetan sind (Senatsbeschluss vom 25. 03.2003 - VI ZR 355/02 - VersR 2003, 1555). Dies ist hier der Fall.
Die Rechtsverfolgung des Klägers erscheint aussichtslos. Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung.
Eine Entscheidung des Revisionsgerichts ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Der Kläger will mit der Nichtzulassungsbeschwerde, wie seine
Bezugnahme auf die überreichte Berufungsbegründung erkennen lässt, im Wesentlichen die Beweiswürdigung
des Berufungsgerichts angreifen. Damit kann er im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde keinen Erfolg
haben. Es ist weder dargetan noch ersichtlich, dass das Berufungsgericht Sachvortrag des Klägers oder
Beweisanträge übergangen oder die erhobenen Beweise fehlerhaft gewürdigt hat. Das angefochtene Urteil weicht
auch nicht von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs oder derjenigen der Oberlandesgerichte ab. Dem
von dem Kläger zitierten Senatsurteil vom 26. 06.1990 (VI ZR 289/89 – VersR 1990, 1238) lag ein anderer Sachverhalt zugrunde.
In jenem Fall hatte die Patientin geltend gemacht, ihr sei von ärztlicher Seite dem objektiven medizinischen
Befund zuwider gesagt worden, es bestehe Lebensgefahr und die Operation sei besonders dringlich. Zutreffend
aufgeklärt hätte sie die Operation nicht alsbald und nicht mit der gewählten Methode vornehmen lassen.
Demgegenüber wendet der Kläger vorliegend ein, nicht auf die seinerzeit tatsächlich gegebene Dringlichkeit der
Operation vom 6. 08.1998 hingewiesen worden zu sein. Er legt aber nicht dar, seine Einwilligung in den Eingriff
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aufgrund einer fehlerhaften Aufklärung erteilt zu haben. Bei dieser Sachlage kann dahinstehen, ob der Kläger
ausreichend dargetan hat, keinen zu seiner Vertretung bereiten Rechtsanwalt zu finden.
Müller Wellner Pauge
VI ZR 259/06 Verkündet am: 08.07.2008: Zur Haftung des Gynäkologen für den nach einer erfolglosen
Tubensterilisation mittels Tubenligatur und streitiger Elektrokoagulation entstehenden Schaden. Dem
Patienten wurde Schadensersatz zugesprochen, Privatgutachten sind zu berücksichtigen- auch wenn sie
verspätet eingereicht werden. Ein „ungewolltes Kind“ ist ein Schaden.
BGB § 276 Fc, 823 Aa
BGH, Urteil vom 8. 07.2008 - VI ZR 259/06 - OLG München
LG München II
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. 07.2008 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Stöhr und Zoll für Recht erkannt:
Die Revision der Kläger wird als unzulässig verworfen, soweit sie sich gegen die Zurückweisung
der Berufung gegen die Abweisung der Klage auf Herausgabe der Behandlungsunterlagen wendet.
Im Übrigen wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 16. 11.2006
auf die Revision der Kläger aufgehoben.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Kläger sind Eheleute. Sie begehren von den Beklagten Schadensersatz nach einer erfolglosen
Sterilisation der am 27. 10.1967 geborenen Klägerin zu 1. Diese war seit 1994 in gynäkologischer Behandlung bei
dem Beklagten zu 2, der mit dem Beklagten zu 3 eine Gemeinschaftspraxis in P. betreibt. Die dritte
Schwangerschaft der Klägerin wurde, wie schon die beiden vorhergehenden, vom Beklagten zu 2 betreut. Die
Entbindung sollte - wie bei den früheren Schwangerschaften - im Krankenhaus der ehemaligen Beklagten zu 1
durch Kaiserschnitt erfolgen. Beide Beklagte sind in diesem Krankenhaus als Belegärzte tätig. Gleichzeitig mit der
Schnittentbindung am 21. 03.2001 sollte der Beklagte zu 2 vereinbarungsgemäß die Klägerin zu 1 sterilisieren.
Die auf den 20. 03.2001 datierte, von der Klägerin zu 1 unterzeichnete Einverständniserklärung lautet
auszugsweise: "Ich erkläre mich hierdurch an den an mir vorzunehmenden Eingriffen Kaiserschnitt,
Eileiterdurchtrennung zum Zweck einer Untersuchung und Behandlung einverstanden. Ich bin durch Herrn (Name des
Beklagten zu 2) und/oder Herrn (Name des Beklagten zu 3) über alle Risiken und typischen Komplikationen, wie Verletzungen von
Darm, Harnblase, Harnleiter und Blutgefäßen aufgeklärt worden. Ich habe hierzu keine weiteren Fragen und
wünsche somit auch keine weiterführende Aufklärung. Bei der Tubensterilisation ist die Versagerquote: 0,1 %."
Bei der Schnittentbindung am 21. 03.2001, die der Beklagte zu 2 unter Assistenz des Beklagten zu 3 durchführte,
wurde die Klägerin von Zwillingen entbunden. Die Zwillingsschwangerschaft war zuvor nicht bekannt gewesen.
Vier Monate nach der Geburt der Zwillinge wurde die Klägerin zu 1 erneut schwanger. Am 7. 12.2001 wurde sie
wegen einer Schwangerschaftsvergiftung in die Frauenklinik R. eingewiesen. Dort wurde sie - wiederum mit
Kaiserschnitt - von der Tochter M. mit einem Geburtsgewicht von 480 Gramm entbunden. Im Operationsbericht
über die zugleich mit dieser Schnittentbindung durchgeführte Tubenteilresektion und Elektrokoagulation der
Eileiter heißt es, dass die Tuben beidseits im Verlauf ohne Kaliberschwankungen und mit nicht resorbierbaren
Ligaturen jeweils im uterusnahen und mittleren Anteil versehen gewesen seien. Die histologische Untersuchung
der entfernten Tubenanteile ergab ein schmales offenes Lumen der von einem grünen Faden umschlungenen
Tuben. Die Kläger haben Ersatz für alle Kosten, die mit der Geburt der Tochter M. entstanden seien und noch
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entstünden, insbesondere aus Unterhaltsansprüchen des Kindes gegen die Eltern und Kosten für den Umbau des
Elternhauses sowie ein Schmerzensgeld für die Klägerin zu 1 von mindestens 20.000 € verlangt. Die Klage hatte
in den Tatsacheninstanzen keinen Erfolg. Mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgen die
Kläger ihr Begehren aus der Berufung weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Zurückweisung der Berufung im Wesentlichen
ausgeführt, den Beklagten falle kein zum Schadensersatz führender Behandlungs- oder Aufklärungsfehler zur
Last. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe der Beklagte zu 2 am 21. 03.2001 zumindest eine
Tubenligatur vorgenommen; anders seien die bei der Operation vom 11. 12.2001 an beiden Tuben
vorgefundenen Fäden nicht zu erklären. Die Kläger hätten nicht bewiesen, dass die Tuben nicht oder fehlerhaft
koaguliert worden seien. Zwar hätten keine Spuren einer Elektrokoagulation wie Kaliberschwankungen oder
Vernarbungen festgestellt werden können. Aus den fehlenden Spuren könne jedoch nicht der sichere Schluss
gezogen werden, dass keine ordnungsgemäße Koagulation stattgefunden habe. Unter den besonderen
nachgeburtlichen Gegebenheiten könne es zu einer für den Arzt nicht erkennbaren sog. unvollständigen
Koagulation kommen. Auch aus der erneuten Schwangerschaft vier Monate nach dem Eingriff könne nicht auf
einen Behandlungsfehler rückgeschlossen werden. Die Tubensterilisation sei schicksalhaft mit einer
geringfügigen Versagerquote belastet, die sich hier verwirklicht haben könne. Dass der Beklagte zu 2 die
Tubenligatur nicht mit einer Durchtrennung oder einer Teilresektion der Eileiter verbunden habe, sei nicht zu
beanstanden. Es sei vertretbar, wenn er wegen starker Blutungen bei der Schnittentbindung unterlassen habe,
die stark venös gestauten und verdickten Tuben zu durchschneiden, und stattdessen die Elektrokoagulation
gewählt habe. Die Beklagten hafteten auch nicht aus einer unzureichenden therapeutischen oder einer
ungenügenden Einwilligungsaufklärung. Eine Aufklärung der Patientin über die möglichen Sterilisationsmethoden
sei grundsätzlich nicht erforderlich. Ohnehin könne mitunter erst intraoperativ die anzuwendende
Sterilisationsmethode gewählt werden. Der Beklagte zu 2 habe glaubwürdig dargetan, dass er die Klägerin zu 1
am Vortag der Operation über die Versagerquote von 0,1 % sowie darüber aufgeklärt habe, dass bei einer
postpartalen Sterilisation das Versagerrisiko größer sei als bei einer Sterilisation im Intervall. Letztlich könne offen
bleiben, ob die Klägerin zu 1 rechtzeitig und ausreichend aufgeklärt worden sei, denn sie habe keinen
Entscheidungskonflikt plausibel machen können. Insbesondere sei die Einlassung der Klägerin zu 1, bei Kenntnis
der erhöhten Versagerquote hätte sie drei Monate lang verhütet und dann den Erfolg der Sterilisation
endoskopisch überprüfen lassen, wenig plausibel, weil sie in Kenntnis des üblichen Versagerrisikos nicht verhütet
habe.
II.
Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.
1. Allerdings ist die uneingeschränkt zugelassene und eingelegte Revision mangels jeglicher Begründung
nicht zulässig, soweit sie sich gegen die Abweisung des Anspruchs auf Herausgabe der Krankenakten wendet (§§
552 Abs. 1, 551 Abs. 3 Satz 1 Ziff. 2 ZPO; vgl. Senat, BGHZ 85, 327 ff.; OLG München NJW 2001, 2806, 2807). Im Übrigen ist die Revision jedoch zulässig und
begründet, auch zum Feststellungsantrag, der auf denselben Grundlagen basiert wie der Leistungsantrag.
2. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats sind die mit der Geburt eines nicht gewollten
Kindes für die Eltern verbundenen wirtschaftlichen Belastungen, insbesondere die Aufwendungen für dessen
Unterhalt, als ersatzpflichtiger Schaden auszugleichen, wenn der Schutz vor solchen Belastungen Gegenstand
des Behandlungs- oder Beratungsvertrages war. Diese - am Vertragszweck ausgerichtete - Haftung des Arztes
hat der Senat insbesondere bejaht für Fälle fehlgeschlagener Sterilisation aus Gründen der Familienplanung (vgl.
Senat, BGHZ 76, 249, 255; 76, 259, 262; Urteile vom 2. 12.1980 - VI ZR 175/78 - VersR 1981, 278; vom 10. 03.1981 - VI ZR 202/79 - VersR 1981, 730; vom 19. 06.1984 - VI ZR 76/83 - VersR 1984, 864; vom
, bei fehlerhafter Behandlung mit einem empfängnisverhütenden Mittel (vgl. Senat, Urteil vom
14. 11.2006 - VI ZR 48/06 - VersR 2007, 109), bei fehlerhafter Beratung über die Sicherheit der empfängnisverhütenden Wirkungen
eines vom Arzt verordneten Hormonpräparats (vgl. Senat, Urteil vom 3. 06.1997 - VI ZR 133/92 - VersR 1997, 1422 f.) sowie für Fälle fehlerhafter
27. 06.1995 - VI ZR 32/94 - VersR 1995, 1099, 1101)
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 81
genetischer Beratung vor Zeugung eines genetisch behinderten Kindes (vgl. Senat, BGHZ 124, 128 ff.). Diese Rechtsprechung
des Senats hat das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 12. 11.1997 als verfassungsrechtlich
unbedenklich erachtet (BVerfGE 96, 375 ff.).
Der Senat hat ferner ausgesprochen, dass die Herbeiführung einer ungewollten Schwangerschaft selbst
dann, wenn diese ohne pathologische Begleiterscheinungen verläuft, einen Schmerzensgeldanspruch der Frau
auslösen kann (vgl. Senat, Urteil vom 18. 03.1980 - VI ZR 247/78 - VersR 1980, 558, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 76, 259 ff.). Demnach kommt es zweifelsfrei
in Frage, dass der Beklagte zu 2, soweit ihm ein Fehler zur Last fällt, der Klägerin zu 1 ein Schmerzensgeld
schuldet. Bei Vorliegen der Voraussetzungen hierzu kann ihn - bei Einbeziehung des Klägers zu 2 in den
Schutzbereich des Behandlungsvertrags (vgl. Senat, BGHZ 143, 389, 393; Urteile vom 3. 06.1997 - VI ZR 133/96 - VersR 1997, 1422 f.; vom 19. 02.2002 - VI ZR 190/01 VersR 2002, 767)- auch eine vertragliche Schadensersatzpflicht gegenüber den klagenden Eltern wegen der diesen
erwachsenen und künftig erwachsenden Unterhaltsbelastungen treffen.
Auch an der Haftung des Beklagten zu 3, der zusammen mit dem Beklagten zu 2 eine gynäkologische
Gemeinschaftspraxis betrieben hat, bestehen aus Rechtsgründen jedenfalls auf Grund der bisherigen
Feststellungen keine grundsätzlichen Bedenken (vgl. Senat, BGHZ 165, 36, 39; BGH, BGHZ 154, 88, 93 f.; OLG Koblenz VersR 2005, 655).
3. Das Berufungsgericht hat indessen den Klageanspruch aus tatsächlichen Gründen abgewiesen. Unter
Bezugnahme auf das Gutachten der Sachverständigen konnte es sich nicht davon überzeugen, dass die
Erfolglosigkeit des Sterilisationseingriffs auf einem Fehler bei dessen Durchführung beruhe. Das hält
revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Eine Haftung der Beklagten für den durch die Geburt der Tochter M.
verursachten Schaden der Kläger setzt voraus, dass der Beklagte zu 2 entweder vorwerfbar von einer vertraglich
vereinbarten Behandlung abgewichen ist oder fehlerhaft eine nicht dem medizinischen Standard des Jahres 2001
entsprechende Sterilisationsmethode gewählt oder die vereinbarte bzw. standardgemäße Methode schuldhaft
fehlerhaft ausgeführt und dadurch die weitere Schwangerschaft (mit)verursacht hat.
Das Berufungsgericht ist - sachverständig beraten - davon ausgegangen, dass der Beklagte jedenfalls
eine Tubenligatur durchgeführt habe, meint aber, die Kläger hätten nicht bewiesen, dass der Beklagte zu 2 die
Elektrokoagulation der Eileiter nicht oder nur fehlerhaft durchgeführt habe. Es bestünden zwar erhebliche
Anhaltspunkte dafür, dass keine ordnungsgemäße Koagulation stattgefunden habe, weil makroskopisch in der
Nachoperation und histologisch weder eine Kaliberschwankung noch einschlägige Vernarbungen der Tuben
hätten festgestellt werden können. Auch habe die Sachverständige E. erläutert, es sei nicht sehr wahrscheinlich,
dass eine ordnungsgemäß durchgeführte Koagulation keinerlei Spuren hinterlasse. Andererseits habe sie darauf
hingewiesen, dass aus den fehlenden Spuren wegen der besonderen nachgeburtlichen Gegebenheiten (venöse Stauung
und Ödeme an den Tuben sowie extrem gute Durchblutung des kleinen Beckens) nicht der sichere Schluss auf eine nicht ordnungsgemäße
Koagulation gezogen werden könne.
Diese Erwägungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand, weil die tatsächlichen Feststellungen des
Berufungsgerichts nicht verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind und insbesondere das
Sachverständigengutachten keine ausreichende Grundlage bildet. Auf den Streit der Parteien, ob im konkreten
Fall vertraglich eine Sterilisation mittels Teilresektion der Eileiter vereinbart war, von welcher der Beklagte zu 2
trotz intraoperativ aufgetretener Komplikationen nicht habe abweichen dürfen, kommt es deshalb aus
revisionsrechtlicher Sicht nicht an.
a) Vom Standpunkt des Berufungsgerichts aus, dass der Beklagte zu 2 eine Tubenligatur mit
Elektrokoagulation habe durchführen dürfen, geht es um die Frage, ob letztere ausgeführt worden ist. Hierzu
meint das Berufungsgericht, dass die Kläger einen Behandlungsfehler beweisen müssten. Insoweit bestünden
zwar erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte zu 2 die Elektrokoagulation nicht kunstgerecht
durchgeführt habe, ohne dass jedoch der sichere Schluss gezogen werden könne, dass keine ordnungsgemäße
Koagulation stattgefunden habe. Soweit es sich hierfür auf die Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen
stützt, rügt die Revision, dass diese inhaltlich das von den Klägern vorgelegte Privatgutachten bestätigt habe und
das Berufungsgericht ohnehin dieses Privatgutachten hätte berücksichtigen müssen. Damit hat sie Erfolg.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 82
Die Sachverständige hat ausgeführt, sie halte eine Sterilisation durch Ligatur ohne Durchtrennung der
Eileiter jedoch mit Elektrokoagulation trotz der postpartal guten Durchblutung des Eingriffsgebiets und des
dadurch bedingten höheren Versagerrisikos an sich für kunstgerecht. Indes könne sie aus dem Fehlen von
sichtbaren Spuren an den Eileitern nur schließen, dass die Elektrokoagulation lediglich oberflächlich oder
überhaupt nicht durchgeführt worden sei. Sie halte es für nicht sehr wahrscheinlich, dass man gar nichts von der
Koagulation sehe. Auf der anderen Seite aber könne aus fehlenden Spuren wegen der postpartal extrem guten
Durchblutung des kleinen Beckens nicht der sichere Schluss gezogen werden, dass keine ordnungsgemäße
Koagulation stattgefunden habe. Diese Ansicht stimmt bei der gebotenen kritischen Würdigung von Gutachten
medizinischer Sachverständiger, welche eine gelegentlich auch kollegenschützende Haltung medizinischer
Sachverständiger berücksichtigen muss (vgl. Senat, BGHZ 172, 254, 259 f.; Urteile vom 27. 09.1977 - VI ZR 162/76 - VersR 1978, 41, 42 f.; vom 19. 01.1993 - VI ZR 60/92 VersR 1993, 835, 836; vom 16. 01.2001 - VI ZR 408/99 - VersR 2001, 783), weitgehend mit den Ausführungen des Privatsachverständigen überein.
Nach diesem führt eine exakt vorgenommene Elektrokoagulation immer zu sichtbaren makroskopischen und
histologischen Veränderungen der Eileiter, die hier unstreitig nicht vorhanden waren. Der Eingriff sei wegen der
ödematösen Veränderungen an den Eileitern erschwert, das Legen von Ligaturen allein sei nicht
erfolgversprechend gewesen und habe zwangsläufig zum Versagen des Eingriffs führen müssen, wenn nicht die
Durchtrennung oder Entfernung von Eileitergewebe noch hinzugekommen sei. Das Berufungsgericht hätte bei
seiner Würdigung der Gutachten auch berücksichtigen müssen, dass es nicht um einen medizinischnaturwissenschaftlichen Nachweis und nicht um eine mathematische, jede Möglichkeit eines abweichenden
Geschehensablaufs ausschließende, von niemandem anzweifelbare Gewissheit ("mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit")
gehen kann (vgl. Senat, BGHZ 159, 254, 255 f.; Urteil vom 8. 07.2008 - VI ZR 247/07 - z.V.b.; BGH, Urteil vom 22. 11.2006 - IV ZR 21/05 - VersR 2007, 1429). Ausreichend ist
vielmehr ein Grad von Gewissheit, der Zweifeln eines besonnenen, gewissenhaften und lebenserfahrenen
Beurteilers Schweigen gebietet; Zweifel, die sich auf lediglich theoretische Möglichkeiten gründen, für die
tatsächliche Anhaltspunkte nicht bestehen, sind hierbei nicht von Bedeutung(vgl. Senat, BGHZ 159, 254, 257; Urteile vom 9. 05.1989 - VI ZR
268/88 - VersR 1989, 758, 759; vom 18. 01.2000 - VI ZR 375/98 - VersR 2000, 503, 505; BGH, BGHZ 53, 245, 256 - Anastasia; Wachsmuth/Schreiber, NJW 1982, 2094, 2098; Geiß/Greiner,
. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hätte der Schluss nahegelegen, dass eine
Elektrokoagulation unterblieben und der Eingriff infolgedessen vorwerfbar unvollständig ausgeführt war.
Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. E 5)
b) Im Übrigen hat das Berufungsgericht selbst dann, wenn es die gerichtliche Sachverständige anders
hätte verstehen können, gegen seine Pflicht verstoßen, das von den Klägern vorgelegte Privatgutachten zu
berücksichtigen. Es hätte ihr nämlich dann dessen entgegenstehende und von Sachkenntnis getragene Ansicht
vorhalten müssen, wonach bei ödematösen Veränderungen an den Eileitern, wie sie der Beklagte zu 2 für den
Eingriffszeitpunkt selbst behauptet, eine Sterilisation nicht erfolgversprechend mit dem Legen einer Ligatur
erreicht werden könne, das alleinige Legen von Ligaturen zwangsläufig zum Versagen führe und eine exakt
vorgenommene Elektrokoagulation, die immer zu hier nicht festgestellten makroskopischen und histologischen
Veränderungen der Eileiter führe, dann nicht genüge; vielmehr müsse die Durchtrennung der Tuben oder
zusätzlich die Entfernung von Tubengewebe erfolgen, um den Eingriff erfolgversprechend und den Regeln der
ärztlichen Kunst entsprechend zu gestalten.
Das Unterlassen dieses Vorhalts verstößt gegen § 286 Abs. 1 ZPO. Gutachten von Sachverständigen
unterliegen zwar der freien Beweiswürdigung durch das Gericht (§ 286 Abs. 1 ZPO). Der erkennende Senat hat jedoch
wiederholt ausgesprochen, dass der Tatrichter allen Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen von Amts wegen
nachzugehen hat; insbesondere hat er Einwendungen einer Partei gegen das Gutachten eines gerichtlichen
Sachverständigen zu berücksichtigen und die Pflicht, sich mit von der Partei vorgelegten Privatgutachten
auseinander zu setzen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken, wenn sich ein Widerspruch
zum Gerichtsgutachten ergibt (vgl. Senat, Urteile vom 14. 12.1993 - VI ZR 67/93 - VersR 1994, 480, 482; vom 9. 01.1996 - VI ZR 70/95 - VersR 1996, 647, 648; vom 10. 10.2000 - VI
ZR 10/00 - VersR 2001, 525, 526; vom 13. 02.2001 - VI ZR 272/99 - VersR 2001, 722, 723; vom 23. 03.2004 - VI ZR 428/02 - VersR 2004, 790, 791). Diese Grundsätze hat das
Berufungsgericht nicht beachtet.
Die Anwesenheit des Privatsachverständigen in der mündlichen Verhandlung enthob das Berufungsgericht
nicht seiner hiernach bestehenden Pflicht zur Aufklärung von Widersprüchen. Solange der Privatsachverständige
nicht zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt war, war er lediglich zur Unterstützung der Partei anwesend
und hatte keine Mitwirkungsrechte (vgl. §§ 402, 397 Abs. 2 ZPO). Nach allem ist das angefochtene Urteil im Umfang der
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 83
zulässigen Anfechtung aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der erkennende Senat vermag derzeit nicht zu beurteilen, ob die
Entscheidung wenigstens im Ergebnis Bestand haben wird, so dass es der Zurückverweisung an das
Berufungsgericht bedarf (§ 563 Abs. 1 ZPO). Bei seiner erneuten Entscheidung wird das Berufungsgericht auch die
weiteren Rügen der Revision zu beachten haben.
a) Soweit die Revision die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Sicherungsaufklärung beanstandet,
macht sie einen (weiteren) Behandlungsfehler (vgl. Senat, Urteile vom 2. 12.1980 - VI ZR 175/78 - VersR 1981, 278 ff.; vom 10. 03.1981 - VI ZR 202/79 - VersR 1981, 730 ff.; vom
25. 01.2000 - VI ZR 68/99 - n.v.) geltend. Hiernach ist davon auszugehen, dass wegen der auch nach fehlerfreier Ausführung
bei jeder der möglichen Sterilisationsmethoden gegebenen - unterschiedlich großen und je nach dem Zeitpunkt
der Sterilisation (postpartal oder im Intervall) unterschiedlichen - Versagerquoten ein deutlicher Hinweis auf diese
Versagermöglichkeiten geboten ist (sog. therapeutische Aufklärung oder Sicherungsaufklärung). Der Beklagte zu 2 hatte darüber hinaus die
Klägerin zu 1 postoperativ (vgl. Senat, BGHZ 163, 209, 217 f.) auf eine Abweichung von der ursprünglich geplanten
Vorgehensweise bei der Sterilisation hinzuweisen und sie von einer hierdurch möglicherweise erfolgten Erhöhung
des Versagerrisikos umfassend in Kenntnis zu setzen. Dass er dieser Pflicht nachgekommen wäre, behauptet er
selbst nicht. Ein (auf die Fälle der Selbstbestimmungsaufklärung beschränkter) Entscheidungskonflikt ist für eine Haftung wegen des in der
Verletzung einer solchen (präoperativen oder postoperativen) Sicherungsaufklärung liegenden Behandlungsfehlers nicht
erforderlich.
b) Zur Kausalität dieses Fehlers für den durch die Geburt des Kindes vermittelten Schaden wird das
Berufungsgericht nicht ohne weitere Feststellungen davon ausgehen können, dass die Kläger, die ein erhöhtes
statistisches Versagerrisiko nach der ordnungsgemäß durchgeführten zweiten Sterilisation mittels Teilresektion
der Eileiter in Kauf genommen haben, dies in gleicher Weise in Kenntnis des erhöhten Versagerrisikos bei einer
postpartalen Sterilisation mittels Tubenligatur und Elektrokoagulation ohne Durchtrennung der Eileiter getan und
auch nach der hier gebotenen nachträglichen Information der Klägerin zu 1 über ein erhöhtes Versagerrisiko
ebenfalls nicht verhütet hätten (vgl. Senat, Urteile vom 2. 12.1980 - VI ZR 175/78 - aaO, 279; vom 10. 03.1981 - VI ZR 202/79 - aaO, 731 f.; vom 28. 03.1989 - VI ZR 157/89 - VersR
1989, 700, 701).
Müller Greiner Wellner Stöhr Zoll
Vorinstanzen: LG München II, Entscheidung vom 22.11.2005 - 1 MO 3224/03 - , OLG München, Entscheidung
vom 16.11.2006 - 1 U 2385/06 VI ZR 266/07 vom 10.06.2008: Die Klage der Patientin wird abgewiesen, da sie die Berufung nicht
begründet hat und sich pauschal auf den erstinstanzlichen Vortrag bezieht.
VI ZR 266/07 vom 10. 06.2008 in dem Rechtsstreit
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. 06.2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter
Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen, die Richter Pauge und Zoll beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 5. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Köln vom 22. 10.2007 wird zurückgewiesen, weil sie nicht aufzeigt, dass die Rechtssache
grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO). Das Berufungsurteil verstößt
nicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG, § 547 Nr. 6 ZPO. Zwar musste die Klägerin als Patientin medizinische
Sachverhalte nicht im Einzelnen vortragen (vgl. Senat, BGHZ 159, 245, 251; Urteil vom 19. 05.1981 - VI ZR 220/79 - VersR 1981, 752). Sie musste aber in
der Berufung im Einzelnen darlegen, aus welchen Gründen das angefochtene erstinstanzliche Urteil aufzuheben
sein sollte (§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO). Die Klägerin war als Berufungsführerin gehalten, die Beurteilung des Streitfalles
durch den Erstrichter zu überprüfen und darauf hinzuweisen, in welchen Punkten und mit welchen Gründen sie
das angefochtene Urteil für unrichtig hielt (vgl. Zöller/Gummer/Heßler, ZPO 26. Aufl., § 520 Rn. 33). Daran hat sie sich nicht gehalten. Im
hier zu entscheidenden Fall war ihrer pauschalen Bezugnahme in der Berufungsbegründung auf ihren
erstinstanzlichen Vortrag und "die dem zugrunde liegenden Gutachten der privaten Sachverständigen" nicht zu
entnehmen, was der gerichtliche Sachverständige außer Acht gelassen haben sollte; die vom
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 84
Privatsachverständigen bemängelte fehlende Diagnostik auf bereits vor den Eingriffen durch die Beklagten
angeblich vorliegenden MortonNeurome war mit keinem Wort erwähnt. Die Berufungsbegründung bemängelte
auch nicht ansatzweise, dass der gerichtliche Sachverständige ohne hinreichendes eigenes Fachwissen an die
Problematik des Morton'schen Neuroms herangegangen sei, wie dies im ersten Rechtszug behauptet worden
war. Hätte die Klägerin die nunmehr durch die Nichtzulassungsbeschwerdebegründung beanstandeten
Versäumnisse gerügt, hätte das Berufungsgericht auf diese im Einzelnen eingehen müssen und bei Unterlassen
gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen. Zumindest hätte die Klägerin in der Berufungsbegründung beanstanden
können und müssen, dass weder der gerichtliche Sachverständige bei seiner Anhörung noch das Landgericht in
seinem Urteil auf die Stellungnahmen des Privatsachverständigen eingegangen seien, obwohl diese angeblich
Widersprüche enthielten, welche die Berufungsbegründung näher aufzuführen gehabt hätte. Ohne solchen
Vortrag der Klägerin in der Berufungsbegründung ist das Berufungsgericht ohne Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1
GG auf die Privatgutachten seinerseits nicht näher eingegangen.
Das angefochtene Urteil ist auch ausreichend mit Gründen versehen. Zwar hat sich das Berufungsgericht
nicht im Einzelnen mit der Frage eines Befunderhebungsfehlers befasst. Die Berufung der Klägerin hat
jedoch ihrerseits die Befunderhebung durch die Beklagten nicht im Einzelnen, sondern wiederum allenfalls
nur mit dem pauschalen Verweis auf den Vortrag der Klägerin erster Instanz zu den behaupteten
Behandlungsfehlern in die Berufung eingeführt. Das genügte nicht, um den Befunderhebungsfehler als
zentrales Angriffsmittel neben den im Einzelnen ausgeführten Angriffen gegen die vom Landgericht als
ausreichend angesehene Eingriffsaufklärung aufzuzeigen, dessen Übergehen eine Anwendung des § 547
Nr. 6 ZPO möglicherweise gestattet hätte (vgl. BGH, BGHZ 39, 333, 339). Von einer weiteren Begründung wird gemäß §
544 Abs. 4 S. 2, 2. Halbs. ZPO abgesehen. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens (§ 97
Abs. 1 ZPO).
Streitwert: 60.127,93 € , Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll
Vorinstanzen: LG Köln, Entscheidung vom 17.01.2007 - 25 O 116/00 - OLG Köln, Entscheidung vom 22.10.2007 5 U 33/07 –
BGH III ZR 239/07 Verkündet am: 05.06.2008
GOÄ § 4 Abs. 2a; GOÄ Gebührenverzeichnis Nr. 2997, 2975, 3013, 3126, 2583, 2802
a)Das in § 4 Abs. 2a Satz 1 und 2 GOÄ enthaltene Zielleistungsprinzip findet seine Grenze an dem
Zweck dieser Bestimmung, eine doppelte Honorierung ärztlicher Leistungen zu vermeiden.
b) Die Frage, ob im Sinn des § 4 Abs. 2a Satz 2 GOÄ und des Absatzes 1 Satz 1 und 2 der
Allgemeinen Bestimmungen des Abschnitts L einzelne Leistungen methodisch notwendige
Bestandteile der in der jeweiligen Leistungsbeschreibung genannten Zielleistung sind, kann
nicht danach beantwortet werden, ob sie im konkreten Einzelfall nach den Regeln ärztlicher
Kunst notwendig sind, damit die Zielleistung erbracht werden kann. Vielmehr sind bei Anlegung
eines abstraktgenerellen Maßstabs wegen des abrechnungstechnischen Zwecks dieser
Bestimmungen vor allem der Inhalt und systematische Zusammenhang der in Rede stehenden
Gebührenpositionen zu beachten und deren Bewertung zu berücksichtigen (Fortführung der Senatsurteile BGHZ
159, 142 und vom 16. 03.2006 - III ZR 217/05 - NJWRR 2006, 919).
c) Die Dekortikation der Lunge nach Nr. 2975 des Gebührenverzeichnisses ist nicht Bestandteil der
in der Nr. 2997 mit Lobektomie und Lungensegmentresektion(en) beschriebenen Zielleistung.
BGH, Urteil vom 5. 06.2008 - III ZR 239/07 - LG Hamburg AG Hamburg
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren aufgrund der bis zum 17. 04.2008
eingereichten Schriftsätze durch den Vorsitzenden Richter Schlick, die Richter Dörr, Dr. Herrmann, die Richterin
HarsdorfGebhardt und den Richter Hucke
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für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Hamburg, Zivilkammer 20, vom 28.
08.2007 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage in Höhe eines Betrags von 292,23
€ nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17. 06.2005
abgewiesen worden ist.
Die weitergehende Revision des Klägers wird zurückgewiesen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger, Direktor der Klinik und Poliklinik für Allgemein, Viszeral- und Thoraxchirurgie eines
Universitätskrankenhauses, macht gegen den Beklagten auf der Grundlage einer Wahlleistungsvereinbarung
Honoraransprüche geltend,
die im Zusammenhang mit einem am 9. 09.2004 durchgeführten operativen Eingriff wegen eines
BronchialKarzinoms stehen. Seine Leistungen rechnete er am 25. 10.2004 mit insgesamt 4.582,41 € ab, auf die
der Beklagte - in Abstimmung mit dem hinter ihm stehenden privaten Krankenversicherer - nur 2.623,94 € zahlte.
Hintergrund hierfür ist deren Auffassung, bestimmte in Rechnung gestellte Gebührenpositionen seien nicht
selbständig abrechenbar, weil es sich insoweit nur um methodisch notwendige operative Einzelschritte handele,
die erforderlich gewesen seien, um die Zielleistungen nach den Nummern 2997 (Lobektomie und Lungensegmentresektionen) und
3013 (Intrathorakaler Eingriff am Lymphgefäßsystem) des Gebührenverzeichnisses der GOÄ(GOÄ) vornehmen zu können. Der
Unterschiedsbetrag von 1.958,47 € nebst Zinsen war Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens.
Das Amtsgericht hat der Klage in Höhe von 1.356,84 € nebst Zinsen stattgegeben. Dabei hat es die Auffassung
vertreten, der Kläger sei berechtigt, neben diesen Gebührenpositionen auch Leistungen nach den Nummern 2975
und 3126 und je zweimal nach den Nummern 2583 und 2802 des Gebührenverzeichnisses abzurechnen, weil sie
nicht als methodisch notwendige Einzelschritte der in den Nummern 2997 und 3013 abgebildeten Zielleistungen
anzusehen seien und eine eigenständige medizinische Indikation gehabt hätten. Im Übrigen hat es die Klage
abgewiesen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landgericht die Klage insgesamt abgewiesen. Mit seiner
vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen
Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat nur teilweise Erfolg und führt insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht verneint eine gesonderte Abrechenbarkeit der in Rede stehenden, vom Kläger erbrachten
Leistungen auf der Grundlage des § 4 Abs. 2a GOÄ. Bei ihnen handele es sich um im Sinne des Satzes 2 dieser
Bestimmung methodisch notwendige operative Einzelschritte auf dem Weg zur Erbringung der unter die
Nummern 2997 und 3013 fallenden Zielleistungen. Bei der Feststellung, was ein methodisch notwendiger
operativer Einzelschritt sei, komme es nicht darauf an, ob die betreffende Leistung immer, typischerweise und
routinemäßig bei der Erbringung der sogenannten Zielleistung anfalle, sondern allein darauf, ob sie im konkreten
Fall erforderlich gewesen sei, um die Zielleistung kunstgerecht erbringen zu können. Diese Auslegung sei vor
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allem aus praktischen Gründen vorzuziehen, weil sie wesentlich leichter handhabbar sei und eine eindeutigere
Abgrenzung erlaube, als wenn die Typizität eines Zwischenschrittes - vielfach nicht ohne sachverständige Hilfe beurteilt werden müsse, und werde daher dem Anliegen nach mehr Transparenz der Abrechnung besser gerecht.
II.
Diese Beurteilung hält in ihrem Verständnis zur Auslegung des § 4 Abs. 2a GOÄ der rechtlichen Überprüfung
nicht stand; hiervon ist jedoch nur die Abrechenbarkeit der Leistung nach Nr. 2975 des Gebührenverzeichnisses
betroffen.
1. Wie der Senat bereits mit Urteilen vom 13. 05.2004 (BGHZ 159, 142, 143 f) und vom 16. 03.2006 (III ZR 217/05 - NJWRR 2006, 919 Rn. 6)
entschieden hat, ist für die Frage, welche von mehreren gleichzeitig oder im Zusammenhang erbrachten
Leistungen selbständig berechnungsfähig sind, neben Berechnungsbestimmungen im Gebührenverzeichnis
selbst vor allem § 4 Abs. 2a GOÄ in der Fassung der Vierten Verordnung zur Änderung der GOÄ vom 18.
12.1995 (BGBl. I S. 1861) in den Blick zu nehmen. Nach dieser Bestimmung kann der Arzt für eine Leistung, die
Bestandteil oder eine besondere Ausführung einer anderen Leistung nach dem Gebührenverzeichnis ist, eine
Gebühr nicht berechnen, wenn er für die andere Leistung eine Gebühr berechnet. Dies gilt nach § 4 Abs. 2a Satz
2 GOÄ auch für die zur Erbringung der im Gebührenverzeichnis aufgeführten operativen Leistungen methodisch
notwendigen operativen Einzelschritte. In den dem Abschnitt L (Chirurgie, Orthopädie) des Gebührenverzeichnisses
vorangestellten Allgemeinen Bestimmungen werden Inhalt und Tragweite dieses als Zielleistungsprinzip
bezeichneten Grundsatzes näher verdeutlicht, wenn es dort heißt, dass zur Erbringung der in Abschnitt L
aufgeführten typischen operativen Leistungen in der Regel mehrere operative Einzelschritte erforderlich sind und
dass diese Einzelschritte, soweit sie methodisch notwendige Bestandteile der in der jeweiligen
Leistungsbeschreibung genannten Zielleistung sind, nicht gesondert berechnet werden können. Der Bestimmung
des § 4 Abs. 2a Satz 1 GOÄ, dieinhaltlich im Wesentlichen schon in § 4 der GOÄ vom 18. 03.1965 (BGBl. I S. 89) und in
§ 4 Abs. 2 Satz 2 der GOÄ vom 12. 11.1982 (BGBl. I S. 1522) enthalten war, kommt eine klare abrechnungstechnische
Bedeutung zu, die unmittelbar einleuchtet: Der Arzt darf ein und dieselbe Leistung, die zugleich Bestandteil einer
von ihm gleichfalls vorgenommenen umfassenderen Leistung ist, nicht zweimal abrechnen. Daraus folgt zugleich
die Selbstverständlichkeit, dass Leistungen, die nicht Bestandteil einer anderen abgerechneten Leistung sind,
abrechenbar sind, soweit es sich um selbständige Leistungen handelt.
Die durch die Vierte Verordnung zur Änderung der GOÄ vom 18. 12.1995 zusätzlich eingefügten Regelungen in §
4 Abs. 2a Satz 2 GOÄ und in den Allgemeinen Bestimmungen des Abschnitts L, die auf eine Anregung des
Bundesrates zur "Klarstellung und Verdeutlichung der Anwendung des Ziel- oder Komplexleistungsprinzips auch
im operativen Bereich" zurückgehen (vgl. BRDrucks. 688/95 S. 4), schließen an diesen Zweck an und formulieren dies für
operative Leistungen in der Weise, dass methodisch notwendige operative Einzelschritte nicht besonders zu
berechnen sind. Dabei verdeutlicht Absatz 1 Satz 2 der Allgemeinen Bestimmungen des Abschnitts L, dass mit
den Einzelschritten Bestandteile der in der jeweiligen Leistungsbeschreibung genannten Zielleistung gemeint
sind. Es geht daher auch bei Anwendung dieser Bestimmungen um die Verhinderung einer Doppelhonorierung
von Leistungen (vgl. Miebach, in: Uleer/Miebach/Patt, Abrechnung von Arzt- und Krankenhausleistungen, 3. Aufl. 2006, § 4 GOÄ Rn. 12 f, und MedR 2003, 88). Nur dieser Grund
rechtfertigt es, eine erbrachte Leistung, soweit sie selbständig ist, nicht zu honorieren.
2. a) Vielfach gibt die Gebührenordnung selbst Hinweise dafür, wie das Verhältnis ärztlicher Leistungen
zueinander zu bestimmen ist, ohne dass hierfür eine aufwändigere Analyse des genauen Inhalts der
Gebührenposition notwendig wäre. Dies gilt - für den operativen Bereich - etwa für eine Komplexleistung wie in
Nr. 2757 im Verhältnis zu Nr. 2260 (vgl. hierzu Senatsurteil BGHZ 159, 142, 144 f), für die Komplexleistung in Nr. 2297 im Verhältnis zu
den Nummern 2295 und 2296 (vgl. Senatsurteil vom 16. 03.2006 aaO S. 919 f Rn. 7) oder wie im vorliegenden Fall im Verhältnis der
Komplexleistung in Nr. 2997 zu den Leistungen in den Nummern 2995 und 2996. Dass einem einheitlichen
Behandlungsgeschehen auch mehrere Zielleistungen zugrunde liegen können, ist nach der jeweiligen
Leistungslegende ebenfalls möglich (vgl. Senatsurteil vom 16. 03.2006 aaO S. 920 Rn. 10). Absatz 2 der Allgemeinen Bestimmungen des
Abschnitts L belegt, dass auch die Gebührenordnung von einer solchen Möglichkeit ausgeht, indem sie eine
Anrechnungsbestimmung bei Eingriffen in die Brust oder Bauchhöhle nach unterschiedlichen Gebührenpositionen
vorsieht, wenn es dabei nur zu einer einmaligen Eröffnung dieser Körperhöhlen gekommen ist. Daran wird
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deutlich, dass es einer genaueren Betrachtung der Reichweite jeder in Rede stehenden Gebührenposition bedarf
und aus dem Umstand, dass nach ärztlicher Kunst verschiedene Leistungen in zeitlichem Zusammenhang zu
erbringen sind, nicht ohne weiteres zu schließen ist, es liege nur eine Zielleistung vor, im Verhältnis zu der sich
die anderen als unselbständige Hilfs- oder Begleitverrichtungen darstellten.
b)Geben unterschiedliche Gebührenpositionen, die ihrer Legende nach durch den Arzt erfüllt worden sind, keine
näheren Hinweise über ihr Verhältnis zueinander, ist zu prüfen, ob es sich um jeweils selbständige Leistungen
handelt oder ob eine oder mehrere von ihnen als Zielleistung und die anderen als deren methodisch notwendigen
Bestandteile anzusehen sind. Die Auffassungdes Berufungsgerichts, was unter einem methodisch notwendigen
Bestandteil einer Zielleistung zu verstehen sei, richte sich danach, was im konkreten Einzelfall erforderlich
gewesen sei, um die Zielleistung kunstgerecht zu erbringen, teilt der Senat nicht. Der Maßstab ärztlicher Kunst ist
bei der Erbringung aller ärztlichen Leistungen - seien es selbständige Leistungen oder unselbständige
Begleitverrichtungen - zu beachten. Er hat damit Bedeutung für die Frage, welche Leistungen der Arzt dem
Patienten in einem konkreten Behandlungsfall zu erbringen hat. Er ist aber gebührenrechtlich kein hinreichend
taugliches Unterscheidungskriterium. Vor allem vermag er die Frage nach dem jeweiligen Inhalt der zur
Diskussion stehenden Gebührenpositionen nicht näher zu beantworten. Will man aber im Einzelnen prüfen, ob
verschiedene ärztliche Leistungen (methodisch notwendige) Bestandteile einer anderen Leistung sind, damit eine doppelte
Honorierung vermieden wird, kann man dies nur beantworten, wenn man zuvor Klarheit über den jeweiligen
Leistungsumfang gewonnen hat. Diese dem Richter obliegende Aufgabe wird häufig nicht ohne sachverständige
Hilfe bewältigt werden können. Dabei hat der Richter - wie auch sonst bei der Auslegung von Gesetzen - einen
abstraktgenerellen Maßstab zugrunde zu legen (vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil vom 21. 09.1995 - 2 C 33/94 - juris Rn. 1416), ehe er das hieraus
gewonnene Ergebnis auf den konkreten Fall anwendet. Dass der Verordnungsgeber bei der Festlegung und
Bewertung der einzelnen Gebührenpositionen von solchen allgemeinen Maßstäben ausgegangen ist, kann nicht
zweifelhaft sein. Dies ergibt sich daraus, dass er in Absatz 1 Satz 1 der Allgemeinen Bestimmungen von
"typischen" operativen Leistungen spricht und in Satz 2 bezüglich der Einzelschritte die mangelnde
Berechenbarkeit davon abhängig macht, dass sie "methodisch" notwendige Bestandteile der Zielleistung sind.
Hieraus sowie aus der sehr differenzierten punktmäßigen Bewertung wird deutlich, dass der Verordnungsgeber
bei der Beschreibung der verschiedenen Leistungen ein typisches Bild vor Augen hatte, zu dem nach den
Kenntnissen medizinischer Wissenschaft und Praxis ("Methode") ein bestimmter Umfang von Einzelverrichtungen
gehört. Es ist zwar so, dass in den verschiedenen Gebührenpositionen die ärztlichen Leistungen eher - als Ziel plakativ benannt denn beschrieben werden und dass die Art der Ausführung und der verwendeten
wissenschaftlichen Methode nicht Bestandteil der Leistungslegende ist. Das rechtfertigt indes nicht - wie es das
Berufungsgericht für richtig hält , die Frage nach dem "methodisch" notwendigen operativen Einzelschritt mehr
oder minder unbeantwortet zu lassen. Der Hinweis auf die vom Verordnungsgeber (gleichfalls) gewünschte
Verbesserung der Transparenz der Abrechnung ändert hieran nichts, da die Abrechnung schwerlich transparenter
sein kann als das Gefüge der im Gebührenverzeichnis enthaltenen ärztlichen Leistungen. Dieses zu ändern etwa um einer veränderten medizinischen Anschauung Rechnung zu tragen - wäre Sache des
Verordnungsgebers. Das Zielleistungsprinzip allein kann nicht dafür in Anspruch genommen werden, vom
Verordnungsgeber als selbständig angesehene Leistungen zum Bestandteil einer anderen Leistung zu machen.
3. Gemessen an diesen Grundsätzen kann die besondere Berechnungsfähigkeit der Leistungen nach der Nr.
2975 des Gebührenverzeichnisses nicht verneint werden, während die angefochtene Entscheidung hinsichtlich
der weiteren Gebührenpositionen nicht zu beanstanden ist.
a) Nach den Angaben des Sachverständigen, die beide Vorinstanzen ihrer Entscheidung zugrunde gelegt haben,
hat der Kläger die in Nr. 2975 beschriebene Leistung der Dekortikation der Lunge vorgenommen. Der
Sachverständige hat hierzu erläutert, die Freilegung von Verwachsungen der Lungenoberfläche sei erforderlich
gewesen, um die Entfernung des rechten Lungenoberlappens nach der Nr. 2997 zu ermöglichen. Die
Schwartenbildung und die durch starken Nikotingenuss vorhandenen Adhäsionen seien eine eigenständige
Indikation für die Freilegung der Lunge gewesen. Demgegenüber sei bei der Entfernung eines Lungenlappens
und einer Resektion von Lungensegmenten normalerweise eine Freilegung verwachsener Lungenoberflächen
nicht erforderlich.
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Danach lässt sich zwar nicht in Abrede stellen, dass die Freilegung der Lungenoberfläche medizinisch notwendig
war, um die in Aussicht genommene Entfernung des Lungenlappens und die Resektion von Lungensegmenten
vorzunehmen. Es mag auch die Auffassung des Beklagten zutreffen, eine Freilegung der Lungenoberfläche wäre
unterblieben, wenn die Leistungen nach Nr. 2997 nicht vorgenommen worden wären, so dass eine eigenständige
Indikation, die zur Operation geführt hätte, zweifelhaft ist. Der Senat sieht jedoch weder in der
Leistungsbeschreibung noch in der Bewertung einen Anhaltspunkt dafür, dass die mit 4.800 Punkten bewertete
Leistung nach Nr. 2975 in der mit 5.100 Punkten nur unwesentlich höher bewerteten Leistung nach Nr. 2997
enthalten oder als deren besondere Ausführung im Sinn des § 4 Abs. 2a Satz 1 GOÄ zu behandeln wäre. Auch
wenn man noch die in beiden Gebührennummern enthaltenen 1.110 Punkte für die Eröffnung der Brusthöhle
berücksichtigt (vgl. Nr. 2990 i.V.m. Absatz 2 der Allgemeinen Bestimmungen des Abschnitts L), müsste die Freilegung zu mehr als 90 % in der Nr.
2997 enthalten sein, was angesichts der beiden vergleichsweise hoch bewerteten Gebührenpositionen
auszuschließen ist. Dann bleibt aber praktisch keine andere Wahl, als in der Leistung nach Nr. 2975 eine
selbständige im Sinn des § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ zu sehen.
b) Zu Nr. 3126 des Gebührenverzeichnisses (Intrathorakaler Eingriff am Ösophagus) hat das Berufungsgericht die Auffassung
vertreten, die Ablösungund Entfernung der an der Speiseröhre anhaftenden Lymphknoten sei bereits von der Nr.
3013 (Intrathorakaler Eingriff am Lymphgefäßsystem) umfasst. Es hat darüber hinaus - im Rahmen seiner Analyse des Senatsurteils
vom 21. 12.2006 (III ZR 117/06 - NJWRR 2007, 494, 497 Rn. 23; insoweit ohne Abdruck in BGHZ 170, 252)- zum Ausdruck gebracht, im vorliegenden Fall
liege nicht die Besonderheit vor, dass die streitigen Abrechnungen ein anderes Zielgebiet beträfen. Hiergegen
wird von der Revision nichts angeführt. Da der in Nr. 3013 beschriebene Eingriff am Lymphgefäßsystem den
Raum der Brusthöhle betrifft und sich nicht auf bestimmte befallene Organe bezieht, hält der Senat die
Würdigung, dass diese Gebührenziffer auch Leistungen an der in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden und mit
dem Eingriff in dieselbe Körperhöhle erreichbaren Speiseröhre mit abdeckt, für rechtsfehlerfrei.
c) Was die zweimalige Berechnung der Neurolyse des Nervus vagus und des Nervus recurrens nach Nr. 2583
angeht, hat das Berufungsgericht im Ergebnis zu Recht die gesonderte Abrechenbarkeit verneint. Bereits in die
Beschreibung dieser Leistung ist der im Hinblick auf § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ an sich überflüssige Zusatz
aufgenommen worden, dass die Neurolyse (nur) als selbständige Leistung abrechenbar ist. Der Zusatz gibt aber
einen besonderen Hinweis darauf, dass der Verordnungsgeber bei der Beschreibung von Zielleistungen im Auge
hatte, dass Neurolysen - gerade im operativen Bereich - wenn auch nicht in jedem Fall, aber typischerweise
erforderlich sind, um den Erfolg einer operativen Leistung zu gewährleisten. Es stellt keine für eine selbständige
Abrechenbarkeit hinreichende eigenständige Indikation dar, wenn der betreffende Nerv im Zuge der Erbringung
der (anderen) Zielleistung geschont und seine Verletzung verhindert werden soll (vgl. Senatsurteil BGHZ 159, 142, 145 f). So verhielt es
sich aber nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts auch hier.
d) Auch die Freilegung und/oder Unterbindung eines Blutgefäßes in der Brust- oder Bauchhöhle (Nr. 2802) ist - wie die
Leistungslegende hervorhebt - nur als selbständige Leistung abrechenbar. Insoweit gelten hierfür ähnliche
Überlegungen wie zur Neurolyse oder zur Freilegung eines Blutgefäßes im Halsbereich (vgl. hierzu Senatsurteil BGHZ 159 aaO).
Insoweit hat das Berufungsgericht - sachverständig beraten - festgestellt, die Freilegung der Blutgefäße sei
erforderlich gewesen, um an die Lymphknoten heranzukommen, die im Zuge einer Leistung nach der Nr. 3013
entfernt werden sollten. Dies ist rechtlich unbedenklich und wird auch von der Revision nicht angegriffen.
4. Danach kann der Kläger von den noch streitigen Positionen lediglich für seine Leistungen nach der Nr. 2975
ein Honorar beanspruchen. Hierfür hat er - insoweit unbeanstandet - das Dreieinhalbfache des Gebührensatzes,
das sind 979,23 € und unter Berücksichtigung des Abschlags von 25 % (= 244,81 €) gemäß § 6a Abs. 1 GOÄ 734,42 €,
in Rechnung gestellt.
Legt man die von den Parteien rechnerisch nicht angegriffenen Berechnungen des Amtsgerichts zugrunde, das
von einer vorprozessualen Erfüllung des Beklagten in Höhe von 442,19 € ausgegangen ist, ergibt sich ein
möglicher Anspruch des Klägers von 292,23 € nebst Zinsen.
Im weiteren Verfahren ist jedoch noch zu klären, ob der Kläger nach Absatz 2 der Allgemeinen Bestimmungen
des Abschnitts L Abschläge in Höhe des Vergütungssatzes nach Nr. 2990 hinzunehmen hat, weil aus der Sicht
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des Senats auf der Grundlage des Operationsberichts im Raum steht, dass bei mehreren in zeitlichem
Zusammenhang durchgeführten Eingriffen in der Brusthöhle (hier nach den Nummern 2975, 2997 und 3013) die Eröffnungsleistung nur
einmal berechnet werden darf. Da insoweit noch keine Feststellungen getroffen worden sind und die Parteien sich
hierzu gleichfalls noch nicht geäußert haben, ist die Sache insoweit zur weiteren Klärung an das Berufungsgericht
zurückzuverweisen (zur näheren Berechnung vgl. Brück, GOÄ, 3. Aufl., Stand 7/2006, Abschnitt L Allgemeine Bestimmungen Rn. 3).
Schlick Dörr Herrmann HarsdorfGebhardt Hucke
Vorinstanzen: AG Hamburg, Entscheidung vom 13.12.2006 - 17A C 352/05 - LG Hamburg, Entscheidung vom
28.08.2007 - 320 S 15/07 BGH VI ZR 250/07 vom 06.05.2008
Im Arzthaftungsprozess hat das Gericht zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts in der Regel
einen Sachverständigen einzuschalten. Ein gerichtliches Sachverständigengutachten muss der Tatrichter
jedenfalls dann einholen, wenn ein im Wege des Urkundsbeweises verwertetes Gutachten (hier: aus einem
vorangegangenen Verfahren einer ärztlichen Schlichtungsstelle) nicht alle Fragen beantwortet.
BGH, Beschluss vom 6. 05.2008 - VI ZR 250/07 - OLG Brandenburg
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. 05.2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr.
Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 12. Zivilsenats des
Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 30. 08.2007 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens
der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 47.954,74 €
Gründe:
1. Die damals 47jährige Klägerin stürzte am 20. 01.2001 beim Schlittschuhlaufen und zog sich dabei eine
Trümmerfraktur der linken Kniescheibe zu. Sie begab sich am Folgetag in das Klinikum F., dessen Träger
seinerzeit die Beklagte zu 1 war. Bei der Aufnahmeuntersuchung wurde ein Kniescheibenmehrfragmentbruch
diagnostiziert. Die Klägerin wurde stationär aufgenommen und von dem Beklagten zu 3, dem Chefarzt der
Chirurgischen Abteilung, behandelt. Dieser ordnete eine konventionelle Behandlung durch Ruhigstellung an.
Wegen zunehmender Beschwerden der Klägerin erfolgte am 1. 02.2001 eine erneute Röntgenuntersuchung, bei
der nunmehr eine deutliche Stufenbildung der Bruchstellen der Kniescheibe festgestellt wurde. Daraufhin wurde
eine operative Behandlung der Fraktur angeordnet. Die Operation fand am 5. 02.2001 statt und wurde von dem
Beklagten zu 2 durchgeführt. Die Klägerin verblieb bis zum 20. 02.2001 in stationärer Behandlung. Ihr Knie war in
der Folgezeit nur eingeschränkt bewegungsfähig. Am 28. 05.2001 wurden die bei der Operation eingebrachten
Drähte entfernt. Anschließend unterzog sich die Klägerin einer Rehabilitationsmaßnahme. Die Klägerin hat unter
Beweisantritt behauptet, die Entscheidung für eine konservative Behandlung sei fehlerhaft gewesen. Der Beklagte
zu 3 habe die Stufenbildung der Frakturstücke übersehen. Die konventionelle Behandlung habe eine
Ruhigstellung zunächst nicht gewährleisten können, weil eine geeignete Schiene nicht sofort zur Verfügung
gestanden habe. Die nach mehreren Tagen eingetroffene Motorschiene habe nicht gepasst und keinen
ausreichenden Halt verschafft. Die Operation sei verspätet und fehlerhaft durchgeführt worden. Infolge der
unsachgemäßen Behandlung seien Verwachsungen eingetreten und weitere Operationen erforderlich geworden.
Die Klägerin leide heute an einer Chondropathie III. Grades in Form einer ausgeprägten Arthrose des linken
Kniegelenks. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Mit ihrer Berufung hat sich die Klägerin mit näheren
Ausführungen gegen die Auffassung des Landgerichts gewandt, dass die Klageforderung verjährt sei. In der
Sache selbst hat sie auf ihr erstinstanzliches Vorbringen einschließlich der dortigen Beweisantritte Bezug
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genommen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung mit der Begründung zurückgewiesen, die Klägerin habe
nicht nachgewiesen, dass die von ihr geklagten Beschwerden auf einer fehlerhaften Behandlung beruhten.
Vielmehr stehe aufgrund des im vorausgegangenen Schlichtungsverfahren erstatteten und im Wege des
Urkundsbeweises verwerteten Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. W. fest, dass ein Behandlungsfehler
nicht vorliege und die Behandlung der Klägerin sach- und fachgerecht erfolgt sei. Gegen dieses Gutachten habe
die Klägerin keine konkreten Einwendungen erhoben. Für eine mangelnde Neutralität des Gutachters bestünden
keine Anhaltspunkte. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass der Sachverständige die Klägerin nicht untersucht
habe, denn der Gutachter habe nicht den jetzigen Krankheitszustand der Klägerin, sondern aufgrund der
vorhandenen Unterlagen den Ablauf und die Ordnungsmäßigkeit der Behandlung zu beurteilen gehabt, wofür eine
Untersuchung nicht erforderlich sei. Die von der Klägerin vorgelegte Stellungnahme des Orthopäden Dr. G. sei
nicht geeignet, die Beurteilung des Schlichtungsgutachters in Zweifel zu ziehen. Zwar habe dieser sich nicht mit
dem Vorbringen auseinandergesetzt, auch die konservative Behandlung sei fehlerhaft gewesen, weil die
erforderliche Motorschiene zu spät beschafft worden sei, doch habe der Sachverständige unter Auswertung der
vorliegenden Behandlungsunterlagen keine Anhaltspunkte dafür vorgefunden, dass die eingetretene
Stufenbildung auf eine nicht ausreichende Stabilisierung des Kniegelenks zurückzuführen sei. Auch die Klägerin
gehe offensichtlich selbst nicht davon aus, dass die Stufenbildung durch das Nichtanlegen der Motorschiene
verursacht worden sei, da sie ja der Auffassung sei, dass von Anfang an eine Operation indiziert gewesen wäre.
Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der
Nichtzulassungsbeschwerde.
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des
angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die angefochtene
Entscheidung verletzt den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Mit Erfolg macht
die Nichtzulassungsbeschwerde geltend, dass das Berufungsgericht die Beurteilung, ob die in der Klinik der
Beklagten zu 1 getroffene Entscheidung für eine zunächst konservative Behandlung und deren Durchführung
fehlerhaft waren, ausschließlich auf das im Wege des Urkundsbeweises verwertete Gutachten aus dem
vorausgegangenen Schlichtungsverfahren gestützt hat.
a) Im Arzthaftungsprozess hat das Gericht zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts in der Regel
einen Sachverständigen einzuschalten (vgl. OLG Hamm, AHRS 7010/124; AHRS 7010/300; AHRS 7010/319; OLG Karlsruhe, AHRS 7010/328) . Dabei kann
gemäß § 411a ZPO eine schriftliche Begutachtung durch die Verwertung eines gerichtlich oder
staatsanwaltschaftlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden.
Das schließt allerdings nicht aus, dass ein außerhalb des Rechtsstreits, etwa in einem anderen Verfahren
erstattetes Gutachten grundsätzlich auch im Arzthaftungsprozess im Wege des Urkundsbeweises verwertet
werden kann (vgl. Senatsurteile vom 5. 02.1963 - VI ZR 42/62 - VersR 1963, 463, 464 [ärztliches Gutachten aus einem Armenrechtsverfahren]; vom 8. 11.1994 - VI ZR 207/93 - VersR 1995, 481,
482 [Mehrere Gutachten aus einem Strafverfahren]; vom 22. 04.1997 - VI ZR 198/96 - VersR 1997, 1158, 1159 [Gutachten aus einem sozialgerichtlichen Verfahren] und vom 23. 04.2002 - VI ZR 180/01 -
. Nach der Rechtsprechung des Senats gilt dies im
Grundsatz auch für medizinische Gutachten aus vorausgegangenen Verfahren ärztlicher Schlichtungsstellen (vgl.
Senatsurteile vom 19. 05.1987 - VI ZR 147/86 - VersR 1987, 1091, 1092 und vom 2. 03.1993 - VI ZR 104/92 - VersR 1993, 749, 750; vgl. auch OLG Köln, VersR 1990, 311 und AHRS 7010, 333) . Der
Tatrichter muss aber ein gerichtliches Sachverständigengutachten jedenfalls dann einholen, wenn ein im Wege
des Urkundsbeweises verwertetes Gutachten nicht alle Fragen beantwortet (Senatsurteil vom 2. 03.1993 - VI ZR 104/92 - aaO; vgl. auch OLG
Bremen, OLGR 2001, 398 = AHRS 7010/309). Ein solcher Fall ist hier gegeben.
VersR 2002, 911 [Unfallanalytisches Gutachten aus einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren])
b) Das Berufungsgericht hat es verfahrensfehlerhaft versäumt, dem von der Klägerin durch Vorlage der
ärztlichen Stellungnahme des Orthopäden Dr. G. untermauerten Vortrag nachzugehen, wonach eine sofortige
Operation indiziert gewesen sei. Den darin liegenden Widerspruch zu der Beurteilung des Schlichtungsgutachters
hätte das Berufungsgericht durch Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens aufklären müssen.
Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zudem mit Recht geltend macht, befasst sich das Schlichtungsgutachten
auch nicht mit dem Hilfsvorbringen der Klägerin, zu der negativen Entwicklung des Heilungsprozesses habe das
anfängliche Fehlen der für eine konservative Behandlung erforderlichen und im Streitfall auch ärztlich verordneten
MedicomSchiene beigetragen. In diesem Zusammenhang hätte das Berufungsgericht gegebenenfalls auch der
von den Beklagten angesprochenen Frage nachgehen müssen, ob und auf welche Weise die auch von ihnen für
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die Zeit der konservativen Behandlung für erforderlich erachtete Ruhigstellung des Kniegelenks trotz fehlender
Schiene gewährleistet war.
3. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Klärung zu einer
anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre, war das Urteil aufzuheben und die Sache an das
Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll
Vorinstanzen: LG Frankfurt (Oder), Entscheidung vom 12.12.2006 - 12 O 158/06 - OLG Brandenburg, Entscheidung
vom 30.08.2007 - 12 U 33/07
BGH VI ZR 221/06 Verkündet am: 12.02.2008: Wenn ein Morbus Sudeck nach dem Klagevortrag infolge einer
ärztlichen Fehlbehandlung und der damit hervorgerufenen Gesundheitsbeeinträchtigung eingetreten ist,
behauptet der Kläger insoweit einen Sekundärschaden. Für den Nachweis des Ursachenzusammenhangs
zwischen der Fehlbehandlung und dem Morbus Sudeck gilt in diesem Fall der Maßstab des § 287 ZPO (= überwiegende
Wahrscheinlichkeit- Abgrenzung zum Senatsurteil vom 4. 11.2003 - VI ZR 28/03 - VersR 2004, 118).
BGH, Urteil vom 12. 02.2008 - VI ZR 221/06 - OLG Saarbrücken , LG Saarbrücken Der VI. Zivilsenat des
Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 12. 02.2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und
die Richter Dr. Greiner, Pauge, Stöhr und Zoll für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Saarländischen
Oberlandesgerichts in Saarbrücken vom 11. 10.2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger nimmt den Beklagten, einen Facharzt für Orthopädie, wegen ärztlicher Fehlbehandlung auf
Ersatz materieller und immaterieller Schäden in Anspruch.
Der Kläger schlug sich am 11. 10.2002 mit dem Hammer auf den linken Zeigefinger und begab sich
deswegen am 14. 10.2002 in die ärztliche Behandlung des Beklagten. Dieser fertigte ein Röntgenbild an und
diagnostizierte danach eine starke Prellung. Er versorgte den Finger mit einem Verband und entließ den Kläger
als arbeitsfähig. Am 15. 11.2002 rutschte der Kläger während der Arbeit aus und schlug mit dem linken
Zeigefinger gegen eine Wand. Aufgrund dessen stellte er sich am 18. 11.2002 bei Dr. B. vor, der eine Refraktur
des linken Zeigefingerendglieds diagnostizierte. Nachfolgend trat eine Sudecksche Heilentgleisung ein. Der
Kläger ist seitdem arbeitsunfähig und erhält seit 05.2004 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Der
Kläger behauptet, er habe bereits am 11. 10.2002 eine Fraktur des linken Zeigefingerendglieds erlitten. Dies sei
auf dem gefertigten Röntgenbild eindeutig zu erkennen. Der Zeigefinger hätte ruhiggestellt und er selbst hätte
arbeitsunfähig geschrieben werden müssen. Folgen der Fehlbehandlung seien der Unfall vom 15. 11.2002 und
das Auftreten des Morbus Sudeck.
Das Landgericht hat dem Kläger wegen der Behandlungsverzögerung ein Schmerzensgeld von 500 €
zugesprochen und die weitergehende Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers
und die Anschlussberufung des Beklagten zurückgewiesen. Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen
Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 92
Das Berufungsgericht bejaht einen Behandlungsfehler des Beklagten bei der Auswertung des
Röntgenbildes, weil tatsächlich eine Fraktur vorgelegen habe und die Diagnose einer Prellung mithin falsch
gewesen sei. Es meint jedoch, dass sich eine Kausalität zwischen der Fehlbehandlung und der Entstehung des
Morbus Sudeck nicht sicher feststellen lasse. Nach der Beurteilung des Sachverständigen sei ein
Ursachenzusammenhang zwar sehr wahrscheinlich; da es jedoch möglich - wenn auch sehr unwahrscheinlich sei, dass sich der Morbus Sudeck allein aufgrund des ersten Unfalls vom 11. 10.2002 entwickelt habe, lasse sich
nicht mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit die Überzeugung gewinnen, dass der
Behandlungsfehler die Sudecksche Heilentgleisung hervorgerufen habe. Beweiserleichterungen kämen dem
Kläger nicht zugute. Die fehlerhafte Auswertung des Röntgenbildes sei, da der Beklagte den notwendigen Befund
erhoben habe, kein Befunderhebungsfehler, sondern ein Diagnosefehler. Ein grober Behandlungsfehler in Form
eines fundamentalen Diagnoseirrtums liege nicht vor, weil die Fraktur nach Einschätzung des Sachverständigen
eher schwierig zu erkennen gewesen sei. Da sie jedoch auf dem Röntgenbild erkennbar sei, habe keine
Veranlassung bestanden, eine Vergrößerung der Aufnahme anzufertigen.
II.
Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Das Berufungsgericht hat allerdings zu Recht das ärztliche Fehlverhalten des Beklagten am 14. 10.2002
nicht als Befunderhebungsfehler, sondern als Diagnosefehler gewertet, wie er im Falle der Fehlinterpretation von
erhobenen oder sonst vorliegenden Befunden gegeben ist. Im Unterschied dazu liegt ein Befunderhebungsfehler
und damit ein Therapiefehler vor, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird (vgl. Senatsurteile
vom 10. 11.1987 - VI ZR 39/87 - VersR 1988, 293, 294; vom 23. 03.1993 - VI ZR 26/92 - VersR 1993, 836, 838; vom 4. 10.1994 - VI ZR 205/93 - VersR 1995, 46 und vom 8. 07.2003 - VI ZR 304/02 - VersR
. Vorliegend ist dem Beklagten eine Fehlinterpretation des erhobenen Befundes unterlaufen. Die Fraktur
des linken Zeigefingerendglieds war auf dem von ihm angefertigten Röntgenbild nämlich zu erkennen. Das
Nichterkennen dieses Bruchs stellt sich demnach als Diagnosefehler dar, und zwar auch dann, wenn das
Röntgenbild, wie die Revision geltend macht, vierfach hätte vergrößert werden müssen (dazu unten unter 3 b, bb).
2003, 1256 f.)
2. Als nicht frei von Rechtsfehlern erweisen sich jedoch die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht
die Ursächlichkeit der Fehlbehandlung durch den Beklagten für den Gesundheitsschaden des Klägers verneint
hat. Die Revision macht mit Recht geltend, bei der Beurteilung der Kausalität habe das Berufungsgericht ein zu
strenges Beweismaß angelegt. Nach den Ausführungen in dem angefochtenen Urteil kann nicht ausgeschlossen
werden, dass es den Kläger zu Unrecht für beweisfällig gehalten hat.
Der Patient hat grundsätzlich den Ursachenzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem
geltend gemachten Gesundheitsschaden nachzuweisen. Dabei ist zwischen der haftungsbegründenden und der
haftungsausfüllenden Kausalität zu unterscheiden. Erstere betrifft die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für
die Rechtsgutverletzung als solche, also für den Primärschaden des Patienten im Sinne einer Belastung seiner
gesundheitlichen Befindlichkeit. Insoweit gilt das strenge Beweismaß des § 286 ZPO, das einen für das
praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit verlangt (BGHZ 53, 245, 255 f.; Senatsurteile vom 9. 05.1989 - VI ZR 268/88 - VersR 1989, 758, 759 und
vom 18. 01.2000 - VI ZR 375/98 - VersR 2000, 503, 505; BGH, Urteil vom 14. 01.1993 - IX ZR 238/91 - NJW 1993, 935, 937). Die Feststellung der haftungsausfüllenden
Kausalität und damit der Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für alle weiteren (Folge)Schäden einschließlich der
Frage einer fehlerbedingten Verschlimmerung von Vorschäden richtet sich hingegen nach § 287 ZPO; hier kann
zur Überzeugungsbildung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen (Senatsurteile vom 24. 06.1986 - VI ZR 21/85 - VersR 1986, 1121,
1122 f.; vom 21. 10.1987 - VI ZR 15/85 - VersR 1987, 310; vom 22. 09.1992 - VI ZR 293/91 - VersR 1993, 55 f. und vom 21. 07.1998 - VI ZR 15/98 - VersR 1998, 1153, 1154).
Vorliegend hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei die Fehlbehandlung des Klägers und damit die
haftungsbegründende Kausalität festgestellt. Primärschaden des Klägers, d.h. die durch den Behandlungsfehler
im Sinne haftungsbegründender Kausalität hervorgerufene Körperverletzung, ist die durch die unterbliebene
Ruhigstellung und damit unsachgemäße Behandlung der Fraktur eingetretene gesundheitliche Befindlichkeit.
Welche weiteren Schäden sich hieraus entwickelt haben, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität. Da
der Morbus Sudeck nach dem Klagevortrag nicht durch den Unfall, sondern durch die ärztliche Fehlbehandlung
und die damit hervorgerufene Gesundheitsbeeinträchtigung eingetreten ist, behauptet der Kläger insoweit mithin
einen Sekundär/Folgeschaden (vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 4. 11.2003 - VI ZR 28/03 - VersR 2004, 118, 119; OLG Saarbrücken, NJWRR 1999, 176, 177). In dieser
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 93
Hinsicht unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem dem Senatsurteil vom 4. 11.2003 (VI ZR 28/03 - VersR 2004, 118)
zugrunde liegenden Sachverhalt, in dem der nach dem Unfall aufgetretene Morbus Sudeck als Primärschaden
geltend gemacht wurde, weil es an einer vorausgegangenen Körperverletzung fehlte.
Nach den vom Berufungsgericht verwendeten Formulierungen liegt die Annahme nahe, dass es bei
Prüfung des Kausalzusammenhangs für den Folgeschaden einen zu strengen Maßstab angelegt hat. Das
Berufungsgericht hat nämlich die Kausalität verneint, weil sich nicht mit einem für das praktische Leben
brauchbaren Grad an Gewissheit die Überzeugung gewinnen lasse, dass die Fehlbehandlung die Sudeck‗sche
Heilentgleisung hervorgerufen habe, denn es sei möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, dass sich der
Morbus Sudeck allein aufgrund des Unfalls vom 11. 10.2002 entwickelt habe. Für die Anlegung eines zu strengen
Beweismaßes spricht auch, dass das Berufungsgericht nicht nur den Sachverständigen Prof. Dr. C. mit den
Worten zitiert, dieser habe gesagt, dass der Morbus Sudeck auch bei ordnungsgemäßer Behandlung nicht "mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" vermieden worden wäre, sondern ausdrücklich auch die
Beweiswürdigung des Landgerichts billigt, welches für den Kausalitätsbeweis eine "mit an Sicherheit grenzende
Wahrscheinlichkeit" verlangt hat. Damit hat das Berufungsgericht, wie die Revision mit Recht geltend macht, für
den Nachweis der Ursächlichkeit hinsichtlich des Folgeschadens ein Beweismaß verlangt, das noch nicht einmal
von dem strengen Maßstab des § 286 ZPO vorausgesetzt wird (vgl. BGHZ 53, 245, 255 f.; Senatsurteile vom 9. 05.1989 - VI ZR 268/88 - VersR 1989, 758,
759 und vom 18. 01.2000 - VI ZR 375/98 - VersR 2000, 503, 505; BGH, Urteil vom 14. 01.1993 - IX ZR 238/91 - NJW 1993, 935, 937). Es kann nicht ausgeschlossen werden,
dass die tatrichterliche Würdigung bei Berücksichtigung der hier allein maßgebenden Grundsätze des § 287 ZPO
zu einem anderen, für den Kläger günstigeren Ergebnis geführt hätte.
3. Auch soweit das Berufungsgericht die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr zugunsten des
Klägers verneint hat, sind seine Ausführungen nicht in jeder Hinsicht frei von Rechtsfehlern.
a) In Arzthaftungsprozessen kommt eine Beweislastumkehr in Betracht, wenn der Beweis des
Ursachenzusammenhangs von dem hierfür grundsätzlich beweispflichtigen Patienten nicht geführt werden kann.
Das wäre vorliegend der Fall, wenn der Kläger auch bei Anlegung des Beweismaßes von § 287 ZPO beweisfällig
bliebe. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten
Grundsätze über die Beweislastumkehr für den Kausalitätsbeweis bei groben Behandlungsfehlern (Senatsurteil BGHZ 159, 48,
53 m.w.N.), wie der erkennende Senat bereits mehrfach entschieden hat, grundsätzlich nur Anwendung finden, soweit
durch den Fehler des Arztes unmittelbar verursachte haftungsbegründende Gesundheitsbeschädigungen in Frage
stehen. Für den Kausalitätsnachweis für Folgeschäden (Sekundärschäden), die erst durch den infolge des
Behandlungsfehlers eingetretenen Gesundheitsschaden entstanden sein sollen, gelten sie nur dann, wenn der
Sekundärschaden eine typische Folge der Primärverletzung ist (Senatsurteile vom 21. 10.1969 - VI ZR 82/68 - VersR 1969, 1148, 1149; vom 9. 05.1978 VI ZR 81/77 - VersR 1978, 764, 765; vom 28. 06.1988 - VI ZR 210/87 - VersR 1989, 145; vom 16. 11.2004 - VI ZR 328/03 - VersR 2005, 228, 230; vgl. auch Senatsurteil vom 21. 07.1998 - VI ZR 15/98 - VersR
. Das Berufungsgericht wird deshalb ggf. durch Nachfrage beim Sachverständigen
aufzuklären haben, ob es sich beim Auftreten des Morbus Sudeck um eine typische Folge der durch den
Behandlungsfehler gesetzten Primärschädigung handelt.
1998, 1153, 1154; OLG Oldenburg, VersR 1999, 63)
b) Das Eingreifen einer Beweislastumkehr zugunsten des Patienten setzt des Weiteren voraus, dass dem
Arzt ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist. Dies hat das Berufungsgericht im Ansatz zutreffend erkannt.
Die Revision macht jedoch mit Recht geltend, dass die Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach der dem
Beklagten unterlaufene Diagnosefehler nicht als fundamentaler Diagnoseirrtum einzustufen sei, auf einer
unzureichenden Aufklärung des Sachverhaltes beruht.
aa) Im Ansatz geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, dass ein Fehler bei der Interpretation von
Krankheitssymptomen nur dann einen schweren Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst und damit einen
"groben" Diagnosefehler darstellt, wenn es sich um einen fundamentalen Irrtum handelt (vgl. Senatsurteile vom 14. 07.1981 - VI ZR
35/79 - VersR 1981, 1033, 1034; vom 10. 11.1987 - VI ZR 39/87 - VersR 1988, 293, 294; vom 14. 07.1992 - VI ZR 214/91 - VersR 1992, 1263, 1265 und vom 9. 01.2007 - VI ZR 59/06 - VersR 2007, 541, 542).
Wegen der bei Stellung einer Diagnose nicht seltenen Unsicherheiten muss die Schwelle, von der ab ein
Diagnoseirrtum als schwerer Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst zu beurteilen ist, der dann zu einer
Belastung mit dem Risiko der Unaufklärbarkeit des weiteren Ursachenverlaufs führen kann, hoch angesetzt
werden.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 94
Die Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler als grob oder nicht einzustufen ist, ist eine juristische Wertung,
die dem Tatrichter obliegt, der sich dabei mangels eigener Fachkenntnisse der Hilfe eines medizinischen
Sachverständigen zu bedienen hat. In aller Regel wird er sonst den berufsspezifischen Sorgfaltsmaßstab des
Arztes, der bei der Prüfung eines groben Behandlungsfehlers zu berücksichtigen ist, nicht zutreffend ermitteln
können (st. Rspr., vgl. Senatsurteile BGHZ 72, 132, 135; 132, 47, 53 f.; vom 3. 12.1985 - VI ZR 106/84 - VersR 1986, 366, 367; vom 10. 11.1987 - VI ZR 39/87 - VersR 1988, 293, 294; vom 13. 02.1996 VI ZR 402/94 - VersR 1996, 633, 634 und vom 27. 03.2001 - VI ZR 18/00 - VersR 2001, 859, 860). Das einzuholende Sachverständigengutachten muss
vollständig und überzeugend und insbesondere frei von Widersprüchen sein. Unklarheiten und Zweifel zwischen
den verschiedenen Bekundungen des Sachverständigen hat das Gericht durch gezielte Befragung zu klären.
Andernfalls bietet der erhobene Sachverständigenbeweis keine ausreichende Grundlage für die tatrichterliche
Überzeugungsbildung (vgl. Senatsurteile vom 27. 09.1994 - VI ZR 284/93 - VersR 1995, 195, 196; vom 4. 10.1994 - VI ZR 205/93 - VersR 1995, 46, 47; vom 29. 11.1994 - VI ZR 189/93 VersR 1995, 659, 660 und vom 27. 03.2001 - VI ZR 18/00 - aaO).
bb)
Vorliegend
hat
das
Berufungsgericht
auf
der
Grundlage
des
medizinischen
Sachverständigengutachtens einen groben Behandlungsfehler verneint, weil der Gutachter angegeben habe, das
Übersehen einer Fraktur sei etwas, das tagtäglich passiere. Es könne zwar einen groben Fehler darstellen, doch
sei dies nicht der Fall, wenn der Bruch, wie vorliegend, schwer zu erkennen sei. Mit Recht verweist die Revision
darauf, dass der Sachverständige auch erklärt hat, die Fraktur sei "nur unter genauer Anschauung bzw. unter
Vergrößerung erkennbar" gewesen. Abgesehen davon, dass eine "genaue Anschauung" bei der Auswertung
eines Röntgenbildes wohl stets geboten sein dürfte, wirft diese Beurteilung des Sachverständigen die Frage auf,
ob das Unterlassen einer genauen Anschauung vorliegend nicht doch als grober Fehler zu bewerten sein könnte.
Unklar ist vor allem, was unter der Formulierung "Vergrößerung" zu verstehen ist. Da es sich bei der Verletzung
des Klägers am Zeigefinger um eine relativ kleine Fraktur handelt, könnte der Sachverständige mit einer
Anschauung "unter Vergrößerung" sowohl das Betrachten des Röntgenbildes mittels einer Lupe als auch die
Anfertigung eines vergrößerten Röntgenbildes gemeint haben. Auch diesen Fragen wird das Berufungsgericht
gegebenenfalls nachzugehen haben, zumal der Kläger, wie die Revision mit Recht geltend macht, unter
Beweisantritt vorgetragen hat, es sei medizinischer Standard, ein Röntgenbild vierfach zu vergrößern. Soweit das
Berufungsgericht gemeint hat, eine Vergrößerung sei hier deshalb nicht erforderlich gewesen, weil die Fraktur auf
dem Röntgenbild auch ohne Vergrößerung zu erkennen gewesen sei, steht diese rechtliche Beurteilung in
tatsächlicher Hinsicht nicht im Einklang mit der oben wiedergegebenen Einschätzung des Sachverständigen,
wonach die Bruchstelle "nur unter genauer Anschauung bzw. unter Vergrößerung erkennbar" gewesen sei.
Jedenfalls wird das Berufungsgericht, wenn es auch nach dem Beweismaß des § 287 ZPO keine Überzeugung
von dem Ursachenzusammenhang zwischen der Fehlbehandlung und dem Morbus Sudeck gewinnen kann, die
Voraussetzungen einer Beweislastumkehr erneut zu prüfen haben und einen groben Behandlungsfehler nur auf
der Grundlage einer vollständigen und widerspruchsfreien Würdigung der medizinischen Anknüpfungstatsachen
verneinen können.
Müller Greiner Pauge Stöhr Zoll
Vorinstanzen: LG Saarbrücken, Entscheidung vom 06.12.2005 - 16 O 234/04 - OLG Saarbrücken, Entscheidung
vom 11.10.2006 - 1 U 726/05245- BGH VI ZR 118/06 Verkündet am: 08.01.2008 Ist ein grober Behandlungsfehler (hier: Hygienefehler bei intraartikulärer Injektion)
festgestellt, muss der Arzt beweisen, dass die Schädigung des Patienten nicht auf dem Behandlungsfehler
beruht, sondern durch eine hyperergisch-allergische Entzündungsreaktion verursacht ist.
BGH, Urteil vom 8. 01.2008 - VI ZR 118/06 - OLG Karlsruhe
BGB § 823 Aa, C; ZPO § 286 G LG Mannheim
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. 01.2008 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll für
Recht erkannt:
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 95
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe
vom 5. 04.2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger verlangt von den Beklagten als Erben des verstorbenen Dr. B. Ersatz materiellen Schadens
und Zahlung eines Schmerzensgeldes; ferner begehrt er die Feststellung, dass die Beklagten zum Ersatz künftig
entstehender Schäden verpflichtet sind.
Der Kläger, damals Berufsfußballspieler, hatte zunächst am 5. 07.1983 von Prof. Dr. K. wegen einer
Erkrankung im linken Kniegelenk eine Mischung verschiedener Medikamente intraartikulär injiziert erhalten. Die
Therapie sollte vom Mannschaftsarzt des Vereins des Klägers fortgesetzt werden. Wegen dessen
Urlaubsabwesenheit suchte der Kläger am 8. 07.1983 den Rechtsvorgänger der Beklagten auf, der die von Prof.
Dr. K. empfohlenen Medikamente in das linke Kniegelenk injizierte. Im zeitlichen Anschluss bekam der Kläger
Schmerzen, wegen derer er ab 11. 07.1983 stationär im T.Krankenhaus behandelt wurde. Am 12. 07.1983 wurde
dort das linke Knie operiert. Der Kläger konnte wegen seiner Kniebeschwerden längere Zeit den Beruf als
Fußballspieler nicht ausüben. Er macht geltend, der Rechtsvorgänger der Beklagten habe bei der Injektion die
Regeln der Hygiene nicht eingehalten und den Kläger nicht auf das erhöhte Infektionsrisiko einer Injektion in das
Gelenk hingewiesen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers
zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren
weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, nach den
überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen D. sei davon auszugehen, dass der Rechtsvorgänger der
Beklagten bei der Injektion gegen grundlegende hygienische Selbstverständlichkeiten verstoßen habe. Das sei
zwar als grober Behandlungsfehler zu werten. Der Kläger habe aber nicht bewiesen, dass dieser grobe
Behandlungsfehler ursächlich für seine Beschwerden geworden sei. Eine Umkehr der Beweislast für den
Kausalzusammenhang zu Lasten der Beklagten setze voraus, dass der grobe Fehler geeignet sei, die
Beschwerden des Klägers herbeizuführen. Das aber lasse sich nicht mit ausreichender Gewissheit feststellen.
Das Krankheitsbild spreche zwar in klinischer Hinsicht mehr für eine bakterielle Infektion als für einen Reizerguss
nach einer hyperergischallergischen Entzündungsreaktion. Bei den Untersuchungen der Ergussflüssigkeit hätten
jedoch die typischen Erreger für eine durch Hygienemängel verursachte Infektion nicht nachgewiesen werden
können. Auch sei nach dem orthopädischen Gutachten R. mit Wahrscheinlichkeit von einer
hyperergischallergischen Entzündungsreaktion des Kniegelenks auszugehen, die allerdings erst zwei bis drei
Tage nach dem Eingriff aufgetreten sei. Der Kläger habe damit den ihm obliegenden Beweis nicht erbracht, dass
eine Infektion und nicht eine unabhängig von Hygienemängeln aufgetretene allergische Reaktion vorgelegen
habe. Auch Aufklärungsversäumnisse fielen dem Rechtsvorgänger der Beklagten nicht zur Last. Eine Aufklärung
über die Risiken der verwendeten Medikamente in der Mischinjektion sei nicht geboten gewesen. Ein besonderes
aufklärungspflichtiges Risiko habe nicht bestanden. Der Kläger habe selbst vorgetragen, die verabreichten
Medikamente seien nicht dazu geeignet gewesen, einen Kniegelenkserguss herbeizuführen.
II.
Das hält den Angriffen der Revision nicht stand, die sich ausschließlich gegen die Verneinung einer
Haftung aus Behandlungsfehler richten.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 96
1. Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen D. in rechtlich
beanstandungsfreier Weise davon ausgegangen, dass der Rechtsvorgänger der Beklagten am 8. 07.1983 bei
Injektion des Medikamenten"Cocktails" in das linke Kniegelenk gegen grundlegende hygienische
Selbstverständlichkeiten verstoßen hat. Dies hat es – sachverständig beraten - als groben Behandlungsfehler
gewertet. Das wird von der Revision als ihr günstig nicht angegriffen und ist aus Rechtsgründen nicht zu
beanstanden.
2. Auf dieser Grundlage beanstandet die Revision zu Recht, dass das Berufungsgericht eine
Beweislastumkehr zum Kausalzusammenhang zwischen dem groben Behandlungsfehler und den Beschwerden
des Klägers verneint hat.
a) Das Berufungsgericht geht im Ansatzpunkt zwar ohne Rechtsfehler davon aus, dass nach einem groben
Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Gesundheitsschaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen,
zu Gunsten des Patienten von einem Ursachenzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem
eingetretenen Gesundheitsschaden auszugehen ist (st.Rspr.; vgl. Senat, BGHZ 159, 48, 53; 172, 1, 10 f.).
b) Rechtsirrig meint das Berufungsgericht jedoch, angesichts widersprüchlicher medizinischer
Stellungnahmen und der verbleibenden Ungewissheit, ob eine infektiöse oder eine hyperergischallergische
Entzündungsreaktion des linken Kniegelenks vorgelegen habe, habe es dem Kläger oblegen, den Beweis einer
Infektion zu führen. Das trifft nicht zu, verkennt die in der Rechtsprechung zur Beweislastverteilung nach groben
Behandlungsfehlern aufgestellten Grundsätze und zieht nicht die gebotenen Folgerungen aus dem Vorliegen
eines groben Behandlungsfehlers.
Wie der erkennende Senat mehrfach (vgl. etwa Senat, BGHZ 159, 48, 54; Urteil vom 16. 11.2004 - VI ZR 328/03 - VersR 2005, 228, 229) dargelegt hat,
führt ein grober Behandlungsfehler - wie ihn das Berufungsgericht unter den Umständen des Streitfalls zu Recht
bejaht hat - regelmäßig zur Umkehr der Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem
Gesundheitsschaden und dem Behandlungsfehler, wenn dieser geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu
verursachen. Nahelegen oder wahrscheinlich machen muss der Fehler den Schaden hingegen nicht (vgl. Senat, BGHZ 159,
48, 54 m.w.N.). Eine Verlagerung der Beweislast auf die Behandlungsseite ist nach einem groben Behandlungsfehler
nur dann ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst
unwahrscheinlich ist, sich nicht das Risiko verwirklicht hat, dessen Nichtbeachtung den Fehler als grob
erscheinen lässt, oder der Patient durch sein Verhalten eine selbstständige Komponente für den Handlungserfolg
vereitelt hat und dadurch in gleicher Weise wie der grobe Behandlungsfehler des Arztes dazu beigetragen hat,
dass der Verlauf des Behandlungsgeschehens nicht mehr aufgeklärt werden kann (vgl. Senat, BGHZ 159, 48, 55). Diese
Grundsätze verkennt das Berufungsgericht, wenn es davon ausgeht, der Kläger habe (nach grob fehlerhafter Behandlung)
beweisen müssen, dass es sich um eine Infektion und nicht um eine hyperergischallergische Reaktion gehandelt
habe.
Wie oben dargelegt, reicht es für die Haftung der Behandlungsseite nach einem groben Behandlungsfehler
aus, dass der Fehler generell zur Verursachung des eingetretenen Schadens geeignet ist; wahrscheinlich braucht
der Eintritt eines solchen Erfolges nicht zu sein (vgl. Senat, Urteil vom 3. 12.1985 - VI ZR 106/84 - VersR 1986, 366, 367). Das Berufungsgericht
geht von der generellen Eignung einer intraartikulären Injektion zur Herbeiführung einer Entzündungsreaktion aus,
wenn die Injektion unter Außerachtlassung grundlegender Hygieneregeln erfolgt. Es hält jedoch eine allergische
Reaktion für wahrscheinlicher und will deshalb keine Beweislastumkehr anwenden, weil die Verletzung der
Hygieneregeln auf eine allergische Reaktion keinen Einfluss habe. Indessen schließt dieser Gesichtspunkt eine
generelle Eignung des Hygienefehlers für den Gesundheitsschaden nicht aus. Vielmehr wäre der Beweis, dass
eine allergische Reaktion vorgelegen hat, Sache des grob fehlerhaft behandelnden Arztes. Eine
Beweislastumkehr erfordert nämlich nicht, dass der Behandlungsfehler mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu
dem eingetretenen Erfolg geführt hat, sondern lediglich dessen generelle Eignung für den konkreten
Gesundheitsschaden (vgl. Senat, BGHZ 85, 212, 216 f.; Urteile vom 3. 12.1985 - VI ZR 106/84 - aaO; vom 28. 06.1988 - VI ZR 217/87 - VersR 1989, 80, 81). Die Unsicherheit,
ob der Schaden tatsächlich durch den groben Fehler oder durch eine andere Ursache bedingt ist, soll in einem
solchen Fall die fehlerhaft behandelnde Seite aufklären. Insoweit hat das Berufungsgericht die Reichweite der
Beweislastumkehr nach einem groben Behandlungsfehler ersichtlich verkannt.
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Die erforderlichen Voraussetzungen für eine Ausnahme von dieser Beweislastumkehr hat das
Berufungsgericht nicht festgestellt, insbesondere hat es nicht festgestellt, dass eine Verursachung der
Beschwerden durch die Hygienemängel äußerst unwahrscheinlich sei, zumal auch das Gutachten R., auf das sich
das Berufungsurteil stützt, eine allergische Reaktion nur für wahrscheinlich, nicht aber eine bakterielle Infektion für
äußerst unwahrscheinlich hält. Der Sachverständige D. hat mehr Befunde gesehen, die für eine Infektion
sprechen, als Befunde, die für eine hyperergischallergische Reaktion sprechen. Der fehlenden Nachweisbarkeit
von Infektionserregern im Punktat hat der Sachverständige dagegen keine entscheidende Bedeutung
beigemessen.
c) Entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung muss der Kläger auch nicht etwa eine Infektion
beweisen; es genügt vielmehr, dass er den ihm entstandenen (Primär)Schaden und die generelle Eignung des
groben Fehlers zur Verursachung dieses Schadens nachweist (vgl. Senat, BGHZ 159, 48, 54; Urteile vom 3. 12.1985 - VI ZR 106/84 - aaO; vom 16. 11.2004
- VI ZR 328/03 - aaO, jeweils m.w.N.). Diesen Beweis hat der Kläger geführt
Primärschaden ist im Streitfall der behauptete Gelenkschaden in seiner konkreten Ausprägung (vgl. Senat, Urteil
, also der Kniegelenkserguss mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung und
der erhöhten Temperatur. In einem solchen Fall muss die grob fehlerhaft vorgehende Behandlungsseite
beweisen, dass die Schädigung nicht durch den groben Behandlungsfehler - hier also nicht durch Verletzung der
Hygieneregeln - hervorgerufen worden ist, so dass es zu ihren Lasten geht, wenn sie nicht eine allergische
Reaktion als Schadensursache beweisen kann.
vom 21. 07.1998 - VI ZR 15/98 - VersR 1998, 1153, 1154)
3. Die Frage einer Haftung des Beklagten wegen eines Aufklärungsfehlers ist nicht Streitstoff der Revision
geworden. Ausführungen dazu fehlen in der Revisionsbegründung. Wie eine Berufungsbegründung (dazu vgl. Senat, Urteil
vom 5. 12.2006 - VI ZR 228/05 - VersR 2007, 414) muss auch die Begründung einer uneingeschränkt zugelassenen Revision klarstellen,
in welchen Punkten und mit welchen Gründen der Rechtsmittelführer das Berufungsurteil angreift (vgl. Senat, Urteil vom 5.
12.2006 - VI ZR 228/05 - aaO). Im Streitfall hat sich die Revisionsbegründung nicht auf die Frage der Haftung wegen eines
Aufklärungsfehlers erstreckt, sondern auf die Haftung wegen eines Behandlungsfehlers beschränkt. Damit hat sie
Erfolg, weil das angefochtene Urteil aus den dargelegten Gründen aufzuheben ist (§ 562 Abs. 1 ZPO).
Die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung des Senats (§ 563 Abs. 3 ZPO), liegen jedoch nicht vor. Das
Berufungsgericht wird die erforderlichen Feststellungen - gegebenenfalls nach weiterem Vortrag der Parteien und
weiterer Beweisaufnahme - zu treffen haben (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll
Vorinstanzen: LG Mannheim, Entscheidung vom 12.06.1987 - 1 O 229/85 - OLG Karlsruhe, Entscheidung vom
05.04.2006 - 7 U 107/05 VI ZR 161/07 vom 8. 01.2008: Nichtbeachtung von Leitlinien führt nicht zur Beweislastumkehr.
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. 01.2008 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, die Richter Dr.
Greiner, Wellner, Pauge und Zoll
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 5.
Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 24. 05.2007 wird zurückgewiesen, weil sie nicht
aufzeigt, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder
die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts
erfordert (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO).
Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler die Beweislast nicht den Beklagten auferlegt. Ärztliche
Leitlinien haben nicht wie die Mutterschaftsrichtlinien, welche sich jedoch nicht mit dem
Geburtsvorgang selbst befassen, Rechtsnormqualität. Die Nichteinhaltung von Leitlinien führt daher
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 98
nicht "per se" zu einer Beweislastumkehr, sondern bedarf regelmäßig der zusätzlichen Feststellung
eines groben Behandlungsfehlers.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 S. 2, 2. Halbs. ZPO abgesehen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens (§ 97 Abs. 1 ZPO).
Streitwert: 623.562,89 €
Müller Greiner Wellner Pauge Zoll
Vorinstanzen: LG Koblenz, Entscheidung vom 24.11.2006 - 10 O 486/01 - OLG Koblenz, Entscheidung vom
24.05.2007 - 5 U 1735/06 -
Thöns
BGH III ZR 144/07 vom20.12.2007
a) Klauseln in einer formularmäßigen Wahlleistungsvereinbarung, durch die die einem Wahlarzt obliegende
Leistung im Fall seiner Verhinderung durch einen Vertreter erbracht werden darf, sind nur wirksam, wenn sie
auf die Fälle beschränkt sind, in denen die Verhinderung im Zeitpunkt des Abschlusses der
Wahlleistungsvereinbarung nicht bereits feststeht und wenn als Vertreter der namentlich benannte ständige
ärztliche Vertreter im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 3 und 4, § 5 Abs. 5 GOÄ bestimmt ist.b) Wird eine
Stellvertretervereinbarung im Wege der Individualabrede geschlossen, bestehen gegenüber dem Patienten
besondere Aufklärungspflichten, bei deren Verletzung dem Honoraranspruch des Wahlarztes der Einwand der
unzulässigen Rechtsausübung entgegensteht.c) Danach ist der Patient so früh wie möglich über die
Verhinderung des Wahlarztes zu unterrichten und ihm das Angebot zu unterbreiten, dass an dessen Stelle ein
bestimmter Vertreter zu den vereinbarten Bedingungen die wahlärztlichen Leistungen erbringt. Weiter ist der
Patient über die alternative Option zu unterrichten, auf die Inanspruchnahme wahlärztlicher Leistungen zu
verzichten und sich ohne Zuzahlung von dem jeweils diensthabenden Arzt behandeln zu lassen. Ist die
jeweilige Maßnahme bis zum Ende der Verhinderung des Wahlarztes verschiebbar, ist dem Patienten auch dies
zur Wahl zu stellen.d) Die Vertretervereinbarung unterliegt der Schriftform.
BGB § 307 Abs. 2 Bd, Cl, § 308 Nr. 4, § 613 Satz 1; KHEntgG § 17 Abs. 2
BGH, Urteil vom 20.12.2007 - III ZR 144/07 - LG Hamburg
AG HamburgSt. Georg
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlungvom 15. 11.2007 durch den Vorsitzenden
Richter Schlick, die RichterDörr, Dr. Herrmann, Wöstmann und die Richterin HarsdorfGebhardt
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des LandgerichtsHamburg, Zivilkammer 9, vom 20. 04.2007 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auchüber die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das
Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1 Der Kläger ist liquidationsberechtigter Chefarzt der Abteilung für Allgemeinchirurgie des Universitätsklinikums H. . Die
- im Laufedes Revisionsverfahrens verstorbene - Beklagte war Privatpatientin und befandsich, nachdem sie zunächst in
einer anderen Einrichtung des Klinikums aufgenommen worden war, vom 2. bis zum 28. 08.2001 in stationärer
Behandlung in der Abteilung. Sie schloss mit dem Klinikum eine schriftliche Wahlleistungsvereinbarung. Da der Kläger
am 3. 08.2001, dem Tag an dem dieBeklagte operiert werden sollte, urlaubsabwesend war, unterzeichnete sie
amVortag einen mit einzelnen handschriftlichen Einträgen versehenen Vordruck,der mit "Schriftliche Fixierung der
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 99
Stellvertretervereinbarung vom 02.08." überschrieben ist. Dieser enthält die Feststellung, die Beklagte sei über die
Verhinderung des Klägers und den Grund hierfür unterrichtet worden. Weiterhin seisie, da die Verschiebung der
Operation medizinisch nicht vertretbar sei, darüberbelehrt worden, dass sie die Möglichkeiten habe, sich ohne
Wahlarztvereinbarung wie ein "normaler" Kassenpatient ohne Zuzahlung von dem jeweils diensthabenden Arzt
behandeln oder sich von dem Vertreter des Klägers,Oberarzt Dr. B. , zu den Bedingungen des Wahlarztvertrags unter
Beibehaltung des Liquidationsrechts des Klägers operieren zu lassen. In dem Formularist die zweite Alternative
angekreuzt.
2 Die vom Kläger für die durch den Oberarzt Dr. B. ausgeführte Operation erstellte Rechnung beglich die Beklagte nur
teilweise.
3 Die auf Ausgleichung des Restbetrags gerichtete Klage hat das Amtsgericht abgewiesen. Die hiergegen gerichtete
Berufung des Klägers ist erfolglosgeblieben. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt erseinen
Anspruch weiter.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der
Sache an die Vorinstanz.
I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Stellvertretervereinbarung, dienicht individuell ausgehandelt worden und
daher als Allgemeine Geschäftsbedingung zu betrachten sei, sei gemäß dem für den Streitfall noch maßgebenden§ 10
Nr. 4 AGBG unwirksam, weil sie auch die Fälle einer vorhersehbaren Verhinderung des Chefarztes einschließe.
Erfasse die Klausel jede Verhinderungund erfolgten die Betreuung sowie die Behandlung durch diejenigen Ärzte,
diediese auch bei nicht vereinbarter Wahlleistung durchgeführt hätten, entfalle derSinn der Wahlleistungsvereinbarung.
II.
Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Ein Anspruch desKlägers gegen die Erben der Beklagten auf
Zahlung des in Rechnung gestelltenHonorars (§ 611 Abs. 1 BGB i.V.m. § 1922 Abs. 1 BGB) kann nicht mit den Erwägungen des
Berufungsgerichts ausgeschlossen werden.
1. Der Arzt, der gegenüber einem Patienten aus einer Wahlleistungsvereinbarung verpflichtet ist, muss seine
Leistungen gemäß § 613 Satz 1 BGB grundsätzlich selbst erbringen. Nach dieser Bestimmung hat der zur
DienstleistungVerpflichtete die Dienste im Zweifel in Person zu erbringen. Dies ist auch undgerade bei der
Vereinbarung einer sogenannten Chefarztbehandlung der Fall.Der Patient schließt einen solchen Vertrag im Vertrauen
auf die besonderenErfahrungen und die herausgehobene medizinische Kompetenz des von ihmausgewählten Arztes,
die er sich in Sorge um seine Gesundheit gegen Entrichtung eines zusätzlichen Honorars für die Heilbehandlung
sichern will (z.B. Senatsurteil vom 19. 02.1998 - III ZR 169/97 - NJW 1998, 1778, 1779; OLGDüsseldorf NJW 1995, 2421; OLG Hamm NJW 1995, 794; OLG Karlsruhe NJW1987, 1489;
Biermann/Ulsenheimer/Weißauer Thöns NJW 2001, 3366, 3367; dies.MedR 2000, 107, 110; Miebach/Patt NJW 2000, 3377, 3379; Uleer/Miebach/Patt, Die Abrechnung von Arzt- und Krankenhausleistungen,
. Die grundsätzliche Pflicht des Wahlarztes zur persönlichen Behandlung hat ihre
gebührenrechtliche Entsprechung in § 4 Abs. 2Satz 1 der GOÄ(GOÄ) in der Neufassung vom 9. 02.1996 (BGBl. I S. 210).
Danach kann der Arzt Gebühren nur für selbständige ärztliche Leistungen berechnen, die er selbst erbracht hat oder
die unterseiner Aufsicht nach fachlicher Weisung erbracht wurden; allerdings darf er einfache ärztliche und sonstige
medizinische Verrichtungen delegieren. Demzufolge muss der Wahlarzt die seine Disziplin prägende Kernleistung
persönlich undeigenhändig erbringen. Insbesondere muss der als Wahlarzt verpflichtete Chirurg die geschuldete
Operation grundsätzlich selbst durchführen (z.B. LG Bonn,Urteil vom 4. 02.2004 - 5 S 207/03 - juris Rn. 10; LG Aachen VersR 2002,195, 196; Jansen MedR 1999, 555; Kalis
VersR 2002, 23, 24; Kuhla NJW 2000,841, 842; Miebach/Patt aaO).
3. Aufl.,2006, § 4 GOÄ Rn. 54 a.E.)
2. Über die Delegation nachgeordneter Aufgaben hinaus darf der Wahlarztim Fall seiner Verhinderung jedoch auch die
Ausführung seiner Kernleistungenauf einen Stellvertreter übertragen, sofern er mit dem Patienten eine entsprechende
Vereinbarung wirksam getroffen hat. Die GOÄschließt solche Vereinbarungen nicht aus. Vielmehr ergibt der
Umkehrschlussaus § 2 Abs. 3 Satz 2, § 4 Abs. 2 Satz 3 und § 5 Abs. 5 GOÄ, dass der Wahlarzt unter Berücksichtigung
der darin bestimmten Beschränkungen des Gebührenanspruchs Honorar auch für Leistungen verlangen kann, deren
Erbringunger nach Maßgabe des allgemeinen Vertragsrechts wirksam einem Vertreterübertragen hat. Der
Verordnungsgeber wollte mit § 4 Abs. 2 Satz 3 GOÄ dieVertretungsmöglichkeiten nur für die darin bestimmten
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 100
einzelnen Leistungen aufden ständigen ärztlichen Vertreter des Wahlarztes beschränken. In allen anderen Fällen sollte
"eine weitergehende Vertretung durch jeden beliebigen Arzt inden Grenzen des Vertragrechts zulässig" sein
(Bundesratsbeschluss vom3. 11.1995, BRDrucks. 688/95, S. 6). Den liquidationsberechtigten Ärzten sollten diese Vertretungsmöglichkeiten
erhalten bleiben (aaO). In den Fällen, in denen der Wahlarzt hiervon Gebrauch macht, kommt allerdings nach § 5Abs. 5
GOÄ nicht der volle Gebührenrahmen zur Anwendung.
a) Eine wirksame Vertreterregelung enthält die zwischen dem Kläger undder Beklagten geschlossene
Wahlleistungsvereinbarung nicht. Zwar ist in demVordruck vorgesehen, dass "im Verhinderungsfall … die Aufgaben
des liquidationsberechtigten Arztes seine Stellvertretung" übernimmt. Diese Klausel istjedoch nach dem gemäß Art.
229 § 5 Satz 1 EGBGB auf den Streitfall nochanwendbaren § 10 Nr. 4 AGBG (jetzt: § 308 Nr. 4 BGB) unwirksam. Danach isteine
formularmäßige Vereinbarung eines Rechts des Verwenders, die versprochene Leistung zu ändern oder von ihr
abzuweichen, nur wirksam, wenn dieseÄnderung unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für
seinenVertragspartner zumutbar ist. Dies ist bei einer Klausel wie der vorliegendenschon deshalb nicht gewährleistet,
weil sie nach der maßgeblichen kundenfeindlichsten Auslegung (vgl. hierzu z.B.: BGHZ 158, 149, 155; Senatsurteilevom 11. 10.2007 - III ZR 63/07 - Rn. 25 und
vom 23. 01.2003 - III ZR54/02 - NJW 2003, 1237, 1238 jew. m.w.N.) auch die Konstellationen erfasst, indenen die Verhinderung des Wahlarztes
bereits zum Zeitpunkt des Abschlusses der Wahlleistungsvereinbarung feststeht. In diesen Fallgestaltungen kanndie
Wahlleistungsvereinbarung von Anbeginn ihren Sinn nicht erfüllen. Die vondem Patienten mit dem Abschluss einer
solchen Vereinbarung bezweckte Sicherung der besonderen Erfahrung und der herausgehobenen Sachkunde
desWahlarztes für die Heilbehandlung ist bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses objektiv unmöglich. Die Klausel
läuft in diesen Fällen auf die Änderung des wesentlichen Inhalts des Wahlarztvertrags hinaus, was im Wege
vonAllgemeinen Geschäftsbedingungen, auch unter Berücksichtigung von § 307Abs. 2 BGB (für den Streitfall noch § 9 Abs. 2 AGBG),
unzumutbar ist (OLGStuttgart OLGR 2002, 153; OLG Hamm NJW 1995, 794; LG Bonn, Urteil vom4. 02.2004 - 5 S 207/03 - juris Rn. 12; Kubis NJW 1989, 1512, 1515; Miebach/Patt NJW 2000,
3377, 3383; im Ergebnis auch OLG Karlsruhe NJW 1987,1489; Biermann/Ulsenheimer/Weißauer MedR 2000, 107, 111 f; wohl auchKuhla Thöns NJW 2000, 841, 844). Zulässig ist deshalb
nur eine Klausel, in der derEintritt eines Vertreters des Wahlarztes auf die Fälle beschränkt ist, in denendessen
Verhinderung im Zeitpunkt des Abschlusses der Wahlleistungsvereinbarung nicht bereits feststeht, etwa weil die
Verhinderung (Krankheit, Urlaub etc.)selbst noch nicht absehbar oder weil noch nicht bekannt ist, dass ein bestimmter
verhinderter Wahlarzt, auf den sich die Wahlleistungsvereinbarung gemäߧ 22 Abs. 3 Satz 1 BPflV (ab 1. 01.2005: § 17 Abs. 3 Satz 1
des Gesetzesüber die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen- KHEntgG - vom 23. 04.2002, BGBl. I S. 1412, 1422) erstreckt, zur Behandlung hinzu gezogen
werden muss.
Überdies ist eine Stellvertretervereinbarung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen nach § 308 Nr. 4 BGB nur wirksam,
wenn darin als Vertreter derständige ärztliche Vertreter im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 3 und 4, § 5 Abs. 5GOÄ bestimmt
ist. Aus den genannten Vorschriften der GOÄ geht hervor, dass dieser Vertreter in gebührenrechtlicher Hinsicht
demWahlarzt angenähert ist, weil er nach Dienststellung und medizinischer Kompetenz kontinuierlich in engem
fachlichen Kontakt mit dem liquidationsberechtigten
Krankenhausarzt steht und deshalb davon ausgegangen werden kann, dass erjederzeit voll in die
Behandlungsgestaltung des Wahlarztes eingebunden ist(Lang/Schäfer/Stiel/Vogt, Der GOÄKommentar, 1996, § 4 Rn. 23). Aus diesemGrunde ist
sein Tätigwerden für den Wahlleistungspatienten weder überraschend noch unzumutbar. Bei anderen Ärzten ist dies
bei der notwendigen generalisierenden Betrachtungsweise nicht gewährleistet, weshalb eine weitergehende
Vertreterklausel - ebenfalls unter Berücksichtigung von § 307 Abs. 2BGB - unzumutbar ist.
Der ständige ärztliche Vertreter muss weiterhin namentlich benannt sein(Lang/Schäfer/Stiel/Vogt aaO Rn. 24; Uleer/Miebach/Patt, Abrechnung vonArzt. Dies ergibt sichebenfalls aus § 5 Abs. 5 GOÄ. Danach steht dem Wahlarzt hinsichtlich
der Gebührenhöhe nur der ausdrücklich benannte ständige ärztliche Vertreter gleich.Dies ist Ausfluss einer
allgemeinen Wertung, die auf die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Allgemeinen Geschäftsbedingung im Sinne des §
308 Nr. 4BGB zu übertragen ist. Auch in dieser Hinsicht genügt die Klausel in der mit derBeklagten geschlossenen
Wahlleistungsvereinbarung nicht den Anforderungen.
und Krankenhausleistungen, 3. Aufl., § 4 GOÄ Rn. 89 f)
b) Die Parteien haben jedoch mit der "Schriftlichen Fixierung einer Stellvertretervereinbarung" eine wirksame
Vereinbarung getroffen, aufgrund der derKläger von seiner Pflicht zur persönlichen Ausführung der Operation
befreitwurde und statt seiner - unter Aufrechterhaltung seiner Liquidationsbefugnis - Oberarzt Dr. B. tätig werden durfte.
aa) Der Wahlarzt kann sich durch eine Individualvereinbarung mit demPatienten von seiner Pflicht zur persönlichen
Leistung befreien und deren Ausführung einem Stellvertreter übertragen (z.B.: OLG Düsseldorf NJWRR 1998,
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 101
1348, 1350; LG Bonn aaO Rn. 13; LG Aachen VersR 2002, 195, 196; Biermann/Ulsenheimer/Weißauer aaO, S. 112; Kalis VersR 2002, 23, 26; KubisThöns NJW 1989, 1512, 1514; Kuhla aaO S. 845 f;
Miebach/Patt aaO S. 3384 f)
.
Da sich der Patient oftmals - wie auch hier - in der bedrängenden Situation einer schweren Sorge um seine
Gesundheit oder gar sein Überlebenbefindet und er daher zu einer ruhigen und sorgfältigen Abwägung vielfach nichtin
der Lage sein wird, bestehen ihm gegenüber nach Treu und Glauben (§ 242BGB, siehe ferner § 241 Abs. 2 BGB n.F.) vor Abschluss einer
solchen Vereinbarung aber besondere Aufklärungspflichten (LG Bonn aaO Rn. 21; LG AachenaaO; Biermann/Ulsenheimer/Weißauer NJW 2001, 3366, 3369; Kalis
aaO), beideren Verletzung dem Honoraranspruch des Wahlarztes der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung
entgegen steht (Kalis aaO).
(1)
Danach ist der Patient so früh wie möglich über die Verhinderung desWahlarztes zu unterrichten und ihm das Angebot
zu unterbreiten, dass an dessen Stelle ein bestimmter Vertreter zu den vereinbarten Bedingungen die wahlärztlichen
Leistungen erbringt (LG Bonn, LG Aachen, Biermann/Ulsenheimer/Weißauer und Kalis jew. aaO; a.A.: Miebach/Patt aaO, die verlangen, dass derWahlarzt anbieten muss, die vereinbarte
Dienstleistung doch noch zu erbringen). Soll die Vertretervereinbarung im unmittelbaren Zusammenhang mit demAbschluss des
Wahlleistungsvertrags getroffen werden, ist der Patient auf diesegesondert ausdrücklich hinzuweisen. Er ist in der
ohnehin psychisch belastenden Situation der Aufnahme in das Krankenhaus bereits mit der umfangreichenLektüre der
schriftlichen Wahlleistungsvereinbarung und der in diesem Zusammenhang notwendigen Belehrungen befasst (vgl. z.B.
Senatsurteile BGHZ 157,87, 95; vom 8. 01.2004 - III ZR 375/02 - NJW 2004, 686, 687 und vom22. 07.2004 - III ZR 355/03 - NJWRR 2004, 1428; § 22 Abs. 2 Satz 1 BPflV;
. Dies begründet die nichtunerhebliche Gefahr, dass er der Vertretervereinbarung, die der
durch dieWahlleistungsvereinbarung erweckten Erwartung, durch den Wahlarzt behandelt zu werden, widerspricht,
nicht die notwendige Aufmerksamkeit zukommenlässt.
seit 1. 01.2005: § 17 Abs. 2 Satz 1 KHEntgG)
Weiter ist der Patient über die alternative Option zu unterrichten, auf dieInanspruchnahme wahlärztlicher Leistungen
zu verzichten und sich ohne Zuzahlung von dem jeweils diensthabenden Arzt behandeln zu lassen. Ein nochmaliger
Hinweis, dass er auch in diesem Fall die medizinisch notwendige Versorgung durch hinreichend qualifizierte Ärzte
erhält, ist nicht erforderlich, daeine solche Belehrung bereits vor Abschluss der Wahlleistungsvereinbarungerteilt
werden muss (vgl. z.B. Senatsurteile BGHZ, vom 8. 01.2004 undvom 22. 07.2004 jew. aaO). Ist die jeweilige Maßnahme bis zum Ende derVerhinderung
des Wahlarztes verschiebbar, so ist dem Patienten auch dies zurWahl zu stellen.
Entgegen der wohl von Kalis (aaO) vertretenen Auffassung ist es abernicht notwendig, den Patienten eigens
ausdrücklich darüber aufzuklären, dassder Wahlarzt auch für die Behandlung durch den Stellvertreter
liquidationsberechtigt ist. Ist der Patient über die Option informiert, sich ohne gesondertesHonorar im Rahmen der
allgemeinen Krankenhausleistungen behandeln zu lassen, und entscheidet er sich gleichwohl für die Inanspruchnahme
der wahlärztlichen Leistungen durch den Vertreter zu den vereinbarten Bedingungen, mussihm - jedenfalls wenn die
notwendige Unterrichtung vor Abschluss der Wahlleistungsvereinbarung erfolgt ist - von sich aus klar sein, dass er
hierfür auch dasfür den Wahlarzt anfallende Honorar zahlen muss. Ob der Anspruch in der Person des Wahlarztes
entsteht, in der seines Vertreters oder in der eines Dritten,ist für die Entscheidung des Patienten über den Abschluss
der Stellvertretervereinbarung objektiv nicht von Bedeutung.
Nicht erforderlich ist weiter, dass der Wahlarzt selbst den Patienten aufklärt (LG Bonn aaO; a.A.: LG Aachen und Kalis aaO). Dieser
benötigt, um überdie Annahme des Angebots auf Abschluss einer Stellvertretervereinbarung aufeiner ausreichenden
Grundlage zu entscheiden, nur die Kenntnis der vorgenannten Tatsachen. Auf die besonderen Erfahrungen und die
Fachkunde seines Wahlarztes ist er für deren sachgerechte Beurteilung nicht angewiesen.
Weiterhin muss die Vertretervereinbarung schriftlich geschlossenwerden (OLG Düsseldorf NJWRR 1998, 1347, 1350,
, da sie einen Vertrag beinhaltet, durch den die
Wahlleistungsvereinbarung geändert wird, für die gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KHEntgG(für den Streitfall noch § 22 Abs. 2 Satz 1 BPflV) das
Schriftformerfordernis gilt.
(2)
Biermann/Ulsenheimer/Weißauer NJW 2001, 3366, 3368, Kuhla NJW 2000, 841, 846; Kubis NJW1989, 1512, 1514)
bb) Die von der Beklagten unterzeichnete "Schriftliche Fixierung derStellvertretervereinbarung" enthält eine
Individualabrede, die den vorstehendenAnforderungen genügt.
Die Vereinbarung unterliegt, obgleich sie in einem Formular enthaltenist, nicht der Inhaltskontrolle nach §§ 9 bis 11
AGBG (jetzt: § 307 Abs. 1 und 2,§§ 308 und 309 BGB). Allgemeine Geschäftsbedingungen, die dieser Kontrolleunterworfen sind, liegen
nicht vor, soweit die Vertragsregelungen im Einzelnenausgehandelt sind (§ 1 Abs. 2 AGBG, § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB). Die "Schriftliche
Fixierung" ist ausgehandelt worden. Hierfür kommt es entgegen dem Verständnis des Berufungsgerichts nicht darauf
an, ob die Vertragsparteien über
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 102
(1)
den Text der Klauseln verhandelt haben. Vielmehr kann auch eine vorformulierte Vertragsbedingung ausgehandelt
sein, wenn sie der Verwender als eine vonmehreren Alternativen anbietet, zwischen denen der Vertragspartner die
Wahlhat (BGHZ 153, 148, 151). Erforderlich ist, dass er durch die Auswahlmöglichkeit den Gehalt der Regelung mit gestalten
kann und die Wahlfreiheit nichtdurch Einflussnahme des Verwenders, sei es durch die Gestaltung des Formulars, sei
es in anderer Weise überlagert wird (vgl. BGH aaO m.w.N.; Ulmer inUlmer/Brandner/Hensen, AGBRecht, 10. Aufl., 2006, § 305 BGB Rn. 53a).Diese
Voraussetzungen sind hier erfüllt, da die "Schriftliche Fixierung" dem Patienten mehrere Handlungsoptionen zur Wahl
stellt (Verzicht auf die wahlärztliche Behandlung, Behandlung durch den Vertreter zu den Bedingungen derWahlleistungsvereinbarung und gegebenenfalls Verschiebung der Operation)und eine
Beeinflussung des Patienten, sich für eine der Varianten zu entscheiden, nicht erkennbar ist.
Inhaltlich genügt die "Schriftliche Fixierung" den Anforderungen. Insbesondere enthält sie alle notwendigen Hinweise,
die für die ordnungsgemäßeAufklärung des Wahlleistungspatienten erforderlich sind (vgl. oben aa (1)). Siewahrt zudem die
Schriftform (siehe oben aa (2)). Überdies ist die Beklagte jedenfalls auch mündlich über den Vertretungsfall und den
beabsichtigten Eintrittdes Oberarztes Dr. B. unterrichtet worden.
(2)
3. Die Sache ist noch nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO),da die Beklagte weitere Einwendungen gegen die
Klageforderung erhoben hat,mit denen sich das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig noch nicht befasst hat.
Schlick Dörr HerrmannWöstmann HarsdorfGebhardt
Vorinstanzen:AG HamburgSt. Georg, Entscheidung vom 22.09.2005 - 914 C 133/05 - LG Hamburg, Entscheidung vom
20.04.2007 - 309 S 272/05 –
BGH VI ZR 229/06 vom 16.10.2007
Thöns
Ein Arzt im vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst kann bei differentialdiagnostischen Anzeichen für eine
coronare Herzerkrankung (hier: einen akuten Herzinfarkt) zur Befunderhebung (Ausschlussdiagnostik) und damit zur Einweisung des
Patienten in ein Krankenhaus verpflichtet sein.
in dem Rechtsstreit BGB § 823 Aa BGH, Beschluss vom 16. 10.2007 - VI ZR 229/06 - OLG München LG München I
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. 10.2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr.
Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr beschlossen: Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des
1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 19. 10.2006 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht
zurückverwiesen. Gegenstandswert: 597.670,58 € Gründe: I. 1 Der Beklagte untersuchte den damals 34 Jahre alten
Kläger im Rahmen des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes der kassenärztlichen Vereinigung am Mittwoch, den 6.
03.1996, gegen 8.00 Uhr in dessen Wohnung. Der Kläger litt an Durchfall, Erbrechen, Schwindel und Übelkeit. Dem
Beklagten wurde über Schmerzen im Brustbereich des Klägers berichtet. Die Ehefrau des Klägers wies den Beklagten
darauf hin, dass in der Familie des Klägers eine Herzinfarktgefährdung bestehe. Eine Messung ergab bei bekanntem
Hochdruck einen Blutdruck von 200/130. Der Beklagte verabreichte dem Kläger eine Tablette Gelonida sowie 5 mg
Nifedipin. Der Kläger erbrach sich nach etwa 15 Minuten. Der Beklagte spritzte dem Kläger deshalb intramuskulär
Dolantin. Er diagnostizierte beim Kläger, der während der Anwesenheit des Beklagten zweimal wegen Durchfalls und
Erbrechens die Toilette aufsuchte, einen grippalen Infekt, eine Intercostalneuralgie und Diarrhoe. Die Frage des
Beklagten, ob er ins Krankenhaus gehen wolle, verneinte der Kläger.
Kurz vor 12.00 Uhr desselben Tages fand die Ehefrau den leblos auf dem Boden liegenden Kläger. Ein
herbeigerufener anderer Notarzt führte beim Kläger, bei dem er einen Atem- und Kreislaufstillstand befundet hatte,
erfolgreich Reanimationsmaßnahmen durch. Ein generalisierter hypoxischer Hirnschaden hinterließ jedoch bleibende
Beeinträchtigungen. Im Krankenhaus stellten die Ärzte einen akuten Hinterwandinfarkt fest.
Der Kläger ist der Ansicht, der Beklagte habe die Möglichkeit eines Herzinfarkts abklären müssen. Dann wäre der
Infarkt vermieden worden und der Hirnschaden nicht eingetreten oder deutlich geringer ausgefallen. Der Kläger
verlangt vom Beklagten über den von dessen Haftpflichtversicherung ohne Anerkennung einer Rechtspflicht bezahlten
Betrag von 60.000 DM hinaus ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld von mindestens 122.710,05 €,
Verdienstausfall für Vergangenheit und Zukunft bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres sowie die Feststellung der
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Ersatzverpflichtung des Klägers für sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden, die aufgrund der
fehlerhaften Behandlung entstanden seien.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Die Berufung des Klägers ist zurückgewiesen worden. Das Berufungsurteil ist u.a.
veröffentlicht in MedR 2007, 203.
Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Der Kläger hat dagegen form- und fristgerecht Beschwerde
eingelegt.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg; sie führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen
Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
1. Die angefochtene Entscheidung verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Das Berufungsgericht durfte das Gutachten E. und das Privatgutachten N. nicht zur Grundlage seines Urteils
machen. Diese Gutachten berücksichtigten Symptome, die der Kläger am 6. 03.1996 nach seinem Prozessvortrag
aufwies, nicht erkennbar in der erforderlichen Weise.
Nach dem Inhalt des Beweisbeschlusses vom 12. 04.2000 hatte der Sachverständige die Schilderungen der Ehefrau
des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 29. 03.2000 zu berücksichtigen. Es ist jedoch nicht
ersichtlich, dass das kardiologischpneumologische Gutachten E./B. und der Privatsachverständige N. bei Erstellung
ihrer Gutachten davon ausgegangen wären, der Kläger sei am Morgen des 6. 03.1996 schweißgebadet gewesen und
habe unter Schwindel gelitten, über starke Schmerzen im Nacken- und Brustbereich sowie darüber geklagt, dass er
fast keine Luft bekomme. Sie berücksichtigen die Schwindelgefühle und die Atemnot des Klägers nicht in
nachvollziehbarer Weise. Schließlich ist der Sachverständige B. im Ergänzungsgutachten vom 8. 07.2004 trotz des
Antrags des Klägers im Schriftsatz vom 13. 05.2003 (Frage 49) nicht darauf eingegangen, ob die genannten
Symptome in Übereinstimmung mit dem Gutachten D. typisch für einen Herzinfarkt sind.
Dadurch, dass das Berufungsgericht diese Gutachten dennoch ausführlich selbst gewürdigt und seiner Entscheidung
zugrunde gelegt und die Auslassungen und die - in erster Instanz ausdrücklich gerügten - Widersprüche zu den
Gutachten D. (vgl. Senat, Urteile vom 3. 12.1996 - VI ZR 309/95 - VersR 1997, 191, 192; vom 16. 01.2001 - VI ZR 498/99 - VersR 2001, 783, 784) nicht geklärt hat, hat es
seinerseits den Kern des entscheidungserheblichen Klägervortrags nicht berücksichtigt (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 2 Alt. 1 ZPO) und
damit den Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG fortgesetzt. Das führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Zurückverweisung der Sache (§ 544 Abs. 7 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der
gebotenen Berücksichtigung der Angaben der Ehefrau des Klägers durch die Sachverständigen zu einer anderen
Beurteilung des Falles gekommen wäre. Insbesondere kann die Kausalität der Behandlung für den Schaden des
Klägers nach den derzeitigen Feststellungen nicht verneint werden. Hätte der Beklagte die differentialdiagnostische
Möglichkeit eines akuten Herzinfarkts als naheliegend berücksichtigen müssen, hätte er sie entweder selbst
ausschließen oder den Kläger umgehend in ein Krankenhaus einweisen müssen, damit die für einen Ausschluss
erforderlichen Befunde erhoben worden wären. Dann wären möglicherweise der Eintritt eines Herz- und
Kreislaufstillstands oder doch die Folge einer hypoxischen Schädigung bei der zu unterstellenden ordnungsgemäßen
Behandlung vermieden worden (vgl. Senat, BGHZ 159, 48, 56 f. m.w.N.).
Seine Würdigung der Gutachten im zu entscheidenden Einzelfall wird das Berufungsgericht daher - gegebenenfalls
nach weiterem Vortrag der Parteien - überprüfen und dabei auch die Rügen der Nichtzulassungsbeschwerde
berücksichtigen können, wonach bislang Feststellungen zu der Frage fehlten, ob die geklagten Schmerzen
bewegungsabhängig waren oder nicht. Auch dem Vortrag, dass die Ehefrau des Klägers hierzu vor der Polizei von
dauernden Schmerzen berichtet habe, die sich bei einer bestimmten Haltung des Klägers besserten, wird es
nachgehen können. Eine grundlegende Verkennung der Beweislast ist in diesem Zusammenhang nicht ersichtlich.
2. Das Berufungsurteil hat nicht aus einem anderen Grund Bestand (§ 561 ZPO). Entgegen der Ansicht der
Beschwerdeerwiderung kann nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht davon
ausgegangen werden, dass ein akuter Herzinfarkt des Klägers im Zeitpunkt des Arztbesuchs des Beklagten
unwahrscheinlich oder äußerst unwahrscheinlich gewesen sei. Eine solche Wertung würde eine sachkundige
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Stellungnahme unter Berücksichtigung auch des Schweißausbruchs des Klägers, seiner Atemnot, der
Schwindelgefühle sowie des Schmerzbildes voraussetzen, an der es bislang fehlt.
3. Ob darüber hinaus weitere Gründe für eine Zulassung der Revision gegeben sind, bedarf keiner abschließenden
Erörterung.
In der Revision könnte die gerichtliche Entscheidung, ob ein Arzt bei Symptomen, welche u.a. auch auf einen
Herzinfarkt hindeuten können, diese mögliche Ursache ausschließen muss, lediglich darauf überprüft werden, ob der
Tatrichter die dem Arzt obliegende Pflichtenstellung rechtlich zutreffend erfasst und die für die Beurteilung
erforderlichen Umstände vollständig und richtig berücksichtigt hat. Die Entscheidung über die Verletzung einer
berufsspezifischen Sorgfaltspflicht durch einen Arzt, ist im Übrigen in erster Linie eine Tatfrage, die sich nach
medizinischen Maßstäben richtet (vgl. Senat, Urteil vom 29. 11.1994 - VI ZR 189/93 - VersR 1995, 659, 660; RGRKommentar/Nüßgens, BGB 12. Aufl., § 823 Anh. II Rn. 181;
Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 99 Rn. 6; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl., Rn. 150 ff.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. B 2).
Das Berufungsgericht wird ferner seine Ansicht überprüfen können, der Kläger sei beweisbelastet dafür, dass der
Hirnschaden durch einen dringlichen Rat des Beklagten, eine Abklärung im Krankenhaus zu suchen, habe verhindert
werden können. Ist Primärschädigung der behauptete Schaden in seiner konkreten Ausprägung (vgl. Senat, Urteil vom 21. 07.1998 - VI
ZR 15/98 - VersR 1998, 1153, 1154) und damit hier der Herz- und Kreislaufstillstand, ist für die behaupteten Folgen des Stillstands das
Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO ausreichend. Soweit des Berufungsgericht dem Kläger die Beweislast auferlegt
dafür, dass die Schädigung in gleicher Weise bei pflichtgemäßem Verhalten des Beklagten erfolgt wäre, begegnet das
rechtlichen Bedenken. In einem Fall rechtmäßigen Alternativverhaltens muss der Arzt beweisen, dass der gleiche
Schaden auch bei rechtmäßigem Vorgehen eingetreten wäre (vgl. Senat, Urteile vom 2. 02.1968 - VI ZR 115/67 - VersR 1968, 558, 559; vom 15. 03.2005 - VI ZR
313/03 - VersR 2005, 836, 837; vom 5. 04.2005 - VI ZR 216/03 - VersR 2005, 942; BGH, BGHZ 120, 281, 287).
Ein mögliches Infarktrisiko des Klägers aus der Familienanamnese wird das Berufungsgericht nicht gegen die Ansicht
der Sachverständigen verneinen können, ohne eigene Sachkunde darzutun.
4. Nach allem ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen
ZPO), das auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens zu entscheiden haben wird.
(§ 544 Abs. 7
Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr
Vorinstanzen: LG München I, Entscheidung vom 18.01.2006 - 9 O 1101/99 - OLG München, Entscheidung vom
19.10.2006 - 1 U 2149/06 –
BGH VI ZR 31/06 vom 26.06.2007
Thöns
Zur hypothetischen Einwilligung wird die Klage des Patienten zurückgewiesen.
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 3. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Hamm vom 5. 12.2005 wird zurückgewiesen, weil sie nicht aufzeigt, dass die Rechtssache
grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO). Jedenfalls lassen die Ausführungen des
Berufungsgerichts zur Verneinung eines Behandlungsfehlers und zur hypothetischen Einwilligung keinen Rechtsfehler
erkennen.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 S. 2, 2. Halbs. ZPO abgesehen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens (§ 97 Abs. 1 ZPO).
Streitwert: 25.000,00 €
Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr
Vorinst.:LG Essen, Entscheidung vom 20.04.2005 - 1 O 310/03 OLG Hamm, Entscheidung vom 05.12.2005 - 3 U 110/05 -
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BGH VI ZR 35/06 vom 22.05.2007
Thöns
Bei Anwendung einer Außenseitermethode ist grundsätzlich der Sorgfaltsmaßstab eines vorsichtigen Arztes
entscheidend. Zum Umfang der Aufklärungspflicht des Arztes bei Anwendung einer solchen Methode. Der
Patient obsiegte.
BGH, Urteil vom 22. 05.2007 - VI ZR 35/06 - OLG München
LG München II
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 22. 05.2007 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 19. 01.2006
aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte zu 1 verpflichtet ist, der Klägerin alle mit dem am 6. 03.2001 an der Klägerin
vorgenommenen Eingriff und den diesem Eingriff folgenden ärztlichen Behandlungen am 7. und 8. 03.2001 ursächlich
zusammenhängenden materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit die Schadensersatzansprüche nicht
auf öffentliche Versicherungsträger übergegangen sind.
Die Gerichtskosten der ersten und zweiten Instanz trägt die Klägerin zu 2/3, der Beklagte zu 1 zu 1/3; von den
Gerichtskosten der Revisionsinstanz tragen die Klägerin 2/7, der Beklagte zu 1 5/7.
Von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen diese selbst 2/3, der Beklagte zu 1 1/3.
Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2 und 3 trägt die Klägerin.
Der Beklagte zu 1 trägt seine eigenen außergerichtlichen Kosten selbst.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt von dem Beklagten zu 1 (künftig: der Beklagte) Schadensersatz wegen Komplikationen bei der
Behandlung eines Bandscheibenvorfalls. Der Beklagte ist niedergelassener Orthopäde, der
Bandscheibenbeschwerden mit dem sog. RaczKatheter behandelt. Bei dieser Behandlung wird über einen
Epiduralkatheter im Spinalkanal ein "Cocktail" aus einem Lokalanästhetikum, einem Corticoid, einem Enzym und einer
Kochsalzlösung im Bereich des von einem Bandscheibenvorfall betroffenen Segments eingespritzt.
Der Beklagte führte solche Eingriffe in der chirurgischen Klinik im Kreiskrankenhaus der früheren Beklagten zu 3 aus.
Die frühere Beklagte zu 2 arbeitete im Jahr 2001 als Stationsärztin in dieser chirurgischen Klinik.
Die Klägerin litt an einem Bandscheibenvorfall, einer Spinalkanalstenose, einem chronischen Schmerzsyndrom und an
einem Facettengelenksyndrom. Auf Anraten ihres Orthopäden stellte sie sich bei dem Beklagten vor, der mit ihr am 26.
02.2001 ein Aufklärungsgespräch führte. In der von der Klägerin unterzeichneten, vorgefertigten "Operationsaufklärung
und Einwilligung" sind als "Risiken" und mögliche Komplikationen der Operation unter anderem die "Möglichkeit einer
Querschnittslähmung und einer Blasen- und Mastdarmstörung" angeführt und handschriftlich unterstrichen. Von einer
konventionellen Bandscheibenoperation riet der Beklagte ab.
Der Beklagte legte den Katheter am 6. 03.2001. Die erste Einspritzung des "Cocktails" erfolgte unmittelbar nach der
Operation noch im Wachraum. In der Nacht zum 7. 03.2001 und am Morgen dieses Tages traten starke Schmerzen
auf. Die Verabreichung der Schmerzmittel Tramal und Imbun führte zu keiner nennenswerten Besserung. Der Beklagte
wurde telefonisch unterrichtet. Er ordnete eine zweite Infiltration an. Am Nachmittag hatte die Klägerin er neut starke
Schmerzen. Bei einem weiteren Telefonat gab der Beklagte die Anweisung, den Katheter um 1 cm zurückzuziehen.
Darauf verminderte sich der Schmerz umgehend und der Zustand der Klägerin besserte sich. Am Abend des 7.
03.2001 traten jedoch Taubheitsgefühle am Gesäß und linken Bein der Klägerin auf, worauf diese die Stationsärztin
hinwies. Am 8. 03.2001 wurde eine dritte Infiltration gesetzt. Gleich zu Beginn kam es zu starken krampfartigen
Schmerzen der Klägerin, besonders in der linken Kniekehle außen und im Unterschenkel. Nach etwa eineinhalb
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Stunden zog die Beklagte zu 2 den Katheter mitsamt der Nadel heraus. In der Folgezeit zeigte sich bei der Klägerin
eine Blasen- und Mastdarmstörung in streitigem Umfang. Die Klägerin hat vorgebracht, die Komplikation sei auf Fehler
des Beklagten und der Stationsärztin zurückzuführen. Sie hat außerdem eine unzulängliche Aufklärung beanstandet
und die Feststellung begehrt, alle drei Beklagten seien zum Ersatz sämtlicher materieller und immaterieller Schäden
verpflichtet, die mit den Eingriffen vom 6., 7. und 8. 03.2001 ursächlich zusammenhingen. Ihre Klage hatte keinen
Erfolg. Das Oberlandesgericht München hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden
Senat lediglich hinsichtlich des Beklagten zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel gegen diesen
weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, ein Behandlungsfehler des Beklagten sei nicht
nachweisbar. Der Eingriff sei 2001 zumindest relativ indiziert gewesen. Das Verfahren habe zum Teil gute
Therapieerfolge aufgewiesen, während Zahl und Schwere der bekannten Nebenwirkungen gering gewesen sei. Das
technische Vorgehen des Beklagten bei der Einbringung des Katheters am 6. 03.2001 sei nicht zu beanstanden. Ein
Befunderhebungsfehler des Beklagten durch Beschränkung auf telefonische Anweisungen und die Unterlassung einer
persönlichen Untersuchung am 7. 03.2001 sei zu verneinen.
Allerdings habe das Berufungsgericht keinen Zweifel daran, dass die Entscheidung des Beklagten, die Behandlung
nach Auftreten der Schmerzen nicht abzubrechen, zu der Blasen- und Mastdarmstörung der Klägerin geführt habe. Aus
diesem Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Beklagten und dem Schaden der Klägerin könne jedoch
nicht auf das Vorliegen eines Behandlungsfehlers geschlossen werden, den der Sachverständige verneint habe.
Leitlinien für die Schmerzbehandlung mit dem RaczKatheter gebe es nicht.
Auch eine Verletzung der dem Beklagten obliegenden Aufklärungspflicht sei nicht festzustellen. Der Beklagte habe die
Klägerin ausweislich des Einwilligungsformulars über die Risiken einer Blasen- und Mastdarmstörung bis zur
Querschnittlähmung hingewiesen und damit die Gefahren der Behandlung nicht verharmlost. Auch über eine
konventionelle Bandscheibenoperation habe der Beklagte mit der Klägerin gesprochen. Die Klägerin sei zudem erst
nach ergebnisloser konventioneller Schmerzbehandlung an den Beklagten verwiesen
worden. Der Beklagte habe die Klägerin zwar nicht darüber aufgeklärt, dass die Methode Racz eine neuartige,
wissenschaftlich umstrittene Art der Schmerztherapie sei. Er habe aber auf das Misserfolgsrisiko der Methode
hingewiesen. Das Landgericht habe zudem zu Recht einen Entscheidungskonflikt der Klägerin verneint. Ein Hinweis,
dass es sich um eine verhältnismäßig neue Methode mit statistisch nicht abgesicherter Wirksamkeit handle, würde die
Klägerin von der Behandlung nicht abgehalten haben. Die beklagten Folgen seien extrem selten. Der Klägerin sei auch
bekannt gewesen, dass die Schmerzbehandlung nach Racz von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht bezahlt
werde.
II.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Allerdings bestehen aus Rechtsgründen keine Bedenken dagegen, dass das Berufungsgericht die Entscheidung des
Beklagten für die Therapie mit dem sogenannten RaczKatheter (minimalinvasive epidurale WirbelsäulenKathetertechnik nach Prof. Racz; vgl. Altendorfer,
Orthopädie & Rheuma 2003, 22 f.; KlakowFranck/Rheinberger, DÄBl 2003, A 1022 f.) zur Linderung oder Behebung der Schmerzen der Klägerin nicht
beanstandet und in der Therapiewahl keinen Behandlungsfehler sieht.
a) Zwar handelt es sich bei dieser Behandlungsmethode nach den Feststellungen des Berufungsgerichts um eine
symptombezogene Schmerztherapie, die damals neuartig war und wissenschaftlich umstritten ist. Wissenschaftliche
Auswertungen mit statistischer Aussagekraft über die Wirksamkeit der Therapie fehlten jedenfalls im Jahr 2001.
b) Die Anwendung einer nicht allgemein anerkannten Heilmethode ist aber grundsätzlich erlaubt und führt nicht ohne
weitere Umstände zu einer Haftung des Behandlers (vgl. Senat, BGHZ 113, 297, 301 m.w.N). Die Therapiewahl ist primär Sache des
Arztes, dem die Rechtsprechung bei seiner Entscheidung ein weites Ermessen einräumt für den Fall, dass praktisch
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gleichwertige Methoden zur Verfügung stehen (vgl. Senat, BGHZ 102, 17, 22; 106, 153, 157; Urteile vom 24. 11.1987 - VI ZR 65/87 - VersR 1988, 190, 191; vom 15. 03.2005
- VI ZR 313/03 - VersR 2005, 836).
Der Arzt ist bei der Wahl der Therapie auch nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt.
Allerdings muss ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falles oder in einer günstigeren
Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden (vgl. Senat, BGHZ 168, 103, 105 f.; Urteil vom 7. 07.1987 - VI ZR 146/86 - VersR 1988, 82, 83; Katzenmeier,
Arzthaftung, S. 311 zu FN 237; Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., Rn. 486; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. B 9, B 37). Jedenfalls hat der Arzt alle bekannten und
medizinisch vertretbaren Sicherungsmaßnahmen anzuwenden, die eine erfolgreiche und komplikationsfreie
Behandlung gewährleisten, und muss um so vorsichtiger vorgehen, je einschneidender ein Fehler sich für den
Patienten auswirken kann (vgl. Senat, Urteil vom 9. 07.1985 - VI ZR 8/84 - VersR 1985, 969, 970).
Nach diesen Grundsätzen ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht in der Wahl der
RaczMethode keinen Behandlungsfehler gesehen hat. Die Anwendung dieser Behandlungsmethode war im konkreten
Fall relativ indiziert. Das Verfahren wies - nach den von der Revision nicht beanstandeten Feststellungen des
Berufungsgerichts - bei Schmerzpatienten zum Teil gute Therapieerfolge auf, während Zahl und Schwere der
bekannten Nebenwirkungen gering waren. Die Klägerin hatte lang dauernde
Schmerzen und lehnte eine Bandscheibenoperation ab. Die Spinalkanalstenose sprach nach dem Wissensstand des
Jahres 2001 nicht gegen die Erfolgsaussichten des Eingriffs. Dann aber war dem Beklagten die Wahl dieser Therapie
gestattet, auch wenn sie neuartig und umstritten und ihre Wirksamkeit statistisch nicht abgesichert war.
c) Ferner ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht im Anschluss an das sachverständig beratene - Landgericht einen Behandlungsfehler beim Setzen des Epiduralkatheters verneint. Die
Revision erhebt insoweit keine Beanstandungen.
2. Durchgreifenden Bedenken begegnen jedoch die Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht für die Fortsetzung
der Behandlung am 7. 03.2001 nach dem Auftreten von Schmerzen einen Behandlungsfehler verneint.
a) Die Anwendung einer Außenseitermethode unterscheidet sich - wie die Anwendung neuer Behandlungsmethoden
oder die Vornahme von Heilversuchen an Patienten mit neuen Medikamenten - von herkömmlichen, bereits zum
medizinischen Standard gehörenden Therapien vor allem dadurch, dass in besonderem Maße mit bisher unbekannten
Risiken und Nebenwirkungen zu rechnen ist. Deshalb erfordert die verantwortungsvolle medizinische Abwägung einen
besonders sorgfältigen Vergleich zwischen den zu erwartenden Vorteilen und ihren abzusehenden, zu vermutenden
oder aufgetretenen Nachteilen unter besonderer Berücksichtigung des Wohles des Patienten. Der behandelnde Arzt
muss zwar nicht stets den sichersten therapeutischen Weg wählen, doch muss bei Anwendung einer solchen Methode
- wie bereits erwähnt - ein höheres Risiko für den Patienten in besonderem Maße eine sachliche Rechtfertigung in den
Sachzwängen des konkreten Falles oder in einer günstigeren Heilungsprognose finden. Die sich hieraus ergebende
Abwägung ist kein einmaliger Vorgang
bei Beginn der Behandlung, sondern muss jeweils erneut vorgenommen werden, sobald neue Erkenntnisse über
mögliche Risiken und Nebenwirkungen vorliegen, über die sich der behandelnde Arzt ständig, insbesondere auch
durch unverzügliche Kontrolluntersuchungen zu informieren hat (vgl. Senat, Urteile vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - VersR 2006, 1073; vom 27. 03.2007 - VI
ZR 55/05 - beide zum Abdruck in BGHZ bestimmt).
Diese Verpflichtung zur Überprüfung der Behandlungsmethode gilt erst recht, wenn im Verlauf der Behandlung
Komplikationen auftreten. In diesem Fall muss der Arzt sich über deren Ursache vergewissern und darf die Behandlung
nur fortsetzen, wenn auszuschließen ist, dass die Komplikationen durch die Behandlung verursacht sind.
Nach diesen Grundsätzen waren beim Auftreten starker Schmerzen bei der Klägerin anlässlich einer zur
Schmerztherapie vorgenommenen neuartigen Behandlung erhöhte Vorsicht, eine genaue Untersuchung auf die
Ursache der Beeinträchtigungen und die erforderlichen Maßnahmen zur Vermeidung bleibender Schäden geboten.
Auch durfte der Beklagte sich unter den gegebenen Umständen trotz ärztlicher Betreuung der Patientin im
Krankenhaus nicht auf telefonische Anweisungen beschränken, sondern musste sich persönlich von ihrer
Beeinträchtigung und deren Ursachen vergewissern (vgl. Senat, Urteil vom 20. 02.1979 - VI ZR 48/78 - VersR 1979, 376 ff.). Diese Pflicht des
behandelnden Arztes zu besonderer Vorsicht hat auch der Sachverständige bestätigt. Bei Anwendung einer
Behandlungsmethode außerhalb des medizinischen Standards ist Maßstab für die erforderliche Sorgfalt ein
vorsichtiger Arzt.
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b) In rechtlicher Hinsicht obliegt die Bewertung eines Behandlungsgeschehens als fehlerhaft dem Tatrichter, der sich
freilich in medizinischer Hinsicht auf Sachverständige zu stützen hat. Die Tatsachenfeststellung ist Aufgabe
des Richters in eigener Verantwortung. Er muss sich darauf einstellen, dass manche Sachverständige
Behandlungsfehler nur zurückhaltend ansprechen, wie im vorliegenden Fall. Die deutliche Distanzierung des
Sachverständigen vom Vorgehen des Beklagten in der Sache und seine einschränkende Formulierung "kein richtiger
Behandlungsfehler" hätten dem Berufungsgericht Anlass geben müssen, die Äußerungen des Sachverständigen
kritisch zu hinterfragen und sowohl den für eine solche Behandlung geltenden Sorgfaltsmaßstab als auch den Begriff
des Behandlungsfehlers mit dem Sachverständigen zu erörtern, gegebenenfalls sogar ein anderes Gutachten
einzuholen (vgl. Senat, Urteile vom 27. 09.1977 - VI ZR 162/76 - VersR 1978, 41, 42 f.; vom 19. 01.1993 - VI ZR 60/92 - VersR 1993, 835, 836; vom 14. 12.1993 - VI ZR 67/93 - VersR 1994, 480, 482).
Jedenfalls war das Berufungsgericht nicht an die Verneinung eines Behandlungsfehlers durch den Sachverständigen
gebunden, zumal diese auch in der Form nicht eindeutig war und mit "kein richtiger Behandlungsfehler" eine deutliche
Relativierung seiner Beurteilung enthielt.
c) Unter diesen Umständen liegt es auf der Hand, hier einen haftungsbegründenden Fehler des Beklagten
anzunehmen, ohne dass es darauf ankommt, dass für diese Behandlungsmethode keine Leitlinien bestanden haben.
Abschließender Beurteilung bedarf diese Frage jedoch nicht.
3. Der Beklagte haftet für die Behandlung insgesamt und die daraus entstandenen und künftig entstehenden Schäden
der Klägerin jedenfalls deshalb, weil die Behandlung ohne wirksame Einwilligung der Klägerin erfolgt ist und daher
rechtswidrig war. Die Ansicht des Berufungsgerichts, der Beklagte habe die ihm obliegende Aufklärungspflicht nicht
verletzt, hält den Angriffen der Revision gleichfalls nicht stand.
a) Die Anwendung einer sogenannten "Außenseitermethode" erfordert zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des
Patienten dessen Aufklärung über das Für und Wider dieser Methode. Einem Patienten müssen nicht nur die Risiken
und die Gefahr eines Misserfolges des Eingriffs erläutert werden, sondern er ist auch darüber aufzuklären, dass der
geplante Eingriff (noch) nicht medizinischer Standard ist und seine Wirksamkeit statistisch (noch) nicht abgesichert ist. Der
Patient muss wissen, auf was er sich einlässt, um abwägen zu können, ob er die Risiken einer (eventuell - wie hier - nur relativ
indizierten) Behandlung und deren Erfolgsaussichten im Hinblick auf seine Befindlichkeit vor dem Eingriff eingehen will (vgl.
Senat, Urteil vom 27. 03.2007 - VI ZR 55/05 - aaO; Katzenmeier, aaO, S. 312; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl., Rn. 387; Geiß/Greiner, aaO, Rn. C 39).
b) Eine diesen Grundsätzen entsprechende Aufklärung ist unstreitig nicht erfolgt.
Zwar hat der Beklagte die Klägerin über die schwerwiegenden Risiken einer Querschnittlähmung sowie einer Blasenund Mastdarmstörung aufgeklärt. Auch wurde die Klägerin über die Möglichkeit der Erfolglosigkeit des Eingriffs belehrt,
wie das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise aus der Unterstreichung der Wörter
"persistierende Beschwerden" im Aufklärungsformular und der Aussage des Ehemannes der Klägerin als Zeugen vor
dem Landgericht entnimmt.
Der Beklagte hat die Klägerin aber unstreitig nicht darüber belehrt, dass es sich bei der Methode Racz um eine
neuartige, wissenschaftlich umstrittene Art der Schmerztherapie handelte, die (noch) nicht medizinischer Standard, deren
Wirksamkeit statistisch nicht abgesichert war und die der Sachverständige als "klinischexperimentell" bezeichnet hat.
Eine solche Aufklärung wäre jedoch
nach obigen Grundsätzen erforderlich gewesen und war angesichts der lediglich relativen Indikation und auch
angesichts der bei der Klägerin vorbekannten Besonderheit einer Spinalkanalstenose im konkreten Fall unverzichtbar,
selbst wenn die Stenose damals noch nicht als Kontraindikation erkannt war. Die Aufklärung über das Risiko eines
Misserfolgs, die das Berufungsgericht als ausreichend angesehen hat, konnte demgegenüber nicht genügen, weil sie
die Patientin weder über die Gefahr einer Verschlechterung ihres Zustands noch über die insgesamt unerforschte
Wirkweise der Methode und ihre umstrittene Wirksamkeit in Kenntnis setzte.
c) Nach allem war die Aufklärung der Klägerin nicht ausreichend, weil sie eine unrichtige Vorstellung von der
SchadenNutzenRelation vermittelte (vgl. Senat, BGHZ 144, 1, 8; Urteile vom 7. 04.1992 - VI ZR 192/91 - VersR 1992, 960, 961 f.; vom 2. 11.1993 - VI ZR 245/92 - VersR 1994, 104,
105). An der haftungsbegründenden Kausalität der Behandlung durch den Beklagten bestehen nach den
beanstandungsfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts keine Zweifel.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 109
Eine Haftung des Beklagten für die bei der Klägerin aufgetretene Blasen- und Mastdarmstörung wird auch nicht
deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin über diese Komplikationsmöglichkeit aufgeklärt worden war. Die Klägerin
hat unwidersprochen vorgetragen, dass sie sich bei vollständiger Aufklärung überhaupt nicht auf die Behandlung
eingelassen hätte, und damit geltend gemacht, dass sie bei vollständiger Aufklärung von dieser Behandlung
abgesehen hätte. Anders als in dem der Entscheidung des Senats vom 13. 06.2006 (- VI ZR 323/04 - BGHZ 168, 103 ff.) zugrunde
liegenden Sachverhalt hätte die Klägerin daher diese Behandlung insgesamt abgelehnt (zum haftungsrechtlichen Zurechnungszusammenhang
vgl. Senat, Urteil vom 30. 01.2001 - VI ZR 353/99 - VersR 2001, 592).
d) Auf eine hypothetische Einwilligung der Klägerin durfte das Berufungsgericht seine Entscheidung schon deshalb
nicht stützen, weil nicht festgestellt und nicht ersichtlich ist, dass der Beklagte sich auf eine hypothetische Einwilligung
der Klägerin auch im Falle ordnungsgemäßer Aufklärung berufen hat (vgl. Senat, Urteile vom 7. 04.1992 - VI ZR 192/91 - VersR 1992, 960, 962; vom 9.
11.1993 - VI ZR 248/92 - VersR 1994, 682, 684; vom 14. 06.1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302; vom 9. 07.1996 - VI ZR 101/95 - VersR 1996, 1239, 1240).
Die Revision wendet sich im Übrigen mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine hypothetische Einwilligung
der Klägerin in die Behandlung nach Racz angenommen hat, weil die Klägerin einen Entscheidungskonflikt nicht
plausibel dargetan habe. Das Berufungsgericht stellt zu hohe Anforderungen an die Plausibilität eines
Entscheidungskonflikts bei Anwendung einer Außenseitermethode (vgl. Senat, Urteil vom 27. 03.2007 - VI ZR 55/05 - aaO). Die Klägerin hatte
vorgetragen, bei ordnungsgemäßem Hinweis darauf, dass es sich um eine Behandlungsmethode außerhalb des
medizinischen Standards handelte, hätte sie die Behandlung nicht ausführen lassen; sie wäre notfalls in eine
Schmerzklinik gegangen. Damit hatte sie einen Entscheidungskonflikt ausreichend plausibel gemacht.
e) Die Behandlung der Klägerin durch den Beklagten war somit mangels ordnungsgemäßer Aufklärung über die
Anwendung einer "Außenseitermethode" von Anfang an rechtswidrig. Der Beklagte haftet daher für alle aus der
Behandlung entstehenden materiellen und immateriellen Schäden der Klägerin.
f) Eine für die Klage auf Feststellung der Ersatzverpflichtung des Beklagten ausreichende Möglichkeit künftiger
Schäden (vgl. Senat, Urteil vom 9. 01.2007 - VI ZR 133/06 - GesR 2007, 165) ist nach den Ausführungen
des Berufungsgerichts in der Blasen- und Mastdarmstörung der Klägerin festgestellt.
4. Nach allem ist das angefochtene Urteil aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Der erkennende Senat hat in der Sache
abschließend zu entscheiden, da die Aufhebung wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des § 823 Abs. 1 BGB auf
das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO).
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr
Vorinst.:LG München II, Entscheidung vom 02.08.2005 - 1 MO 2439/02 OLG München, Entscheidung vom 19.01.2006 - 1 U 4453/05 -
BGH VI ZR 108/06 vom 17.04.2007
Thöns
a) Der Arzt hat den Patienten vor dem ersten Einsatz eines Medikaments, dessen Wirksamkeit in der konkreten
Behandlungssituation zunächst erprobt werden soll, über dessen Risiken vollständig aufzuklären, damit der
Patient entscheiden kann, ob er in die Erprobung überhaupt einwilligen oder ob er wegen der möglichen
Nebenwirkungen darauf verzichten will.
b) Kann ein Patient zu der Frage, ob er bei zutreffender ärztlicher Aufklärung in einen Entscheidungskonflikt
geraten wäre, nicht persönlich angehört werden (hier: wegen schwerer Hirnschäden), so hat das Gericht aufgrund einer
umfassenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob der Patient aus nachvollziehbaren
Gründen in einen ernsthaften Entscheidungskonflikt geraten sein könnte.
Der Patient obsiegte.
BGB § 823 Abs. 1 Aa, Dd
BGH, Urteil vom 17. 04.2007 - VI ZR 108/06 - OLG Braunschweig
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 110
LG Göttingen
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 17. 04.2007 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Wellner, die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 4. 05.2006
aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht
zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die beklagte Universität wegen behaupteter ärztlicher Fehler in deren medizinischen Einrichtungen
auf Zahlung von Schmerzensgeld, Ersatz materiellen Schadens und Feststellung in Anspruch. Der Klägerin wurde bei
einer stationären Behandlung in der Universitätsklinik seit dem 22. 03.2000 zur Behandlung einer Herzarrhythmie das
Medikament Cordarex (Amiodaron) verabreicht. Am 30. 03.2000 erlitt sie in der Pause zwischen einer durchgeführten und
einer geplanten Myokardszintigraphie einen Kreislaufstillstand. Dieser konnte zwar innerhalb von 10 Minuten nach der
Entdeckung durch Reanimation beendet werden, führte jedoch zu schweren bleiben den Hirnschäden. Die Klägerin
wirft den behandelnden Ärzten der Beklagten Behandlungs- und Aufklärungsfehler vor.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit
der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist ein Behandlungsfehler der behandelnden Ärzte nicht festzustellen. Den
Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen sei zu entnehmen, dass die Behandlung mit Amiodaron (= Cordarex)
indiziert gewesen sei, weil die vorherige Behandlung mit BetaBlockern zur symptomatischen Besserung bei
erheblichem Leidensdruck und ansonsten nicht ausreichend behandelbarem Vorhofflimmern nicht angeschlagen habe.
Eine Kontraindikation habe nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht vorgelegen.
Auch ein Aufklärungsfehler sei zu verneinen. Eine Aufklärungspflicht habe (noch) nicht bestanden. Das Medikament
Cordarex (Amiodaron) sei nach den Ausführungen des Sachverständigen zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit Ursache für
den bei der Klägerin eingetretenen Herzstillstand gewesen. Das Risiko eines Herzstillstandes sei aber durch den
Wechsel des HerzrhythmusMedikaments von Propafenon auf Cordarex nicht gesteigert, sondern vielmehr gesenkt
worden. Im Hinblick auf das Risiko des Eintritts eines Herzstillstandes seien die Ärzte der Beklagten daher nicht zu
einer Einwilligungsaufklärung verpflichtet gewesen, da insoweit ein gesteigertes Risiko nicht vorgelegen habe.
Eine Aufklärungspflicht habe auch nicht hinsichtlich der sonstigen Risiken des Medikamentes Cordarex bestanden.
Dabei sei nicht entscheidend, dass sich bei der Klägerin keines dieser Risken verwirklicht habe. Maßgeblich sei
vielmehr, dass diese Risiken sich in dem erforderlichen Zeitraum der Erprobung zur Umstellung auf Cordarex - nämlich
zehn Tage - gar nicht hätten verwirklichen können. Zumindest für diese Phase der therapeutischen Abklärung, ob ein
Medikamentenwechsel sinnvoll sei, habe daher noch keine Aufklärungspflicht seitens der Beklagten bestanden.
Solange in der Phase der Feststellung, ob das andere Medikament dem Patienten überhaupt helfe, eine
Risikoerhöhung - wie hier - ausgeschlossen sei, fehle es an einem einwilligungsbedürftigen Eingriff. Das
Selbstbestimmungsrecht des Patienten werde nicht beeinträchtigt. Allerdings habe vor Beginn einer
Dauermedikamentierung die Aufklärung der Klägerin über die erst damit verbundenen Nebenwirkungsrisiken erfolgen
müssen. Darauf komme es hier aber nicht an, da sich diese Frage nicht mehr gestellt habe.
Unterstelle man das Bestehen einer Aufklärungspflicht, so hafte die Beklagte nicht, weil die CordarexGabe durch eine
hypothetische Einwilligung der Klägerin gedeckt gewesen wäre. Einen Entscheidungskonflikt habe die Klägerin bereits
nicht hinreichend dargelegt. Dass sie infolge ihrer erheblichen kognitiven Beeinträchtigung und spastischen Störung
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infolge des Hirnschadens zum Entscheidungskonflikt nicht persönlich angehört werden könne, gehe zu ihren Lasten.
Die fehlende persönliche Anhörung werde auch nicht durch unstreitige oder aufklärbare streitige Umstände
kompensiert. Zum Zeitpunkt der probeweisen Umstellung der Medikation ab 22. 03.2000 auf Cordarex habe unstreitig
festgestanden, dass bei der Klägerin eine absolute Tachyarrhythmie bestand, die sich als mit BetaBlockern nicht
behandelbar herausgestellt habe. Daraus, dass die Klägerin behaupte, sie habe zunächst nur die Verträglichkeit ihrer
Herzmittel mit ihren nach dem Selbstmord ihres Mannes verordneten Antidepressiva bei
der Beklagten abklären lassen wollen, lasse sich für ihre Entscheidungslage zum 22. 03.2000 nichts ableiten. Vielmehr
spreche der Umstand, dass sich die Klägerin um einen kompatiblen Zustand der Medikamente bemüht habe, eher
dafür, dass sie sowohl ihre Depressionen als auch ihre Herzrhythmusstörungen grundsätzlich weiterhin habe
behandeln lassen wollen. Ausreichende Anhaltspunkte für einen Entscheidungskonflikt fänden sich jedenfalls nicht.
II.
Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision, welche sich ausschließlich gegen die Verneinung der Haftung
wegen eines Aufklärungsversäumnisses wenden, nicht stand.
1. Im Ansatz zutreffend ist allerdings der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts. Der Arzt, der Medikamente, die sich
als für die Behandlung der Beschwerden des Patienten ungeeignet erwiesen haben, durch ein anderes Medikament
ersetzt, dessen Verabreichung für den Patienten mit dem Risiko erheblicher Nebenwirkungen verbunden ist, hat den
Patienten zur Sicherung seines Selbstbestimmungsrechts über den beabsichtigten Einsatz des neuen Medikaments
und dessen Risiken aufzuklären (sogenannte Eingriffs- oder Risikoaufklärung). Tut er dies nicht, ist die Behandlung rechtswidrig, auch
wenn der Einsatz des Medikaments an sich sachgerecht war (vgl. Senatsurteile BGHZ 162, 320, 323 f.; vom 27. 10.1981 - VI ZR 69/80 - VersR 1982, 147, 148 f. =
AHRS 5100/5; vgl. auch für den Fall einer Routineimpfung Senatsurteil BGHZ 144, 1, 5). Das Berufungsgericht stellt fest, dass die Behandlung mit Cordarex
mit einer Wahrscheinlichkeit von 35% nachteilige Nebenwirkungen im Bereich der Lunge, der Schilddrüse, der Augen
und der Haut nach sich ziehe und dass Cordarex deshalb als Reservemedikament erst zum Einsatz kommen solle,
wenn andere weniger riskante Mittel nicht anschlagen. Die Revision weist ergänzend darauf hin, dass es sich bei den
zu befürchtenden Nebenwirkungen um Schilddrüsenfunktionsstörungen, schwere entzündliche Lungenerkrankungen
und Leberschäden, periphere Neuropathien und/oder Myopathien sowie Augenschäden, und ferner um Erkrankungen
des Blutes und des Lymphsystems, der Gefäße, des Gastrointestinaltrakts, der Haut, des Nervensystems, der
Geschlechtsorgane und Brustdrüsen, der Nieren- und Harnwege sowie der Skelettmuskulatur und des Bindegewebes
handele. Unter diesen Umständen bejaht das Berufungsgericht zutreffend eine grundsätzliche Aufklärungspflicht des
Arztes über die beabsichtigte Behandlung mit Cordarex und die damit verbundenen Risiken.
2. Nicht gefolgt werden kann jedoch der Auffassung des Berufungsgerichts, über die zwar seltene, aber
möglicherweise mit schwer wiegenden Folgen verbundene Komplikation eines Herzstillstandes habe hier deshalb nicht
aufgeklärt werden müssen, weil das abgesetzte Medikament insoweit gefährlicher, die konkrete Gefahr durch den
Einsatz des Cordarex demnach vermindert worden sei.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war der Einsatz des Medikaments Cordarex mit hoher
Wahrscheinlichkeit die Ursache für den Herzstillstand. Für das Revisionsverfahren ist deshalb zu unterstellen, dass
dies tatsächlich der Fall war. Muss - wovon nach dem bisherigen Sachstand auszugehen ist - das Risiko eines
Herzstillstandes als typisches Risiko der Verabreichung von Cordarex angesehen werden, so war wegen der schwer
wiegenden Folgen eine Aufklärung auch hierüber erforderlich. Entscheidend für die ärztliche Hinweispflicht ist nicht ein
bestimmter Grad der Risikodichte, insbesondere nicht eine bestimmte Statistik, sondern vielmehr, ob das betreffende
Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung
des Patienten besonders belastet, so dass grundsätzlich auch über derartige äußerst seltene Risiken aufzuklären ist
.
(Senatsurteile BGHZ 144, 1, 5 f. und vom 21. 11.1995 - VI ZR 341/94 - VersR 1996, 330, 331; ferner BGHZ 126, 386, 389)
Der Hinweis des Berufungsgerichts darauf, dass das Risiko eines Herzstillstandes durch das der Klägerin zuvor
verabreichte Medikament Propafenon höher gewesen sei, führt schon deshalb nicht weiter, weil nicht festgestellt ist,
dass die Klägerin über diese Wirkung des Propafenon aufgeklärt worden ist und gleichwohl mit seiner Verabreichung
einverstanden war. Ohnehin können die Risiken einer zuvor erfolgten ärztlichen Behandlung mit den Risiken der
nunmehr vorgenommenen Behandlung nicht "verrechnet" werden. Vielmehr ist der Patient vor dem Einsatz eines
neuen Medikaments über dessen Risiken vollständig aufzuklären (Senatsurteil BGHZ 162, 320, 323 ff. m.w.N.).
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3. Nicht zu billigen ist auch die Ansicht des Berufungsgerichts, der Einsatz eines neuen Medikaments sei ohne
Einwilligung des Patienten vorübergehend zulässig, wenn zunächst ermittelt werden solle, ob das Medikament
überhaupt anschlage und sich dessen Risiken in der Erprobungsphase der Medikation noch nicht auswirkten.
a) Insoweit ist bereits zweifelhaft, ob das Berufungsgericht den Sachvortrag der Parteien und das Ergebnis der
Beweisaufnahme ausreichend in Betracht gezogen hat. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Beklagte darauf berufen
hat, sie habe von einer Aufklärung der Klägerin nur vorübergehend absehen und diese bei einem Anschlagen des
Medikaments vor Beginn der Dauermedikation nachholen wollen. Mit Recht macht die Revision auch geltend, die
Zeitberechnungen des Berufungsgerichts könnten auf einem fehlerhaften Verständnis der Ausführungen des
Sachverständigen beruhen. Diese seien ledig lich dahin zu verstehen, dass die Verwirklichung der beschriebenen
Risiken in dem kurzen Zeitraum, in dem das Cordarex hier verabreicht wurde, noch nicht durch das Auftreten konkreter
Krankheitserscheinungen sichtbar geworden wären, nicht aber dahin, dass sie in diesem Zeitraum noch nicht hätten
entstehen können. Dem Berufungsurteil ist nicht zu entnehmen, dass sich das Berufungsgericht dieser möglichen
Differenzierung bewusst gewesen und dass dieser Gesichtspunkt mit dem Sachverständigen erörtert worden ist.
b) Vor allem aber kann den Ausführungen des Berufungsgerichts auch aus grundsätzlichen Erwägungen nicht gefolgt
werden. Ergeben sich beim Einsatz eines Medikaments für den Patienten andere Risiken als bei der bisherigen
Medikation, ist der Patient bereits vor dessen erstem Einsatz entsprechend aufzuklären. Nur so wird das
Selbstbestimmungsrecht des Patienten in ausreichender Weise gewahrt. Nur so wird auch vermieden, dass eine
haftungsrechtliche "Grauzone" für die Erprobungsphase eines neuen Medikaments entsteht. Auch könnte es das
Selbstbestimmungsrecht des Patienten beeinträchtigen, wenn die Aufklärung bzw. seine Entscheidung über den
Einsatz des Medikaments auf einen Zeitpunkt verschoben würde, in dem möglicherweise der Eindruck der
Beschwerdelinderung durch einen einsetzenden Therapieerfolg den Blick auf die erheblichen Risiken der Medikation
verstellen kann.
Erforderlich ist vielmehr, dass der Patient bereits vor dem ersten Einsatz eines neuen Medikaments über dessen
Risiken aufgeklärt wird, damit er entscheiden kann, ob er in dessen Erprobung überhaupt einwilligen oder ob er wegen
der möglichen Nebenwirkungen von vornherein darauf verzichten will.
4. Schließlich sind auch die Ausführungen des Berufungsgerichts zur hypothetischen Einwilligung der Klägerin von
Rechtsfehlern beeinflusst.
a) Der Einwand der Behandlungsseite, der Patient hätte sich einem Eingriff auch bei zutreffender Aufklärung über
dessen Risiken unterzogen, ist grundsätzlich beachtlich (Senatsurteil BGHZ 90, 103, 111 = AHRS 1050/12). Den Arzt trifft insoweit die
Behauptungs- und Beweislast. Er ist mit dem Beweis für seine Behauptung, dass der Patient bei ordnungsgemäßer
Aufklärung in den Eingriff eingewilligt haben würde, allerdings nur zu belasten, wenn der Patient zur Überzeugung des
Tatrichters plausibel macht, dass er, wären ihm rechtzeitig die Risiken der Behandlung verdeutlicht worden, vor einem
echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte, wobei an die Substantiierungspflicht zur Darlegung eines solchen
Konflikts keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen (Senatsurteile vom 7. 04.1992 - VI ZR 192/91 - VersR 1992, 960, 962 = AHRS 1050/55; vom 14.
06.1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302 = AHRS 1050/128 und 6805/105 m.w.N.). Feststellungen darüber, wie sich ein Patient bei ausreichender
Aufklärung entschieden hätte, und ob er in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, darf der Tatrichter grundsätzlich
nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen; ein Ausnahmefall kann vorliegen, wenn schon die unstreitigen
äußeren Umstände eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation erlauben (vgl. Senatsurteile vom 26. 06.1990 VI ZR 289/89 - VersR 1990, 1238, 1240 = AHRS 6180/38; vom 1. 02.2005 - VI ZR 174/03 - VersR 2005, 694 m.w.N.). Von diesen Grundsätzen geht das
Berufungsgericht im Ansatz zutreffend aus.
b) In ihrer Verallgemeinerung unrichtig ist indes die zum Rechtssatz erhobene Aussage des Berufungsgerichts, die
Unmöglichkeit der persönlichen Anhörung des Patienten zum Entscheidungskonflikt wirke sich grundsätzlich zu dessen
Lasten aus. Der erkennende Senat fordert für den Regelfall eine per sönliche Anhörung des Patienten, um zu
vermeiden, dass das Gericht für die Verneinung eines Entscheidungskonflikts vorschnell auf das abstellt, was bei
objektiver Betrachtung als nahe liegend oder vernünftig erscheint, ohne die persönlichen, möglicherweise weniger nahe
liegenden oder als unvernünftig erscheinenden Erwägungen des Patienten ausreichend in Betracht zu ziehen. Die
persönliche Anhörung soll es dem Gericht ermöglichen, den anwaltlich vorgetragenen Gründen für und gegen einen
Entscheidungskonflikt durch konkrete Nachfragen nachzugehen und sie auch aufgrund des persönlichen Eindrucks
vom Patienten sachgerecht beurteilen zu können. Dabei muss im Auge behalten werden, dass an den Nachweis einer
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hypothetischen Einwilligung durch die Behandlungsseite grundsätzlich strenge Anforderungen zu stellen sind, damit
das Aufklärungsrecht des Patienten nicht auf diesem Wege unterlaufen wird (Senatsurteil vom 14. 06.1994 - VI ZR 260/93 - aaO), und dass
die Darlegung eines echten Entscheidungskonflikts durch den Patienten gefordert wird, um einem Missbrauch des
Aufklärungsrechts allein für Haftungszwecke vorzubeugen (vgl. Senatsurteil BGHZ 90, 103, 112).
Danach scheidet eine schematische Beantwortung der vom Berufungsgericht aufgeworfenen Frage aus. Alleine unter
Berücksichtigung der aufgezeigten Spannungslage lässt sich im konkreten Einzelfall beurteilen, ob und in welcher
Richtung sich die Unmöglichkeit der persönlichen Anhörung des Patienten auswirkt. Sofern aufgrund der objektiven
Umstände ein echter Entscheidungskonflikt eher fern, eine haftungsrechtliche Ausnutzung des
Aufklärungsversäumnisses eher nahe liegt, ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Tatrichter eine
hypothetische Einwilligung bejaht, obwohl der Patient dazu nicht persönlich angehört werden konnte. Ist indes nicht
auszuschließen, dass sich der Patient unter Berücksichtigung des zu behandelnden Leidens und der Risiken, über die
aufzuklären war, aus vielleicht nicht gerade "vernünftigen", jedenfalls aber nachvollziehbaren Gründen für eine
Ablehnung der Behandlung ent schieden haben könnte, kommt ein echter Entscheidungskonflikt in Betracht. In einem
solchen Fall darf der Tatrichter nicht alleine aufgrund der Unmöglichkeit der persönlichen Anhörung eine dem Patienten
nachteilige Wertung vornehmen.
Deshalb kann auch der Revision nicht in vollem Umfang gefolgt werden, soweit sie die Ansicht vertritt, der behandelnde
Arzt handele stets treuwidrig, wenn er sich auf eine hypothetische Einwilligung des Patienten berufe, obwohl dieser
einen Entscheidungskonflikt nicht mehr darlegen könne. Richtig ist lediglich, dass die Behandlungsseite die Folgen der
Unaufklärbarkeit zu tragen hat, wenn ein echter Entscheidungskonflikt ernsthaft in Betracht kommt. Ob dies der Fall ist,
kann aber - wie ausgeführt - nur aufgrund einer umfassenden Abwägung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls
festgestellt werden.
Da es demnach auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls ankommt, besteht zwischen den Entscheidungen des OLG
Bamberg (VersR 1998, 1025 = AHRS 4265/124 und 5400/134; Revision der Kläger nicht angenommen durch Senatsbeschluss vom 3. 02.1998 - VI ZR 226/97) und des OLG
Oldenburg (VersR 2001, 1381 = AHRS 4370/301; Revision der Beklagten nicht angenommen durch Senatsbeschluss vom 12. 12.2000 - VI ZR 237/00) nicht der vom
Berufungsgericht als rechtsgrundsätzlich interpretierte Widerspruch.
c) Die Wertung der Umstände des vorliegenden Falls durch das Berufungsgericht dahin gehend, dass von einer
hypothetischen Einwilligung der Klägerin auszugehen sei, beanstandet die Revision mit Recht.
Das Berufungsgericht führt dazu lediglich aus, zu Beginn der Medikation mit Cordarex habe festgestanden, dass bei
der Klägerin eine absolute Tachyarrhythmie bestand, die sich mit BetaBlockern als nicht behandelbar herausgestellt
habe. Der Umstand, dass sich die Klägerin um einen kompatiblen Zustand
der Medikamente bemüht habe, spreche dafür, dass sie sowohl ihre Depressionen als auch ihre
Herzrhythmusstörungen grundsätzlich weiterhin habe behandeln lassen wollen. Ausreichende Anhaltspunkte für einen
Entscheidungskonflikt fänden sich deshalb nicht. Dem lässt sich nicht entnehmen, dass das Berufungsgericht sämtliche
Umstände, aus denen sich nach dem vorgetragenen und festgestellten Sachverhalt ein Entscheidungskonflikt ergeben
konnte, in seine Würdigung einbezogen hat.
Der Würdigung war eine vollständige Aufklärung der Klägerin über die Nebenwirkungen des Cordarex, wie sie nach
den vorstehenden Ausführungen erforderlich war, zugrunde zu legen. Die Revision verweist insoweit mit Recht darauf,
dass nach den Ausführungen des Sachverständigen der Einsatz des Medikaments nicht zum Zweck einer
lebensverlängernden Behandlung, sondern zur Besserung der Beschwerden der Klägerin erfolgte und dass deshalb
dem Nutzen einer Leidenslinderung die ganz erheblichen mit nicht unerheblicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden
Gefahren des Medikaments hätten gegenüber gestellt werden müssen. Ein Entscheidungskonflikt liegt aber auf der
Hand, wenn beim Einsatz eines Medikaments, das der Besserung der Beschwerden durch Herzrhythmusstörungen
dienen soll, mit einer Wahrscheinlichkeit von 35% erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen wie etwa
Schilddrüsenfunktionsstörungen, schwere entzündliche Lungenerkrankungen und Leberschäden, periphere
Neuropathien oder Myopathien und - wenn auch mit geringer Wahrscheinlichkeit - ein Herzstillstand zu erwarten sind.
Es mag sein, dass sich in einer solchen Situation eine Mehrheit der Patienten in der Hoffnung, die Nebenwirkungen
würden sich nicht einstellen, für eine erfolgreiche Linderung der Beschwerden entscheidet. Darauf kommt es aber nicht
an. Entscheidend ist, dass eine Konfliktlage zwischen dem Wunsch, die gegenwärtigen Beschwerden zu lindern, und
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der Gefahr, deshalb später erhebliche Gesund heitsschäden hinnehmen zu müssen, durchaus besteht und der Patient
sich in diesem Konflikt eigenverantwortlich entscheiden muss.
Das Berufungsgericht hätte deshalb unter den Umständen des Streitfalls eine hypothetische Einwilligung der Klägerin
nicht bejahen dürfen. Dafür, dass die Beklagte den ihr insoweit obliegenden Beweis durch vorhandene Beweismittel
führen könnte, ist nichts ersichtlich.
III.
Die Klageabweisung erweist sich mit der dafür im Berufungsurteil gegebenen Begründung danach als unrichtig, so
dass die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden muss.
Das Berufungsgericht erhält dadurch auch Gelegenheit, die noch erforderlichen Feststellungen zur Ursächlichkeit der
Einnahme von Cordarex für den Herzstillstand der Klägerin zu treffen.
Müller Wellner Diederichsen Stöhr Zoll
Vorinst.:LG Göttingen, Entscheidung vom 02.12.2004 - 2 O 612/03 OLG Braunschweig, Entscheidung vom 04.05.2006 - 1 U 102/04 -
BSG Az: B 1 KR 30/06 R vom 27.03.2007
Thöns
Die Beteiligten streiten über die Gewährung cannabinoidhaltiger Arzneimittel zur Schmerztherapie. Der
klagende Schmerzpatient verliert, er bekommt die für ihn notwendigen cannabinoidhaltigen Arzneimittel nicht
ersetzt. Der Off label Use wird somit abgelehnt.
Im Namen des Volkes
Urteil
in dem Rechtsstreit
Az: B 1 KR 30/06 R
L 5 KR 281/06 (LSG Baden-Württemberg) S 3 KR 1103/05 (SG Reutlingen)
Kläger und Revisionskläger,
gegen
AOK Baden-Württemberg, Heilbronner Straße 184, 70191 Stuttgart,
Beklagte und Revisionsbeklagte.
Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom
27. 03.2007 durch die Richter Prof. Dr. S c h l e g e l - Vorsitzender , Dr. K r e t s c h m e r und Dr. H a u c k sowie die
ehrenamtliche Richterin G a b k e und den ehrenamtlichen Richter A l s b a c h für Recht erkannt: Die Revision des
Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. 08.2006 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über die Gewährung cannabinoidhaltiger Arzneimittel zur Schmerztherapie.
Der 1953 geborene, bei der beklagten AOK krankenversicherte Kläger, nach einem Unfall 1987 querschnittsgelähmt,
leidet ua an einem chronischen Schmerzsyndrom. Mit einem Attest des Anästhesiologen Dr. L. beantragte er, ihm
einen Therapieversuch mit auf Cannabinoidgrundlage hergestellten Arzneimitteln ("Cannabinol") zu bewilligen. Soweit es sich
um Fertigarzneimittel handelt, besteht für sie in Deutschland keine arzneimittelrechtliche Zulassung. Sie dürfen nur im
Einzelfall aus einem ausländischen Staat, in dem sie arzneimittelrechtlich zugelassen sind (zB USA), nach § 73 Abs 3
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Arzneimittelgesetz (AMG) importiert werden. Im Übrigen können sie als Rezepturarzneimittel verordnet werden. Der
Kläger machte geltend, die bisherige Therapie mit dem Arzneimittel Lioresal und mit Opiaten habe keine ausreichende
Schmerzreduktion bewirkt. Es sei ein Systemversagen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) für das begehrte
"Rezepturarzneimittel" bislang keine Empfehlung ausgesprochen habe. Die Beklagte lehnte den Antrag ab: Nach der
Beurteilung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) und der aktuellen Datenlage sei der Einsatz von
Cannabis zur Schmerztherapie ethisch kaum vertretbar (Bescheid vom 30.9.2004; Widerspruchsbescheid vom 8.3.2005).
Die Klage ist beim Sozialgericht (SG; Urteil vom 1.12.2005) ebenso wie die Berufung des Klägers beim Landessozialgericht (LSG)
ohne Erfolg geblieben: Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sei ausgeschlossen, da der
GBA die Anwendung eines entsprechenden Rezepturarzneimittels nicht empfohlen habe. Eine Ausnahme wegen
Systemversagens, Seltenheit der Erkrankung oder aufgrund grundrechtsorientierter Auslegung greife nicht ein. Zudem
befinde sich die Schmerzbehandlung mit Medikamenten auf Cannabinoidgrundlage noch im Erprobungsstadium (Urteil vom
30.8.2006).
Zur Begründung seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 27 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) iVm
seinen Grundrechten auf körperliche Unversehrtheit und Schutz der Menschenwürde (Art 2 Abs 2 und Art 1 Abs 1 Grundgesetz <GG>)
sowie aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip. Ohne überzeugende Grundlage habe das LSG gemeint, der
GBA habe die vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien rechtwidrig unterlassen. Die schwere, therapieresistente
Schmerzerkrankung führe zu einer notstandsähnlichen Extremsituation, die einer Lebensgefährdung gleichzustellen sei
und den begehrten Anspruch begründe. Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 30.
08.2006 und des SG Reutlingen vom 1. 12.2005 sowie den Bescheid vom 30. 09.2004 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 8. 03.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm zur Behandlung seiner
Schmerzerkrankung Arzneimittel auf Cannabinoidgrundlage als Sachleistung zu gewähren oder hilfsweise die Kosten
für deren Selbstbeschaffung zu übernehmen, ganz hilfsweise, das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 30.
08.2006 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht
zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das
klagabweisende Urteil des SG zurückgewiesen, denn er hat keinen Anspruch darauf, cannabinoidhaltige Arzneimittel
zur Schmerztherapie von der Beklagten als Sachleistung oder im Wege der Kostenübernahme zu erhalten. Die
Voraussetzungen eines Anspruchs auf Sachleistung oder Kostenübernahme nach § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V (in der
seit 1.7.2001 geltenden Fassung des Art 5 Nr. 7 Buchst b Neuntes Buch Sozialgesetzbuch Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.6.2001, BGBl I 1046) sind nicht erfüllt (zum
Anspruch auf Kostenübernahme aus § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V vgl BSGE 88, 62, 75 = SozR 32500 § 27a Nr. 3 S 36; BSG SozR 42500 § 13 Nr. 8 RdNr 23 - UterusArterienEmbolisation, zur Veröffentlichung
. Die Norm bestimmt: "Hat die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch
Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der
entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war." Die Beklagte hat die begehrte Leistung indes mit
Recht abgelehnt. Der Kläger kann cannabinoidhaltige Arzneimittel weder nach dem Gesetzesrecht der GKV (dazu 1) noch
im Rahmen grundrechtsorientierter Auslegung des Krankenversicherungsrechts (dazu 2) beanspruchen.
auch in BSGE vorgesehen)
1. Nach dem Gesetzesrecht der GKV hat der Kläger weder Anspruch auf cannabinoidhaltige Fertigarzneimittel (dazu a)
noch Rezepturarzneimittel (dazu b). Der Kostenerstattungs- und übernahmeanspruch gemäß § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2
SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch. Er setzt daher voraus, dass die selbst
beschaffte oder zu beschaffende Therapie zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als
Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 32500 § 13 Nr. 11 S 51 f mwN; BSG SozR 42500 § 27 Nr. 8, RdNr 14 Interstitielle Brachytherapie; zuletzt BSG, Urteil vom 7.11.2006 - B 1 KR 24/06 R - RdNr 11 mwN, - LITT, zur Veröffentlichung vorgesehen). Daran fehlt es.
a) Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs 1 Satz 1, § 12 Abs 1 SGB V) nicht von der
Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die
erforderliche (§ 21 Abs 1 AMG) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl BSG SozR 42500 § 27 Nr. 7 RdNr 22 mwN - DRibose; BSG SozR 42500 § 31 Nr. 4 RdNr 15 Tomudex, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen mwN). Der isolierte Hauptwirkstoff von Cannabis - Dronabinol - ist zwar ua in den USA
unter dem Handelsnamen Marinol als Fertigarzneimittel für die Behandlung chemotherapiebedingter Übelkeit sowie zur
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Therapie der Kachexie und Appetitstimulation von Aidspatienten zugelassen. Weder in Deutschland noch EUweit gibt
es indes für cannabinoidhaltige Fertigarzneimittel eine Zulassung. Die - im Übrigen nicht für die Schmerztherapie bestehende Arzneimittelzulassung im Ausland entfaltet nicht zugleich auch entsprechende Rechtswirkungen für
Deutschland. Weder das deutsche Recht noch das Europarecht sehen eine solche Erweiterung der Rechtswirkungen
der nur von nationalen Behörden erteilten Zulassungen ohne ein entsprechendes vom Hersteller eingeleitetes sowie
positiv beschiedenes Antragsverfahren vor (vgl im Einzelnen BSGE 93, 1 = SozR 42500 § 31 Nr. 1, jeweils Leitsatz und RdNr 11 ff - Immucothel). Damit kommt
mangels Zulassung von Marinol seine zulassungsüberschreitende Anwendung (vgl dazu BSGE 89, 184 ff = SozR 32500 § 31 Nr. 8 - Sandoglobulin)
ebenfalls von vornherein nicht in Betracht (vgl BSGE 93, 1 = SozR aaO, jeweils RdNr 22).
b) Auch cannabinoidhaltige Rezepturarzneimittel kann der Kläger nach der Gesetzeslage nicht beanspruchen.
Dronabinol wird in Deutschland als Rezeptursubstanz hergestellt und an Apotheken geliefert. Die Verordnung ist - wie
der Einzelimport nach § 73 Abs 3 AMG - unter Beachtung des Betäubungsmittelrechts (vgl insbesondere § 13 Betäubungsmittelgesetz <BtMG>
sowie Anlage III zu § 1 Abs 1 BtMG) betäubungsmittelrechtlich zulässig. Nach der Rechtsprechung des Senats dürfen die
Krankenkassen indes ihren Versicherten eine neuartige Therapie mit einem Rezepturarzneimittel, die vom GBA bisher
nicht empfohlen ist, grundsätzlich nicht gewähren, weil sie an das Verbot des § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V und die das
Verbot konkretisierenden Richtlinien des GBA gebunden sind (stRspr, vgl BSGE 82, 233, 237 f = SozR 32500 § 31 Nr. 5 S 18 ff - Jomol; BSG SozR 32500 § 135
Nr. 12 S 55 f - ASI; BSGE 86, 54, 56 = SozR 32500 § 135 Nr. 14 S 61 f - ASI). Für die neuartige, vom Kläger begehrte Schmerztherapie fehlt es aber an
der erforderlichen Empfehlung des GBA. Auch ein Ausnahmefall, in dem trotz fehlender Empfehlung eine neuartige
Therapie nach der gesetzlichen Konzeption beansprucht werden kann, liegt nicht vor. Weder handelt es sich um einen
sogenannten Seltenheitsfall, der sich systematischer Erforschung entzieht (vgl dazu BSGE 93, 236 = SozR 42500 § 27 Nr. 1 - Visudyne), noch
sind die Voraussetzungen eines sogenannten Systemversagens erfüllt (vgl dazu zuletzt BSG, Urteil vom 7.11.2006 - B 1 KR 24/06 R - RdNr 18 mwN, LITT,
zur Veröffentlichung vorgesehen). Danach kann ungeachtet des in § 135 Abs 1 SGB V aufgestellten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt
eine Leistungspflicht der Krankenkasse ausnahmsweise dann bestehen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen
Untersuchungs- oder Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung
der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht
durchgeführt wurde. In solchen Fällen ist die in § 135 Abs 1 SGB V vorausgesetzte Aktualisierung der Richtlinien
rechtswidrig unterblieben. Deshalb muss die Möglichkeit bestehen, das Anwendungsverbot erforderlichenfalls auf
andere Weise zu überwinden (vgl zB BSGE 81, 54, 65 f = SozR 32500 § 135 Nr. 4 S 21; SozR 32500 § 92 Nr. 12 S 70; siehe auch BSG, Urteil vom 26.9.2006 - B 1 KR 3/06 R - RdNr 24
mwN, Neuropsychologische Therapie - zur Veröffentlichung vorgesehen).
Ein - vom Gesetz vorgesehener - Prüfantrag für cannabinoidhaltige Rezepturarzneimittel ist an den GBA nicht gestellt
worden. Anhaltspunkte dafür, dass sich die antragsberechtigten Stellen oder der GBA aus sachfremden oder
willkürlichen Erwägungen mit der Materie nicht oder zögerlich befasst haben, hat der Kläger nicht vorgetragen. Sie sind
auch sonst nicht ersichtlich. Die Kritik des Klägers an den Entscheidungsgrundlagen des GBA - Veröffentlichungen aus
den Jahren 2001 und 2004 (Konsensusgruppe) - ändert nichts daran, dass nach den Feststellungen des LSG der Einsatz
cannabinoidhaltiger Arzneimittel zur Schmerztherapie sich noch im Erprobungsstadium befindet. Das hat der Kläger
selbst nicht in Zweifel gezogen. Fehlt einer solchen Methode aber die allgemeine wissenschaftliche Anerkennung, ist in
Würdigung der gesetzlichen Anforderungen an Qualität und Wirksamkeit der Leistungen (vgl § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V) kein Raum
für die Annahme, es liege ein Systemversagen vor (vgl dementsprechend BSG, Urteil vom 26.9.2006 - B 1 KR 3/06 R - RdNr 28 f - Neuropsychologische Therapie).
2. Zu keinem anderen Ergebnis führt auf Grund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6.12.2005
(1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25 ff = SozR 42500 § 27 Nr. 5 = NZS 2006, 84 = NJW 2006, 891 = MedR 2006, 164 - immunbiologische Therapie) die verfassungskonforme
Auslegung derjenigen Normen des SGB V, die einem verfassungsrechtlich begründetem Anspruch auf
Arzneimittelversorgung entgegenstehen (vgl dazu BSG SozR 42500 § 31 Nr. 4 RdNr 23 - Tomudex, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; zuletzt BSG, Urteil vom
14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - RdNr 16, Idebenone, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die grundrechtsorientierte Auslegung hat zur Folge, dass die
generelle Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 12 Abs 1 SGB V) des Mittels ausnahmsweise bejaht werden müsse, obwohl
das begehrte Arzneimittel - als Fertigarzneimittel - bloß gemäß § 73 Abs 3 AMG im Wege des Einzelimports über eine
Apotheke aus dem Ausland beschafft werden kann oder obwohl der GBA zu dem Rezepturarzneimittel noch keine
Empfehlung ausgesprochen hat und deshalb an sich das Arzneimittel von der Versorgung ausgeschlossen ist. Die
verfassungskonforme Auslegung setzt aber ua voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich
verlaufende (vgl BSG SozR 42500 § 31 Nr. 4 RdNr 21 und 30 mwN - Tomudex) oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare
Erkrankung vorliegt (vgl BSG SozR 42500 § 27 Nr. 7 RdNr 31 - DRibose). Daran fehlt es.
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Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl BSG SozR 42500 § 27 Nr. 7 RdNr 31 - DRibose; zuletzt BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - RdNr
17, Idebenone) ist mit dem Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich
verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, eine strengere Voraussetzung umschrieben, als sie etwa
mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung (vgl dazu BSGE 89, 184 ff = SozR 32500 § 31 Nr. 8 - Sandoglobulin) für die Eröffnung des
sogenannten Off-Label-Use formuliert ist. Denn hieran knüpfen weitergehende Folgen an. Ohne einschränkende
Auslegung ließen sich fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist,
dass das vom BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere
Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht.
Das kann aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des SGB V und die dazu bestehenden
untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche der
Versicherten anzusehen (vgl BSG, Urteil vom 26.9.2006 - B 1 KR 3/06 R - RdNr 34, Neuropsychologische Therapie). Deshalb hat der Senat bei einer
Entscheidung darüber, ob im Rahmen verfassungskonformer Auslegung der Einzelimport eines überhaupt nicht in
Deutschland zugelassenen Mittels nach § 73 AMG zu Lasten der GKV möglich ist, in die Beurteilung einbezogen, ob
sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch nicht genau
absehbarer Zeit zu konkretisieren droht (vgl BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - RdNr 19, Idebenone; zustimmend zur Begründung im BSGTerminbericht Nr. 68/06
BVerfG,
, und eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen
Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik gefordert (vgl ebenda, RdNr 20). Er hat Ähnliches für den gegebenenfalls
gleichzustellenden, nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen
Körperfunktion erwogen (vgl ebenda). Von einer zwar durchaus schwerwiegenden, aber nicht eine notstandsähnliche
Situation begründenden Krankheit ist der erkennende Senat etwa bei einer Myopathie wegen
MyoadenylateDeaminaseMangels ausgegangen, die zu belastungsabhängigen, muskelkaterähnlichen Schmerzen,
schmerzhaften Muskelversteifungen und sehr selten zu einem Untergang von Muskelgewebe führt (vgl BSG SozR 42500 § 27 Nr. 7
RdNr 31 f - DRibose). Auch ein in schwerwiegender Form bestehendes RestlessLegsSyndrom mit ganz massiven
Schlafstörungen und daraus resultierenden erheblichen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen hat der Senat
zwar als eine schwerwiegende, nicht aber als eine Krankheit angesehen, die mit einer lebensbedrohlichen oder
regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden kann (vgl BSG, Urteil vom 26.9.2006 - B 1 KR 14/06 R - RdNr 11, 18 Cabaseril, zur Veröffentlichung vorgesehen). In diesem Zusammenhang hat er darauf hingewiesen, dass selbst hochgradige akute
Suizidgefahr bei Versicherten grundsätzlich nicht bewirkt, dass sie Leistungen außerhalb des Leistungskatalogs der
GKV beanspruchen können, sondern nur spezifische Behandlung etwa mit den Mitteln der Psychiatrie (vgl ebenda, RdNr 19).
Auch ein Prostatakarzinom im Anfangsstadium ohne metastatische Absiedelungen hat der Senat nicht als ausreichend
angesehen, um eine verfassungskonforme Leistungsausweitung zu rechtfertigen (vgl BSG SozR 42500 § 27 Nr. 8 RdNr 36 - Interstitielle
Brachytherapie). Nichts anderes kann für das chronische Schmerzsyndrom des Klägers gelten. Es kann mit einem nicht
kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion - auch in
Würdigung seiner nur begrenzten Objektivierbarkeit - nicht gleichgestellt werden. Das gilt erst recht, wenn man den
Erkenntnisstand des MDK-Gutachtens berücksichtigt. Er führt - ohne Widerspruch zu den vom Kläger vorgelegten
Hinweisen zum Forschungsstand - für den Bereich mäßiger Schmerzen zu dem Ergebnis, dass Cannabis der
Wirksamkeit von Placebos überlegen und derjenigen von Codein gleichwertig ist, während die erheblichen
Nebenwirkungen die Nutzen-Risiko-Relation relativieren und keine Notwendigkeit erkennen lassen, die Cannabinoide
in die international etablierten Schemata zur Schmerzbehandlung aufzunehmen. Bei starken Schmerzen ist
demgegenüber die Überlegenheit des Therapiestandards Morphin anzunehmen, sodass eine kontrollierte klinische
Prüfung hier ethisch kaum vertretbar erscheint. Das steht im Einklang mit der Stellungnahme der Bundesregierung zum
Einsatz von Cannabis-Wirkstoffen in Arzneimitteln (vgl BTDrucks 15/2331, S 2 f). Im Übrigen verdeutlichen alle Publikationen, dass
es Alternativen zum Einsatz cannabinoidhaltiger Arzneimittel zur Schmerztherapie gibt, auch wenn das LSG hierzu
keine näheren Feststellungen getroffen hat.
3. Kammer 1. Senat, Beschluss vom 6.2.2007 - 1 BvR 3101/06 - S 10)
BGH VI ZR 55/05 vom 27.03.2007
Thöns
Zur Arzthaftung wegen Behandlungs- und Aufklärungsfehlern im Zusammenhang mit einem Heilversuch mit
einem neuen, erst im Laufe der Behandlung zugelassenen Arzneimittel. Der Patient obsiegte.
BGH, Urteil vom 27. 03.2007 - VI ZR 55/05 - OLG Karlsruhe
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LG Offenburg
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 27. 03.2007 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 2. 02.2005
aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das
Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger, der seit seiner frühen Kindheit an Epilepsie leidet, nimmt die Beklagten auf Schadensersatz wegen
Behandlungs- und Aufklärungsfehlern im Zusammenhang mit der Verabreichung eines neuen Medikaments der
Streithelferin der Beklagten in Anspruch, weil dieses bei ihm zu irreparablen Augenschäden geführt habe.
Die Beklagte zu 1 ist Trägerin eines Epilepsiezentrums, in dem der Kläger seit 1985 von dem dort als Arzt angestellten
Beklagten zu 2 medikamentös behandelt wurde. Nachdem der Kläger 1989 eine ihm vorgeschlagene neurologische
Operation zur Reduzierung der Zahl seiner Anfälle (monatlich etwa 4 bis 10) abgelehnt hatte, schlug ihm der Beklagte zu 2 Ende
09.1991 vor, neben dem bisher verabreichten Medikament P. zur Reduzierung der Anfallsneigung ein neues, in den
USA entwickeltes Medikament V. einzunehmen. Dieses war zu diesem Zeitpunkt weder in den USA noch in
Deutschland, jedoch in einigen anderen europäischen Staaten als Arzneimittel zugelassen. Eine bei der Beklagten zu 1
laufende klinische Prüfung mit den Phasen I bis IV, in welche der Kläger nicht einbezogen wurde, befand sich zu
diesem Zeitpunkt in der Phase III. Durch die Einnahme des neuen Medikaments, dem weder ein Beipackzettel
beigefügt noch auf dessen Verpackung Hersteller oder Inhaltsstoffe vermerkt waren, reduzierte sich die Zahl der
epileptischen Anfälle beim Kläger deutlich. Am 19. 12.1991 erfolgte die Zulassung des Medikaments in Deutschland,
wo es die Streithelferin der Beklagten inzwischen unter dem Namen S. vertreibt. In der Anlage zum
Zulassungsbescheid ("Wortlaut der für die Verpackungsbeilage vorgesehenen Angaben") wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass
Langzeitauswirkungen von V. auf das visuelle System und okulomotorische Leistungen (Sehfunktion) beim Menschen noch
nicht untersucht worden seien, weshalb periodische (z.B. monatliche) Kontrollen des Sehvermögens angezeigt seien.
Ende März/Anfang 04.1992 stellte der Kläger eine Beeinträchtigung seines Sehvermögens fest und begab sich deshalb
in die Behandlung eines Augenarztes. Als sich die Beeinträchtigung nach einem Anfall am 10. 04.1992 verschlimmerte,
überwies ihn der Augenarzt an die UniversitätsAugenklinik F., wo der Kläger vom 16. bis 27. 04.1992 ambulant
behandelt wurde. Vor Beginn der ambulanten Behandlung rief der Kläger den Beklagten zu 2 am
15. 04.1992 an und berichtete ihm von den seit dem 13. 04.1992 aufgetretenen Sehstörungen auf dem linken Auge
sowie von der bevorstehenden Untersuchung in der UniversitätsAugenklinik. Der Beklagte zu 2 bat den Kläger
daraufhin, ihn am 21. 04.1992 telefonisch über das Ergebnis der Untersuchungen zu benachrichtigen. Mit Schreiben
vom 4. 05.1992 an Dr. D., den damaligen Mitarbeiter des Beklagten zu 2, berichtete die UniversitätsAugenklinik über
die Untersuchungen und Behandlung des Klägers, teilte als Diagnose eine "AION" (anteriore ischämische Opticusneuropathie) mit und
äußerte den Verdacht, dass diese medikamenteninduziert sei.
Der Kläger wurde anschließend vom 28. 04.1992 bis zum 9. 07.1992 stationär im Epilepsiezentrum der Beklagten zu 1
behandelt. Dabei erhielt er zunächst weiter das Medikament V. und wegen der Sehstörungen Cortison. Der Beklagte zu
2 veranlasste - nach einem Telefonat mit dem medizinischen Leiter der Streithelferin der Beklagten - die Durchführung
eines Lymphozytentransformationstests (LTT) an der Universitätsklinik T., wo eine dafür erforderliche Blutprobe des
Klägers am 8. 05.1992 einging. Nach einer telefonischen Information über das Ergebnis wurde am 27. 05.1992 die
Verabreichung des Medikaments V. beendet und auch auf einen in den Krankenakten unter dem 2. 07.1992
dokumentierten Wunsch des Klägers, wieder das Medikament S. zu erhalten, nicht mehr fortgesetzt.
Der Kläger führt seine bleibende Augenschädigung und den damit verbundenen Verlust seines Arbeitsplatzes als
Lagerist auf schädliche Nebenwirkungen des ihm verabreichten Medikaments V. (S.) zurück und behauptet, weder vor
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Beginn der Behandlung über die fehlende Zulassung des Medikaments, noch während der Behandlung über dessen
Risiken, insbesondere nach dem Eintreten von Sehstörungen, aufgeklärt worden zu sein. Hätte er von Anfang gewusst,
dass eine Zulassung des Medikaments noch nicht vorgelegen habe,
hätte er von einer Einnahme Abstand genommen. Des Weiteren wirft der Kläger dem Beklagten zu 2 einen für seine
Augenschädigung ursächlichen (groben) Behandlungsfehler vor, weil dieser das Medikament nach dem Auftreten von
Sehstörungen nicht sofort abgesetzt habe.
Das Landgericht hat die auf Schmerzensgeld in vorgestellter Größenordnung von 35.790,43 €, Verdienstausfall vom 1.
04.1993 bis zum 31. 12.2004 in Höhe von 65.942,84 € und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden
gerichtete Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers
zurückgewiesen. Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren
weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, es spreche zwar viel dafür, dass die Einnahme des Medikaments V. die
Augenschäden des Klägers verursacht habe. Dies könne jedoch letztlich offen bleiben, weil sich auch bei unterstellter
Ursächlichkeit keine Haftung der Beklagten wegen Behandlungs- und Aufklärungsfehlern ergebe. Bei der Entscheidung
Ende 09.1991, dem Kläger das zu diesem Zeitpunkt noch nicht zugelassene Medikament V. zu verabreichen, habe der
Beklagte zu 2 lediglich gewusst, dass Langzeitauswirkungen dieses Mittels auf das visuelle System und
okulomotorische Leistungen (Sehvermögen) beim Menschen noch nicht untersucht gewesen seien. Dagegen hätten keine
Anhaltspunkte dafür bestanden, dass ihm irgendetwas über aufgetretene Gesichtsfeldstörungen nach Einnahme des
Medikaments bekannt
gewesen sei oder hätte sein müssen. Der Beklagte zu 2 habe es zwar fehlerhaft unterlassen, nach etwa 6 Monaten
eine - erst dann erforderliche - Kontrolle des Sehvermögens des Klägers anzuordnen. Dies sei jedoch folgenlos
geblieben, weil der Kläger sich zu diesem Zeitpunkt wegen der aufgetretenen Sehstörungen selbst in augenärztliche
Behandlung begeben habe. Ob nach dem Schreiben der UniversitätsAugenklinik F. vom 4. 05.1992 in der Weitergabe
des Medikaments ein einfacher Behandlungsfehler zu sehen sei, könne ebenfalls offen bleiben. Denn der Kläger habe
nicht nachgewiesen, dass ein entsprechend früheres Absetzen des Medikaments die Augenschädigung verhindert
hätte. Der Sachverständige Prof. Dr. A. habe keine Aussage dazu machen können, wie die Entwicklung gewesen wäre,
wenn man das Medikament schon früher abgesetzt hätte. Eine Umkehr der Beweislast komme dem Kläger nicht zu
Gute, weil insoweit kein grober Behandlungsfehler vorliege. Der Entscheidung des Beklagten zu 2, die
Medikamententherapie fortzusetzen, liege eine Güterabwägung zugrunde, die zum damaligen Zeitpunkt vertretbar
gewesen sei, weil das Medikament die Anfallshäufigkeit beim Kläger reduziert habe. Jedenfalls aber sei die
Entscheidung kein Fehler gewesen, der einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen dürfe. Was die
Aufklärungspflichten anbelange, habe der Beklagte zu 2 diese zwar sowohl vor Beginn der Verabreichung des
Medikaments als auch nach Erhalt des Arztbriefes vom 4. 05.1992 verletzt. Der Kläger hätte jedoch der Einnahme des
Medikaments im Sinne einer hypothetischen Einwilligung auch zugestimmt, wenn er zuvor darauf hingewiesen worden
wäre, dass dieses in Deutschland noch nicht zugelassen und grundsätzlich mit Nebenwirkungen unbekannter Art zu
rechnen sei. Der Kläger habe bei seiner Anhörung diesbezüglich nicht plausibel gemacht, dass er in einen
Entscheidungskonflikt geraten wäre. Soweit es um die Verletzung der Aufklärungspflichten nach dem Auftreten der
Sehstörungen des Klägers gehe, scheitere eine Haftung der Beklagten wiederum daran, dass der Kläger den
Nachweis der Kausalität einer Fortsetzung der Medikation für die bei ihm eingetretenen Augenschäden nicht habe
führen können.
II.
Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
A. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft eine Haftung der Beklagten wegen eines Behandlungsfehlers verneint.
1. Das Berufungsgericht geht allerdings ohne Rechtsfehler davon aus, dass allein die Verabreichung des noch nicht in
Deutschland zugelassenen Medikaments im 09.1991 noch keinen Behandlungsfehler darstellte.
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a) Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Urteil vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - VersR 2006, 1073) darf die Anwendung einer
neuen Behandlungsmethode erfolgen, wenn die verantwortliche medizinische Abwägung und ein Vergleich der zu
erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der
standardgemäßen Behandlung unter Berücksichtigung des Wohles des Patienten die Anwendung der neuen Methode
rechtfertigt. Anhaltspunkte für eine in diesem Sinne fehlerhafte oder ungenügende Abwägung durch die
Behandlungsseite zum Zeitpunkt des Beginns der Medikation macht die Revision selbst nicht geltend und sind auch
nicht ersichtlich. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts reduzierte sich die Zahl der epileptischen Anfälle des
Klägers nach der Einnahme des Medikaments deutlich; gefährliche Nebenwirkungen, insbesondere eine
Beeinträchtigung des Sehvermögens, waren damals noch nicht bekannt.
b) Die Tatsache, dass das Medikament nicht nur neu, sondern auch in Deutschland noch nicht zugelassen war,
vermag unter den Umständen des Streitfalles keine abweichende Beurteilung zu rechtfertigen. Die Zulassung eines
Medikaments gibt lediglich ein Verkehrsfähigkeitsattest und löst eine Vermutung für die Verordnungsfähigkeit in der
konkreten Therapie aus (vgl. Hart MedR 1991, 300, 304 f.). Der individuelle Heilversuch mit einem zulassungspflichtigen, aber noch
nicht zugelassenen Medikament wird durch das Arzneimittelgesetz nicht verboten. Seine Zulässigkeit ist deshalb
arzthaftungsrechtlich nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen. Danach begegnet es keinen rechtlichen Bedenken,
dass das Berufungsgericht auf Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen, dass sich die klinische Prüfung in
Phase III befand und das Medikament kurz vor seiner Zulassung in Deutschland stand, in der Verabreichung des noch
nicht zugelassenen Medikaments als solcher im 09.1991 noch keinen Behandlungsfehler gesehen hat.
2. Die Beurteilung des Berufungsgerichts ist jedoch rechtsfehlerhaft, soweit es meint, für eine Haftung wegen des
weiteren Verhaltens des Beklagten zu 2 während der Medikation wäre ein grober Behandlungsfehler mit einer Umkehr
der Beweislast dahingehend erforderlich, dass ein früherer Abbruch der Medikation den Eintritt der Augenschäden
verhindert hätte.
a) Das Berufungsgericht sieht es nach dem Ergebnis seiner Beweisaufnahme als nahe liegend an, dass die
Verabreichung des Medikaments V. für die beim Kläger eingetretenen Augenschäden ursächlich gewesen sei. Dabei
geht es auch zutreffend davon aus, dass nach den Umständen des Streitfalles nach den vom Senat im so genannten
LuesFall (BGHZ 11, 227) entwickelten Grundsätzen ein Anscheinsbeweis für die Kausalität sprechen könnte. Kann ein
festgestelltes Krankheitsbild (theoretisch) die Folge verschiedener Ursachen sein, liegen aber nur für eine dieser möglichen
Ursachen konkrete Anhaltspunk te vor, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für diese Ursache, selbst wenn sie
im Vergleich zu den anderen möglichen Ursachen relativ selten ist und das festgestellte Krankheitsbild nur eine zwar
mögliche, aber keine typische Folge dieser Ursache ist. Da das Berufungsgericht die Kausalitätsfrage letztlich offen
gelassen hat, ist für die revisionsrechtliche Prüfung zu Gunsten des Klägers zu unterstellen, dass die Verabreichung
des Medikaments insgesamt ursächlich für die bei ihm festgestellten Augenschäden war.
b) Das Berufungsgericht lässt es weiter dahinstehen, ob in der Zeit ab dem 5. 05.1992 nach Eingang des Arztbriefes
der UniversitätsAugenklinik vom 4. 05.1992 mit dem darin geäußerten Verdacht eines medikamenteninduzierten
"AION" ein einfacher Behandlungsfehler zu sehen sei. Ein solcher ist mithin für die revisionsrechtliche Überprüfung
ebenfalls zu unterstellen.
c) Bei dieser Sachlage ist die Auffassung des Berufungsgerichts rechtsfehlerhaft, eine Haftung der Beklagten scheitere
jedenfalls daran, dass kein grober Behandlungsfehler in der weiteren Verabreichung des Medikaments ab dem 5.
05.1992 vorliege. Denn bei feststehender Kausalität zwischen der Verabreichung des Medikaments und den
eingetretenen Augenschäden des Klägers würde grundsätzlich auch ein einfacher Behandlungsfehler zur Begründung
einer Haftung der Beklagten ausreichen. Soweit das Berufungsgericht dies mit der Erwägung verneint, der Kläger
könne den Nachweis nicht führen, dass ein Abbruch der Medikation ab dem 5. 05.1992 etwas an Art und Ausmaß der
Augenschäden geändert hätte, verkennt es die Beweislast die sich ergäbe, wenn - wie im Streitfall - ein neues
Medikament mit unbekannten Risiken verabreicht wird und ein solches Risiko sich tatsächlich verwirklicht. Stünde
nämlich fest, dass die behandlungsfehlerhafte Verabreichung des Medikaments ein Behandlungsfehler war und dass
sie im Ergebnis zu einem Gesundheitsschaden des Patienten geführt hat, so hätte die Behandlungsseite zu beweisen,
dass der Gesundheitsschaden nach Art und Ausmaß auch bei rechtzeitigem Absetzen des Medikaments eingetreten
wäre.
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3. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken unterliegt auch die Beurteilung des Berufungsgerichts, mit der es einen
Behandlungsfehler im Zusammenhang mit der Verabreichung des Medikaments vor dem 5. 05.1992 verneint. Die
Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler vorliegt, ist zwar grundsätzlich Sache des Tatrichters und revisionsrechtlicher
Überprüfung nur eingeschränkt zugänglich. Das Berufungsgericht ist jedoch bei seiner Beurteilung unter den
besonderen Umständen des Streitfalles von einem fehlerhaften, weil zu geringen Sorgfaltsmaßstab ausgegangen.
a) Die Anwendung neuer Behandlungsmethoden bzw. - wie hier - die Vornahme von Heilversuchen an Patienten mit
neuen Medikamenten unterscheidet sich von herkömmlichen, bereits zum medizinischen Standard gehörenden
Therapien vor allem dadurch, dass in besonderem Maße mit bisher unbekannten Risiken und Nebenwirkungen zu
rechnen ist. Deshalb erfordert die verantwortungsvolle medizinische Abwägung einen - im Verhältnis zur
standardgemäßen Behandlung - besonders sorgfältigen Vergleich zwischen den zu erwartenden Vorteilen und ihren
abzusehenden oder zu vermutenden Nachteilen unter besonderer Berücksichtigung des Wohles des Patienten (vgl.
Senatsurteil vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - aaO). Diese Abwägung ist kein einmaliger Vorgang bei Beginn der Behandlung, sondern muss
jeweils erneut vorgenommen werden, sobald neue Erkenntnisse über mögliche Risiken und Nebenwirkungen vorliegen,
über die sich der behandelnde Arzt ständig zu informieren hat. Dabei muss er unverzüglich Kontrolluntersuchungen
vornehmen, wenn sich Risiken für den Patienten abzeichnen, die zwar nach Ursache, Art und Umfang noch nicht
genau bekannt sind, jedoch bei ihrem Eintreten zu schweren Gesundheitsschäden führen können.
b) Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht beachtet, soweit es einen Behandlungsfehler wegen
Nichtbefolgens der Empfehlung zu Kontrollen des Sehvermögens in der mit dem Zulassungsbescheid
herausgegebenen Fachinformation erst nach einem halben Jahr in Erwägung zieht.
Das Berufungsgericht geht zwar zutreffend davon aus, dass es zu den Sorgfaltspflichten eines Arztes bei einem
Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament gehört, sich nach erfolgter Zulassung (hier: am 19. 12.1991) über
die vom Hersteller bzw. vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen
zu informieren. Diese bestanden im Streitfall insbesondere in dem Hinweis, dass Langzeitauswirkungen von V. auf das
visuelle System und okulomotorische Leistungen (Sehfunktion) beim Menschen noch nicht untersucht worden seien, weshalb
periodische (z.B. monatliche) Kontrollen des Sehvermögens angezeigt seien. Der Auffassung des Berufungsgerichts, aus
dieser Formulierung werde deutlich, dass solche Vorsichtsmaßnahmen nicht als zwingend geboten anzusehen
gewesen seien und schon gar nicht Kontrollen in monatlichen Abständen, kann aus Rechtsgründen nicht gefolgt
werden.
Durch den Hinweis in der Gebrauchsinformation wurden die Möglichkeit und die Stoßrichtung bisher unbekannter
Risiken hinreichend deutlich, nämlich eine Schädigung des Sehvermögens. Werden hierbei vom Bundesinstitut für
Arzneimittel und Medizinprodukte als Vorsichtsmaßnahme regelmäßige "z.B. monatliche" Kontrollen des
Sehvermögens für angezeigt erachtet, so liegt auf der Hand, dass der behandelnde Arzt dies sofort zu beachten hat
und nicht erst nach sechs Monaten. Darüber hinaus setzen regelmäßige Kontrollen des Sehvermögens sinnvollerweise
voraus, dass zu Beginn der Behandlung ein Augenstatus erhoben wird, um spätere Veränderungen überhaupt
feststellen zu können. Da der Kläger im Streitfall das Medikament bereits seit Ende September
1991 erhalten hatte, ohne dass zu Beginn der Behandlung ein Augenstatus erhoben und weitere Kontrollen des
Sehvermögens durchgeführt worden waren, hätte der Beklagte zu 2 dies bei Bekanntwerden der entsprechenden
Empfehlung zum Zeitpunkt der Zulassung des Medikaments nachholen müssen. Keinesfalls durfte er sich über die
empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen und noch dazu über einen Zeitraum von sechs Monaten hinwegsetzen und das
Medikament unkontrolliert weiter verabreichen.
Eine andere Beurteilung rechtfertigt sich auch nicht - wie das Berufungsgericht meint - aus der aktuellen
Gebrauchsinformation (Stand 2002), die nunmehr lediglich Kontrollen des Sehvermögens in sechsmonatigen Abständen
vorsieht. Zum einen wird dabei übersehen, dass darin auch Gesichtsfelduntersuchungen vor Behandlungsbeginn
empfohlen werden. Darüber hinaus wird nicht hinreichend berücksichtigt, dass zum damaligen Zeitpunkt der Zeitablauf
bis zu einer Realisierung des möglichen Risikos noch nicht bekannt war und deshalb die in der Gebrauchsinformation
zum Zulassungsbescheid vorgeschlagenen Vorsichtsmaßnahmen maßgebend waren. Schließlich kommt es entgegen
der Auffassung des Berufungsgerichts auch nicht darauf an, ob nach dem zwischenzeitlichen Wissensstand nicht
beweisbar wäre, dass die Augenschäden beim Kläger schon früher aufgetreten und feststellbar gewesen wären. Denn
bei der unkontrollierten Weitergabe des Medikaments von der Bekanntgabe des Zulassungsbescheides im 12.1991 an
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 122
handelt es sich um einen Behandlungsfehler und nicht nur um einen Befunderhebungsfehler. Muss aber
revisionsrechtlich unterstellt werden, dass die Verabreichung des Medikaments für die beim Kläger eingetretenen
Augenschäden ursächlich war, kann auch ein einfacher Behandlungsfehler zu diesem früheren Zeitpunkt eine Haftung
der Beklagten rechtfertigen.
4. Die Begründung, mit der das Berufungsgericht einen groben Behandlungsfehler in der Weiterverabreichung des
Medikaments ab dem 5. 05.1992 verneint, hält den Angriffen der Revision ebenfalls nicht stand.
a) Zwar richtet sich die Einstufung eines ärztlichen Fehlverhaltens als grob nach den gesamten Umständen des
Einzelfalls, deren Würdigung weitgehend im tatrichterlichen Bereich liegt. Revisionsrechtlich ist jedoch sowohl
nachzuprüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff des groben Behandlungsfehlers verkannt, als auch, ob es bei der
Gewichtung dieses Fehlers erheblichen Prozessstoff außer Betracht gelassen oder verfahrensfehlerhaft gewürdigt hat
(st. Rspr.; vgl. etwa Senatsurteil vom 28. 05.2002 - VI ZR 42/01 - VersR 2002, 1026 m.w.N.).
b) Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass ein grober Behandlungsfehler neben einem
eindeutigen Verstoß gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse die
Feststellung voraussetzt, dass der Arzt einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich
erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. etwa Senat BGHZ 159, 48, 53). Soweit es jedoch weiter meint,
es gehöre auch zum Wesen eines solchen Fehlers, dass er die Aufklärung des Behandlungsverlaufs besonders
erschwert habe, so steht dies nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats. Wie der Senat in
seinem Urteil BGHZ 159, 48 klargestellt hat, handelt es sich bei dieser Erwägung lediglich um das Motiv für eine
Beweislastumkehr bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers, nicht jedoch um eine zusätzliche Voraussetzung im
konkreten Einzelfall. Ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art
herbeizuführen, führt grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang
zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsscha den. Dafür reicht aus, dass der grobe Behandlungsfehler
geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; nahe legen oder wahrscheinlich machen muss der Fehler
den Schaden hingegen nicht.
c) Des Weiteren hat das Berufungsgericht - wie bereits ausgeführt - den erhöhten Sorgfaltsmaßstab bei einem
Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen bzw. in der Zulassungsphase befindlichen neuen Medikament nicht
beachtet, durch den sich auch geringere Anforderungen an die Bejahung eines groben Behandlungsfehlers ergeben.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts musste der Beklagte zu 2 spätestens seit der Zulassung des
Medikaments am 19. 12.1991 mit Auswirkungen des Medikaments auf das visuelle System und die Sehfunktion beim
Menschen rechnen, denn in dem "Wortlaut der für die Packungsbeilage vorgesehenen Angaben" wurde diesbezüglich
zur Vorsicht und zur Durchführung periodischer Kontrollen des Sehvermögens aufgefordert. Nachdem beim Kläger
nach etwa einem halben Jahr Ende März/Anfang 04.1992 tatsächlich Sehstörungen auftraten und aus dem Schreiben
der UniversitätsAugenklinik F. vom 4. 05.1992 hervorging, dass eine dort diagnostizierte anteriore ischämische
Opticusneuropathie (AION) möglicherweise medikamenteninduziert sei, bestand der hinreichende Verdacht, dass beim
Kläger eine in ihren Auswirkungen noch nicht überschaubare, bislang unbekannte Nebenwirkung des Medikaments
aufgetreten sein könnte, die bei einer Fortsetzung der Medikation eine schwere Schädigung des Sehvermögens
befürchten ließ.
Das Berufungsgericht führt hierzu aus, der gerichtliche Sachverständige habe bei seiner mündlichen Anhörung zu der
Diagnose "AION" erklärt, diese beinhalte die Gefahr einer Erblindung, und zwar könne dabei auch ohne eine weitere
allmähliche Entwicklung schlagartig "das Licht ausgehen". Aus diesem
Grunde würde man bei einer Güterabwägung, wenn Behandlungsalternativen bestünden, ein neues Medikament
absetzen und lieber eine erhöhte Anfallshäufigkeit in Kauf nehmen, wenn der Verdacht bestehe, dass die Erkrankung
im Zusammenhang mit dem Mittel stehe. Soweit dann der Sachverständige nach weiterer Befragung meinte, die
festgestellten Symptome seien gar nicht so gravierend gewesen und die Abklärung der üblichen in Betracht
kommenden Risikofaktoren für die im Allgemeinen sehr schwierigen Ursachenfeststellungen bei einer "AION" sei im
Sinne eines Standardscreenings angesprochen, ohne dass schon irgendein Zusammenhang mit dem Medikament
hergestellt worden sei, war diese Äußerung nicht geeignet, die Güterabwägung zu Gunsten einer Fortsetzung der
Medikation entscheidend zu beeinflussen. Die Revision weist in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hin, dass es
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 123
nicht um die Schwere der bereits festgestellten Symptome und die genauere Abklärung ihrer Ursachen ging, sondern
um die Vermeidung möglicher irreparabler Schäden durch eine fortgesetzte Verabreichung des Medikaments.
Da es sich um einen Heilversuch mit einem neuen Medikament handelte, bei dem mit unbekannten Gefahren und
Risiken gerechnet werden musste, hätte der von einer UniversitätsAugenklinik geäußerte Verdacht auf die
ernstzunehmende Möglichkeit eines medikamenteninduzierten Eintritts irreparabler Schäden für das Sehvermögen des
Klägers grundsätzlich im Rahmen der erneut erforderlichen Güterabwägung dazu führen müssen, aus
Sicherheitsgründen im Interesse der Gesundheit des Patienten vorrangig einen zumindest vorläufigen sofortigen
Abbruch der Medikation bis zum Vorliegen weiterer Untersuchungsergebnisse in Betracht zu ziehen. Insbesondere
lässt das Berufungsurteil eine Begründung dafür vermissen, weshalb es nicht zumindest eine Aussetzung der
Weiterbehandlung mit dem neuen Medikament bis zum Vorliegen des in Auftrag gegebenen
Lymphozytenstimulationstests (LTT), von dem man sich weitere Aufklärung versprach und der schließlich zum
endgültigen Absetzen
des Medikaments führte, angesichts der erheblichen Gesundheitsrisiken für das Sehvermögen des Klägers zwingend
für geboten hielt. Dies gilt umso mehr, als nach den Feststellungen des Berufungsgerichts dieser Test offensichtlich in
gleicher Weise hätte durchgeführt werden können, wenn das Medikament nach der Entnahme der ersten Blutprobe
vorläufig abgesetzt worden wäre. Im Hinblick auf die Tatsache, dass dessen Ergebnis schon drei bis vier Wochen
später vorlag, bedurfte es mithin besonderer Umstände, die eine Fortsetzung der Medikation für diesen Zeitraum
verständlich erscheinen ließen. Das Berufungsgericht führt hierfür lediglich allgemein die deutlich reduzierte
Anfallshäufigkeit beim Kläger auf, ohne - wie die Revision mit Recht rügt - Stellung dazu genommen zu haben, welche
alternative Behandlungsmöglichkeiten mit anderen Medikamenten in Betracht kamen, um die Anfälle bzw. die
Häufigkeit ihres Auftretens beim Kläger in vertretbaren Grenzen zu halten. Das Berufungsgericht wird - falls es auf das
Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers noch ankommen sollte - erneut mit sachverständiger Hilfe zu prüfen
haben, ob es aus objektiver Sicht noch verständlich ist, dass das Medikament nach Vorliegen des Schreibens der
UniversitätsAugenklinik vom 4. 05.1992 nicht zumindest vorläufig bis zum Vorliegen des Untersuchungsergebnisses
des in Auftrag gegebenen Lymphozytenstimulationstests abgesetzt wurde.
B. Auch die Begründung, mit der das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten wegen Verletzung der
Aufklärungspflicht verneint hat, ist nicht frei von Rechtsfehlern.
1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Arzt, der eine neue und noch nicht allgemein
eingeführte Behandlung mit einem neuen, noch nicht zugelassenen Medikament mit ungeklärten Risiken anwenden
will, den Patienten nicht nur über die noch fehlende Zulassung, sondern auch darüber aufzuklären hat, dass
unbekannte Risiken derzeit nicht auszu schließen sind (vgl. Senatsurteil vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - aaO m.w.N.). Dies ist erforderlich, um
den Patienten in die Lage zu versetzen, für sich sorgfältig abzuwägen, ob er sich nach der herkömmlichen Methode mit
bekannten Risiken behandeln lassen möchte oder nach der neuen Methode unter besonderer Berücksichtigung der in
Aussicht gestellten Vorteile und der noch nicht in jeder Hinsicht bekannten Gefahren.
Nach dem damaligen Kenntnisstand musste zwar der Kläger noch nicht speziell auf das Risiko einer Augenschädigung
hingewiesen werden; es fehlte aber nach den Feststellungen des Berufungsgerichts der Hinweis, dass das
einzunehmende Medikament noch keine arzneimittelrechtliche Zulassung besaß und deshalb mit unbekannten Risiken
zu rechnen war.
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Recht dagegen, dass das Berufungsgericht eine hypothetische Einwilligung des
Klägers in die Verabreichung des noch nicht zugelassenen Medikaments angenommen hat.
a) Das Berufungsgericht ist insoweit zwar im Ansatz von der Rechtsprechung des erkennenden Senats ausgegangen,
wonach sich die Behandlungsseite - allerdings nur unter strengen Voraussetzungen - darauf berufen kann, dass der
Patient auch bei Erteilung der erforderlichen Aufklärung in die Behandlung eingewilligt hätte (vgl. etwa Urteil vom 15. 03.2005 - VI ZR
289/03 - VersR 2005, 834, 835 f. m.w.N.). Hat sie dies substantiiert dargelegt, muss der Kläger nachvollziehbar plausibel machen,
warum er auch bei zureichender Aufklärung in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre. Dazu hat das
Berufungsgericht im Streitfall den Kläger auch - wie dies grundsätzlich erforderlich ist - persönlich angehört.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 124
b) Gleichwohl halten seine Ausführungen zur hypothetischen Einwilligung der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht
stand, weil es zu hohe Anforderun gen an die Plausibilität eines Entscheidungskonflikts bei der Verabreichung eines
noch nicht zugelassenen Medikaments gestellt hat.
An die Voraussetzungen einer hypothetischen Einwilligung sind schon bei der "normalen Standardbehandlung" strenge
Anforderungen zu stellen, damit das Aufklärungs- bzw. Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht unterlaufen wird
(Senat, Urteile vom 5. 02.1991 - VI ZR 108/90 - VersR 1991, 547, 548; vom 14. 06.1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302; vom 17. 03.1998 - VI ZR 74/97 - VersR 1998, 766, 767, jeweils m.w.N.). Da es
sich bei einem Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament letztlich um einen medizinischen Versuch wenngleich zu individuelltherapeutischen Zwecken - handelt, sind für das Vorliegen einer hypothetischen Einwilligung
besonders strenge Maßstäbe anzulegen (ähnlich Hart MedR 1994, 94, 102; Bender aaO, 512 Fn. 9; Giesen aaO, S. 23, Fischer in FS für Deutsch, S. 545, 556 ff.). Dies
wird dadurch bestätigt, dass die §§ 40 ff. AMG bei einer klinischen Prüfung eines neuen, noch nicht zugelassenen
Medikaments grundsätzlich eine schriftliche Einwilligungserklärung des Patienten vorsehen. Das Arzneimittelgesetz
war zwar im vorliegenden Fall nicht unmittelbar anwendbar, weil der Einsatz des Medikaments außerhalb einer im
Haus der Beklagten zu 1 durchgeführten klinischen Prüfung erfolgte (vgl. zur damaligen Fassung des AMG vom 24. 08.1976 nach dem Vierten Gesetz zur
Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 11. 04.1990 - Laufs NJW 1993, 1497, 1498 Fn. 29; so auch heute: vgl. Kloesel/Cyran, AMG, 101. Akt.Lief. 2006, § 40 RN 25; Deutsch VersR 2005, 1009 ff.). Dies
darf jedoch nicht dazu führen, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die erhöhten Anforderungen an
eine wirksame tatsächliche Einwilligung über die (vorschnelle) Annahme einer hypothetischen Einwilligung in einen
Heilversuch außerhalb des klinischen Prüfungsverfahrens umgangen werde.
Nach den Ausführungen des Berufungsgerichts hat sich der Kläger darauf berufen, dass er dann, wenn er gewusst
hätte, dass das Medikament noch nicht zugelassen gewesen sei und deshalb die Gefahr noch nicht bekannter
Nebenwirkungen bestanden hätte, dieses Mittel nicht genommen hätte bzw. in einen ernsten Entscheidungskonflikt
geraten wäre, weil er wegen seiner bereits vorhandenen schweren Erkrankung nicht bereit gewesen sei, das Risiko
einer weiteren Schädigung einzugehen. Dies genügte grundsätzlich, um einen Entscheidungskonflikt bei einem
Heilversuch mit einem noch nicht zugelassenen Medikament plausibel zu machen und der Behandlungsseite die
Beweislast dafür aufzubürden, dass sich der Patient bei hinreichender Aufklärung gleichwohl für den Heilversuch
entschieden hätte. Soweit das Berufungsgericht darüber hinaus weitere Plausibilitätsüberlegungen anstellt, verkennt
es, dass bei der Plausibilität des Entscheidungskonflikts auf die persönliche Entscheidungssituation des jeweiligen
Patienten abzustellen ist. Was aus ärztlicher Sicht sinnvoll und erforderlich gewesen wäre und wie ein "vernünftiger
Patient" sich verhalten haben würde, ist hingegen grundsätzlich nicht entscheidend (vgl. etwa Senatsurteil vom 17. 03.1998 - VI ZR 74/97 - VersR
1998, 766). Der Tatrichter darf seine eigene Beurteilung des Konflikts nicht an die Stelle derjenigen des Patienten setzen (vgl.
Senatsurteil vom 1. 02.2005 - VI ZR 174/03 - VersR 2005, 694).
III.
Nach alledem war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das
Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es die noch erforderlichen Feststellungen nachholen kann.
Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr
Vorinst.:LG Offenburg, Entscheidung vom 11.07.1995 - 3 O 490/94 OLG Karlsruhe in Freiburg, Entscheidung vom 02.02.2005 - 13 U 134/95 -
BGH VI ZR 158/06 vom 20.03.2007
Thöns
Zur Darlegungs- und Beweislast des Arztes nach den Grundsätzen voll beherrschbarer Risiken bei einem
Spritzenabszess des Patienten infolge einer Infektion durch eine als Keimträger feststehende Arzthelferin
(Fortführung von Senat, Urteil vom 8. 01.1991 - VI ZR 102/90 - VersR 1991, 467). Der Patient obsiegte.
BGH, Urteil vom 20. 03.2007 - VI ZR 158/06 - OLG Koblenz
LG Bad Kreuznach
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 20. 03.2007 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 125
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 22. 06.2006 wird auf Kosten der
Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden wegen eines Spritzenabszesses in
Anspruch. Sie begab sich im 06.1999 in die orthopädische Gemeinschaftspraxis der Beklagten zu 3 und 4, in der
damals die Beklagten zu 1 und 2 als Vertretungsärzte tätig waren. Der Beklagte zu 1 setzte der Klägerin am 9. und 11.
06.1999, der Beklagte zu 2 am 15. 06.1999 jeweils eine Spritze im Nackenbereich. In der Folgezeit entwickelte sich ein
Spritzenabszess, der eine zweiwöchige stationäre Behandlung erforderlich machte. Die Klägerin, die Leiterin eines
CateringBetriebes war und diese Tätigkeit zunächst wieder aufnahm, hat geltend gemacht, sie leide aufgrund des
Spritzenabszesses an anhaltenden Schmerzen, Schlafstörungen und Depressivität und sei deshalb arbeitsunfähig.
Der Spritzenabszess beruht auf einer StaphylokokkenInfektion. Ausgangsträger der Keime war die bei den Beklagten
zu 3 und 4 angestellte Arzthelferin H., die seinerzeit an Heuschnupfen litt und bei der Verabreichung der Spritzen
assistierte. Gleichartige Infektionen traten zeitnah bei anderen Patienten in der Praxis auf, die ersten Fälle am 2., 8.
und 10. 06.1999. Das von den Beklagten zu 3 und 4 Mitte 06.1999 eingeschaltete Gesundheitsamt beanstandete die
Hygieneprophylaxe in der Praxis.
Das Landgericht hat der Klägerin durch Grund- und Teilurteil ein Schmerzensgeld von 25.000 € zuerkannt, die
bezifferten Schadensersatzansprüche dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und dem Feststellungsbegehren
hinsichtlich der Ansprüche auf Ersatz materiellen Schadens entsprochen. Die Berufung der Beklagten hatte keinen
Erfolg. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgen diese ihr Klageabweisungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung u.a. in NJWRR 2006, 1401 veröffentlicht ist, bejaht eine Haftung aller
Beklagten aus §§ 823 Abs. 1, 847 BGB a.F. sowie der Beklagten zu 3 und 4 hinsichtlich der materiellen Schäden aus
Vertragsrecht. Es ist der Ansicht, es sei unerheblich, ob die Beklagten die Infizierung der Arzthelferin hätten erkennen
können oder ob die Keimübertragung auch bei Anwendung aller zumutbaren Präventivmaßnahmen nicht hätte
verhindert werden können. Die Einstandspflicht der Beklagten beruhe auf einem generell unzulänglichen
Hygienemanagement, das ihnen im Sinne einer Fahr lässigkeit zuzurechnen sei. Es komme nicht darauf an, ob die
vorhandenen Versäumnisse die Schädigung der Klägerin tatsächlich ausgelöst oder begünstigt hätten, es reiche aus,
dass sich dies nicht ausschließen lasse. Zumindest wenn für eine alternative Schadensentstehung keine überwiegende
Wahrscheinlichkeit spreche, sei es bei Vorliegen von Hygienemängeln Sache des Arztes, den Beweis dafür zu
erbringen, dass der Patient gleichermaßen geschädigt worden wäre, wenn es keine Hygienemängel gegeben hätte.
II. Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten den Angriffen der Revision im Ergebnis stand.
1. Das Berufungsgericht geht mit dem Landgericht zutreffend davon aus, dass die Beklagten zu 3 und 4 als
Praxisinhaber nur dann nach §§ 823, 847 BGB a.F. haften, wenn ihnen ein eigenes Verschulden zur Last fällt. Eine
Haftung gemäß § 831 BGB für etwaige Versäumnisse der als Vertretungsärzte tätig gewordenen Beklagten zu 1 und 2
kommt nicht in Betracht, da für eine Weisungsberechtigung ihnen gegenüber nichts festgestellt ist. Für die Ersatzpflicht
der Beklagten zu 3 und 4 hinsichtlich materieller Schäden wegen positiver Forderungsverletzung wäre ihnen ein
Verschulden der Beklagten zu 1 und 2 nach § 278 BGB zuzurechnen. Diese haften mangels eigener vertraglicher
Bindung gegenüber der Klägerin nur deliktisch für eigenes Verschulden.
2. Rechtsfehlerfrei nimmt das Berufungsgericht an, dass die Beklagten für die materiellen und immateriellen Schäden
einzustehen haben, die der Klägerin aufgrund des Spritzenabszesses entstanden sind. Die Erwägungen des
Berufungsgerichts, mit denen es den Beklagten die Beweislast zugewiesen hat, treffen im Ergebnis zu.
a) Entgegen der Auffassung der Revision widerspricht die angefochtene Entscheidung nicht der Rechtsprechung des
erkennenden Senats zur Haftung des Arztes für Hygienemängel (Senatsurteil vom 8. 01.1991 - VI ZR 102/90 - VersR 1991, 467 = NJW 1991, 1541). Diese
auch vom Berufungsgericht zitierte Entscheidung betraf die Haftung des Krankenhausträgers bei einer Infizierung der
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 126
Operationswunde durch einen Keimträger aus dem Operationsteam. Im Unterschied zu dem vorliegenden Fall
zeichnete sich der dem damaligen Urteil zugrunde liegende Sachverhalt dadurch aus, dass die Identität des
Keimträgers seinerzeit nicht festgestellt werden konnte. Demgegenüber steht vorliegend nach den Feststellungen des
Berufungsgerichts außer Frage, dass es zu dem infektiösen Geschehen gekommen ist, weil die Arzthelferin H. Träger
des Bakteriums Staphylokokkus aureus war und dieses Bakterium - auf welchem Weg auch immer - mittels einer
Injektion auf die Klägerin übertragen werden konnte.
Damit steht im Streitfall fest, dass die Schädigung der Klägerin weder aus einer Sphäre stammt, die - wie z.B. Risiken
aus dem eigenen menschlichen Organismus - dem Patienten zuzurechnen ist, noch aus dem Kernbereich des
ärztlichen Handelns herrührt. Das Risiko, das sich bei der Klägerin verwirklicht hat, stammt vielmehr aus einem
Bereich, dessen Gefahren ärztlicherseits objektiv voll ausgeschlossen werden können und müssen (so genannte voll beherrschbare
Risiken, vgl. Senatsurteile BGHZ 89, 263, 269; vom 11. 10.1977 - VI ZR 110/75 - VersR 1978, 82, 83; vom 9. 05.1978 - VI ZR 81/77 - VersR 1978, 764; vom 3. 11.1981 - VI ZR 119/80 - VersR 1982, 161, 162
und vom 25. 06.1991 - VI ZR 320/90 - VersR 1991, 1058, 1059)
. Anders als im Bereich des ärztlichen Handelns, in dem grundsätzlich der Patient
die
Darlegungs- und Beweislast für einen von ihm behaupteten Behandlungsfehler sowie dessen Ursächlichkeit für den
eingetretenen Gesundheitsschaden trägt (vgl. u.a. Senatsurteil vom 18. 12.1990 - VI ZR 169/90 - VersR 1991, 310 m.w.N.), kommt bei der Verwirklichung
von Risiken, die nicht vorrangig aus den Eigenheiten des menschlichen Organismus erwachsen, sondern durch den
Klinikbetrieb oder die Arztpraxis gesetzt und durch sachgerechte Organisation und Koordinierung des
Behandlungsgeschehens objektiv voll beherrscht werden können, der Rechtsgedanke des § 282 BGB a.F. (nunmehr § 280 Abs.
1 Satz 2 BGB) zum Tragen, wonach die Darlegungs- und Beweislast für Verschuldensfreiheit bei der Behandlungsseite liegt.
b) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, es fehle im Streitfall an der Feststellung, dass die Infizierung der
Arzthelferin H. mit dem Bakterium Staphylokokkus aureus für die Beklagten erkennbar gewesen sei. Der
Revisionserwiderung ist zuzugeben, dass vieles dafür spricht, dass die akute Heuschnupfenerkrankung der
Angestellten H. zumindest den mit ihr zusammen arbeitenden Beklagten zu 1 und 2 nicht unbemerkt geblieben ist. Wie
die Klägerin vorgetragen hat, äußert sich eine Heuschnupfenerkrankung regelmäßig in für alle Umstehenden deutlich
sichtbarem Naselaufen, häufigem Niesen, ständigem Naseputzen und tränenden Augen. Indessen ist weder
festgestellt noch vorgetragen, dass diese Symptome auf eine Infektion mit Staphylokokken hinweisen oder dass eine
Heuschnupfenerkrankung das Risiko einer Infektion des MundRachenRaumes mit diesem Bakterium so erhöht, dass
eine Untersuchung der Erkrankten auf den Erreger oder ihr Ausschluss von der Assistenz bei der Spritzenvergabe
hygienetechnisch erforderlich gewesen wäre. Wäre dies der Fall, hätten die Beklagten möglicherweise wegen eines
ihnen zuzurechnenden Organisationsfehlers ohne Entlastungsmöglichkeit für die Infektion der Klägerin einzustehen.
Auf diese Fragen kommt es hier aus nachfolgenden Gründen jedoch nicht an.
Die Verlagerung der Darlegungs- und Beweislast auf die Behandlungsseite in Anwendung des Rechtsgedankens des
§ 282 BGB a.F. setzt nämlich nicht voraus, dass die aus dem Klinikbetrieb oder der Arztpraxis stammende objektiv
gegebene Gefahr für die Behandlungsseite im konkreten Fall erkennbar war. Steht wie im Streitfall fest, dass sich ein
aus diesem Bereich stammendes objektiv voll beherrschbares Risiko verwirklicht hat, ist es vielmehr Sache des Arztes
oder des Klinkträgers darzulegen und zu beweisen, dass es hinsichtlich des objektiv gegebenen Pflichtenverstoßes an
einem Verschulden der Behandlungsseite fehlt (Senatsurteil vom 11. 10.1977 - VI ZR 110/75 - aaO). So hat der erkennende Senat z.B. dem
Krankenhausträger und seinen Ärzten die Beweislast für die Gewähr einwandfreier Voraussetzungen für eine
sachgemäße und gefahrlose Behandlung zugewiesen, wenn es etwa um Fragen ging wie den ordnungsgemäßen
Zustand eines verwendeten Tubus (Senatsurteil vom 24. 06.1975 - VI ZR 72/74 - VersR 1975, 952, 954), die Funktionstüchtigkeit des eingesetzten
Narkosegeräts (Senatsurteil vom 11. 10.1977 - VI ZR 110/75 - aaO), die Reinheit des benutzten Desinfektionsmittels (Senatsurteil vom 9. 05.1978 - VI ZR 81/77
- aaO) oder die Sterilität der verabreichten Infusionsflüssigkeit (Urteil vom 3. 11.1981 - VI ZR 119/80 - aaO). Dasselbe gilt für die unbemerkt
gebliebene Entkoppelung eines Infusionssystems (Senatsurteil BGHZ 89, 263, 269), das Zurückbleiben eines Tupfers im
Operationsgebiet (Senatsurteil vom 27. 01.1981 - VI ZR 138/79 - VersR 1981, 462, 465) oder die richtige Lagerung des Patienten auf dem
Operationstisch (Senatsurteil vom 24. 01.1984 - VI ZR 203/82 - VersR 1984, 386, 387). All diesen Fällen ist gemeinsam, dass objektiv eine Gefahr
bestand, deren Quelle jeweils festgestellt werden konnte und die deshalb objektiv beherrschbar war. Für die Gefahr,
die für einen Patienten von einer mit einem Bakterium infizierten Arzthelferin ausgeht, gilt nichts anderes. Anders als in
dem oben erörterten Fall (Senatsurteil vom 8. 01.1991 - VI ZR 102/90 - aaO), in dem die Annahme
eines voll beherrschbaren Risikos letztlich daran scheiterte, dass die Keimübertragung durch irgendein Mitglied des
Operationsteams erfolgte, jedoch ungeklärt war, welches Mitglied mit dem Keim infiziert war, ist das von einer
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infizierten Person ausgehende Risiko in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Identität des Keimträgers
feststeht, für die Behandlungsseite objektiv voll beherrschbar. Unter diesen Voraussetzungen ist es Sache der
Behandlungsseite, sich für fehlendes Verschulden zu entlasten.
c) Diesen Entlastungsbeweis hat das Berufungsgericht vorliegend rechtsfehlerfrei als nicht geführt angesehen. Steht
fest, dass die Infektion aus einem hygienisch beherrschbaren Bereich hervorgegangen sein muss, so hat der
Krankenhausträger bzw. der Arzt für die Folgen der Infektion sowohl vertraglich als auch deliktisch einzustehen, sofern
er sich nicht dahin gehend zu entlasten vermag, dass ihn an der Nichtbeachtung der Hygieneerfordernisse kein
Verschulden trifft, er also beweist, dass alle organisatorischen und technischen Vorkehrungen gegen von dem
Personal der Klinik oder der Arztpraxis ausgehende vermeidbare Keimübertragungen getroffen waren (Senatsurteil vom 8. 01.1991
- VI ZR 102/90 - aaO). Dafür würde es nicht genügen, dass die Infizierung der Arzthelferin H., wovon die Revision ausgeht, für
die Beklagten subjektiv nicht erkennbar war. Der Entlastungsbeweis erfordert vielmehr auch den Nachweis, dass im
Übrigen die gebotene Sorgfalt gewahrt worden ist. Dies hat das Berufungsgericht mit Rücksicht darauf verneint, dass in
der Arztpraxis elementare Hygienegebote missachtet worden sind. So wurde nach den auf der Grundlage der
Ermittlungen des Gesundheitsamts getroffenen Feststellungen das Hygieneverhalten der Arzthelferinnen nicht in dem
erforderlichen Umfang durch die Ärzte vermittelt und nicht überprüft. Desinfektionsmittel wurden nicht in ihren
Originalbehältnissen aufbewahrt, sondern umgefüllt. Zwei von vier überprüften Alkoholen waren verkeimt, und
Durchstechflaschen mit Injektionssubstanzen fanden über mehrere Tage hinweg Verwendung. Des Weiteren wurden
Flächendesinfektionsmittel mit einer langen Einwirkungszeit fehlerhaft zur Hautdesinfektion eingesetzt. Auch war es
nicht üblich, dass Arzthelferinnen vor dem Aufziehen einer Spritze ihre Hände desinfizierten; Arbeitsflächen wurden
zudem nicht, wie es geboten gewesen wäre, jeden Tag, sondern nur einmal wöchentlich desinfiziert. Bei dieser
Sachlage ist die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass der den Beklagten obliegende Entlastungsbeweis angesichts
der festgestellten gravierenden Hygienemängel nicht geführt sei, aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll
Vorinst.:LG Bad Kreuznach, Entscheidung vom 18.10.2005 - 2 O 114/02 OLG Koblenz, Entscheidung vom 22.06.2006 - 5 U 1711/05 -
BGH III ZR 126/06 vom 01.02.07
Thöns
Zur Frage, ob einem Bereicherungsanspruch auf Rückerstattung von ärztlichen Honoraren für Wahlleistungen
der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegengesetzt werden kann, wenn die zugrunde liegenden
Wahlleistungsvereinbarungen zwar wegen Verstoßes gegen die Unterrichtungspflicht nach § 22 Abs. 2 Satz 1
BPfIV unwirksam gewesen waren, diese Leistungen jedoch über einen langen Zeitraum abgerufen,
beanstandungsfrei erbracht und honoriert worden sind.
BGB § 134, 242 Ca, Cd, 812; BPfJV (1994) § 22 Abs. 2 Satz 1
BGH, Urteil vom 1. 02.2007- III ZR 126/06 - OLG München
LG München II
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 1. 02.2007 durch den Vorsitzenden
Richter Schlick und die Richter Dr. Wurm, Streck, Dörr und Dr Herrmann
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 10. 04.2006 wird
zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsrechtszuges zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 128
Die Klägerin befand sich in dem Zeitraum von 12.1999 bis 11.2001 wiederholt in ambulanter und stationärer
Behandlung des Kreis- krankenhauses W. Der Betrieb dieses Krankenhauses wurde mit Wirkung zum 1. 01.2002 auf
die Beklagte zu 1, eine (gemeinnüfzige) Gesellschaft mit beschränkter Haftung, übertragen. Der Beklagte zu 2 ist in der Klinik
als liquidationsberechtigter Chefarzt tätig und hat die Klägerin, die Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung ist
und nicht über eine private Zusatzversicherung verfügt, aufgrund von jeweils inhaltsgleichen
Wahlleistungsvereinbarungen ärztlich behandelt. Diese Wahlleistungsvereinbarungen lauteten
- soweit hier von Bedeutung - wie folgt:
[Die Wahlleistungen erstrecken sich auf die ärztlichen Leistungen aller an der Behandlung beteiligten Arzte des
Krankenhauses, soweit diese zur gesonderten Berechnung ihrer Leistungen berechtigt sind (= ‗Chefarztbehandlung‗)
einschließlich der von diesen Ärzten veranlaßten Leistungen von Ärzten oder ärztlich geleiteten Einrichtungen
außerhalb des Krankenhauses 1 dies gilt auch soweit sie vom Krankenhaus berechnet werden; die Liquidation erfolgt
nach der GOÄIGOZ in der jeweils gültigen Fassung. Die GOÄ ist auszugsweise an den Informationstafeln (gegenüber der
Patientenaufnahme und im Stationsdienstzimmer) zur Einsichtnahme.―
Der Klägerin wurden für die Chefarztbehandlung elf Abrechnungen erteilt. Den sich daraus ergebenden Gesamtbetrag
von 24.424,06€ hat sie aus eigenen Mitteln bezahlt.
Sie nimmt nunmehr beide Beklagten gesamtschuldnerisch auf Rückzahlung der geleisteten Beträge mit der
Begründung in Anspruch, die Wahlleistungsvereinbarungen seien wegen Verstoßes gegen § 22 Abs. 2 Satz 1 der
- vorliegend anwendbaren - Bundespflegesatzverordnung (BPfIV) vom 24. 09.1994 (BGBI. 1 5. 2750) unwirksam. Das
Berufungsgericht hat ihr insoweit lediglich 5.211,37€ zugesprochen. Mit der von diesem zugelassenen Revision verfolgt
die Klägerin ihre Mehrforderung gegen beide Beklagten weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
1. Zu Unrecht macht die Revision geltend, bei den hier in Rede stehenden Wahlleistungsvereinbarungen sei bereits die
Schrifttorm des § 22 Abs. 2 Satz 1 BPfIV nicht gewahrt worden, weil sie nur von einem Vertreter des Rechtsvorgängers
der Beklagten zu 1 und nicht auch vom Beklagten zu 2 unterschrieben worden seien. Die Wahlleistungen werden nach
§ 22 Abs. 1 Satz 1 BPfIV mit dem ―Krankenhaus― vereinbart; allein dessen Träger ist Vertragspartner der Vereinbarung
über die gesonderte Berechung (Senatsurteil vom 22. 07.2004- III ZR 355/03 = VersR 2005, 120).
2. Jedoch sind beide Vorinstanzen mit Recht davon ausgegangen, dass dievorstehend wiedergegebene
Wahlleistungsvereinbarung inhaltlich nicht den Anforderungen des § 22 Abs. 2 Satz 1 BPfIV genügte.
a) Danach sind Wahlleistungen vor der Erbringung schriftlich zu vereinbaren; der Patient ist vor Abschluss der
Vereinbarung über die Entgelte der Wahlleistungen und deren Inhalt im Einzelnen zu unterrichten. Nach der
Rechtsprechung des Senats, von der abzugehen kein Anlass besteht, ist eine Wahlleistungsvereinbarung, die ohne
hinreichende vorherige Unterrichtung des Patienten abgeschlossen worden ist, unwirksam (vgl. Senatsurteile vom 27. 11.2003 - III ZR 37/03
= BGHZ 157, 87, 90 = NJW 2004, 684, vom8. 01.2004 - III ZR 375/02 = NJW 2004, 686 und vom 22. 07.2004 - III ZR355/03 = VersR 2005, 120).
b) Der Senat hat in seinen vorgenannten Urteilen die Anforderungen präzisiert, die an eine ausreichende Unterrichtung
zu stellen sind. Danach reicht es einerseits nicht aus, wenn der Patient lediglich darauf hingewiesen wird, dass die
Abrechnung des selbst liquidierenden Chefarztes nach der GOÄ erfolge; andererseits ist es nicht erforderlich, dass
dem Patienten unter Hinweis auf die mutmaßlich in Ansatz zu bringenden Nummern des Gebührenverzeichnisses der
GOÄ detailliert und auf den Einzelfall abgestellt die Höhe der voraussichtlich entstehenden Arztkosten - in Form eines
im Wesentlichen zutreffenden Kostenanschlags - mitgeteilt wird. Der Senat hat vielmehr Kriterien aufgestellt, an denen
sich die Unterrichtung des Patienten zu orientieren hat. Ausreichend ist danach in jedem Falle:
- eine kurze Charakterisierung der Inhalts wahlärztlicher Leistungen, wobei zum Ausdruck kommt, dass hierdurch ohne
Rücksicht auf Art und Schwere der Erkrankung die persönliche Behandlung durch die liquidationsberechtigten Ärzte
sichergestellt werden soll, verbunden mit dem Hinweis darauf, dass der Patient auch ohne Abschluss einer
Wahlleistungsvereinbarung die medizinisch notwendige Versorgung durch hinreichend qualifizierte Ärzte erhält;
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 129
- eine kurze Erläuterung der Preisemiittlung für ärztliche Leistungen nach der GOÄ bzw. für Zahnärzte (Leistungsbeschreibung
anhand der Nummern des Gebührenverzeichnisses; Bedeutung von Punktzahl und Punktwert; Möglichkeit, den Gebührensatz je nach Schwierigkeit und Zeitaufwand zu erhöhen); Hinweis auf
Gebührenminderung nach § 6a der GOÄ (GOÄ);ein Hinweis daraut dass die Vereinbarung wahlärztlicher Leistungen eine
erhebliche finanzielle Mehrbelastung zur Folge haben kann;
- ein Hinweis darauf, dass sich bei der Inanspruchnahme wahlärztlicher Leistungen die Vereinbarung zwingend auf alle
an der Behandlung des Patienten beteiligten liquidationsberechtigten Ärzte erstreckt (vgl. § 22 Abs. 3 Satz 1 BPflV);
- und ein Hinweis darauf, dass die GOÄ/Gebührenordnung für Zahnärzte auf Wunsch eingesehen werden kann; die
ungefragte Vorlage dieser Gesetzestexte erscheint demgegenüber entbehrlich, da diesen für sich genommen kein
besonderer lnformationswert zukommt. Der durchschnittliche Wahlleistungspatient ist auch nicht annähernd in der
Lage, sich selbst anhand des Studiums dieser umfänglichen komplizierten Regelungswerke einen Überblick über die
Höhe der auf ihn zukommenden Arzt- kosten zu verschaffen.
c) Die hier in Rede stehende Wahlleistungsvereinbarung enthielt weder den Hinweis, dass der Patient auch ohne
Abschluss einer solchen die medizinisch notwendige Versorgung durch hinreichend qualifizierte Ärzte erhielt, noch eine
kurze Erläuterung der Preisermittlung für die ärztlichen Leistungen. Ebenso fehlte eine Belehrung darüber, dass die
Vereinbarung wahlärztlicher Leistungen eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung zur Folge haben konnte.
3. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen wurden diese Hinweise bei den späteren Wahlleistungsvereinbarungen
nicht dadurch entbehrlich, dass die Klägerin die ersten Rechnungen beanstandungsfrei bezahlt hatte. Die
Anforderungen des § 22 Abs. 2 BPfIV beziehen sich nach Wortlaut und Sinn dieser Bestimmung auf die jeweilige
einzelne Vereinbarung. Ein Fortwirken früherer Hinweise oder sonstiger Informationen enthebt den Krankenhausträger
als den Vertragspartner der Wahileistungsvereinbarung daher nicht der Obliegenheit, diese Anforderungen einzuhalten.
Gleichwohl hält die Abweisung der Klage im noch anhängigen Umfang im Ergebnis der revisionsgerichtlichen
Nachprüfung stand. Die Beklagten können nämlich, wie das Berufungsgericht in seiner Hilfsbegründung in
rechtsfehlerfreier tatrichterliche Würdigung ausführt, dem Bereicherungsanspruch der Klägerin den Einwand
unzulässiger Rechtsausübung entgegensetzen.
1. Die Klägerin hat über einen langen Zeitraum die Wahlleistungen entgegengenommen und Vorteile aus ihnen
gezogen. Sie war durch die schriftliche Wahileistungsvereinbarung - wenn auch inhaltlich unzureichend - zumindest
ansatzweise über die Tragweite der eingegangenen Verpflichtungen informiert worden. Durch die ersten Abrechnungen
der Beklagten (die nicht mehr Gegenstand des jetzigen Revisionsverfahrens sind) war ihr auch die Technik der Preisermittlung für ärztliche
Leistungen nach der GOÄ vor Augen geführt worden. Sie hat über Jahre hinweg die in Rechnung gestellten Entgelte
anstandslos bezahlt Da sie über keine private Zusatzversicherung verfügte, war ihr bewusst, dass sie diese
Geldleistungen aus ihrem eigenen Vermögen zu erbringen hatte. Auf diese Weise hatte sie zumindest daran
mitgewirkt, dass bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten zu 1 und bei dem Beklagten zu 2 der Eindruck entstehen
musste, die Klägerin werde sich im Nachhinein nicht darauf berufen, dass den gegenseitigen Leistungen eine
rechtliche Grundlage gefehlt habe.
2. Zwar gibt es keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass derjenige, der die Vorteile eines unwirksamen
Rechtsgeschäfts endgültig genossenhat, die von ihm erbrachten Gegenleistungen nicht zurückfordern kann. Indessen
hat die Rechtsprechung schon mehrfach gegen einen Bereicherungsanspruch dieses Inhalts den Einwand
unzulässiger Rechtsausübung durchgreifenlassen (vgl. z.B. RGZ 135, 374; BGH, Urteil vom 23. 01.1981 1 ZR 40/79 =NJW 1981, 1439, 1440; s. auch Senatsurteile vom 1.
02.2007 - III ZR281105 und 282/05; zum Ganzen Staudinger/Sack [2003] § 134 Rn. 187 bis189). Insoweit bedarf es einer einzelfallbezogenen tatrichterlichen
Würdigung.Bei dieser kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die vorstehend wiedergegebenen Grundsätze über die
Anforderungen einer ausreichenden Unterrichtung nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BPfIV in der Rechtsprechung des Senats
erst geraume Zeit nach den hier in Rede stehenden Vorgängen präzisiert worden sind.Dies lässt den - objektiv
vorliegenden - Verstoß der Beklagten zu 1 gegen dieUnterrichtungspflicht in einem milderen Licht erscheinen (vgl. zu einer
ähnlichenProblematik bei einem Verstoß gegen Art. 1 § 1 RBerG auch die Senatsurteilevom 1. 02.2007 aaO). Im Gegensatz zu dem Sachverhalt, der dem
Senatsurteil vom 17. 10.2002 (III ZR 58/02 = NJW 2002, 3772) zugrundegelegen hatte, handelte es sich hier nicht um eine einmalige
Behandlung aufgrund einer Wahlleistungsvereinbarung, bei der zudem nicht einmal die Schriftform gewahrt gewesen
war; vielmehr hatte die Klägerin immer wieder die Wahlleistungen beider Beklagten abgerufen und in Anspruch
genommen. Unter diesen Umständen ist es bei wertender Gesamtschau nicht zu beanstanden, dass das
Berufungsgericht insbesondere in der problemlosen Aufrechterhaltung und Abwicklung der vertraglichen Beziehungen
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 130
zwischen den Parteien über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg einen besonderen Umstand erblickt hat, der
der Rückforderung der von der Klägerin erbrachten Gegenleistungen entgegensteht.
III.1. Die Verfahrensrügen, mit denen die Revision im Wesentlichen geltendmacht, das Berufungsurteil enthalte keine
Wiedergabe der Berufungsanträgeder Klägerin, greifen ebenfalls nicht durch. Vielmehr werden sowohl das von
derKlägerin im Berufungsrechtszug verfolgte Rechtsschutzziel als auch der Streitgegenstand, über den das
Berufungsgericht entscheiden wollte und tatsächlichentschieden hat, aus den Gründen des Berufungsurteils
hinreichend deutlich.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 564 Satz 1 ZPO ab. 2. Die Revision war daher, obwohl die
Beklagten im Revisionsrechtszugnicht anwaltlich vertreten waren, durch unechtes Versäumnisurteil zurückzuweisen.
Schlick Wurm Streck, Dörr Herrmann
Vorinst.:LG München II, Entscheidung vom 11.10.2005, 1 MO 7660/04 OLG München, Entscheidung vom 10.04.2006 17 U 5500/05
BGH VI ZR 59/06 vom 9. 01.2007
Thöns
Ein Diagnosefehler (hier: eines Pathologen) wird nicht bereits deshalb zum Befunderhebungsfehler, weil der Arzt es
unterlassen hat, die Beurteilung des von ihm erhobenen Befundes durch Einholung einer zweiten Meinung zu
überprüfen. Der Arzt obsiegte.
BGB § 823 Aa
BGH, Urteil vom 9. 01.2007 - VI ZR 59/06 - OLG Köln
LG Köln
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 9. 01.2007 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Zoll
für Recht erkannt:
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 13. 02.2006 wird
zurückgewiesen.
Von den Kosten des Revisionsverfahrens tragen die Klägerin zu 1 5/6 und der Kläger zu 2 1/6.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Kläger nehmen den Beklagten, einen niedergelassenen Pathologen, wegen fehlerhafter Befundung einer
Hautveränderung eines inzwischen verstorbenen Patienten, der Ehemann der Klägerin zu 1 und Vater des Klägers zu
2 war, auf Schadensersatz in Anspruch.
Der Patient stellte im 06.1996 nach einem Duschbad im Bereich des rechten Schulterblattes eine Hautläsion von ca. 5
mal 5 mm Durchmesser fest, die nach dem Abtrocknen der Haut mit einem Frottiertuch blutete. Der von ihm zu Rate
gezogene Arzt Dr. J. exzidierte die Hautveränderung und übersandte
das Exzidat mit der Bemerkung "blutender Naevus, Malignitätsverdacht" zur histopathologischen Untersuchung an den
Beklagten. Dieser beurteilte die von ihm untersuchte Gewebeprobe als gutartigen (Spitz)Tumor und führte weiter aus, es
gebe keinen Anhalt für ein invasives malignes Melanom sowie für eine andere Krebserkrankung der Haut oder
Hautanhangsgebilde im betroffenen Bereich. In dem Befundbericht des Beklagten an Dr. J. heißt es ferner, eine von
ihm festgestellte epidermale Nekrose mit Fibrininsudation sei seiner Meinung nach eine Folge einer lokalen
Traumatisierung (etwa eines Ätzungsversuchs des Patienten). In der Folge kam es zu Telefonaten zwischen Dr. J. und dem Beklagten,
deren Inhalt streitig ist, in denen jedoch der Beklagte an seinem Untersuchungsergebnis festhielt. Im Sommer 1997
wurden bei dem Patienten zahlreiche Metastasen eines malignen Melanoms im Stadium IV festgestellt. Trotz einer
sofort eingeleiteten intensiven Therapie kam es zu einer Tumorprogression. Der Patient verstarb im Sommer 1998.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 131
Das Landgericht hat den Beklagten zunächst durch Versäumnisurteil entsprechend den Klageanträgen verurteilt, an
beide Kläger ein Schmerzensgeld von 200.000 DM nebst Zinsen zu zahlen und festgestellt, dass der Beklagte zur
Erstattung materieller Schäden verpflichtet sei. Auf den Einspruch des Beklagten hat das Landgericht sein
Versäumnisurteil insoweit bestätigt, als der Beklagte verurteilt worden war, an die Klägerin zu 1 ein Schmerzensgeld in
Höhe von 102.258,38 € (= 200.000 DM) nebst Zinsen zu zahlen, und als festgestellt worden war, dass der Beklagte beiden
Klägern gegenüber zum Ersatz ihres materiellen Schadens verpflichtet sei. Im Übrigen hat es unter teilweiser
Aufhebung des Versäumnisurteils die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht
unter vollständiger Aufhebung des Versäumnisurteils die Klagen in vollem Umfang abgewiesen. Mit der vom
Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Anträge auf Zu rückweisung der Berufung des
Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat aufgrund der Beweisaufnahme keine Überzeugung gewonnen, dass der Tod des Patienten
verhindert worden wäre, wenn der Beklagte die Bösartigkeit des Tumors erkannt hätte. Dies gehe zu Lasten der
Kläger. Eine Beweislastumkehr komme weder unter dem Gesichtspunkt eines groben Behandlungsfehlers in Betracht
noch unter dem Gesichtspunkt einer unterlassenen Befunderhebung. Angesichts der vom Sachverständigen Prof. Dr.
G. geschilderten Schwierigkeiten der histopathologischen Befundung sei die Fehldiagnose des Beklagten nicht als
grober Fehler zu qualifizieren. Ein grober Behandlungsfehler sei auch nicht darin zu sehen, dass der Beklagte die
Spontanblutung auf eine Manipulation des Patienten an der entsprechenden Hautstelle zurückgeführt habe.
Entsprechendes gelte für die Nichteinholung einer Referenzbegutachtung der Gewebeprobe. Dieses Unterlassen habe
der Sachverständige zwar bei seiner Anhörung durch das Berufungsgericht als letztlich pflichtwidrig bewertet.
Gleichwohl erfülle dies nicht die Kriterien, die an einen groben Fehler mit der Folge einer Beweislastumkehr zu stellen
seien. Insgesamt könne hier weder von bewährten im Sinne von allseits beachteten Behandlungsregeln gesprochen
werden noch von einem eindeutigen Verstoß des Beklagten hiergegen.
Eine Umkehr der Beweislast lasse sich schließlich auch nicht aus den Grundsätzen der Rechtsprechung zur
Unterlassung einer gebotenen Befunder hebung herleiten. Insoweit müsse zwischen dem Unterlassen der
Befunderhebung an sich und dem Unterlassen einer einzelnen Befunderhebungsmaßnahme im Rahmen der
Befunderhebung unterschieden werden, wobei nur erstere zur Beweislastumkehr führen könne. Andernfalls würde sich
die Beweislast in nicht mehr angemessener Weise auf die Behandlungsseite verschieben. Vorliegend sei mit der
Nichteinholung einer zweiten Meinung nur eine Einzelmaßnahme unterblieben, so dass eine Umkehr der Beweislast
nicht gerechtfertigt sei.
II.
Das Berufungsurteil hält im Ergebnis revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.
Das Berufungsgericht hat die Kläger ohne Rechtsfehler als beweisfällig dafür erachtet, dass der Tod des Patienten bei
zutreffender Beurteilung der Gewebeprobe durch den Beklagten als bösartig vermieden worden wäre oder die
Krankheit zumindest einen günstigeren Verlauf genommen hätte. Entgegen der Auffassung der Revision kommt im
Streitfall weder eine Beweislastumkehr aus dem Gesichtspunkt eines groben Behandlungsfehlers noch aus dem
Gesichtspunkt mangelnder Erhebung von Diagnose- und Kontrollbefunden in Betracht.
1. Ohne Erfolg wendet sich die Revision gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Bewertung des Tumors als
gutartig durch den Beklagten stelle keinen groben Behandlungsfehler dar.
a) Ein grober Behandlungsfehler ist nicht bereits bei zweifelsfreier Feststellung einer Verletzung des maßgeblichen
ärztlichen Standards gegeben; er setzt vielmehr neben einem eindeutigen Verstoß gegen bewährte ärztliche
Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse die Feststellung voraus, dass der Arzt einen Fehler
begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht
unterlaufen darf (vgl. etwa Senatsurteile BGHZ 159, 48, 53; vom 28. 05.2002 - VI ZR 42/01 - VersR 2002, 1026 und vom 3. 07.2001 - VI ZR 418/99 - VersR 2001, 1116, jeweils m.w.N.).
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Das Berufungsgericht hat den Fehler des Beklagten zutreffend als Diagnosefehler qualifiziert. Nach der
Rechtsprechung des erkennenden Senats darf ein Diagnoseirrtum nur dann als "grob" bezeichnet werden, wenn es
sich um einen fundamentalen Diagnoseirrtum handelt (vgl. etwa Senatsurteile vom 10. 11.1987 - VI ZR 39/87 - VersR 1988, 293; vom 14. 07.1981 - VI ZR 35/79 VersR 1981, 1033 und vom 14. 07.1992 - VI ZR 214/91 - VersR 1992, 1263). Eine fundamentale Fehldiagnose hat das Berufungsgericht auf der
Grundlage der Ausführungen des medizinischen Sachverständigen rechtsfehlerfrei verneint.
Die Einstufung eines ärztlichen Fehlverhaltens als grob richtet sich nach den gesamten Umständen des Einzelfalls,
deren Würdigung weitgehend im tatrichterlichen Bereich liegt. Dem Revisionsgericht obliegt jedoch sowohl die
Nachprüfung, ob das Berufungsgericht den Begriff des groben Behandlungsfehlers verkannt als auch ob es bei der
Gewichtung dieses Fehlers erheblichen Prozessstoff außer Betracht gelassen oder verfahrensfehlerhaft gewürdigt hat
(vgl. etwa Senatsurteile vom 28. 05.2002 - VI ZR 42/01 - aaO und vom 29. 05.2001 - VI ZR 120/00 - VersR 2001, 1030 m.w.N.). Dies ist hier - entgegen der Auffassung der
Revision - nicht der Fall.
b) Der Sachverständige hat die Diagnose als außerordentlich schwierig bezeichnet, ja sogar als das Schwierigste, was
es in dem Fachbereich gebe, zumal hier Umstände vorgelegen hätten, die die Beurteilung zusätzlich besonders
erschwerten. Bei der Gesamtbewertung müsse der Pathologe anhand seiner bisherigen Erfahrung letztlich eine
subjektive Einordnung vornehmen. Selbst unter Experten lägen deshalb nach einer Studie die abweichenden
Auffassungen bei über einem Drittel (nur 62 % übereinstimmende Auffassungen). Vor diesem Hintergrund hat der Sachverständige
schriftlich und mündlich - auch bei seiner Anhörung durch das Berufungsgericht - mehrfach ausdrücklich geäußert, es
könne nicht von einem schwerwiegenden Diagnosefehler gesprochen werden. Auf dieser Grundlage hat das
Berufungsgericht rechtsfehlerfrei einen groben Behandlungsfehler verneint. Es ist dem Tatrichter nicht gestattet, ohne
entsprechende Darlegung oder gar entgegen den medizinischen Ausführungen des Sachverständigen einen groben
Behandlungsfehler aus eigener Wertung zu bejahen (vgl. etwa Senatsurteil vom 28. 05.2002 - VI ZR 42/01 - aaO, m.w.N.).
c) Soweit die Revision ihrerseits aus Einzelaussagen des Sachverständigen - entgegen dessen Gesamtbeurteilung eine abweichende Bewertung des Behandlungsfehlers als grob herleiten will, begibt sie sich auf das ihr verschlossene
Gebiet tatrichterlicher Würdigung, ohne Verfahrensfehler aufzuzeigen.
Die Revision meint insbesondere, das Berufungsgericht habe bei seiner Beurteilung nicht hinreichend berücksichtigt,
dass der Beklagte den Tumor nicht lediglich als gutartig befundet, sondern zusätzlich ausgeführt habe, es bestehe kein
Anhalt für ein invasives malignes Melanom, während der Sachverständige entsprechende Anhaltspunkte bejaht und
sogar als eindeutig bezeichnet habe. Dann aber müsse der Ausschluss von Anhaltspunkten für ein malignes Melanom
als grob fehlerhaft bewertet werden.
Abgesehen davon, dass sich die Revision hiermit in unzulässiger Weise in Widerspruch setzt zu der auf der
Gesamtbewertung des Sachverständigen beruhenden tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts,
vernachlässigt sie bei ihrer Bewertung, dass der Sachverständige hinsichtlich des Vorliegens von Anhaltspunkten für
eine Bösartigkeit in Anknüpfung an seine Ausführungen, die Bewertung unterliege stark der subjektiven Einschätzung
und den Erfahrungen des Pathologen, ersichtlich von seiner eigenen, subjektiven Beurteilung der Gewebeprobe
ausgegangen ist. Ausschlaggebend ist, dass er die abweichende Diagnose des Beklagten gerade nicht als einen
Fehler bezeichnet hat, der aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheine. Da sich der Beklagte seiner
Diagnose, es liege ein gutartiger (Spitz)Tumor vor, sicher war, kann aus seiner zusätzlichen Aussage, es bestehe kein
Anhalt für ein invasives malignes Melanom sowie für eine andersartige Krebserkrankung der Haut oder der
Hautanhangsgebilde im betroffenen Bereich, kein selbständiger fundamentaler Diagnosefehler hergeleitet werden.
Soweit die Revision beanstandet, das Berufungsgericht habe die Beurteilung der Spontanblutung der Hautveränderung
durch den Beklagten unzureichend gewürdigt, hat das Berufungsgericht auf der Grundlage der Ausführungen des
Sachverständigen ohne Rechtsfehler auch hierin keinen groben Fehler des Beklagten gesehen.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat er diesen Umstand keineswegs ignoriert, sondern ihn vielmehr
zum Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen mit dem behandelnden Arzt genommen. Der blutende Naevus war
gerade der Grund für den Malignitätsverdacht des Dr. J. und die Übersendung der Gewebeprobe zur
histopathologischen Untersuchung an den Beklagten. Der Beklagte hat diesen Verdacht nach dem Ergebnis seiner
histopathologischen Untersuchung aber nicht bestätigt gesehen und deshalb Vermu tungen angestellt, dass die
Blutung, die nach den Angaben des Sachverständigen auch bei gutartigen Tumoren vorkommen kann, auf andere
Ursachen, etwa Manipulationen des Patienten an der Hautstelle, zurückzuführen sei. Auch diese Vermutung war
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 133
unmittelbare Folge des Umstandes, dass sich der Beklagte - wenn auch zu Unrecht - seiner Diagnose sicher war, was
nach der rechtsfehlerfreien tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts - wie bereits ausgeführt - jedoch keinen
groben Behandlungsfehler darstellt.
2. Die Rüge der Revision, das Berufungsgericht habe das Unterlassen der Einholung einer zweiten Meinung
rechtsfehlerhaft nicht als groben Behandlungsfehler angesehen, bleibt im Ergebnis ohne Erfolg.
Der Sachverständige hatte sowohl in seinem schriftlichen Gutachten als auch bei seiner Anhörung vor dem Landgericht
die Einholung eines Referenzgutachtens in solchen Fällen zunächst nicht als medizinischen Standard bezeichnet. Erst
bei seiner Anhörung vor dem Berufungsgericht hat er sich auf dessen nachdrückliches Befragen dahin geäußert, dass
das Unterlassen der Einholung einer zweiten Meinung im Streitfall "so gesehen" pflichtwidrig gewesen sei, was das
Berufungsgericht dann als standardwidrig gewürdigt hat.
Es mag fraglich sein, ob es in (objektiv) zweifelhaften Fällen tatsächlich Aufgabe des eingeschalteten Pathologen sein
könnte, sich vor endgültiger Diagnosestellung der Richtigkeit seines Ergebnisses durch Einholung einer zweiten
Meinung eines Kollegen zu versichern. Vorliegend kann dies dahinstehen, weil hierin nach der im Revisionsverfahren
nicht angreifbaren tatrichterlichen Würdigung des Berufungsgerichts jedenfalls kein grober Fehler liegt. Dies gilt auch,
soweit es der Beklagte unterlassen hat, den behandelnden Arzt und den Patienten auf deren Möglichkeit zur Einholung
einer Zweitbegutachtung hinzuweisen, zumal diese Möglichkeit nach den Feststellungen des Berufungsge richts
aufgrund der Diskussionen zwischen dem Beklagten und dem behandelnden Arzt auf der Hand lag und deshalb keiner
besonderen Anregung des Beklagten bedurfte.
3. Soweit das Berufungsgericht in Erwägung zieht und deshalb die Revision zugelassen hat, ob die fehlende Einholung
einer zweiten Meinung unter dem Aspekt einer unterlassenen Befunderhebung eine Beweislastumkehr rechtfertigen
kann, stellt sich diese Frage nach Lage des Falles selbst dann nicht, wenn von einer entsprechenden Verpflichtung des
Pathologen auszugehen wäre.
a) Zwar kann nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats auch unterhalb der Schwelle zum groben
Behandlungsfehler bei der Unterlassung der Erhebung und/oder Sicherung medizinisch gebotener Befunde für den
Patienten eine Beweiserleichterung eingreifen, wenn der Patient beweist, dass die Befunderhebung mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit ein positives und deshalb aus medizinischer Sicht reaktionspflichtiges Ergebnis gehabt hätte und
das Unterlassen der Reaktion hierauf als grober Fehler, sei es als fundamentaler Diagnose- sei es als grober
Behandlungsfehler zu bewerten wäre (vgl. Senatsurteile BGHZ 159, 48, 56; 138, 1, 4; 132, 47, 52; vom 23. 03.2004 - VI ZR 428/02 - VersR 2004, 790, vom 29. 05.2001 - VI ZR
120/00 - aaO, 1030; vom 6. 07.1999 - VI ZR 290/98 - VersR 1999, 1282; vom 3. 11.1998 - VI ZR 253/97 - VersR 1999, 231; vom 6. 10.1998 - VI ZR 239/97 - VersR 1999, 60; vom 27. 01.1998 - VI ZR 339/96 VersR 1998, 585 und vom 21. 11.1995 - VI ZR 341/94 - VersR 1996, 330)
. Diese Rechtsprechung ist jedoch auf den Streitfall weder unmittelbar noch
entsprechend anwendbar.
b) Dabei kann offen bleiben, ob der Auffassung des Berufungsgerichts, bei der Anwendung dieser Grundsätze sei
"sorgfältig" zu unterscheiden zwi schen dem Unterlassen der Befunderhebung an sich und dem Unterlassen einer
einzelnen Befunderhebungsmaßnahme, in dieser Allgemeinheit beigetreten werden könnte. Das erscheint eher
zweifelhaft, weil sowohl in den Fällen der unvollständigen als auch der fehlerhaften Befunderhebung die aus
medizinischer Sicht gebotene (ordnungsgemäße) Befunderhebung unterblieben ist (vgl. Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. B 296).
Selbst wenn es zu den Obliegenheiten des Pathologen gehören würde, sich in zweifelhaften Fällen von der Richtigkeit
seines Ergebnisses durch Einholung einer zweiten Meinung zu überzeugen, läge in dem Unterlassen keine
Nichterhebung eines Kontrollbefundes im Sinne der vorgenannten Senatsrechtsprechung. Vielmehr handelt es sich
nach den eigenen Feststellungen und der insoweit zutreffenden rechtlichen Würdigung des Berufungsgerichts um
einen Diagnoseirrtum aufgrund fehlerhafter Bewertung eines ansonsten vollständig erhobenen Befundes.
III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 97 Abs. 1, 100 Abs. 1 ZPO.
Müller Greiner Wellner Pauge Zoll
Vorinst.:LG Köln, Entscheidung vom 02.03.2005 - 25 O 115/00 OLG Köln, Entscheidung vom 13.02.2006 - 5 U 54/05 -
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 134
LG München vom 26.07.2006
Strafrechtliche Verurteilung eines Frauenarztes, der eine Narkose mit tödlichem Ausgang neben der Operation
selber durchführte.
Nach der Gebrauchsinfirmation des Herstellers und den Regeln der ärztlichen Kunst dürfen die Sedierung mit
Propofol und die durchführung der diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen nicht durch dieselbe Person
erfolgen.
OLG Koblenz vom 20.07.2006
Ein EKG wurde vor dem Eingriff nicht ausreichend betrachet, der Patient verstarb an einem Herzinfarkt.
Präopertive EKG Befundung müssen Anästhesist und Operateur ggfs. erneut vornehmen. Beide wurden verurteilt.
Thöns
BGH VI ZR 323/04 vom 13. 06.2006
Zur Anwendung einer neuen medizinischen Behandlungsmethode und zum Umfang der hierfür erforderlichen
Aufklärung des Patienten.
BGB § 823 Aa
BGH, Urteil vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - OLG Frankfurt a.M.
LG Frankfurt a.M.
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 13. 06.2006 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 7.
12.2004 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt von den Beklagten Schadensersatz wegen einer nach ihrer Behauptung fehlerhaft und ohne die
erforderliche Aufklärung durchgeführten ärztlichen Behandlung in der Klinik des Beklagten zu 1, deren ärztlicher
Direktor der Beklagte zu 2 war. Im 09.1995 implantierte der Beklagte zu 3 der Klägerin mit Hilfe eines
computerunterstützten Fräsverfahrens (Robodoc) eine zementfreie Hüftgelenksendoprothese. Die Operation dauerte 5 ½
Stunden. Die Prothese wurde exakt implantiert. Bei der Operation wurde ein Nerv der Klägerin geschädigt. Sie leidet
seither unter Beeinträchtigungen der Bein- und Fußfunktion. Die Vorinstanzen haben sowohl einen Behandlungsfehler
als auch einen Aufklärungsfehler verneint und die Klage abgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen
Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht, dessen Urteil u.a. in NJWRR 2005, 173 veröffentlicht ist, hat ausgeführt:
Die Klägerin habe einen Behandlungsfehler nicht nachweisen können. Die Anwendung der RobodocMethode als
solche stelle keinen Arztfehler dar. Die behandelnden Ärzte seien berechtigt gewesen, der Klägerin das Verfahren trotz
seiner Neuheit und der damit verbundenen Risiken vorzuschlagen, da es dem herkömmlichen manuellen Verfahren bei
Abwägung der Vor- und Nachteile nicht unterlegen gewesen sei und das OperationsTeam der Klinik aus besonders
trainierten Ärzten bestanden habe, so dass die Komplikationsrate hier niedriger gewesen sei als in anderen
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Krankenhäusern. Auch ein konkreter Behandlungsfehler sei nicht nachgewiesen. Das Auftreten eines Nervschadens,
wie er bei der Klägerin in Form einer Schädigung des Nervus ischiadicus eingetreten sei, stelle kein Indiz für einen
Operationsfehler dar. Der Sachverständige Prof. St. habe ausgeführt, dass beim Einsetzen einer neuen Hüftpfanne
wegen der engen räumlichen Verhältnisse die Möglichkeit der Überdehnung des Nervs bestehe, welche der Operateur
nicht in jedem Fall vermeiden könne. Die Dauer des Eingriffs von 5 ½ Stunden sei nach den Ausführungen des
Sachverständigen ebenfalls kein Anzeichen eines Behandlungsfehlers. Im Übrigen habe der Sachverständige
festgestellt, dass die Operationsdauer auf die Entstehung eines Nervschadens keinen Einfluss habe. Demnach könne
aus der langen Dauer des Eingriffs nicht auf Fehler der Operateure geschlossen werden. Unter diesen Umständen
komme es nicht darauf an, ob die Beweislast durch etwaige Dokumentationsmängel auf die Beklagten verlagert worden
sei.
Ein Aufklärungsmangel liege ebenfalls nicht vor. Stünden mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte
Behandlungsmethoden zur Verfügung, die unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen aufwiesen, bestehe also eine
echte Wahlmöglichkeit für den Patienten, müsse diesem durch entsprechende vollständige ärztliche Belehrung die
Entscheidung darüber überlassen bleiben, auf welchem Weg die Behandlung erfolgen solle und auf welches Risiko er
sich einlassen wolle. Nach diesen Kriterien sei die Klägerin über die verschiedenen Operationsmethoden, nämlich das
herkömmliche Verfahren mit manueller Technik einerseits und das robotergestützte Vorgehen andererseits aufzuklären
gewesen. Dies habe hier bereits deswegen zu gelten, weil das robotergestützte Vorgehen eine Methode gewesen sei,
die im Zeitpunkt des Eingriffs im Jahre 1995 noch nicht allgemein etabliert gewesen sei. Im Streitfall sei eine solche
Information der Patientin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in ausreichendem Maße erfolgt. Insbesondere sei
der Klägerin auch mitgeteilt worden, dass es sich um eine neue Operationsmethode gehandelt habe.
II.
Die Revision hat keinen Erfolg.
1. Sie wendet sich nicht gegen die nach sachverständiger Beratung getroffene Feststellung des Berufungsgerichts,
dass die Anwendung des "Robodoc" genannten computerunterstützten Fräsverfahrens als solches keinen
Behandlungsfehler darstellt. Hiergegen ist auch aus revisionsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern. Insbesondere hat das
Berufungsgericht bedacht, dass die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode nur dann erfolgen darf, wenn die
verantwortliche medizinische Abwägung und ein Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer
abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der standardgemäßen Behandlung unter Berücksichtigung des
Wohles des Patienten die Anwendung der neuen Methode rechtfertigt (vgl. Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., Rn. 484, 486, 511, 673, 690, 393; ders. in:
Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 130 Rn. 23 m.w.N.; Siebert, MedR 1983, 216, 219). Anhaltspunkte für eine in diesem Sinne fehlerhafte oder
ungenügende Abwägung durch die Behandlungsseite sind von der Revision nicht dargelegt worden. Soweit sie neue
Tatsachen dazu vorträgt, dass es sich bei der Anwendung des RobodocVerfahrens seinerzeit um eine experimentelle
Methode gehandelt habe, kann ihr Vorbringen im Revisionsrechtszug keine Berücksichtigung finden.
2. Auch einen Behandlungsfehler bei der Durchführung der Operation hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler
verneint.
a) Das Berufungsgericht erachtet es - sachverständig beraten - als erwiesen, dass dem Beklagten zu 3 als Operateur
kein Fehler unterlaufen ist. Die hiergegen gerichteten Angriffe der Revision bleiben ohne Erfolg. Insbesondere ist aus
Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht aus der langen Operationsdauer nicht auf ein
behandlungsfehlerhaftes Vorgehen des Beklagten zu 3 geschlossen hat.
Die Dauer der Operation von 5 ½ Stunden hat das Berufungsgericht im Hinblick auf das angewendete Verfahren und
den dokumentierten Ablauf des Eingriffs in nachvollziehbarer Weise nicht beanstandet. Die Operationsdauer
beim roboterassistierten Verfahren werde bereits allein aufgrund des Einsatzes des RobodocSystems durch die
Installation der Geräte, das Ausmessen und die Datenermittlung verlängert. 5 ½ Stunden könnten nach den
Ausführungen des Sachverständigen Prof. St. durchaus erforderlich sein. Im Fall der Klägerin habe noch eine
Pfannendachplastik hergestellt werden müssen, was zusätzliche Zeit benötige. Aus dem Operationsbericht ergebe sich
außerdem, dass wegen des verkürzten Schenkelhalses und der Subluxationsstellung im Hüftgelenk eine Darstellung
des Nervus ischiadicus notwendig erschienen sei. Es sei hinzugekommen, dass bei der Klägerin eine fast 15 cm dicke
Fettgewebeschicht habe durchtrennt werden müssen. Beide Maßnahmen erforderten erfahrungsgemäß zusätzlich Zeit.
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Mit ihren hiergegen gerichteten Angriffen begibt sich die Revision in unzulässiger Weise auf das Gebiet tatrichterlicher
Beweiswürdigung. Der Sachverständige hat auch unter Berücksichtigung der Dauer der Operation keinen Anhaltspunkt
für einen Behandlungsfehler gesehen. Bei dieser Sachlage bestand für das Berufungsgericht kein Anlass, der Frage
nach den Gründen für die Dauer der Operation noch intensiver nachzugehen (vgl. auch Senatsurteil vom 9. 11.1993 - VI ZR 248/92 - VersR 1994, 682,
683). Andere Anhaltspunkte für einen Behandlungsfehler als die Dauer der Operation zeigt die Revision nicht auf.
b) Da das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht angreifbarer Weise die Dauer der Operation nicht als Anzeichen
für einen Behandlungsfehler gewertet hat, kommt es nicht darauf an, ob aufgrund etwaiger Dokumentationsmängel die
Beweislast auf die Beklagten verlagert worden ist. Auch die Angriffe der Revision gegen die - hilfsweisen Ausführungen des Berufungsgerichts, der Sachverständige habe im Übrigen festgestellt, dass die Operationsdauer auf
die Entstehung des Nervschadens keinen Einfluss gehabt habe, bleiben ohne Erfolg. Ob die Dauer der Operation für
eine Nervschädigung kausal sein kann, ist
unerheblich, wenn die lange Operationsdauer - wie hier - nicht auf einem Behandlungsfehler beruht.
3. Auch die Begründung, mit der das Berufungsgericht einen Aufklärungsfehler verneint, hält den Angriffen der
Revision - jedenfalls im Ergebnis - stand.
a) Die Revision nimmt die Auffassung des Berufungsgerichts, die Patientin habe über beide Operationsmethoden
aufgeklärt werden müssen, als ihr günstig hin; sie meint aber, die Klägerin sei nicht ausreichend über die Risiken der
neuen Methode aufgeklärt worden, insbesondere nicht über das höhere Risiko einer Nervschädigung infolge einer
längeren Operationsdauer.
aa) Zutreffend hat das Berufungsgericht eine Verpflichtung der Beklagten zur Aufklärung darüber bejaht, dass zwei
Behandlungsalternativen zur Verfügung standen, wovon eine seinerzeit ein Neulandverfahren war. Nach der
Rechtsprechung des erkennenden Senats ist die Wahl der Behandlungsmethode zwar primär Sache des Arztes
(Senatsurteile BGHZ 102, 17, 22; 106, 153, 157; vom 11. 05.1982 - VI ZR 171/80 - VersR 1982, 771, 772; vom 24. 11.1987 - VI ZR 65/87 - VersR 1988, 190, 191 und vom 15. 03.2005 - VI ZR 313/03 - VersR
. Die Wahrung des
Selbstbestimmungsrechts des Patienten erfordert aber eine Unterrichtung über eine alternative
Behandlungsmöglichkeit, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige
Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen
oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten (Senatsurteile BGHZ 102, 17, 22; 106, 153, 157; vom 14. 09.2004 - VI ZR 186/03 - VersR 2005, 227; vom
2005, 836; OLG Zweibrücken, OLGR 2001, 79, 81 mit NABeschluss des Senats vom 19. 12.2000 - VI ZR 171/00 ; OLG Karlsruhe, MedR 2003, 229, 230)
.
Dass danach im Streitfall die Pflicht zur Aufklärung über die alternativen Möglichkeiten der manuellen bzw.
computergestützten Operation bestand, hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler bejaht. Auch die Feststellung des
Berufungsgerichts, die Klägerin sei über die damals bekannten Vor- und Nachteile der Behandlungsmethoden
ordnungsgemäß aufgeklärt worden, ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, insbesondere unter
Berücksichtigung dessen, dass der Patient auch bei Anwendung einer neuen Behandlungsmethode wie sonst nur "im
großen und ganzen" über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt werden muss (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteile BGHZ
90, 103, 106; 144, 1, 7 und vom 7. 04.1992 - VI ZR 192/91 - VersR 1992, 960, 961). Soweit die Revision gegen die Feststellungen zum Umfang der
erteilten Aufklärung Verfahrensrügen erhebt, hat der Senat diese geprüft und für nicht durchgreifend erachtet (§ 564 ZPO).
Gleichwohl war die der Patientin erteilte Aufklärung nicht in jeder Hinsicht ausreichend.
15. 03.2005 - VI ZR 313/03 - aaO; Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 331 f.; MünchKommBGB/Wagner, 4. Aufl., § 823 Rn. 707 f.; Staudinger/Hager, BGB, 13. Bearbeitung [1999], § 823, Rn. I 92 m.w.N.)
bb) Bei standardgemäßer Behandlung sind allgemeine Überlegungen dazu, dass der Eintritt bislang unbekannter
Komplikationen in der Medizin nie ganz auszuschließen ist, für die Entscheidungsfindung des Patienten nicht von
Bedeutung. Sie würden ihn im Einzelfall sogar nur unnötig verwirren und beunruhigen (Senatsurteil vom 12. 12.1989 - VI ZR 83/89 - 1990, 522,
523). Im Falle des computerunterstützten Fräsverfahren Robodoc bei Implantation einer Hüftgelenksendoprothese
handelte es sich jedoch 1995 um eine neue Operationsmethode. Die Methode wurde 1992 erstmals in den USA
klinisch erprobt. Bei dem Beklagten zu 1 war Robodoc erst seit 1994 im Einsatz. Das Verfahren ist nach den
Feststellungen des Berufungsgerichts bis heute umstritten. Will der Arzt aber keine allseits anerkannte
Standardmethode, sondern eine - wie im Streitfall - relativ neue und noch nicht allgemein eingeführte Methode mit
neuen, noch nicht abschließend geklärten Risiken anwenden, so hat er den Patienten nach der Rechtsprechung der
Instanzgerichte auch darüber aufzuklären und darauf hinzuweisen, dass unbekannte Risiken derzeit nicht
auszuschließen sind (vgl. OLG Celle, VersR 1992, 749 f.; OLG Köln, NJWRR 1992, 986, 987; OLG Oldenburg, VersR 1997, 491; OLG Zweibrücken, aaO; OLG Bremen, OLGR 2004, 320, 321
f.; OLG Karlsruhe, VersR 2004, 244, 245; OLG Düsseldorf, VersR 2004, 386; Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 3. Aufl, Rn. 185; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., C, Rn. 39; Steffen/Dressler,
. Der erkennende Senat teilt diese Auffassung.
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Arzthaftungsrecht, 9. Aufl., Rn. 387; vgl. auch Katzenmeier, aaO, S. 312; MünchKommBGB/Wagner, aaO, § 823 Rn. 710)
Die Anwendung neuer Verfahren ist für den medizinischen Fortschritt zwar unerlässlich. Am Patienten dürfen sie aber
nur dann angewandt werden, wenn diesem zuvor unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die neue Methode die
Möglichkeit unbekannter Risiken birgt. Der Patient muss in die Lage versetzt werden, für sich sorgfältig abzuwägen, ob
er sich nach der herkömmlichen Methode mit bekannten Risiken operieren lassen möchte oder nach der neuen
Methode unter besonderer Berücksichtigung der in Aussicht gestellten Vorteile und der noch nicht in jeder Hinsicht
bekannten Gefahren. Hiernach hätte es zumindest eines ausdrücklichen Hinweises auf die Möglichkeit noch nicht
bekannter Risiken bedurft, der der Klägerin nach den getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht erteilt
worden ist.
b) Soweit die Klägerin darüber hinaus geltend macht, sie hätte auch darüber aufgeklärt werden müssen, dass die
längere Dauer der Operation das Risiko einer Nervschädigung erhöhe, betrifft auch dies den Umfang der Aufklärung
bei einer Neulandmethode. Ob ein Hinweis auf ein solches Risiko erforderlich gewesen wäre, bedarf im Streitfall keiner
abschließenden Beurteilung.
Im Allgemeinen besteht eine Aufklärungspflicht nur dann, wenn ernsthafte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft
auf bestimmte mit einer Behandlung verbundene Gefahren hinweisen, die nicht lediglich als unbeachtliche
Außenseitermeinungen abgetan werden können, sondern als gewichtige Warnungen angesehen werden müssen
(Senatsurteile vom 12. 12.1989 - VI ZR 83/89 - VersR 1990, 522, 523 und vom 21. 11.1995 - VI ZR 329/94 - VersR 1996, 233 m.w.N.; OLG Oldenburg, VersR 2006, 517 mit NZBBeschluss des Senats vom 31.
. Bei einer Neulandmethode können zum Schutz des Patienten je
nach Lage des Falles strengere Anforderungen gelten. Auch hier ist allerdings nicht über bloße Vermutungen
aufzuklären. Etwas anderes kann aber gelten, wenn diese sich so weit verdichtet haben, dass sie zum Schutz des
Patienten in dessen Entscheidungsfindung einbezogen werden sollten.
01.2006 - VI ZR 87/05 - aaO; Geiß/Greiner, aaO, Rn. 46; Steffen/Dressler, aaO, Rn. 391)
Derart konkrete Vermutungen hat das Berufungsgericht im Streitfall nicht festgestellt. Nach den verfahrensfehlerfreien
Feststellungen existierten zum damaligen Zeitpunkt noch keine repräsentativen wissenschaftlichen Studien, die
verlässliche Vergleiche der beiden Methoden erlaubt hätten. Das von der Revision herangezogene und vom
Berufungsgericht berücksichtigte Gutachten Dr. Sch. stammt aus dem Jahre 2004. Nach den insoweit nicht
angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Sachverständige in diesem Gutachten sämtliche
verfügbaren Publikationen zum RobodocVerfahren ausgewertet. Zwar zeigt eine der ausgewerteten und vom
Berufungsgericht berücksichtigten Studien eine höhere Komplikationsrate hinsichtlich von Nervschädigungen bei
Robodoc im Vergleich zu der manuellen Implantation. Diese Studie stammt jedoch erst aus dem Jahr 2003. Der
Sachverständige Prof. St. hat allerdings in seiner mündlichen Anhörung vor dem Berufungsgericht bekundet, dass
Kritiker des Verfahrens im Jahre 1995 nicht begründete Vermutungen geäußert hätten. Über den Inhalt dieser
Vermutungen ist aber nichts mitgeteilt. Insbesondere ist nichts dafür ersichtlich, dass sich diese auf einen möglichen
Zusammenhang zwischen Operationsdauer und Nervschädigung bezogen hätten. Tatrichterlicher Feststellungen über
den Inhalt oder die Tragweite dieser Vermutungen bedarf es im Streitfall nicht, weil sich das angefochtene Urteil aus
einem anderen Grund als richtig erweist.
c) Die oben erörterten Mängel der Aufklärung wirken sich nämlich unter den besonderen Umständen des Streitfalles
nicht aus, weil sich mit der Nervschädigung ein Risiko verwirklicht hat, über das die Klägerin vollständig - wenn auch im
Zusammenhang mit der herkömmlichen Operationsmethode - aufgeklärt worden ist. Nach den vom Berufungsgericht
getroffenen Feststellungen hat der Zeuge Dr. S. der Klägerin im Einzelnen erklärt, welche Nerven bei der Operation
geschädigt werden könnten und wie sich dies auswirke. Er hat dargestellt, dass die Bewegung und Belastung der
Beine betroffen sein könne, dass es zu Verrenkungen des Gelenks kommen könne und dass auch die Streckung des
Knies beeinträchtigt werden könne, je nachdem welcher Nerv geschädigt werde. Auch die Zeugin C., damals
Stationsärztin bei dem Beklagten zu 1, hat die Klägerin bei einem erneuten Aufklärungsgespräch zwei Tage vor der
Operation auf die Gefahr einer Nervschädigung hingewiesen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats
kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob auch über andere - hier möglicherweise noch unbekannte - Risiken, die
sich nicht verwirklicht haben, hätte aufgeklärt werden müssen, wenn sich (nur) ein Risiko verwirklicht, über das aufgeklärt
werden musste und über das auch tatsächlich aufgeklärt worden ist. Denn die Klägerin hat in Kenntnis des später
verwirklichten Risikos ihre Einwilligung gegeben. Hat der Patient bei seiner Einwilligung das später eingetretene Risiko
in Kauf genommen, so kann er bei wertender Betrachtungsweise nach dem Schutzzweck der Aufklärungspflicht aus
der Verwirklichung dieses Risikos keine Haftung herleiten (Senatsurteile
BGHZ 144, 1, 7 f.; vom 12. 03.1991 - VI ZR 232/90 - VersR 1991, 777, 779 und vom 30. 01.2001 - VI ZR 353/99 - VersR 2001, 592; Frahm/Nixdorf, aaO, Rn. 205; Geiß/Greiner, aaO, Rn. 157;
.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 138
MünchKommBGB/Wagner, aaO, § 823, Rn. 725; Steffen/Dressler, aaO, Rn. 450a)
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr
Vorinst.:LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 29.08.2003 - 2/21 O 362/98 OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 07.12.2004 - 8 U 194/03 –
BGH VI ZR 48/06 Vom 14.11.2006
a) In den Schutzbereich eines auf Schwangerschaftsverhütung gerichteten Vertrages zwischen Arzt und
Patientin ist nicht nur ein ehelicher, sondern auch der jeweilige nichteheliche Partner einbezogen, der vom
Fehlschlagen der Verhütung betroffen ist. b) Eine Ersatzpflicht des Arztes besteht in derartigen Fällen auch
dann, wenn die gegenwärtige berufliche und wirtschaftliche Planung der Mutter durchkreuzt wird und die
zukünftige Planung nicht endgültig absehbar ist; einer abgeschlossenen Familienplanung in dem Sinne, dass
auch die hypothetische Möglichkeit eines späteren Kinderwunsches völlig ausgeschlossen sein muss, bedarf
es nicht. c) Der Tatrichter darf bei der Bemessung des Betreuungsunterhaltsschadens einen Zuschlag in Höhe
des Barunterhaltsschadens (135 % des Regelsatzes der RegelbetragVerordnung) als angemessenen Schadensausgleich ansehen,
sofern nicht die Umstände des Falles eine abweichende Bewertung nahe legen. Der Patient obsiegte.
Thöns
BGB § 280 Abs. 1, § 328 ZPO § 287
BGH, Urteil vom 14. 11.2006 - VI ZR 48/06 - OLG Karlsruhe
LG WaldshutTiengen
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 14. 11.2006 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Wellner, die Richterin Diederichsen und die Richter Stöhr und Zoll
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 1. 02.2006 wird auf Kosten
des Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin ist Mutter eines im 12.2002 geborenen gesunden Sohnes. Sie verlangt von ihrem Gynäkologen, dem
Beklagten, aus eigenem und aus abgetretenem Recht des Vaters Ersatz des den Eltern durch die
Unterhaltsverpflichtung entstandenen und noch entstehenden Schadens.
Der Beklagte hatte es übernommen, der Klägerin im 01.2002 das lang wirkende Verhütungsmittel "Implanon" zu
verabreichen. Bei diesem Präparat handelt es sich um ein circa 3 mm starkes und wenige Zentimeter langes
Plastikröhrchen, welches oberhalb der Ellenbogenbeuge unter die Haut eingebracht wird. Der Beklagte hat die
Behandlung abgerechnet, die Klägerin hat sie
bezahlt. Im 07.2002 stellte der Beklagte bei der Klägerin eine Schwangerschaft in der 16. Woche fest. Das
"Implanon"Implantat konnte nicht mehr gefunden werden. Der Wirkstoff des "Implanons" konnte im Blut der Klägerin
nicht nachgewiesen werden.
Die Klägerin konnte wegen der Schwangerschaft und der Betreuung des Kindes eine ihr zugesagte Arbeitsstelle nicht
antreten. Der Vater des Kindes, den die Klägerin im Zeitpunkt der Zeugung etwa seit einem halben Jahr kannte, hat die
Vaterschaft anerkannt, lebt aber nicht mit der Klägerin zusammen. Er kommt seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem
gemeinsamen Sohn nach.
Die Klägerin hat geltend gemacht, dem Beklagten sei beim Einsetzen des Verhütungsmittels ein Behandlungsfehler
unterlaufen, so dass er hinsichtlich der nunmehr bestehenden Unterhaltsverpflichtung ersatzpflichtig sei. Das
Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat den Beklagten verurteilt, an die Klägerin
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 139
Unterhaltsschadensersatz in Höhe von 14.082 € für den zurück liegenden Zeitraum (12.2002 bis 12.2005) und bis zum Eintritt
der Volljährigkeit des Sohnes monatlich im Voraus in Höhe von 270 % des Regelbetrages der jeweiligen Altersstufe der
Regelbetragsverordnung abzüglich des jeweiligen gesamten Kindergeldes zu bezahlen.
Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Beklagten, mit der er sein Ziel einer
Klageabweisung weiter verfolgt.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht, dessen Urteil veröffentlicht ist (u. a. VersR 2006, 936 und NJW 2006, 1006), bejaht einen Behandlungsfehler des
Beklagten und
ist der Ansicht, in den Schutzbereich eines auf Schwangerschaftsverhütung gerichteten Vertrages zwischen Arzt und
Patientin sei auch der gegenwärtige Partner einer ungefestigten Partnerschaft einbezogen. Eine den Arzt zum
Schadensersatz verpflichtende fehlgeschlagene Familienplanung sei - entgegen der Auffassung des Landgerichts auch dann denkbar, wenn die gegenwärtige Planung durchkreuzt werde und die zukünftige Planung endgültig noch gar
nicht absehbar sei. Hinsichtlich der Schadenshöhe seien in derartigen Fällen für den Barunterhalt 135 % der
Regelbetragsverordnung anzusetzen, zusätzlich sei Ersatz für den Betreuungsunterhalt zu leisten, dessentwegen eine
pauschale Verdoppelung des Baraufwandes geboten sei.
II.
Dagegen wendet sich die Revision ohne Erfolg.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats sind - außerhalb der Fallgestaltungen, die aufgrund
ärztlicher Fehler nicht durchgeführte bzw. fehlgeschlagene Schwangerschaftsabbrüche betreffen (vgl. dazu etwa Senatsurteile BGHZ
129, 178, 181 ff.; 143, 389, 393 ff.) - die mit der Geburt eines nicht gewollten Kindes für die Eltern verbundenen wirtschaftlichen
Belastungen, insbesondere die Aufwendungen für dessen Unterhalt, als ersatzpflichtiger Schaden auszugleichen,
wenn der Schutz vor solchen Belastungen Gegenstand des jeweiligen Behandlungs- oder Beratungsvertrages war.
Diese - am Vertragszweck ausgerichtete - Haftung des Arztes oder Krankenhausträgers hat der Senat insbesondere
bejaht für Fälle fehlgeschlagener Sterilisation aus Gründen der Familienplanung (vgl. BGHZ 76, 259, 262; Senatsurteile vom 2. 12.1980 - VI ZR
175/78 - VersR 1981, 278; vom 10. 03.1981 - VI ZR 202/79 - VersR 1981, 730; vom 19. 06.1984 - VI ZR 76/83 - VersR 1984, 864; vom 27. 06.1995 - VI ZR 32/94 - VersR 1995, 1099, 1101), bei feh
lerhafter Beratung über die Sicherheit der empfängnisverhütenden Wirkungen eines vom Arzt verordneten
Hormonpräparates (Senatsurteil vom 3. 06.1997 - VI ZR 133/96 - VersR 1997, 1422 f.) sowie für Fälle fehlerhafter genetischer Beratung vor
Zeugung eines genetisch behinderten Kindes (BGHZ 124, 128 ff.). Diese Rechtsprechung des Senats hat das
Bundesverfassungsgericht mit Beschluss des Ersten Senats vom 12. 11.1997 als verfassungsrechtlich unbedenklich
erachtet (BVerfGE 96, 375, 397 ff.).
Der Streitfall gehört zu diesen Fallgruppen. Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des
Berufungsgerichts war der zwischen den Parteien geschlossene Behandlungsvertrag darauf gerichtet, der Klägerin das
Mittel "Implanon" zu verabreichen. Einziger Zweck dieser Maßnahme konnte ersichtlich nur die Verhütung einer
Schwangerschaft bei der Klägerin sein. Dieser Zweck wurde nicht erreicht, weil dem Beklagten nach den - insoweit von
der Revision nicht angegriffenen - Feststellungen des Berufungsgerichts ein Behandlungsfehler unterlaufen ist, der als
kausal für die Schwangerschaft anzusehen ist, weil das Präparat bei ordnungsgemäßer Einlage eine volle
kontrazeptive Sicherheit gewährt und die Versagerrate vom Arbeitskreis Lakon (Langzeitkontrazeption) mit Null angegeben wird.
Die Feststellung des Berufungsgerichts, die fehlgeschlagene Verhütungsmaßnahme habe bezweckt, die Klägerin, auch
angesichts ihrer beruflichen Situation, vor einer unerwünschten Unterhaltsbelastung zu schützen, wird von der Revision
nicht angegriffen; dies liegt bei der gegebenen Sachlage auch auf der Hand. Im Übrigen muss die Vermeidung der
wirtschaftlichen Belastung nicht unbedingt im Vordergrund stehen (vgl. Senatsurteile BGHZ 124, 128, 138; 143, 389, 394).
Eine Haftung des Beklagten nach den dargestellten Maßstäben kommt danach grundsätzlich in Betracht.
2. Die Revision macht geltend, die Klägerin habe einen eigenen Unterhaltsschaden nicht ausreichend dargelegt, weil
nach ihrem Vortrag nicht von einer abgeschlossenen Familienplanung ausgegangen werden könne. Dem kann nicht
gefolgt werden.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 140
Zum einen hat die Klägerin - worauf die Revisionserwiderung mit Recht hinweist - in erster und zweiter Instanz
vorgetragen, sie habe den Eingriff, der auf eine langjährige Verhütung angelegt war, vornehmen lassen, weil sie kein
Kind gewollt habe.
Zum anderen ist die Haftung des Arztes nach den dargestellten Grundsätzen nicht davon abhängig, dass die
Familienplanung der Eltern oder eines Elternteils "abgeschlossen" ist in dem Sinne, dass auch die hypothetische
Möglichkeit eines späteren Kinderwunsches, etwa nach beruflicher Konsolidierung und mit einem anderen Partner,
völlig ausgeschlossen werden muss. Zwar hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 18. 03.1980 (BGHZ 76, 259, 265)
beiläufig ausgeführt, in den nicht seltenen Fällen, in denen ein junges Ehepaar - etwa um zunächst die wirtschaftlichen
Grundlagen der Familie zu festigen oder den Ausbildungsabschluss eines Elternteils zu erleichtern - nur zunächst ein
Kind nicht haben wolle, könne aus der Durchkreuzung des derzeitigen Zeitplans nicht schon auf eine nachhaltige
Planwidrigkeit des demnach zur Unzeit geborenen Kindes geschlossen werden.
Zutreffend nimmt das Berufungsgericht aber an, dass auch eine aus persönlichen oder wirtschaftlichen Gründen auf
längere Zeit geplante Kinderlosigkeit Grundlage dafür sein kann, die unerwünschte Belastung mit einer
Unterhaltsverpflichtung der ärztlichen Vertragsverletzung zuzurechnen, wenn eine zukünftige Planung noch nicht
absehbar ist. In einem solchen Fall kann die Haftung nicht davon abhängen, dass der Geschädigten ein ohnehin nicht
verifizierbarer Vortrag über ihre spätere Lebensplanung abverlangt wird.
In Fällen der vorliegenden Art geht es - jenseits aller weltanschaulichen Erwägungen und aller Überlegungen, die das
ElternKindVerhältnis betreffen - lediglich darum, dass eine von den Eltern nicht gewünschte Belastung der
wirtschaftlichen Verhältnisse durch die Vertragsverletzung des Arztes herbeigeführt wird und dieser zuzurechnen ist (vgl.
Senatsurteile BGHZ 124, 128, 138 und vom 19. 06.1984 - VI ZR 76/83 - aaO; ferner BVerfGE 96, 375, 400). Der Arzt, der einen vom Patienten gewünschten Erfolg
verspricht, diesen aber durch fehlerhafte Behandlung vereitelt, soll für die dadurch verursachte wirtschaftliche
Belastung haften.
Eine solche rein schadensrechtliche Betrachtung wird bei das Vermögen schädigenden Vertragsverletzungen
außerhalb des Arzthaftungsrechts auch nicht ernsthaft in Zweifel gezogen. Der Einwand, das schädigende Verhalten
beeinträchtige die Lebensplanung des Vertragspartners nur auf Zeit, kann allenfalls für die Schadenshöhe, nicht aber
für die grundsätzliche Haftungsfrage von Bedeutung sein. Eine Mutter, die den - gesellschaftlich weitgehend
akzeptierten - Entschluss fasst, auf ein Kind zu verzichten, um beispielsweise ihr berufliches Fortkommen zu sichern,
kann nicht mit Erfolg darauf verwiesen werden, sie müsse die Vereitelung ihrer Lebensplanung entschädigungslos
hinnehmen, weil sie sich in Zukunft möglicherweise doch einmal entschlossen haben würde, Kinder zu bekommen. Die
Haftung des Arztes entfällt nur dann, wenn im Einzelfall der innere Grund der haftungsrechtlichen Zurechnung, nämlich
die Störung der Familienplanung, nachträglich weggefallen ist (vgl. Senatsurteile BGHZ 76, 249, 258; 76, 259, 264 f. und vom 19. 06.1984 - VI ZR 76/83 - aaO,
Seite 865), was der beklagte Arzt darzulegen und zu beweisen hat (Senatsurteil BGHZ 76, 259, 265).
Auch ein auf Zeit angelegter Verzicht auf einen Kinderwunsch kann mithin die Haftung auslösen. Gerade bei
Betroffenen, die am Anfang ihres Berufslebens stehen und zunächst auf Zeit geplant haben, ohne Kind zu bleiben,
kann
sich eine Vereitelung dieser Lebensplanung wirtschaftlich in schwer wiegender Weise auswirken. In solchen Fällen
kann der Zurechnungszusammenhang nicht mit der Erwägung verneint werden, dass bei einer temporären
Verhütungsmaßnahme nicht auszuschließen sei, dass sich später doch ein Kinderwunsch einstelle und dieser erfüllt
werde. Eine solche Betrachtung berücksichtigt nicht ausreichend, dass der Schaden in der konkreten nicht
gewünschten Unterhaltsbelastung besteht und nicht dadurch hinwegdiskutiert werden kann, dass auf eine
möglicherweise später willentlich entstehende ähnliche Belastung verwiesen wird. Das möglicherweise später
geborene Kind kann nicht, etwa im Sinne einer "überholenden Kausalität", mit dem tatsächlich geborenen gleich
gesetzt werden. Dass dieses Kind ungeachtet der gestörten Lebensplanung der Eltern akzeptiert werden muss und im
Streitfall ersichtlich akzeptiert wird, kann in Fällen dieser Art durch den Beitrag des Arztes zum Unterhalt für das Kind,
den er auf Grund der vertraglichen Schlechterfüllung zu leisten hat, in wirksamer Weise unterstützt werden (vgl. Senatsurteil
BGHZ 124, 128, 143 f.; BVerfGE 96, 375, 402).
Der erkennende Senat hat demgemäß auch schon früher eine Haftung nicht nur dann für möglich gehalten, wenn eine
endgültige Maßnahme (etwa eine Sterilisation) gewünscht war, sondern auch dann, wenn eine temporäre Verhütungsmaßnahme
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 141
aufgrund fehlerhafter Behandlung erfolglos blieb (vgl. Senatsurteil vom 3. 06.1997 - VI ZR 133/96 - VersR 1997, 1422, 1423 - Verordnung von Hormonpräparaten ohne
empfängnisverhütende Wirkung).
3. Die Revision rügt ferner, das Berufungsgericht habe der Schadensberechnung zu Unrecht den Unterhaltsbedarf bis
zur Vollendung des 18. Lebensjahres zugrunde gelegt. Auch diese Rüge bleibt ohne Erfolg.
Entgegen den Ausführungen der Revision musste die Klägerin nicht eine "gegen Kinder gerichtete Lebensplanung"
über einen Zeitraum von 18 Jahren
vortragen, dahin gehend, dass sie während dieses Zeitraums keinen Kinderwunsch gehegt hätte, das Kind "mithin
nicht dazu gedient hätte/dienen würde, diesen Kinderwunsch zu befriedigen". Ein solcher Vortrag ist bei
Berücksichtigung des Wahrheitsgebots (§ 138 Abs. 1 BGB) nicht möglich. Niemand kann verbindliche Erklärungen zu seiner
Lebensplanung über einen Zeitraum von 18 (bzw. jetzt noch 14) Jahren abgeben, geschweige denn, was der Revision
möglicherweise vorschwebt, einen solchen Vortrag unter Beweis stellen und den Beweis führen. Ein solcher Vortrag ist
zur Begründung des Schadensersatzanspruchs auch nicht geboten. Die durch die ärztliche Schlechterfüllung
verursachte Unterhaltsbelastung knüpft an die in Frage stehende konkrete Geburt des Kindes an, einen singulären,
hier von der Mutter akzeptierten Vorgang, der - schadensrechtlich betrachtet - nicht dazu "dienen" kann, solche
Wünsche oder Vorstellungen zu befriedigen, die sich hypothetisch bei ungestörter Lebensplanung später einmal
eingestellt hätten. Selbst wenn sich bei der Klägerin in Zukunft ein Kinderwunsch eingestellt haben würde, bezöge sich
dieser auf den dann maßgeblichen Zeitpunkt und die anschließende Lebensphase. Die vom Beklagten verursachte
Unterhaltsbelastung bleibt dessen ungeachtet bestehen.
Wie oben bereits ausgeführt, entfällt die Haftung des Arztes allerdings dann, wenn im Einzelfall der innere Grund der
haftungsrechtlichen Zurechnung, nämlich die Störung der Familienplanung, nachträglich weggefallen ist (vgl. Senatsurteil vom 19.
06.1984 - VI ZR 76/83 - aaO). Dies hat das Berufungsgericht gesehen und eine solche Fallgestaltung für den vorliegenden Fall
verneint. Dagegen bringt die Revision nichts Erhebliches vor.
4. Ohne Erfolg rügt die Revision die Auffassung des Berufungsgerichts, der nichteheliche Vater des Kindes der
Klägerin sei in den Schutzbereich des Behandlungsvertrages einbezogen.
Der erkennende Senat hat in Fällen fehlerhafter genetischer Beratung und sonstiger Fehler im vorgeburtlichen Bereich
bereits die Einbeziehung des ehelichen Vaters in den Schutzbereich des Arztvertrages bejaht (Senatsurteile BGHZ 86, 240, 249 f.; 89, 95,
98; 151, 133, 136). Sie wird auch für Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft befürwortet (vgl. Gehrlein, MDR 2002, 638, 639;
Palandt/Heinrichs, BGB, 65. Aufl., vor § 249 Rn. 48; Staudinger/Jagmann, BGB, Neubearbeitung 2004, § 328 Rn. 132; ferner OLG Frankfurt, VersR 1994, 942, 943 mit Nichtannahmebeschluss vom 18.
01.1994 - VI ZR 188/93)
.
Der Streitfall nötigt nicht zur Entscheidung der Frage, in welchem Umfang nichteheliche Väter unter allen denkbaren
Umständen, etwa bei ungefestigten kurzfristigen Partnerschaften, in einen von der Frau abgeschlossenen, auf
Empfängnisverhütung angelegten Behandlungsvertrag einbezogen sind. Jedenfalls ist die Feststellung des
Berufungsgerichts, die Voraussetzungen für eine Einbeziehung des Vaters des Kindes lägen unter den Umständen des
Streitfalls vor, nicht zu beanstanden. Sofern die Arztleistung - wie hier - auch der wirtschaftlichen Familienplanung
dient, ist ihr wesenseigen, dass der vertragliche Schutz denjenigen zukommt, die für den Unterhalt aufzukommen
haben. Dies gilt nicht nur bei ehelicher Vaterschaft (Senatsurteil, BGHZ 76, 259, 262), sondern auch bei nichtehelichen
Lebensgemeinschaften und Partnerschaften, die bei Durchführung der Behandlung bestehen und deren auch
wirtschaftlichem Schutz die Behandlung gerade dienen soll.
Diese Voraussetzungen hat das Berufungsgericht für den Streitfall rechtsfehlerfrei bejaht. Entgegen den Ausführungen
der Revision war es nicht erforderlich, dass die Klägerin dem Beklagten den Kindesvater als ihren festen Partner
vorstellte oder namentlich benannte. Die Leistungsnähe des Dritten, das Interesse der Klägerin an dessen Schutz, sein
Schutzbedürfnis und die Erkennbarkeit des geschützten Personenkreises (vgl. dazu Senatsurteile BGHZ
56, 269, 273 f.; vom 19. 02.2002 - VI ZR 190/01 - VersR 2002, 767 f.; BGH, Urteil vom 26. 06.2001 - X ZR 231/99 - NJW 2001, 3115, 3116 m. w. N.) lagen nach den Umständen des
Streitfalls auch aus Sicht des Beklagten selbst dann vor, wenn ihm nähere Informationen zur Person des damaligen
Lebenspartners der Klägerin und späteren Kindesvaters fehlten. Um die von der Revision herausgestellte
Fallgestaltung, bei der im Zeitpunkt der ärztlichen Leistung noch völlig offen ist, wann und gegebenenfalls mit wem
künftig Geschlechtsverkehr ausgeübt wird, geht es nach den Feststellungen des Berufungsgerichts im Streitfall nicht.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 142
Entgegen den Ausführungen der Revision ist der (der Klägerin abgetretene) Schadensersatzanspruch des Kindesvaters nicht
deshalb zu verneinen, weil die Klägerin nicht konkret zu dessen Lebensplanung vorgetragen hat. Der Kindesvater ist in
den Schutzbereich des mit der Klägerin geschlossenen Behandlungsvertrages einbezogen. Deshalb kommt es auf die
diesem Vertrag zugrunde liegende Planung der Klägerin an. Im Übrigen verweist die Revisionserwiderung mit Recht
darauf, dass eine Störung der Lebensplanung durch die nichteheliche Vaterschaft und die damit verbundene
Unterhaltsbelastung auf der Hand liegt. Dafür, dass der nichteheliche Vater die Vaterschaft gewollt hat, ist nichts
vorgetragen und festgestellt.
5. Auch die gegen die Höhe des zuerkannten Betrages erhobenen Rügen der Revision greifen nicht durch. Die
Schadensschätzung (§ 287 ZPO) des Berufungsgerichts lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Sie weicht nicht in
revisionsrechtlich relevanter Weise von den Vorgaben ab, die nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats für
die Bemessung des Unterhaltsschadensersatzes in Fällen der vorliegenden Art bestehen.
a) Betreffend den Barunterhaltsschaden hat der Arzt von den wirtschaftlichen Belastungen, die aus der von ihm zu
verantwortenden Geburt eines Kin des hergeleitet werden, nur denjenigen Teil zu übernehmen, der für die
Existenzsicherung des Kindes erforderlich ist (Senatsurteil vom 4. 03.1997 - VI ZR 354/95 - VersR 1997, 698, 700). Dem wird der vom
Berufungsgericht ausgeurteilte Betrag in Höhe von 135 % des Satzes der RegelbetragVerordnung gerecht. Soweit die
Revision unter Hinweis auf frühere Entscheidungen des erkennenden Senats geltend macht, es sei auf den einfachen
Satz der RegelbetragVerordnung abzustellen, entspricht dies nicht den geänderten rechtlichen Vorgaben. Nach der
Streichung des § 1615 f. BGB a. F., auf den in dem Senatsurteil vom 4. 03.1997 (aaO, S. 699) hingewiesen wird, ist für den
Unterhalt eines minderjährigen Kindes auf einen Vomhundertsatz des jeweiligen Regelbetrags der
RegelbetragVerordnung (vom 6. 04.1998) abzustellen. Als Existenzminimum des Kindes sind 135 % des Regelbetrags
anzusehen (BGH, Urteil vom 22. 01.2003 - XII ZR 2/00 - NJW 2003, 1112, 1114; OLG Oldenburg, VersR 2004, 654, 655, jeweils m. w. N.; vgl. auch § 1612 b Abs. 5 BGB).
b) Hinsichtlich des Wertes der Betreuungsleistungen hat der erkennende Senat es nicht beanstandet, dass der
Tatrichter einen Zuschlag in Höhe des Barunterhalts zuerkennt (Senatsurteile BGHZ 76, 259, 270 f.; vom 4. 03.1997 - VI ZR 354/95 - aaO, S. 699). Daran,
dass der Zuschlag die Höhe des Barunterhalts nicht erreichen muss, wohl aber erreichen kann (Senatsurteil BGHZ 76, 259, 270 f.), ist
festzuhalten.
Zwar liegt die Überlegung nahe, dass sich der Betreuungsaufwand bei zunehmendem Alter des Kindes verringern und
deshalb ein Betrag in Höhe von 135 % schadensrechtlich als überhöht erscheinen kann (OLG Oldenburg, aaO, S. 655 f.). Daraus
lässt sich indes nicht herleiten, dass die Zuerkennung eines solchen Betrages stets außerhalb des tatrichterlichen
Ermessens liegt. Dieser Betrag ist ohnehin nur auf die Existenzsicherung des Kindes abgestellt und gegebenenfalls
auch bei einer Mangelverteilung anzusetzen (vgl. BGH, Urteil vom
22. 01.2003 - XII ZR 2/00 - aaO). Er wird auch bei einer Betrachtung über 18 Jahre vielfach den Betrag, der durchschnittlich für die
Betreuung eines Kindes erforderlich ist, nicht wesentlich überschreiten. Die Erwägung, dass die Kindesmutter bei
fortgeschrittenem Alter des Kindes zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verpflichtet sein kann, ist in diesem
Zusammenhang - anders als im Unterhaltsrecht und bei der Regulierung von Personenschäden gemäß § 844 Abs. 2
BGB - ohne Bedeutung; denn es geht hier nicht um den eigenen Unterhalt der Klägerin, auf den ein zu erzielender
Arbeitsverdienst angerechnet werden kann, sondern um deren Belastung mit der Unterhaltsverpflichtung für das Kind,
die auch bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ungeschmälert bestehen bleibt.
Ein Zuschlag in Höhe von 135 % des Regelsatzes darf deshalb vom Tatrichter bei der Bemessung des
Betreuungsunterhaltsschadens als angemessener Ausgleich angesehen werden, sofern nicht die Umstände des Falles
eine abweichende Bewertung nahe legen. Dafür zeigt die Revision im vorliegenden Fall nichts Konkretes auf.
III.
Die Revision ist demnach mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Müller Wellner Diederichsen Stöhr Zoll
Vorinst.:LG WaldshutTiengen, Entscheidung vom 29.07.2004 - 2 O 70/04 OLG Karlsruhe in Freiburg, Entscheidung vom 01.02.2006 - 13 U 134/04 -
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 143
Thöns
BGH VI ZR 206/05 vom 07.11.2006
Der Chefarzt, der die Risikoaufklärung eines Patienten einem nachgeordneten Arzt überträgt, muss darlegen,
welche organisatorischen Maßnahmen er ergriffen hat, um eine ordnungsgemäße Aufklärung sicherzustellen
und zu kontrollieren.
Der Patient obsiegte. BGB § 823 Abs. 1 Dd
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 7. 11.2006 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 4. Zivilsenats des SchleswigHolsteinischen Oberlandesgerichts in
Schleswig vom 2. 09.2005 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das
Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
1 Die Klägerin nimmt den Beklagten nach einer Divertikeloperation am Zwölffingerdarm auf Ersatz immateriellen
Schadens in Anspruch.
2 Die Klägerin stellte sich am 22. 01.2002 wegen Oberbauchbeschwerden in der chirurgischen Klinik E. vor, deren
Chefarzt der Beklagte ist. Am folgenden Tag wurde sie stationär aufgenommen, über das Wochenende vorübergehend
entlassen und am 6. 02.2002 von dem Beklagten operiert. Infolge einer Nahtinsuffizienz kam es danach zu einer
schweren Bauchfellentzündung und einer eitrigen Bauchspeicheldrüsenentzündung. Die Klägerin
musste 49 Tage auf der Intensivstation behandelt werden, davon etwa drei Wochen in einem künstlichen Koma unter
Offenhaltung des Bauchraums. Sie wurde fünf weitere Male operiert. Nach der Entlassung am 19. 06.2002 trat sie eine
RehaMaßnahme an. Als Folge des langen Liegens auf der Intensivstation leidet sie unter einer Critical Illness
Polyneuropathie am linken Unterschenkel und am Fuß.
3 Vor der Operation führte der Stationsarzt Dr. S. zwei Gespräche mit der Klägerin. Zwischen den Parteien ist streitig,
ob dabei eine ordnungsgemäße Risikoaufklärung erfolgte. Die Klägerin verlangt von dem Beklagten - nunmehr nur
noch gestützt auf den Vorwurf unzureichender Aufklärung - ein angemessenes Schmerzensgeld in der Größenordnung
von 75.000 €.
4 Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Mit der vom erkennenden
Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob vor dem Eingriff über das Risiko einer Bauchspeicheldrüsenentzündung
aufzuklären war und die Klägerin vor der Operation ordnungsgemäß über eingriffsspezifische Risiken aufgeklärt
worden ist. Es hat auch dahinstehen lassen, ob sich der Beklagte gegebenenfalls auf eine hypothetische Einwilligung
der Klägerin berufen kann. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, ein etwaiger Aufklärungsfehler sei dem Beklagten
jedenfalls nicht zuzurechnen, denn dieser habe die Aufklärung in zulässiger Weise dem Stationsarzt Dr. S. übertragen,
der als Facharzt hierfür ausreichend
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 144
qualifiziert und mit den medizinischen Gegebenheiten vertraut gewesen sei. Anhaltspunkte dafür, dass es an einer
hinreichenden Kontrolle gefehlt oder der Beklagte konkreten Anlass zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit des
Stationsarztes gehabt habe oder hätte haben müssen, seien nicht erkennbar.
II.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten den Angriffen der Revision nicht stand. Auf der Grundlage der
getroffenen Feststellungen kann eine Haftung des Beklagten nicht mit der Begründung verneint werden, ein etwaiger
Aufklärungsfehler sei ihm nicht zurechenbar. Das verkennt die von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze zur
ärztlichen Zusammenarbeit.
1. Im Ansatz zutreffend nimmt das Berufungsgericht allerdings an, dass ein Arzt grundsätzlich für alle den
Gesundheitszustand des Patienten betreffenden nachteiligen Folgen haftet, wenn der ärztliche Eingriff nicht durch eine
wirksame Einwilligung des Patienten gedeckt und damit rechtswidrig ist. Indessen setzt eine wirksame Einwilligung des
Patienten dessen ordnungsgemäße Aufklärung voraus. Diese kann nicht durch die irrige Annahme des Operateurs, der
Patient sei ordnungsgemäß aufgeklärt worden, ersetzt werden. Auch dann, wenn der behandelnde Arzt irrig von einer
ordnungsgemäßen Aufklärung und damit irrig von einer wirksamen Einwilligung des Patienten ausgeht, bleibt die
Behandlung insgesamt rechtswidrig. Jeder behandelnde Arzt ist verpflichtet, den Patienten hinsichtlich der von ihm
übernommenen Behandlungsaufgabe aufzuklären. Die Erfüllung dieser Aufklärungspflicht kann er zwar einem anderen
Arzt übertragen, den dann die Haftung für Aufklärungsversäumnisse in erster Linie trifft (Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 10. Aufl., Rn. 424
f.). Jedoch
entlastet das den behandelnden Arzt nicht von der vertraglichen (§ 278 BGB) und nicht ohne weiteres von der deliktischen (§
831 Abs. 1 Satz 2 BGB) Haftung.
Wenn der behandelnde Arzt entschuldbar eine wirksame Einwilligung des Patienten angenommen hat, kann zwar
seine Haftung für nachteilige Folgen der Behandlung nicht wegen fehlender Rechtswidrigkeit seines Verhaltens,
möglicherweise aber mangels Verschuldens entfallen (vgl. Senatsurteile vom 23. 09.1975 - VI ZR 232/73 - NJW 1976, 41, 42; vom 26. 05.1987 - VI ZR 157/86 - VersR
1987, 1133). Voraussetzung dafür ist, dass der Irrtum des Behandlers nicht auf Fahrlässigkeit (§ 276 Abs. 2 BGB) beruht. Diese wird
bei einer Übertragung der Aufklärung auf einen anderen Arzt nur dann zu verneinen sein, wenn der nicht selbst
aufklärende Arzt durch geeignete organisatorische Maßnahmen und Kontrollen sichergestellt hat, dass eine
ordnungsgemäße Aufklärung durch den damit betrauten Arzt gewährleistet ist.
2. Das Berufungsgericht verkennt die Bedeutung und den Umfang der bei einer ärztlichen Arbeitsteilung bestehenden
Kontroll- und Überwachungspflichten. Seine Auffassung, eine Haftung des die Aufklärung delegierenden Operateurs für
Aufklärungsfehler komme nur dann in Betracht, wenn es zum einen an einer hinreichenden Kontrolle fehle und der
Operateur zum anderen konkreten Anlass zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit des Stationsarztes hatte oder hätte haben
müssen, berücksichtigt nicht in ausreichendem Maße die im Streitfall erfolgte Form der ärztlichen Zusammenarbeit
zwischen Operateur und aufklärendem Arzt. Das Berufungsgericht stellt allein darauf ab, dass der Operateur, wie der
Stationsarzt Dr. S. als Zeuge bekundet habe, vor einem Eingriff üblicherweise die Behandlungsunterlagen durchsehe
und sich auf diese Weise über das Vorliegen einer schriftlichen Einwilligung mit entsprechenden Hinweisen über die mit
dem Eingriff verbundenen Risiken vergewissere; zudem habe
wegen der zehnjährigen besonders im Aufklärungsbereich beanstandungsfreien Zusammenarbeit zwischen dem
Beklagten und dem Zeugen Dr. S. kein Anhaltspunkt dafür vorgelegen, an dessen Zuverlässigkeit zu zweifeln. An die
Kontrollpflicht des behandelnden Arztes, der einem anderen Arzt die Aufklärung überträgt, sind strenge Anforderungen
zu stellen. Da dem behandelnden Arzt die Aufklärung des Patienten als eigene ärztliche Aufgabe obliegt, die darauf
gerichtet ist, die Einwilligung des Patienten als Voraussetzung einer rechtmäßigen Behandlung zu erlangen, muss er
bei Übertragung dieser Aufgabe auf einen anderen Arzt deren ordnungsgemäße Erfüllung sicherstellen und im
Arzthaftungsprozess darlegen, was er hierfür getan hat. Dazu gehört die Angabe, ob er sich etwa in einem Gespräch
mit dem Patienten über dessen ordnungsgemäße Aufklärung und/oder durch einen Blick in die Krankenakte vom
Vorhandensein einer von Patient und aufklärendem Arzt unterzeichneten Einverständniserklärung vergewissert hat,
dass eine für einen medizinischen Laien verständliche Aufklärung unter Hinweis auf die spezifischen Risiken des
vorgesehenen Eingriffs erfolgt ist.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 145
3. Dies muss erst recht gelten, wenn der Operateur als Chefarzt Vorgesetzter des aufklärenden Arztes und diesem
gegenüber überwachungspflichtig und weisungsberechtigt ist. Zu den Pflichten eines Chefarztes gehört es nämlich, für
eine ordnungsgemäße Aufklärung der Patienten seiner Klinik zu sorgen (Senatsurteile BGHZ 116, 379, 386 und vom 14. 07.1957 - VI ZR 45/54 - VersR
1954, 496, 497; Senatsbeschluss vom 29. 01.1985 - VI ZR 92/84 - VersR 1985, 598, 599; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 5. Aufl., Rn. 108 f., Steffen/Pauge, aaO, Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 3. Aufl.,
. Hat er im Rahmen seiner Organisationspflicht die Aufklärung einem nachgeordneten Arzt übertragen, darf er sich
auf deren ordnungsgemäße Durchführung und insbesondere die Vollständigkeit der Aufklärung nur dann verlassen,
wenn er hierfür ausreichende Anweisungen erteilt hat, die er gegebenenfalls im Arzthaftungsprozess darlegen muss.
Dazu gehört zum einen die Angabe, welche Maßnahmen organisatorischer Art er getroffen hat, um eine
ordnungsgemäße Aufklärung durch den nichtoperierenden Arzt sicherzustellen, und zum anderen die Darlegung, ob
und gegebenenfalls welche Maßnahmen er ergriffen hat, um die ordnungsgemäße Umsetzung der von ihm erteilten
Aufklärungsanweisungen zu überwachen.
Rn. 196)
Im Streitfall fehlt es an Feststellungen des Berufungsgerichts zu Umständen, die für den Beklagten einen solchen
Vertrauensschutz begründen könnten. Das Berufungsgericht führt nicht aus, welche Organisationsanweisungen zur
Aufklärung erteilt worden sind (vgl. OLG Bamberg, VersR 1998, 1025, 1026 mit NABeschluss des Senats vom 3. 02.1998 - VI ZR 226/97; OLG Celle, AHRS 0920/8 mit NABeschluss des
Senats vom 11. 12.1984 - VI ZR 132/83). Es finden sich auch keine Feststellungen dazu, in welcher Form deren Einhaltung überwacht
worden ist. Das Berufungsgericht hätte zudem berücksichtigen müssen, dass es sich bei dem Eingriff nach der
Aussage des Stationsarztes Dr. S. um eine sehr seltene, vom Zeugen selbst - trotz langjähriger Berufserfahrung - noch
nie durchgeführte Operation handelte, über deren Risiken dieser sich durch ein Studium der Fachliteratur informieren
musste. Ob für solch seltene Operationen stets eine ausdrückliche Organisationsanweisung zur Aufklärung bestehen
muss, kann offen bleiben; ist die Operation mit besonderen Risiken verbunden, wäre die Regelung der
Aufklärungspflicht durch eine allgemeine Organisationsanweisung, die hierauf keine Rücksicht nimmt, jedenfalls nicht
ausreichend. Zwar mag es nicht grundsätzlich geboten sein, dass bei schwierigen und seltenen Eingriffen die
Risikoaufklärung nur von dem Operateur selbst vorgenommen wird (vgl. aber Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 66 Rn. 1), doch
ist es erforderlich, dass für solche Eingriffe entweder eine spezielle Aufklärungsanweisung existiert oder jedenfalls
gewährleistet ist, dass sich der Operateur auf andere Weise wie z. B. in einem
Vorgespräch mit dem aufklärenden Arzt vergewissert, dass dieser den Eingriff in seiner Gesamtheit erfasst hat und
dem Patienten die erforderlichen Entscheidungshilfen im Rahmen der Aufklärung geben kann (vgl. OLG Bamberg, aaO). Nur
wenn eine solchermaßen zureichende Organisation der Aufklärung sichergestellt ist und überwacht wird, darf sich der
Chefarzt darauf verlassen, dass der aufklärende Arzt sich an die allgemein oder im Einzelgespräch erteilten
Organisationsanweisungen hält.
4. Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, die fehlenden Feststellungen zur Organisation der
Aufklärung in der von dem Beklagten geleiteten Klinik nachzuholen. Dabei werden - worauf die Revisionserwiderung zu
Recht hinweist - auch der Inhalt der Zeugenaussage des Stationsarztes Dr. S. zu berücksichtigen und
erforderlichenfalls auch Feststellungen
zum Umfang der erforderlichen Aufklärung sowie zur hypothetischen Einwilligung der Klägerin zu treffen sein.
Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll
Vorinst.:LG Itzehoe, Entscheidung vom 22.09.2004 - 2 O 290/02 OLG Schleswig, Entscheidung vom 02.09.2005 - 4 U 185/04 –
BGH VI ZR 74/05 vom 10. 10.2006
Thöns
a) Minderjährigen Patienten kann bei einem nur relativ indizierten Eingriff mit der Möglichkeit erheblicher
Folgen für ihre künftige Lebensgestaltung ein Vetorecht gegen die Einwilligung durch die gesetzlichen
Vertreter zustehen, wenn sie über eine ausreichende Urteilsfähigkeit verfügen. b) Auch über ein gegenüber
dem Hauptrisiko des Eingriffs weniger schweres Risiko ist aufzuklären, wenn dieses dem Eingriff spezifisch
anhaftet, es für den Laien überraschend ist und durch die Verwirklichung des Risikos die Lebensführung des
Patienten schwer belastet würde. c) Im Hinblick auf den Beginn der Verjährungsfrist gemäß § 852 BGB a. F.
besteht keine Verpflichtung des Patienten, sich Kenntnisse über fachspezifisch medizinische Fragen zu
verschaffen. Der Patient obsiegte gegenüber dem Arzt
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BGB §§ 823 Abs. 1 Aa; 852 a. F. BGH, Urteil vom 10. 10.2006 - VI ZR 74/05 - OLG München LG München I
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 10. 10.2006 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller, die Richter Dr. Greiner und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Zoll für
Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 24. 03.2005
aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das
Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Schmerzensgeld wegen unzureichender Aufklärung über die Risiken einer Operation, aufgrund
der sie neben anderen Folgen querschnittgelähmt ist. Der Beklagte war Oberarzt in der orthopädischen Abteilung der
Klinik, in welcher die Operation durchgeführt wurde. Träger der Klinik ist der Streithelfer.
Die am 16. 08.1976 geborene Klägerin litt ab dem 13. Lebensjahr an einer Adoleszenzskoliose. Nachdem sich
konservative Maßnahmen als nicht wirksam gegen die fortschreitende Verkrümmung erwiesen hatten, schlug der
Beklagte im Jahr 1990 den Eltern der Klägerin vor, durch eine Operation die Missbildung zu korrigieren. Am 25.
09.1990 wurde ein Aufklärungsgespräch über Vorgehensweise und Risiken bei der Operation durch Frau Dr. S. mit den
Eltern der Klägerin in deren Beisein geführt. Die Operation musste verschoben werden, weil die Klägerin an starker
Akne an den von der Operation betroffenen Hautstellen litt. Am 12. 01.1991 führte Dr. Dr. T. ein weiteres
Aufklärungsgespräch. Die Operation wurde wiederum aufgeschoben, weil eine Eigenblutspende versäumt worden war.
Die Eltern der damals 14jährigen Klägerin unterzeichneten nach dem jeweiligen Aufklärungsgespräch einen Vordruck
mit einer Einwilligungserklärung. In den Vordruck ist handschriftlich eingefügt: "u. a. Infektion, Gefäß,
Nervenverletzung, Querschnitt; Eigenblut, Retransfusion, nur im Notfall Fremdblut". Von 1990 bis zur Operation war die
Klägerin in ständiger Behandlung in der klinischen Ambulanz. Anlässlich der Behandlungstermine wurden auch
Gespräche von den behandelnden Ärzten mit der Mutter der Klägerin über Risiken und Erfolgsaussichten der
anstehenden Operation geführt. Die Risiken einer Falschgelenkbildung (Pseudarthrose) und des operativen Zugangs
(Verwachsungen im Brustraum und Rippeninstabilitäten) wurden auch nicht bei dem Aufklärungsgespräch angesprochen, das der Beklagte am
18. 02.1992, dem Vortag der Operation, führte. Dabei unterschrieb neben ihren Eltern auch die Klägerin die
Einverständniserklärung. Der Vordruck ist durch folgende handschriftliche Eintragungen ergänzt:
"Komplikationsmöglichkeiten: Neurologische Ausfälle, Infektionen, Blutungen, Thrombosen, Embolien". Bei der
Operation am 19. 02.1992 kam es zu einer Einblutung in den Rückenmarkskanal, die zur Querschnittlähmung der
Klägerin führte. In der Folgezeit entwickelten sich neben anderen Beschwerden auch Verwachsungen im Brustraum,
Falschgelenkbildungen und Rippeninstabilitäten.
Die Klägerin macht, nachdem sie erfolglos versucht hat, den operierenden Arzt wegen eines Behandlungsfehlers in
Anspruch zu nehmen, gegen den Beklagten Schadensersatzansprüche wegen unzureichender Aufklärung am 18.
02.1992 geltend. Sie ist der Auffassung, die Aufklärung sei schon deshalb unwirksam, weil Aufklärungsadressaten ihre
Eltern und nicht sie selbst gewesen seien, obwohl sie am 18. 02.1992 bereits die sittliche Reife und das erforderliche
Verständnis für die Risiken der Operation gehabt habe. Außerdem sei die Aufklärung am 18. 02.1992 zu spät erfolgt
und von ihrem Inhalt her unzureichend gewesen. Die beiden vorhergehenden Aufklärungsgespräche könnten wegen
des zeitlichen Abstands nicht in die Beurteilung miteinbezogen werden. Der Beklagte habe Alternativen zum Eingriff
und dessen Dringlichkeit nicht angesprochen. Auch sei das Risiko der Querschnittlähmung verharmlost worden. Über
die Möglichkeit des Materialbruches und der Bildung von Verwachsungen im Brustraum, von Falschgelenken und
Rippeninstabilitäten sei nicht aufgeklärt worden. Bei Kenntnis dieser Risiken wäre in die Operation nicht eingewilligt
worden. Der Anspruch gegen den Beklagten sei nicht verjährt, da die Klägerin erst durch das Gutachten des
Sachverständigen Prof. Dr. P. im 06.1997 erfahren habe, dass die Aufklärung unzureichend gewesen sei.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 147
Der Beklagte wendet dagegen ein, dass, selbst wenn eine unzureichende Aufklärung unterstellt würde, die Eltern der
Klägerin jedenfalls auch bei Kenntnis aller Risiken in eine Operation eingewilligt hätten. Immerhin seien sie das ihnen
genannte Risiko einer Querschnittlähmung eingegangen. Die Ansprüche seien außerdem verjährt.
Die Klage blieb in den Vorinstanzen erfolglos. Die Klägerin verfolgt mit der vom Senat zugelassenen Revision ihren
Anspruch weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
In Übereinstimmung mit dem Landgericht ist das Berufungsgericht der Auffassung, dass die Eltern der Klägerin in die
Operation wirksam eingewilligt hätten. Jedenfalls seien die Ansprüche der Klägerin verjährt. Zuständige
Aufklärungsadressaten seien wegen der Minderjährigkeit der zur Zeit der Operation erst 15 ½ Jahre alten Klägerin
deren Eltern als gesetzliche Vertreter gewesen. Die Aufklärung sei umfassend und rechtzeitig erfolgt, da die
Aufklärungsgespräche vom 25. 09.1990, 12. 01.1991 und 18. 02.1992 in einer Zusammenschau zu beurteilen seien.
Die Operation habe nach dem ersten Aufklärungsgespräch bis zu ihrer Durchführung stets im Raume gestanden.
Inhaltlich sei ausreichend über Durchführungsweise und Erfolgsaussichten der relativ indizierten Operation aufgeklärt
worden. Den Eltern der Klägerin sei in verschiedenen Gesprächen von den Ärzten ausreichend verdeutlicht worden,
dass das Risiko einer Querschnittlähmung bestehe, wenn dieses auch - wie es den Tatsachen entspreche - äußerst
gering sei. Über die Risiken der Falschgelenkbildung und des operativen Zugangs sei zwar nicht aufgeklärt worden,
doch habe es das Landgericht zutreffend als unter keinem Gesichtspunkt plausibel angesehen, dass die Eltern der
Klägerin, die nach Aufklärung über das Querschnittrisiko in die Operation eingewilligt hätten, sich bei Kenntnis eines
Risikos, das demgegenüber in seiner Schwere nicht wesentlich ins Gewicht falle, in einem ernsthaften
Entscheidungskonflikt befunden hätten. Bei Erhebung der Klage mit Klageschrift vom 11. 05.2000 sei die dreijährige
Verjährungsfrist längst abgelaufen gewesen, weil die Eltern der Klägerin bereits 1992/1993 die erforderliche Kenntnis
im Sinne von § 852 Abs. 1 BGB a. F. von den geltend gemachten Aufklärungsversäumnissen gehabt hätten.
II.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. a) Nicht zu beanstanden ist allerdings die Auffassung des Berufungsgerichts, dass unter den tatsächlichen
Umständen des Streitfalls die Aufklärungsgespräche mit den Eltern der damals minderjährigen Klägerin zu führen
waren. Zwar kann minderjährigen Patienten bei einem nur relativ indizierten Eingriff mit der Möglichkeit erheblicher
Folgen für ihre künftige Lebensgestaltung - wovon im Streitfall auszugehen ist - ein Vetorecht gegen die
Fremdbestimmung durch die gesetzlichen Vertreter zuzubilligen sein, wenn sie über eine ausreichende Urteilsfähigkeit
verfügen. Um von diesem Vetorecht Gebrauch machen zu können, sind auch minderjährige Patienten entsprechend
aufzuklären, wobei allerdings der Arzt im Allgemeinen darauf vertrauen kann, dass die Aufklärung und Einwilligung der
Eltern genügt(vgl. Senatsurteile vom 22. 06.1971 - VI ZR 230/69 - VersR 1971, 929 f. und vom 16. 04.1991 - VI ZR 176/90 - VersR 1991, 812, 813; Geiß/Greiner Arzthaftpflichtrecht 5. Aufl. Rn. C
115; Steffen/Pauge Arzthaftungsrecht 10. Aufl. Rn. 432; differenzierend Wölk MedR 2001, 80, 83 ff.). Es kann dahinstehen, ob die Klägerin 1992 bereits über eine
ausreichende Urteilsfähigkeit verfügte, denn nach den insoweit nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des
Berufungsgerichts wurde dem Selbstbestimmungsrecht der Klägerin hinreichend Rechnung getragen. Sie war bei den
einzelnen Aufklärungsgesprächen anwesend und hat durch ihre Unterschrift unter die Einwilligungserklärung vom 18.
02.1992 bekundet, dass sie mit dem Eingriff einverstanden sei.
b) Keine Bedenken bestehen auch gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, dass der Vater, soweit er bei den
zwischen der Mutter der Klägerin und den Ärzten geführten Gesprächen nicht anwesend war, ausreichend informiert
worden ist, weil ihm von der Mutter die erhaltenen Informationen mitgeteilt und mit ihm besprochen worden sind. Bei
den maßgebenden Aufklärungsgesprächen waren außerdem beide Elternteile anwesend, da die jeweiligen
Einwilligungserklärungen von beiden Elternteilen unterzeichnet worden sind.
c) Schließlich ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht unter den Umständen des Streitfalls die Aufklärung
für rechtzeitig hielt. Zwar wäre das Aufklärungsgespräch am Vortag der risikoreichen und umfangreichen Operation
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 148
zweifellos verspätet gewesen, wenn die früheren Aufklärungsgespräche nicht einzubeziehen wären (vgl. zur rechtzeitigen Aufklärung
etwa Senatsurteil vom 25. 03.2003 - VI ZR 131/02 - VersR 2003, 1441 ff. m. w. N.). Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats hängt die
Wirksamkeit der Einwilligung davon ab, ob unter den jeweils gegebenen Umständen der Patient ausreichend
Gelegenheit hat, sich innerlich frei zu entscheiden. Je nach den Vorkenntnissen des Patienten von dem
bevorstehenden Eingriff kann bei stationärer Behandlung eine Aufklärung im Verlauf des Vortages genügen, wenn sie
zu einem Zeitpunkt erfolgt, der dem Patienten die Wahrung seines Selbstbestimmungsrechts erlaubt (vgl. Senatsurteil vom 17.
03.1998 - VI ZR 74/97 - VersR 1998, 766, 767). Es bestehen keine Bedenken dagegen, dass das Berufungsgericht die drei
Aufklärungsgespräche in einem zeitlichen Zusammenhang gesehen hat. Nachdem die Eltern der Klägerin bereits in
zwei Gesprächen am 25. 09.1990 und 12. 01.1991 über Risiken der Operation informiert worden waren und die
Operation seit 1990 stets im Raume stand, erfolgte die abschließende Aufklärung am 18. 02.1992 zwar noch
rechtzeitig, doch ist sie inhaltlich unzureichend.
Thöns
d) Soweit die Revision allerdings die Ausführungen des Berufungsgerichts zur hinreichenden Aufklärung über das
Querschnittrisiko, die Möglichkeit des Materialbruchs und die eingeschränkten Erfolgsaussichten des Eingriffs in
Zweifel zieht, begibt sie sich unter den Umständen des Streitfalls auf das ihr verschlossene Gebiet der
Tatsachenwürdigung und setzt ihre eigene Beurteilung an die Stelle derjenigen des Berufungsgerichts. Aus
Rechtsgründen bestehen insoweit keine Bedenken gegen dessen Ausführungen.
e) Doch ist die Aufklärung deshalb inhaltlich unvollständig, weil die Risiken der Falschgelenkbildung und des operativen
Zugangswegs von vorne durch die Brust in den Aufklärungsgesprächen nicht erörtert worden sind. Gegenstand der
Risikoaufklärung sind generell alle behandlungstypischen Risiken, deren Kenntnis beim Laien nicht vorausgesetzt
werden kann, die aber für die Entscheidung des Patienten über die Zustimmung zur Behandlung ernsthaft ins Gewicht
fallen (Geiß/Greiner aaO, Rn. C 49). Auch über ein gegenüber dem Hauptrisiko weniger schweres Risiko ist deshalb aufzuklären,
wenn dieses dem Eingriff spezifisch anhaftet, es für den Laien überraschend ist und durch die Verwirklichung des
Risikos die Lebensführung des Patienten schwer belastet würde (BGH BGHZ 126, 386, 389; Senat, Urteil vom 12. 12.1989 - VI ZR 83/89 - VersR 1990, 522,
523). Nach den tatsächlichen Feststellungen im Berufungsurteil handelt es sich bei den in Rede stehenden Risiken um
operationsspezifische Komplikationen, die sich tatsächlich verwirklicht haben und das Leben der Klägerin nachhaltig
beeinträchtigen. Zutreffend ist deshalb der Ansatz des Berufungsgerichts, dass auch diese Risiken im Rahmen der
Aufklärung anzusprechen waren, obwohl über das schwerere Risiko der Querschnittlähmung aufgeklärt worden ist. Der
Hinweis auf das Risiko der Querschnittlähmung, das überdies von den beteiligten Ärzten als äußerst gering dargestellt
worden war, vermochte kein realistisches Bild davon zu vermitteln, welche sonstigen Folgen die Verwirklichung der
weiteren Risiken der Operation für die künftige Lebensgestaltung der Klägerin mit sich bringen konnte. Bei dieser
Sachlage führt die fehlerhafte Aufklärung grundsätzlich zur Haftung des Beklagten für die Folgen des ohne wirksame
Einwilligung durchgeführten Eingriffs.
f) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts fehlt nicht das für die Haftung erforderliche Verschulden des
Beklagten. Soweit der Streithelfer meint, der Beklagte sei vor dem Aufklärungsgespräch am 18. 02.1992 nicht mit dem
Fall der Klägerin befasst gewesen, ist dies in tatsächlicher Hinsicht unzutreffend, weil der Beklagte nach den von den
Beteiligten nicht in Zweifel gezogenen tatsächlichen Feststellungen bereits 1990 den Eltern der Klägerin die Operation
vorschlug. Der Arzt, der seinem Patienten zur Operation rät und ihn über Art und Umfang sowie mögliche Risiken
dieser Operation aufklärt, begründet dadurch eine Garantenstellung gegenüber dem sich ihm anvertrauenden
Patienten (vgl. Senatsurteil vom 22. 04.1980 - VI ZR 37/79 - VersR 1981, 456, 457). Durch die Übernahme der ärztlichen Aufklärung vor der Operation
ist er dafür verantwortlich, dass die Einwilligung des Patienten in die Operation wirksam ist. Davon geht auch das
Berufungsgericht aus. Jedoch durfte sich der Beklagte im Hinblick auf den Inhalt der Dokumentation zur Aufklärung
nicht ohne weiteres darauf verlassen, dass in den beiden vorangegangenen Aufklärungsgesprächen eine ausreichende
Risikoaufklärung erfolgt sei. Da die Risiken der Pseudarthrose und des operativen Zugangsweges ersichtlich nicht
angesprochen worden waren, oblag es dem Beklagten, die Aufklärung hinreichend zu vervollständigen und zu diesem
Zweck sich vor dem abschließenden Aufklärungsgespräch am Tag vor der Operation durch einen Einblick in die
Behandlungsunterlagen zu vergewissern, inwieweit bereits aufgeklärt worden war. Dass er dies unterlassen hat,
obwohl er den Mangel hätte erkennen können, begründet einen Verschuldensvorwurf hinsichtlich der Aufklärung.
2. Zu Recht rügt die Revision, die Auffassung des Berufungsgerichts, die Eltern hätten die Einwilligung in die Operation
auch bei gehöriger Aufklärung über diese Risiken erteilt, beruhe auf verfahrensfehlerhaften tatsächlichen
Feststellungen (§ 286 Abs. 1 ZPO). Die Haftung durfte auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen im Streitfall nicht
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 149
deshalb verneint werden, weil ein Entscheidungskonflikt der Eltern der Klägerin nicht plausibel, sondern vielmehr
anzunehmen sei, dass die Einwilligung auch bei Kenntnis der unerwähnt gebliebenen Risiken erteilt worden wäre.
a) Entgegen der Auffassung der Revision haben sich der Beklagte und der Streithelfer bereits in erster Instanz auf eine
hypothetische Einwilligung der Eltern der Klägerin berufen. Dem Berufungsgericht war es folglich nicht versagt, diese
Frage zu prüfen (vgl. Senatsurteile vom 17. 03.1998 - VI ZR 74/97 - VersR 1998, 766, 767 und vom 14. 06.1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302).
b) Der Verpflichtung, plausibel darzulegen, weshalb aus ihrer Sicht bei Kenntnis der aufklärungspflichtigen Umstände
ihre Eltern vor einem Entscheidungskonflikt gestanden hätten, ob sie den ihnen empfohlenen Eingriff gleichwohl
ablehnen sollten (vgl. Senat BGHZ 90, 103, 111 ff.; Urteile vom 1. 02.2005 - VI ZR 174/03 - VersR 2005, 694 und vom 26. 06.1990 - VI ZR 289/89 - VersR 1990, 1238, 1239), ist die
Klägerin - entgegen der Auffassung des Streithelfers - hinreichend nachgekommen. Bereits in der Klageschrift hat sie
vorgetragen, dass sie vor der Operation nicht unter Leidensdruck gestanden habe und alle altersüblichen Sportarten
habe ausüben können. Bei Kenntnis der Operationsrisiken hätte sie eine Einwilligung hierzu nicht erteilt. Es wäre in
jedem Fall ihre Volljährigkeit abgewartet worden, damit sie die Entscheidung selbst hätte treffen können. Zum Beweis
für diesen Vortrag hat die Klägerin ihre Eltern als Zeugen angeboten. Auch in der Berufungsbegründung vom 19.
04.2004 hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass wegen ihres Befindens eine Operation weder nötig noch dringend
gewesen sei. Sie habe keine Beschwerden gehabt, sei leistungsmäßig nicht eingeschränkt gewesen, habe nicht über
Schmerzen geklagt, am Turnunterricht teilgenommen und intensiv Reit- und Fahrsport mit Pferden betrieben. Die
Operation sei zwei Mal verschoben worden, einem weiteren Aufschub hätte nichts entgegengestanden. Diese
Ausführungen genügen den Anforderungen, die der erkennende Senat an die Substantiierung der Plausibilität des
Entscheidungskonflikts durch den Patienten stellt (vgl. Senat BGHZ 90, 103, 111 ff.). xxxxxxx
c) Bei dieser Sachlage durfte das Berufungsgericht nicht ohne die im Hinblick auf ihr Vetorecht gebotene persönliche
Anhörung der Klägerin und ohne die Vernehmung der Eltern als Zeugen zu dem Ergebnis gelangen, dass die
Voraussetzungen für eine hypothetische Einwilligung (vgl. dazu etwa Senatsurteil vom 14. 06.1994 - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302 f. und vom 1. 02.2005 - VI ZR
174/03 - VersR 2005, 694) vorliegen. Dabei hat es in unzulässiger Weise seine eigene Beurteilung des Konflikts an die Stelle
derjenigen der Klägerin und ihrer Eltern gesetzt, ohne sich ein eigenes Bild durch deren Vernehmung als Zeugen bzw.
die persönliche Anhörung der Klägerin zu verschaffen.
Die Revision rügt zu Recht, dass das Landgericht, auf dessen Urteil das Berufungsgericht insoweit Bezug nimmt, die
Klägerin und ihre Eltern nicht zu dem hier in Rede stehenden Entscheidungskonflikt gehört hat. Bei der Anhörung vor
dem Landgericht ging es um die Einwilligung in das Querschnittrisiko und nicht um die Risiken der Pseudarthrose und
des operativen Zugangswegs. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts lässt sich aus der Tatsache,
dass die Eltern der Klägerin in das Risiko einer Querschnittlähmung eingewilligt haben, nicht schließen, die Aufklärung
über die hier in Rede stehenden weniger schweren Risiken hätte keinen Einfluss auf die Einwilligung in die Operation
gehabt. Es kann nicht außer Acht gelassen werden, dass nach den insoweit revisionsrechtlich nicht zu
beanstandenden Feststellungen des Berufungsgerichts in verschiedenen Gesprächen vor der Operation das Risiko der
Querschnittlähmung als äußerst gering dargestellt worden ist. Im Hinblick darauf konnte der Eindruck entstanden sein,
dass dieses Risiko zu vernachlässigen sei. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die Operation ohnehin nur einen
Teilerfolg erwarten ließ und deswegen selbst bei geglückter Operation nicht mit völliger Beschwerdefreiheit gerechnet
werden konnte. Hingegen waren bei Verwirklichung der unerwähnt gebliebenen Risiken erhebliche weitere
Belastungen für die Lebensführung der noch jugendlichen Klägerin gegeben. Nach den bisherigen Feststellungen des
Berufungsgerichts ist danach nicht auszuschließen, dass die Eltern der Klägerin bei Kenntnis der möglichen Folgen,
die mit der konkreten Operationstechnik verbunden waren, Bedenken bekommen und von dem Eingriff Abstand
genommen hätten, um Zeit zu gewinnen und sich in Ruhe über ihre Einwilligung in den Eingriff schlüssig zu werden
oder um ihn bis zur Volljährigkeit der Klägerin aufzuschieben.
Hätte die gebotene Aufklärung zur Versagung der Einwilligung und infolgedessen zur Vermeidung der Operation
geführt, hat der Beklagte grundsätzlich für deren sämtliche Folgen einzustehen (vgl. Senatsurteil vom 30. 01.2001 - VI ZR 353/99 - VersR 2001,
592).
3. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sind die im Streit befindlichen Ansprüche der Klägerin nicht
verjährt.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 150
a) Zu Recht geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, dass für die nach § 852 Abs. 1 BGB a. F. für den Lauf der
Verjährung deliktischer Ansprüche erforderliche Kenntnis von Schädigungshandlung und Schädigung nicht auf das
Wissen der minderjährigen Klägerin, sondern auf die Kenntnis ihrer Eltern als ihrer gesetzlichen Vertreter abzustellen
ist, denn auf deren Wissensstand kommt es an, solange der Geschädigte beschränkt geschäftsfähig oder
geschäftsunfähig ist (vgl. Senatsurteil vom 16. 05.1989 - VI ZR 251/88 - NJW 1989, 2323 m. w. N.). Auch hat es mit Recht den Kenntnisstand der
Rechtsanwälte, die die Eltern der Klägerin mit der Ermittlung und Geltendmachung der Ansprüche beauftragt hatten, in
die Prüfung miteinbezogen. Nach den Grundsätzen, die die Rechtsprechung unter Heranziehung des
Rechtsgedankens des § 166 Abs. 1 BGB zum so genannten Wissensvertreter entwickelt hat, muss sich derjenige, der
einen anderen mit der Erledigung bestimmter Angelegenheiten in eigener Verantwortung betraut, das in diesem
Rahmen erlangte Wissen des anderen zurechnen lassen; dies gilt insbesondere dann, wenn der Geschädigte bzw.
dessen gesetzlicher Vertreter einen Rechtsanwalt mit der Aufklärung eines Sachverhalts beauftragt hat (vgl. BGHZ 83, 293, 296;
Senat, Urteile vom 19. 03.1985 - VI ZR 190/83 - VersR 1985, 735 f. und vom 16. 05.1989 - VI ZR 251/88 - aaO).
b) Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen jedoch die Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht
annimmt, die für den Verjährungsbeginn maßgebende Kenntnis der Eltern der Klägerin im Sinne des § 852 Abs. 1 BGB
a. F. sei bereits seit 1992/1993 gegeben.
Zwar geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, dass bei Schadensersatzansprüchen wegen
Aufklärungsmängeln die Verjährung in der Regel nicht schon beginnt, sobald der nicht aufgeklärte Patient einen
Schaden aufgrund der medizinischen Behandlung feststellt. Hinzutreten muss vielmehr
(1)
auch die Kenntnis, dass der Schaden nicht auf einem Behandlungsfehler beruht, sondern eine spezifische
Komplikation der medizinischen Behandlung ist, über die der Patient - was dem behandelnden Arzt bekannt sein
musste - hätte aufgeklärt werden müssen (vgl. Senatsurteil vom 10. 04.1990 - VI ZR 288/89 - VersR 1990, 795). Auch ist zutreffend, dass die
Vorschrift des § 852 BGB a. F. für den Beginn der Verjährungsfrist nur auf die Kenntnis der anspruchsbegründenden
Tatsachen abstellt, nicht jedoch auf deren zutreffende rechtliche Würdigung. Fehlen dem Geschädigten die hierfür
erforderlichen Kenntnisse, muss er versuchen, sich insoweit rechtskundig zu machen (vgl. Senatsurteil vom 20. 09.1983 - VI ZR 35/82 - VersR
1983, 1158, 1159).
Soweit aber das Berufungsgericht im Streitfall eine Erkundigungspflicht der klagenden Partei annimmt, kann diese
sich nicht auf die fachspezifisch medizinische Frage beziehen, inwieweit eine Aufklärung zu erfolgen hatte. Der Patient
und sein Prozessbevollmächtigter sind nämlich nicht verpflichtet, sich im Hinblick auf einen Haftungsprozess
medizinisches Fachwissen anzueignen (vgl. Senat, BGHZ 159, 245, 254). Da die erteilte Aufklärung insoweit erhebliche Lücken
aufwies (oben 1 e), hat die Klägerin erst mit Zugang des Gutachtens des Prof. Dr. P. im 06.1997 davon Kenntnis erlangt,
dass es sich bei den eingetretenen Komplikationen der Pseudarthrose und des operativen Zugangswegs, über die
nicht aufgeklärt worden ist, nicht um die Folgen eines Operationsfehlers oder schicksalhafte Zufälle handelt, sondern
um Risiken, die dem Eingriff spezifisch anhaften und über die deshalb hätte aufgeklärt werden müssen. Danach greift
die Verjährungseinrede im Streitfall nicht.
(2)
III.
Das Berufungsurteil ist nach alledem aufzuheben und die Sache zur Klärung der Frage des Entscheidungskonflikts an
das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Müller Greiner Wellner
Diederichsen Zoll
Vorinst.:LG München I, Entscheidung vom 11.02.2004 - 9 O 8807/00 OLG München, Entscheidung vom 24.03.2005 - 1 U 2427/04 -
5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29.06.2006
Verurteilung des behandelnden Narkosearztes, weil er einen akuten Herzinfarkt im Voruntersuchungs-EKG
nicht beachtete.
Thöns
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 151
...
für Recht erkannt
Die Berufungen der Beklagten gegen das am 7. 12.2005 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Mainz
werden auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagten können die Zwangsvollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu
vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Entscheidunqsgründe
1. Die Klägerin ist die Witwe des D... L..., der am 23. 04.1996 nach einer Operation in der Klinik G... verstarb.
Sie macht Ersatzansprüche geltend und begehrt die Feststellung der Verpflichtung zur Zahlung weiteren
Unterhaltsschadens.
Die Beklagte zu 1) war die verantwortliche Anästhesistin, der Beklagte zu 2) führte die Operation durch.
Am 18. 04.1996 begab sich D... L..., der bereits im 02.1996 an der Halswirbelsäule operiert worden war, wegen
Beschwerden in die Klinik in G.... Man diagnostizierte einen Bandscheibenvorfall zwischen dem 4. und 5. Halswirbel.
In dem Aufklärungs- und Anamnesebogen gab der Verstorbene eine Herzerkrankung nicht an, obwohl bereits 1995 das
Anfangsstadium einer coronaren Herzerkrankung festzustellen war.
Ihm war aufgegeben worden, er solle zum Hausarzt gehen; dieser solle ein EKG und Laboruntersuchungen
vornehmen. Die Ergebnisse solle er mitbringen. So geschah es.
Kurze Zeit nach der Operation verstarb D... L....
Die Klägerin hat geltend gemacht:
Die Beklagten hätten ihre Pflicht zur Aufklärung über die Operationsrisiken verletzt. Die Beklagte zu 1) habe die
Beatmung im Wege der Intubation nicht fehlerfrei durchgeführt. Wegen der Koronarerkrankung habe die Narkose eine
unzumutbare Gefahr dargestellt. Das Herzleiden sei von den Beklagten verkannt worden. Die Klägerin hat beantragt,
1. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an sie 14.909,10 DM zzgl.
4% Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen;
2. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an sie eine monatliche Geld- rente in Höhe von 2.000 DM,
beginnend ab dem 23.2.2000 zu zahlen. Die Zahlungen haben monatlich im Voraus zu erfolgen;
3. die Beklagten zu verurteilen, gesamtschuldnerisch an sie einen Betrag von
94.000 DM zu zahlen zzgl. 4% Zinsen ab Rechtshängigkeit der Klage;
4. festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, ihr jeden weiteren über die Anträge
hinausgehenden Unterhaltsschaden aus dem Tod ihres Mannes am 23.4.1996 zu ersetzen.
Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen. Die Beklagte zu 1) hat vorgebracht:
Aus dem mitgebrachten EKG seien keine Veränderungen am Herzen erkennbar gewesen. Über die Risiken
derAnästhesie sei D... L.. zweimal aufgeklärt worden. Der Tubus sei in Ordnung gewesen und von Beginn bis zum
Ende der Narkose verblieben.
Der Beklagte zu 2) hat vorgetragen:
Seine neuroradiologischen Untersuchungen seien ausreichend gewesen. Die Einwilligung zur Operation habe
vorgelegen. Ein Neurochirurg habe mit der Beurteilung eines EKG nichts zu tun.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 152
Zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes erster Instanz wird auf die tatsächlichen Feststellungen im Urteil
des Landgerichts (BI. 629655 GA) Bezug genommen ( 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Das Landgericht hat eine umfangreiche Beweisaufnahme
durchgeführt (vgl. die Bezugnahmen 81. 639/640 GA). Es hat der Klage zum Teil stattgegeben unter Berücksichtigung eines häufigen
Mitverschuldens des Verstorbenen.
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Eine hinreichende Aufklärung sei durch beide Beklagte erfolgt. Dies ergebe sich aus dem Aufklärungs- und
Anamnesebogen sowie der Aussage des Zeugen 5 Die gestellte Diagnose sei richtig und die Operation dringend
notwendig gewesen.
Die Beatmung im Wege der Intubation sei nicht zu beanstanden. Die Beschwerden und das Erbrechen des D... L...
hätten nicht auf eine akute Koronarerkrankung schließen lassen.
Den Beklagten sei jedoch zur Last zu legen, dass sie dem mitgebrachten EKG zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt
hätten.
Zum Zeitpunkt der EKGAufzeichnung sei ein Herzinfarkt im Gange gewesen. Nach den Ausführungen des
Sachverständigen Prof. Dr. M... müsse eine Anästhesistin die krankhaften Veränderungen anhand des EKG erkennen.
Die Haftung treffe auch den Beklagten zu 2). Er sei behandelnder Arzt gewesen. Wenn dem Patienten aufgegeben
werde, bestimmte Unterlagen und Befunde mitzubringen, müsse der verantwortliche Operateur diese auch einsehen
und bewerten.
Da der Verstorbene nicht auf die Koronarerkrankung hingewiesen habe, sei ein hälftiges Mitverschulden den
gerechtfertigten Ansprüchen entgegenzusetzen.
Gegen die Entscheidung des Landgerichts richten sich die Berufungen der Beklagten, die eine vollständige Abweisung
der Klage begehren.
Die Beklagte zu 1) bringt im Kern vor
Mit der Heranziehung des Sachverständigen Prof Dr. M... habe das Landgericht gegen den Grundsatz verstoßen,
einen Sachverständigen der gleichen Fachrichtung auszuwählen. Nur das Gutachten des Anästhesisten Prof. Dr. D...
sei zu verwerten. Dieser sei zu dem eindeutigen Ergebnis gekommen, dass die Beklagte zu 1) bereits
auf Grund ihrer Ausbildung den Infarkt auf dem EKG nicht habe erkennen können.
Der Beklagte zu 2) bringt im Kern vor:
In Folge der „horizontalen Arbeitsteilung― sei es nicht seine Aufgabe gewesen, sich das EKG des Verstorbenen
anzusehen. Die Frage der Beurteilung des Gesundheitszustandes der zu operierenden Person obliege dem
Anästhesisten und die Durchführung einer ordnungsgemäßen Operation dem Chirurgen. Dies sei unter Beweis gestellt
worden durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Dem sei das Landgericht jedoch nicht nachgegangen.
Dem ist die Klägerin entgegengetreten.
Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und die beigezogenen
Strafakten Bezug genommen.
II. Die Rechtsmittel der Beklagten sind zulässig. Sie haben in der Sache aber keinen Erfolg.
Mit dem Landgericht ist davon auszugehen, dass beide Beklagten D... L... fehlerhaft behandelt haben.
Auf die ausführliche und zutreffende Begründung im angefochtenen Urteil wird vorab Bezug genommen.
Das Berufungsvorbringen rechtfertigt keine andere Beurteilung.
1. Haftung der Beklagten zu 1)
a) Das Landgericht folgt im Ergebnis der Beurteilung durch den Sachverständigen Prof. Dr. M... und verweist darauf,
der Sachverständige Prof. Dr. D... habe sich selbst darauf berufen, gemäß den in der Bundesrepublik Deutschland
geltenden Weiterbildungsrichtlinien solle der Facharzt für Anästhesie speziell in der EKGDiagnostik eingehende
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 153
Kenntnisse erwerben (vgl. Bl. 413 GA). Schon hieraus sei zu folgern, so das Landgericht (Urteil 5. 17), dass auch ein Anästhesist in
der Lage sein müsse, zu erkennen, dass überhaupt manifeste Abweichungen des vorliegenden EKG von einem
Normalbefund vorliegen würden.
Dem folgt der Senat.
b) Gem. § 276 BGB schuldet der Arzt dem Patienten vertraglich wie deliktisch die im Verkehr erforderliche Sorgfalt.
Diese bestimmt sich weitgehend nach dem medizinischen Standard des jeweiligen Fachgebiets. Der Arzt muss
diejenigen Maßnahmen ergreifen, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus berufsfachlicher Sicht
seines Fachbereichs vorausgesetzt und erwartet werden (BGH NJW 1995, 776). Ob ein Arzt seine berufsspezifische
Sorgfaltspflicht verletzt hat, ist in erster Linie eine Frage, die sich nach medizinischen Maßstäben richtet. Der Richter
muss den berufs- fachlichen Sorgfaltsmaßstab mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen ermitteln und hat
eigenverantwortlich zu prüfen, ob dessen Beurteilung dem medizinischen Standard entspricht (BGH a.a.O.).
c) Den Standard „Beurteilung eines EKG― und „Erkennen erheblicher Abweichungen― in Bezug auf einen Anästhesisten
stellt der Sachverständige Prof. Dr. D... selbst nicht in Abrede. Die EKGVeränderung ist laut dem Gutachter Prof.- Dr.
M... so markant, dass sie auch einem Nichtspezialisten in der Abweichung auffallen (vgl. Bl. 376, 462
GA)
.
Der Sachverständige differenziert auch hinsichtlich des Standards (81. 473/474 GA):
„Für einen Anästhesisten gelten in der Beurteilung eines EKG nicht dieselben Kriterien. Nach meiner Einschätzung
sollte ein Anästhesist soweit geschult und in der EKGBefundung kundig sein, dass er die beschriebenen
EKGVeränderungen als vom Normalbefund abweichend erkennen kann. Im Falle einer Fehlinterpretation ist demnach
von einem Diagnosefehler auszugehen. Die Abweichungen des EKG sind jedoch nicht so markant, dass im Falle eines
Anästhesisten von einem „groben Diagnosefeh1er― ausgegangen werden kann.―
Danach kann nicht davon ausgegangen werden, der Sachverständige Prof. Dr. D... habe einen anderen —zu
fordernden — Standard zu Grunde gelegt, als der Sachverständige Prof. Dr. M.. .‚ so dass im Ergebnis dessen
Beurteilung zu folgen ist. d) Der Senat folgt des Weiteren der Argumentation des Landgerichts zur Widersprüchlichkeit
des Gutachtens D... in den Punkten „beauftragte Ärzte―, „präoperative Untersuchungen― und „Auflage, EKG
mitzubringen― (Urteil 5. 17/18; u.a. zu Bl. 449/450 GA). Die Ausführungen des Sachverständigen zu diesen Punkten sind spekulativ.
2. Haftung des Beklagten zu 2)
a) Dieser wehrt sich gegen seine Verantwortlichkeit im Wesentlichen mit dem Argument, es sei nicht Sache des
Operateurs, ein EKG zur Kenntnis zu nehmen.
b) Zwar liegt eine horizontale Arbeitsteilung vor (vgl. dazu Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. A., § 101, Rn. 46 m.w.N.). Dies spricht hier aber
nicht gegen eine Haftung des Beklagten zu 2).
Von Bedeutung ist die präoperative Phase. Der Operateur entscheidet — primär — ob der Eingriff durchgeführt wird
und ob die Voraussetzungen gegeben sind. Das hat er eigenständig zu prüfen (vgl. Opderbecke, Forensische Probleme in der Anästhesiologie, 5.
13ff.).
Hinzutritt im vorliegenden Fall, dass der Beklagte zu 2) den Verstorbenen zuvor behandelt und ihm aufgegeben hatte,
ein EKG seines Hausarztes mitzubringen. Er musste dies dann auch eigenständig prüfen (und hat es wohl auch getan —Bl. 65 GA)
unabhängig davon, dass auch die Beklagte zu 1) sich das EKG anzusehen hatte. Er kann nicht darauf verweisen, der
Operateur brauche das nicht. Auf die Bewertung der Anästhesistin durfte er sich nicht verlassen, zumal ein schwerer
Eingriff bevorstand und es keinen erheblichen Aufwand erforderte, das EKG zu kontrollieren (vgl. RumlerDetzel, VersR 1994, 254/255).
Es kann vor diesem besonderen Hintergrund dann dahinstehen, ob der Operateur grundsätzlich nicht gehalten ist, im
Rahmen der Befunde EKG zu berücksichtigen (vgl. Beklagter zu 2) 81. 678 GA).
3. Dass D... L... auch ohne die Operation an den folgen des Infarkts gestorben wäre, ist nicht bewiesen.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 154
Angriffe zur Höhe der Forderungen sind im Berufungsverfahren nicht geführt. 4.:Die Kosten- und
Vollstreckbarkeitsentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1, 708 Nr. 10,711 ZPO.
Für die Zulassung der Revision fehlt es an den gesetzlichen Voraussetzungen. Der Streitwert des Berufungsverfahrens
beträgt 43.969, 06 €.
Kaltenbach Kaltenbach, zugleich für SteinVorsitzender ROLG Dr. Menzel, der Richter
BGH VI ZR 323/04 vom 13.06.2006
Thöns
Zur Anwendung einer neuen medizinischen Behandlungsmethode und zum Umfang der hierfür erforderlichen
Aufklärung des Patienten. Der Arzt obsiegte gegenüber dem Patienten.
BGB § 823 Aa
BGH, Urteil vom 13. 06.2006 - VI ZR 323/04 - OLG Frankfurt a.M.
LG Frankfurt a.M.
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 13. 06.2006 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 7.
12.2004 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt von den Beklagten Schadensersatz wegen einer nach ihrer Behauptung fehlerhaft und ohne die
erforderliche Aufklärung durchgeführten ärztlichen Behandlung in der Klinik des Beklagten zu 1, deren ärztlicher
Direktor der Beklagte zu 2 war. Im 09.1995 implantierte der Beklagte zu 3 der Klägerin mit Hilfe eines
computerunterstützten Fräsverfahrens (Robodoc) eine zementfreie Hüftgelenksendoprothese. Die Operation dauerte 5 ½
Stunden. Die Prothese wurde exakt implantiert. Bei der Operation wurde ein Nerv der Klägerin geschädigt. Sie leidet
seither unter Beeinträchtigungen der Bein- und Fußfunktion. Die Vorinstanzen haben sowohl einen Behandlungs fehler
als auch einen Aufklärungsfehler verneint und die Klage abgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen
Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht, dessen Urteil u.a. in NJWRR 2005, 173 veröffentlicht ist, hat ausgeführt:
Die Klägerin habe einen Behandlungsfehler nicht nachweisen können. Die Anwendung der RobodocMethode als
solche stelle keinen Arztfehler dar. Die behandelnden Ärzte seien berechtigt gewesen, der Klägerin das Verfahren trotz
seiner Neuheit und der damit verbundenen Risiken vorzuschlagen, da es dem herkömmlichen manuellen Verfahren bei
Abwägung der Vor- und Nachteile nicht unterlegen gewesen sei und das OperationsTeam der Klinik aus besonders
trainierten Ärzten bestanden habe, so dass die Komplikationsrate hier niedriger gewesen sei als in anderen
Krankenhäusern. Auch ein konkreter Behandlungsfehler sei nicht nachgewiesen. Das Auftreten eines Nervschadens,
wie er bei der Klägerin in Form einer Schädigung des Nervus ischiadicus eingetreten sei, stelle kein Indiz für einen
Operationsfehler dar. Der Sachverständige Prof. St. habe ausgeführt, dass beim Einsetzen einer neuen Hüftpfanne
wegen der engen räumlichen Verhältnisse die Möglichkeit der Überdehnung des Nervs bestehe, welche der Operateur
nicht in jedem Fall vermeiden könne. Die Dauer des Eingriffs von 5 ½ Stunden sei nach den Ausführungen des
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Sachverständigen ebenfalls kein Anzeichen eines Behandlungsfehlers. Im Übrigen habe der Sachverständige
festgestellt, dass die Operationsdauer auf die Entstehung ei nes Nervschadens keinen Einfluss habe. Demnach könne
aus der langen Dauer des Eingriffs nicht auf Fehler der Operateure geschlossen werden. Unter diesen Umständen
komme es nicht darauf an, ob die Beweislast durch etwaige Dokumentationsmängel auf die Beklagten verlagert worden
sei.
Ein Aufklärungsmangel liege ebenfalls nicht vor. Stünden mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte
Behandlungsmethoden zur Verfügung, die unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen aufwiesen, bestehe also eine
echte Wahlmöglichkeit für den Patienten, müsse diesem durch entsprechende vollständige ärztliche Belehrung die
Entscheidung darüber überlassen bleiben, auf welchem Weg die Behandlung erfolgen solle und auf welches Risiko er
sich einlassen wolle. Nach diesen Kriterien sei die Klägerin über die verschiedenen Operationsmethoden, nämlich das
herkömmliche Verfahren mit manueller Technik einerseits und das robotergestützte Vorgehen andererseits aufzuklären
gewesen. Dies habe hier bereits deswegen zu gelten, weil das robotergestützte Vorgehen eine Methode gewesen sei,
die im Zeitpunkt des Eingriffs im Jahre 1995 noch nicht allgemein etabliert gewesen sei. Im Streitfall sei eine solche
Information der Patientin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in ausreichendem Maße erfolgt. Insbesondere sei
der Klägerin auch mitgeteilt worden, dass es sich um eine neue Operationsmethode gehandelt habe.
II.
Die Revision hat keinen Erfolg.
1. Sie wendet sich nicht gegen die nach sachverständiger Beratung getroffene Feststellung des Berufungsgerichts,
dass die Anwendung des "Robodoc" genannten computerunterstützten Fräsverfahrens als solches keinen Be
handlungsfehler darstellt. Hiergegen ist auch aus revisionsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern. Insbesondere hat das
Berufungsgericht bedacht, dass die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode nur dann erfolgen darf, wenn die
verantwortliche medizinische Abwägung und ein Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer
abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der standardgemäßen Behandlung unter Berücksichtigung des
Wohles des Patienten die Anwendung der neuen Methode rechtfertigt (vgl. Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., Rn. 484, 486, 511, 673, 690, 393; ders. in:
Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 130 Rn. 23 m.w.N.; Siebert, MedR 1983, 216, 219). Anhaltspunkte für eine in diesem Sinne fehlerhafte oder
ungenügende Abwägung durch die Behandlungsseite sind von der Revision nicht dargelegt worden. Soweit sie neue
Tatsachen dazu vorträgt, dass es sich bei der Anwendung des RobodocVerfahrens seinerzeit um eine experimentelle
Methode gehandelt habe, kann ihr Vorbringen im Revisionsrechtszug keine Berücksichtigung finden.
2. Auch einen Behandlungsfehler bei der Durchführung der Operation hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler
verneint.
a) Das Berufungsgericht erachtet es - sachverständig beraten - als erwiesen, dass dem Beklagten zu 3 als Operateur
kein Fehler unterlaufen ist. Die hiergegen gerichteten Angriffe der Revision bleiben ohne Erfolg. Insbesondere ist aus
Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht aus der langen Operationsdauer nicht auf ein
behandlungsfehlerhaftes Vorgehen des Beklagten zu 3 geschlossen hat.
Die Dauer der Operation von 5 ½ Stunden hat das Berufungsgericht im Hinblick auf das angewendete Verfahren und
den dokumentierten Ablauf des Eingriffs in nachvollziehbarer Weise nicht beanstandet. Die Operationsdauer beim
roboterassistierten Verfahren werde bereits allein aufgrund des Einsatzes des RobodocSystems durch die Installation
der Geräte, das Ausmessen und die Datenermittlung verlängert. 5 ½ Stunden könnten nach den Ausführungen des
Sachverständigen Prof. St. durchaus erforderlich sein. Im Fall der Klägerin habe noch eine Pfannendachplastik
hergestellt werden müssen, was zusätzliche Zeit benötige. Aus dem Operationsbericht ergebe sich außerdem, dass
wegen des verkürzten Schenkelhalses und der Subluxationsstellung im Hüftgelenk eine Darstellung des Nervus
ischiadicus notwendig erschienen sei. Es sei hinzugekommen, dass bei der Klägerin eine fast 15 cm dicke
Fettgewebeschicht habe durchtrennt werden müssen. Beide Maßnahmen erforderten erfahrungsgemäß zusätzlich Zeit.
Mit ihren hiergegen gerichteten Angriffen begibt sich die Revision in unzulässiger Weise auf das Gebiet tatrichterlicher
Beweiswürdigung. Der Sachverständige hat auch unter Berücksichtigung der Dauer der Operation keinen Anhaltspunkt
für einen Behandlungsfehler gesehen. Bei dieser Sachlage bestand für das Berufungsgericht kein Anlass, der Frage
nach den Gründen für die Dauer der Operation noch intensiver nachzugehen (vgl. auch Senatsurteil vom 9. 11.1993 - VI ZR 248/92 - VersR 1994, 682,
683). Andere Anhaltspunkte für einen Behandlungsfehler als die Dauer der Operation zeigt die Revision nicht auf.
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b) Da das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht angreifbarer Weise die Dauer der Operation nicht als Anzeichen
für einen Behandlungsfehler gewertet hat, kommt es nicht darauf an, ob aufgrund etwaiger Dokumentationsmängel die
Beweislast auf die Beklagten verlagert worden ist. Auch die Angriffe der Revision gegen die - hilfsweisen Ausführungen des Berufungsgerichts, der Sachverständige habe im Übrigen festgestellt, dass die Operationsdauer auf
die Entstehung des Nervschadens keinen Einfluss gehabt habe, bleiben ohne Erfolg. Ob die Dauer der Operation für
eine Nervschädigung kausal sein kann, ist unerheblich, wenn die lange Operationsdauer - wie hier - nicht auf einem
Behandlungsfehler beruht.
3. Auch die Begründung, mit der das Berufungsgericht einen Aufklärungsfehler verneint, hält den Angriffen der
Revision - jedenfalls im Ergebnis - stand.
a) Die Revision nimmt die Auffassung des Berufungsgerichts, die Patientin habe über beide Operationsmethoden
aufgeklärt werden müssen, als ihr günstig hin; sie meint aber, die Klägerin sei nicht ausreichend über die Risiken der
neuen Methode aufgeklärt worden, insbesondere nicht über das höhere Risiko einer Nervschädigung infolge einer
längeren Operationsdauer.
aa) Zutreffend hat das Berufungsgericht eine Verpflichtung der Beklagten zur Aufklärung darüber bejaht, dass zwei
Behandlungsalternativen zur Verfügung standen, wovon eine seinerzeit ein Neulandverfahren war. Nach der
Rechtsprechung des erkennenden Senats ist die Wahl der Behandlungsmethode zwar primär Sache des Arztes
(Senatsurteile BGHZ 102, 17, 22; 106, 153, 157; vom 11. 05.1982 - VI ZR 171/80 - VersR 1982, 771, 772; vom 24. 11.1987 - VI ZR 65/87 - VersR 1988, 190, 191 und vom 15. 03.2005 - VI ZR 313/03 - VersR
. Die Wahrung des
Selbstbestimmungsrechts des Patienten erfordert aber eine Unterrichtung über eine alternative
Behandlungsmöglichkeit, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige
Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen
oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten (Senatsurteile BGHZ 102, 17, 22; 106, 153, 157; vom 14. 09.2004 - VI ZR 186/03 - VersR 2005, 227; vom
15. 03.2005 - VI ZR 313/03 - aaO; Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 331 f.; MünchKommBGB/Wagner, 4. Aufl., § 823 Rn. 707 f.; Staudinger/Hager, BGB, 13. Bearbeitung [1999], § 823, Rn. I 92 m.w.N.).
Dass danach im Streitfall die Pflicht zur Aufklärung über die alternativen Möglichkeiten der manuellen bzw.
computergestützten Operation bestand, hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler bejaht. Auch die Feststellung des
Berufungsgerichts, die Klägerin sei über die damals bekannten Vor- und Nachteile der Behandlungsmethoden
ordnungsgemäß aufgeklärt worden, ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, insbesondere unter
Berücksichtigung dessen, dass der Patient auch bei Anwendung einer neuen Behandlungsmethode wie sonst nur "im
großen und ganzen" über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt werden muss (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteile BGHZ
90, 103, 106; 144, 1, 7 und vom 7. 04.1992 - VI ZR 192/91 - VersR 1992, 960, 961). Soweit die Revision gegen die Feststellungen zum Umfang der
erteilten Aufklärung Verfahrensrügen erhebt, hat der Senat diese geprüft und für nicht durchgreifend erachtet (§ 564 ZPO).
Gleichwohl war die der Patientin erteilte Aufklärung nicht in jeder Hinsicht ausreichend.
2005, 836; OLG Zweibrücken, OLGR 2001, 79, 81 mit NABeschluss des Senats vom 19. 12.2000 - VI ZR 171/00 ; OLG Karlsruhe, MedR 2003, 229, 230)
bb) Bei standardgemäßer Behandlung sind allgemeine Überlegungen dazu, dass der Eintritt bislang unbekannter
Komplikationen in der Medizin nie ganz auszuschließen ist, für die Entscheidungsfindung des Patienten nicht von
Bedeutung. Sie würden ihn im Einzelfall sogar nur unnötig verwirren und beunruhigen (Senatsurteil vom 12. 12.1989 - VI ZR 83/89 - 1990, 522,
523). Im Falle des computerunterstützten Fräsverfahren Robodoc bei Implantation einer Hüftgelenksendoprothese
handelte es sich jedoch 1995 um eine neue Operationsmethode. Die Methode wurde 1992 erstmals in den USA
klinisch erprobt. Bei dem Beklagten zu 1 war Robodoc erst seit 1994 im Einsatz. Das Verfahren ist nach den
Feststellungen des Berufungsgerichts bis heute umstritten. Will der Arzt aber keine allseits anerkannte
Standardmethode, sondern ei ne - wie im Streitfall - relativ neue und noch nicht allgemein eingeführte Methode mit
neuen, noch nicht abschließend geklärten Risiken anwenden, so hat er den Patienten nach der Rechtsprechung der
Instanzgerichte auch darüber aufzuklären und darauf hinzuweisen, dass unbekannte Risiken derzeit nicht
auszuschließen sind (vgl. OLG Celle, VersR 1992, 749 f.; OLG Köln, NJWRR 1992, 986, 987; OLG Oldenburg, VersR 1997, 491; OLG Zweibrücken, aaO; OLG Bremen, OLGR 2004, 320, 321
f.; OLG Karlsruhe, VersR 2004, 244, 245; OLG Düsseldorf, VersR 2004, 386; Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 3. Aufl, Rn. 185; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., C, Rn. 39; Steffen/Dressler,
. Der erkennende Senat teilt diese Auffassung.
Die Anwendung neuer Verfahren ist für den medizinischen Fortschritt zwar unerlässlich. Am Patienten dürfen sie aber
nur dann angewandt werden, wenn diesem zuvor unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die neue Methode die
Möglichkeit unbekannter Risiken birgt. Der Patient muss in die Lage versetzt werden, für sich sorgfältig abzuwägen, ob
er sich nach der herkömmlichen Methode mit bekannten Risiken operieren lassen möchte oder nach der neuen
Methode unter besonderer Berücksichtigung der in Aussicht gestellten Vorteile und der noch nicht in jeder Hinsicht
bekannten Gefahren. Hiernach hätte es zumindest eines ausdrücklichen Hinweises auf die Möglichkeit noch nicht
Arzthaftungsrecht, 9. Aufl., Rn. 387; vgl. auch Katzenmeier, aaO, S. 312; MünchKommBGB/Wagner, aaO, § 823 Rn. 710)
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bekannter Risiken bedurft, der der Klägerin nach den getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht erteilt
worden ist.
b) Soweit die Klägerin darüber hinaus geltend macht, sie hätte auch darüber aufgeklärt werden müssen, dass die
längere Dauer der Operation das Risiko einer Nervschädigung erhöhe, betrifft auch dies den Umfang der Aufklärung
bei einer Neulandmethode. Ob ein Hinweis auf ein solches Risiko erforderlich gewesen wäre, bedarf im Streitfall keiner
abschließenden Beurteilung.
Im Allgemeinen besteht eine Aufklärungspflicht nur dann, wenn ernsthafte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft
auf bestimmte mit einer Behandlung verbundene Gefahren hinweisen, die nicht lediglich als unbeachtliche
Außenseitermeinungen abgetan werden können, sondern als gewichtige Warnungen angesehen werden müssen
(Senatsurteile vom 12. 12.1989 - VI ZR 83/89 - VersR 1990, 522, 523 und vom 21. 11.1995 - VI ZR 329/94 - VersR 1996, 233 m.w.N.; OLG Oldenburg, VersR 2006, 517 mit NZBBeschluss des Senats vom 31.
. Bei einer Neulandmethode können zum Schutz des Patienten je
nach Lage des Falles strengere Anforderungen gelten. Auch hier ist allerdings nicht über bloße Vermutungen
aufzuklären. Etwas anderes kann aber gelten, wenn diese sich so weit verdichtet haben, dass sie zum Schutz des
Patienten in dessen Entscheidungsfindung einbezogen werden sollten.
01.2006 - VI ZR 87/05 - aaO; Geiß/Greiner, aaO, Rn. 46; Steffen/Dressler, aaO, Rn. 391)
Derart konkrete Vermutungen hat das Berufungsgericht im Streitfall nicht festgestellt. Nach den verfahrensfehlerfreien
Feststellungen existierten zum damaligen Zeitpunkt noch keine repräsentativen wissenschaftlichen Studien, die
verlässliche Vergleiche der beiden Methoden erlaubt hätten. Das von der Revision herangezogene und vom
Berufungsgericht berücksichtigte Gutachten Dr. Sch. stammt aus dem Jahre 2004. Nach den insoweit nicht
angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Sachverständige in diesem Gutachten sämtliche
verfügbaren Publikationen zum RobodocVerfahren ausgewertet. Zwar zeigt eine der ausgewerteten und vom
Berufungsgericht berücksichtigten Studien eine höhere Komplikationsrate hinsichtlich von Nervschädigungen bei
Robodoc im Vergleich zu der manuellen Implantation. Diese Studie stammt jedoch erst aus dem Jahr 2003. Der
Sachverständige Prof. St. hat allerdings in seiner mündlichen Anhörung vor dem Berufungsgericht bekundet, dass
Kritiker des Verfahrens im Jahre 1995 nicht begründete Vermutungen ge äußert hätten. Über den Inhalt dieser
Vermutungen ist aber nichts mitgeteilt. Insbesondere ist nichts dafür ersichtlich, dass sich diese auf einen möglichen
Zusammenhang zwischen Operationsdauer und Nervschädigung bezogen hätten. Tatrichterlicher Feststellungen über
den Inhalt oder die Tragweite dieser Vermutungen bedarf es im Streitfall nicht, weil sich das angefochtene Urteil aus
einem anderen Grund als richtig erweist.
c) Die oben erörterten Mängel der Aufklärung wirken sich nämlich unter den besonderen Umständen des Streitfalles
nicht aus, weil sich mit der Nervschädigung ein Risiko verwirklicht hat, über das die Klägerin vollständig - wenn auch im
Zusammenhang mit der herkömmlichen Operationsmethode - aufgeklärt worden ist. Nach den vom Berufungsgericht
getroffenen Feststellungen hat der Zeuge Dr. S. der Klägerin im Einzelnen erklärt, welche Nerven bei der Operation
geschädigt werden könnten und wie sich dies auswirke. Er hat dargestellt, dass die Bewegung und Belastung der
Beine betroffen sein könne, dass es zu Verrenkungen des Gelenks kommen könne und dass auch die Streckung des
Knies beeinträchtigt werden könne, je nachdem welcher Nerv geschädigt werde. Auch die Zeugin C., damals
Stationsärztin bei dem Beklagten zu 1, hat die Klägerin bei einem erneuten Aufklärungsgespräch zwei Tage vor der
Operation auf die Gefahr einer Nervschädigung hingewiesen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats
kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob auch über andere - hier möglicherweise noch unbekannte - Risiken, die
sich nicht verwirklicht haben, hätte aufgeklärt werden müssen, wenn sich (nur) ein Risiko verwirklicht, über das aufgeklärt
werden musste und über das auch tatsächlich aufgeklärt worden ist. Denn die Klägerin hat in Kenntnis des später
verwirklichten Risikos ihre Einwilligung gegeben. Hat der Patient bei seiner Einwilligung das später eingetretene Risiko
in Kauf genommen, so kann er bei wertender Betrachtungsweise nach dem Schutzzweck der Aufklärungspflicht aus
der Verwirklichung dieses Risikos keine Haftung herleiten (Senatsurteile
BGHZ 144, 1, 7 f.; vom 12. 03.1991 - VI ZR 232/90 - VersR 1991, 777, 779 und vom 30. 01.2001 - VI ZR 353/99 - VersR 2001, 592; Frahm/Nixdorf, aaO, Rn. 205; Geiß/Greiner, aaO, Rn. 157;
MünchKommBGB/Wagner, aaO, § 823, Rn. 725; Steffen/Dressler, aaO, Rn. 450a)
.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr
Vorinst.:LG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 29.08.2003 - 2/21 O 362/98 Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 158
OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 07.12.2004 - 8 U 194/03 -
OLG Hamm MedR 2006, 358
Sorgfaltwidrig handelt, wer die Anforderungen, die an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen aus dem
Verkehrskreis des Täters in dessen sozialer Rolle bei einer Betrachtung der Gefahrenlage ex ante gestellt
werden, nicht erfüllt… Dabei sind an das Maß der ärztlichen Sorgfalt hohe Anforderungen zu stellen. …
Maßgebend ist der Standard eines erfahrenen Facharztes, also das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen
Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, von einem
durchschnittlichen Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können. … Ein Patient, der sich in die Fachklinik
eines Krankenhauses begibt, hat Anspruch auf ärztliche Behandlung, die dem Standard eines erfahrenen
Facharztes entspricht.
Thöns
BVerG - 1 BvR 347/98 06122005 vom 06.12.2005
Es ist mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2
Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder
regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende
Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten
Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf
eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 347/98 Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn F... - Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Berner, Fischer & Partner,Andreaswall 2, 27283 Verden - gegen
das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. 09.1997 - 1 RK 28/95
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat – unter Mitwirkung
des Präsidenten Papier,der Richterin Haas,der Richter Hömig,Steiner,der Richterin HohmannDennhardt,
und der Richter HoffmannRiem,Bryde,Gaier
am 6. 12.2005 beschlossen:
1. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. 09.1997 - 1 RK 28/95 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen
Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Artikel 2
Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundessozialgericht
zurückverwiesen. 2. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu
erstatten. Gründe:
A. 1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für so genannte neue
Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung im Rahmen der
ambulanten ärztlichen Versorgung.
I.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 159
1. Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland, der gegenwärtig etwa 62 Millionen Menschen als
Pflichtversicherte und knapp neun Millionen Menschen als freiwillige Versicherte angehören, beruht auf dem
Grundkonzept, dass Menschen bei Eintritt von Krankheit unabhängig von der Höhe ihrer am Prinzip der individuellen
Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung erhalten. Die Versicherten
tragen gemeinschaftlich das sich individuell entfaltende Risiko der Krankheit. Ihnen wird nach dem die gesetzliche
Krankenversicherung prägenden Sachleistungsprinzip ein Anspruch auf Gewährung freier ärztlicher Behandlung
gewährt.
Die für das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung maßgebliche Vorschrift des § 2 des Fünften Buches
Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung des Gesetzes vom 19. 06.2001 (BGBl I S. 1046) hat, soweit hier von Interesse,
folgenden Wortlaut:
Leistungen
(1) Die Krankenkassen stellen den Versicherten die im Dritten Kapitel genannten Leistungen unter Beachtung des
Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12) zur Verfügung, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten
zugerechnet werden. Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen sind nicht
ausgeschlossen. Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen
Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.
(2) Die Versicherten erhalten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit dieses oder das Neunte Buch
nichts Abweichendes vorsehen. Über die Erbringung der Sach- und Dienstleistungen schließen die Krankenkassen
nach den Vorschriften des Vierten Kapitels Verträge mit den Leistungserbringern.
(3)
und (4) ...
Zu § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V führt die Gesetzesbegründung (BTDrucks 11/2237, S. 157) aus:
Der "allgemein anerkannte Stand der medizinischen Kenntnisse" schließt Leistungen aus, die mit wissenschaftlich nicht
anerkannten Methoden erbracht werden. Neue Verfahren, die nicht ausreichend erprobt sind, oder
Außenseitermethoden (paramedizinische Verfahren), die zwar bekannt sind, aber sich nicht bewährt haben, lösen keine
Leistungspflicht der Krankenkasse aus. Es ist nicht Aufgabe der Krankenkassen, die medizinische Forschung zu
finanzieren. Dies gilt auch dann, wenn neue Methoden im Einzelfall zu einer Heilung der Krankheit oder Linderung der
Krankheitsbeschwerden führen.
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit.
§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V bestimmt im Zusammenhang mit den Vorschriften, die diesen Leistungsanspruch
konkretisieren, dass Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit
zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach § 27 Abs. 1
Satz 2 SGB V gehört zur Krankenbehandlung unter anderem die ärztliche Behandlung (Nr. 1). Die ärztliche Behandlung
umfasst die Tätigkeit des Arztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten nach den Regeln
der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist (§ 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
Nach dem in § 12 Abs. 1 SGB V geregelten Wirtschaftlichkeitsgebot müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig
und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder
unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die
Krankenkassen nicht bewilligen. Dem entspricht, soweit es um die Beziehungen zwischen den Krankenkassen und den
Ärzten als Leistungserbringern geht, § 70 SGB V. Nach § 13 Abs. 1 SGB V darf die Krankenkasse anstelle der Sachoder Dienstleistung Kosten nur erstatten, soweit es das SGB V oder das SGB IX vorsehen. § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V
trifft eine für den vorliegenden Fall wichtige Regelung zur Kostenerstattung. Konnte die Krankenkasse eine
unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch
Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der
entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Mit der Durchbrechung des
Sachleistungsgrundsatzes trägt § 13 Abs. 3 SGB V dem Umstand Rechnung, dass die gesetzlichen Krankenkassen
eine umfassende Versorgung ihrer Mitglieder sicherstellen müssen (vgl. BSGE 81, 54 <56>).
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 160
2. a) Nach § 92 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss, der seit dem Gesetz
zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14. 11.2003 (BGBl I S. 2190) an die Stelle der bisherigen, im
Zeitpunkt der hier angegriffenen Entscheidung des Bundessozialgerichts zuständigen Bundesausschüsse getreten ist,
die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende,
zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Er wird durch die Kassenärztlichen
Bundesvereinigungen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die Bundesverbände der Krankenkassen, die Deutsche
Rentenversicherung KnappschaftBahnSee und die Verbände der Ersatzkassen gebildet (§ 91 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Nach § 92
Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V soll er Richtlinien beschließen über die Einführung neuer Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden. Dafür sieht § 135 Abs. 1 SGB V ein besonderes Verfahren vor. Die Vorschrift lautet wie folgt:
Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen
Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag
einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes der
Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Empfehlungen abgegeben hat über
1. die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische
Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung,
2. die notwendige Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen sowie Anforderungen an Maßnahmen der
Qualitätssicherung, um eine sachgerechte Anwendung der neuen Methode zu sichern, und
3. die erforderlichen Aufzeichnungen über die ärztliche Behandlung. 17
Der Gemeinsame Bundesausschuss überprüft die zu Lasten der Krankenkassen erbrachten vertragsärztlichen und
vertragszahnärztlichen Leistungen daraufhin, ob sie den Kriterien nach Satz 1 Nr. 1 entsprechen. Falls die Überprüfung
ergibt, dass diese Kriterien nicht erfüllt werden, dürfen die Leistungen nicht mehr als vertragsärztliche oder
vertragszahnärztliche Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden. 18
b) Gegenwärtig gilt die "Richtlinie zur Bewertung medizinischer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden" (BUBRichtlinie)
in der Fassung vom 1. 12.2003. Sie ist am 23. 03.2004 veröffentlicht worden (Bundesanzeiger Nr. 57) und am 24. 03.2004 in
Kraft getreten. In verschiedenen Anlagen werden einerseits die anerkannten Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden (Anlage A) und andererseits die Methoden aufgelistet, die nicht als vertragsärztliche Leistungen zu
Lasten der Krankenkassen erbracht werden dürfen (Anlage B). Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses
definiert Untersuchungs- und Behandlungsmethoden als neu, wenn sie noch nicht als abrechnungsfähige ärztliche
Leistungen im "Einheitlichen Bewertungsmaßstab für die ärztlichen Leistungen" (EBM) enthalten sind. Er ist Bestandteil
der Bundesmantelverträge nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGB V und enthält ein abgeschlossenes Leistungsverzeichnis. Nur
die dort genannten Leistungspositionen können von den Ärzten mit der Kassenärztlichen Vereinigung abgerechnet
werden.
c) Für das Recht des SGB V vertritt das Bundessozialgericht in inzwischen ständiger Rechtsprechung (vgl. BSGE 78, 70 <75 ff.>; 81,
54 <59 ff.>) die Auffassung, das Gesetz inkorporiere die Richtlinie unmittelbar in den Bundesmantelvertrag und die
Gesamtverträge. Die Vorschriften des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V über das Leistungserbringungsrecht und die
leistungsrechtliche Vorschrift des § 12 Abs. 1 SGB V stünden in einem unmittelbaren sachlogischen Zusammenhang.
Die Richtlinie binde den Vertragsarzt, präzisiere aber auch den Umfang der Leistungspflicht der Krankenkassen
gegenüber den Versicherten. Der Umfang der zu gewährenden Krankenversorgung im Verhältnis von Versicherten zu
Krankenkassen sei kein anderer als im Verhältnis der ärztlichen Leistungserbringer zu den Kassenärztlichen
Vereinigungen und wiederum zu den Krankenkassen. Gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V in seiner Auslegung durch
die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts steht gesetzlich Krankenversicherten ein Leistungsanspruch auf neue
medizinische Behandlungsmethoden gegen ihre Krankenkasse nur dann zu, wenn der zuständige Bundesausschuss
(jetzt: Gemeinsamer Bundesausschuss) die jeweilige Methode "zugelassen" hat. Daran sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit
gebunden. Grundsätzlich dürfen sie nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung im einzelnen Leistungsfall nur dann
prüfen, ob eine neue Behandlungsmethode medizinisch notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist, wenn im
Zusammenhang mit dem Verfahren vor dem Bundesausschuss Fehler aufgetreten sind, die ein so genanntes
Systemversagen begründen.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 161
II.
1. Der im 07.1987 geborene Beschwerdeführer war im streitgegenständlichen Zeitraum von 1992 bis 1994 in der
Barmer Ersatzkasse als Familienangehöriger (§ 10 SGB V) versichert. Er leidet an der Duchenne'schen Muskeldystrophie
(englische Abkürzung: DMD). Es handelt es dabei um eine so genannte progressive Muskeldystrophie. Darunter werden sehr
variable Muskelerkrankungen zusammengefasst, die durch einen pathologischen Umbau des Gewebes mit erheblichen
Funktionsstörungen gekennzeichnet sind. Die DMD ist die häufigste Form der progressiven Muskeldystrophien. Sie
wird xchromosomalrezessiv vererbt. DMD tritt ausschließlich beim männlichen Geschlecht auf, und zwar mit einer
Häufigkeit von 1 zu 3.500. Die Krankheit manifestiert sich in den ersten Lebensjahren; ihr prognostizierter Verlauf ist
progredient. Mit dem Verlust der Gehfähigkeit ist normalerweise zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr zu
rechnen; es tritt zunehmende Ateminsuffizienz auf. Die Krankheit äußert sich auch in Wirbelsäulendeformierungen,
Funktions- und Bewegungseinschränkungen von Gelenken sowie in Herzmuskelerkrankungen. Die Lebenserwartung
ist stark eingeschränkt. Die Krankheit geht nach den heutigen Erkenntnissen auf das DystrophinGen zurück.
Üblicherweise wird nur eine symptomorientierte Behandlung (Cortisonpräparate, Operationen, Krankengymnastik) durchgeführt. Bislang gibt
es keine wissenschaftlich anerkannte Therapie, die eine Heilung oder eine nachhaltige Verzögerung des
Krankheitsverlaufs bewirken kann (vgl. http://www.duchenneforschung.de/richtli1.htm).
Seit 09.1992 befindet sich der Beschwerdeführer in Behandlung bei Dr. B., Facharzt für Allgemeinmedizin, der über
keine Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung verfügt. Bei dieser Behandlung werden neben Thymuspeptiden,
Zytoplasma und homöopathischen Mitteln hochfrequente Schwingungen ("Bioresonanztherapie") angewandt. Bis Ende 1994
hatten die Eltern des Beschwerdeführers dafür einen Betrag von 10.000 DM aufgewandt. Die Ärzte der Orthopädischen
Klinik der Technischen Hochschule A. hielten den bisherigen Krankheitsverlauf für günstig. Seit Herbst 2000 ist der
Beschwerdeführer, der eine öffentliche Schule besucht, auf einen Rollstuhl angewiesen, zunächst für Wegstrecken
außerhalb des Hauses, seit Frühjahr 2001 aber auch im Haus. Eine mitbetreuende Ärztin stufte seinen
Gesundheitszustand trotz des Verlustes der Gehfähigkeit im Vergleich zu anderen Betroffenen als gut ein.
2. Der Antrag auf Übernahme der Kosten für die Therapie bei Dr. B. wurde von der zuständigen Krankenkasse
abgelehnt. Im Widerspruchsverfahren hat die Krankenkasse Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung Niedersachsen eingeholt. Die Kinderärztin Dr. F. vertrat in ihrer Stellungnahme nach Aktenlage
die Auffassung, Muskeldystrophien seien nicht heilbar, aber behandelbar. Ein Therapieerfolg der von Dr. B.
angewandten Methoden sei wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Nach Auffassung der Fachärztin für Neurologie,
Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. W.V. überwog im damaligen Stadium der Erkrankung die altersbedingte motorische
Weiterentwicklung gegenüber dem progredienten Krankheitsverlauf. Die Behandlung durch Dr. B. sei für die Besserung
des Zustandes nicht kausal.
3. Die gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts eingelegte Berufung hatte Erfolg (NZS 1996, S. 74). Das
Landessozialgericht holte einen Befundbericht bei der Orthopädischen Klinik der Technischen Hochschule A. ein, bei
der sich der Beschwerdeführer in regelmäßigen Abständen vorstellt. Die Klinik empfahl, die Therapie wegen der
günstigen Verlaufsform fortzusetzen. Ferner hörte das Gericht den behandelnden Arzt Dr. B. in der mündlichen
Verhandlung als sachverständigen Zeugen. Das Landessozialgericht hob das Urteil des Sozialgerichts auf und
verurteilte die beklagte Krankenkasse, dem Beschwerdeführer die ab 03.1993 entstandenen Kosten für die Therapie
des Dr. B. zu erstatten. Das SGB V sehe keine Begrenzung des Leistungsanspruchs des Versicherten auf die
Schulmedizin vor. Aus § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V folge, dass ein gewisser Qualitätsstandard gewahrt sein müsse. Auf
den allgemein anerkannten Stand der schulmedizinischen Erkenntnisse komme es aber nicht an. Ansonsten würde
durch § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V die grundsätzliche Einbeziehung der besonderen Therapierichtungen in die Versorgung
weitgehend in Frage gestellt. Maßgeblich könne nur sein, ob die besondere Therapierichtung nach ihrem eigenen
Denkansatz plausibel sei. Dies sei hier der Fall.
Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (im Folgenden: Bundesausschuss), die damals gegolten
haben, seien nicht geeignet, den Leistungsanspruch des Versicherten zu definieren. Der Ausschuss habe nicht die
Kompetenz, das Leistungsrecht zu regeln. Dafür fehle es bereits an der gesetzlichen Ermächtigung. Die im
Leistungserbringungsrecht vorgesehenen Institutionen könnten das Leistungsrecht schon deswegen nicht
konkretisieren, weil deren Vorschriften keine Verbindlichkeit gegenüber den Versicherten besäßen. Darüber hinaus
habe der Ausschuss über drei der vier von Dr. B. zu einem Gesamtkonzept verbundenen Einzeltherapien keine
Stellungnahme abgegeben. Die Auffassung, der Versicherte könne nur die Leistungen beanspruchen, über die der
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Ausschuss positiv entschieden habe, finde im Gesetz keine Stütze. Soweit der Ausschuss das Bioresonanzverfahren
mit der Begründung abgelehnt habe, es handle sich dabei um "Mystik", stelle dies kein akzeptables Ergebnis einer
ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Diskussion dar. Eine die Therapie des Beschwerdeführers ausschließende
Leistungsbegrenzung wäre im Übrigen auch verfassungswidrig.
4. Auf die von der beklagten Krankenkasse eingelegte Revision hat das Bundessozialgericht das Urteil des
Landessozialgerichts aufgehoben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückgewiesen (BSGE 81, 54).
Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 SGB V für die Erstattung der Kosten der als einheitliches Behandlungskonzept
einzustufenden, aber nicht den bekannten besonderen Therapierichtungen (Homöopathie, Anthroposophie, Phytotherapie)
zuzurechnenden Therapie durch Dr. B. seien nicht erfüllt, weil die Krankenkasse die Leistung nicht zu Unrecht
abgelehnt habe. Ein Kostenerstattungsanspruch könne nur insoweit bestehen, als die zur Anwendung gekommene
Untersuchungs- oder Behandlungsmethode zu den von den gesetzlichen Krankenkassen geschuldeten Leistungen
gehöre.
Das sei aber nicht der Fall. Dass die in Streit stehenden Behandlungen nicht zum Leistungsspektrum der gesetzlichen
Krankenversicherung gehörten, ergebe sich aus § 135 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit den Richtlinien des
Bundesausschusses über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, wie sie damals gegolten
haben. Für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sehe § 135 Abs. 1 SGB V eine Art Verbot mit
Erlaubnisvorbehalt vor. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden seien so lange von der Abrechnung zu
Lasten der Krankenkasse ausgeschlossen, bis der Bundesausschuss sie als zweckmäßig anerkannt habe. Bei der
streitgegenständlichen Therapie handle es sich um eine neue Behandlungsmethode. Die hier angewandte Therapie das Bundessozialgericht bezeichnet sie als immunbiologische Therapie - sei bisher nicht Bestandteil des
vertragsärztlichen Leistungsspektrums gewesen. Eine vorherige Anerkennung durch den Bundesausschuss liege
bezüglich dieser Therapie nicht vor.
Dem stehe nicht entgegen, dass sich § 135 Abs. 1 SGB V vordergründig nicht mit dem Verhältnis zwischen
Versicherten und Krankenkassen befasse. Der systematische Zusammenhang zwischen Leistungsrecht und
Leistungserbringungsrecht führe dazu, dass das Leistungsrecht gegenüber dem Leistungserbringungsrecht nicht
vorrangig sei. Die Regelungen im Leistungsrecht gewährten nur Rahmenrechte. Ein unmittelbar durchsetzbarer
Anspruch werde nicht begründet. Das Rahmenrecht werde durch den Arzt konkretisiert, dessen Handlungsspielraum
seinerseits durch die gesetzlichen Regelungen und damit auch durch die Richtlinien des Bundesausschusses
abgesteckt werde. Die Vorschriften des Vertragsarztrechts einschließlich der Richtlinien des Bundesausschusses
bestimmten den Leistungsanspruch für Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte gleichermaßen verbindlich.
Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sei es nicht zu beanstanden, dass § 135 Abs. 1 SGB V die für die
vertragsärztliche Behandlung freigegebenen neuen Methoden nicht selbst nenne, sondern insoweit auf die Richtlinien
verweise. Diese seien nunmehr in die Bundesmantelverträge und die Gesamtverträge über die vertragsärztliche
Versorgung eingegliedert und nähmen an deren normativer Wirkung teil. Für die vertragsunterworfenen Krankenkassen
und Vertragsärzte setzten sie unmittelbar verbindliches, außenwirksames Recht. Die im Schrifttum dagegen
geäußerten verfassungsrechtlichen Einwände teile das Gericht nicht.
Angesichts der Verbindlichkeit der Richtlinien auch im Verhältnis zum Versicherten sei dem Versicherten, der sich eine
vom Bundesausschuss nicht empfohlene Behandlung auf eigene Rechnung beschaffe, im Kostenerstattungsverfahren
der Einwand abgeschnitten, die Methode sei gleichwohl zweckmäßig und in seinem konkreten Fall wirksam gewesen
oder lasse einen Behandlungserfolg zumindest als möglich erscheinen. Etwas anderes gelte nur dann, wenn ein
Systemmangel vorliege. Davon sei insbesondere auszugehen, wenn der Bundesausschuss innerhalb vertretbarer Zeit
noch keine Stellungnahme zu einer Behandlungsmethode abgegeben habe, etwa weil er eine solche aus willkürlichen
Erwägungen blockiere oder verzögere. Anhaltspunkte dafür bestünden im vorliegenden Fall nicht.
Allerdings habe der Beschwerdeführer bislang keine Gelegenheit gehabt, hierzu Stellung zu nehmen, weil es nach der
bisherigen Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts darauf nicht angekommen sei. Eine Zurückverweisung an das
Berufungsgericht sei jedoch entbehrlich, weil bereits jetzt davon ausgegangen werden könne, dass die Methode von
Dr. B. nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche. Für die immunbiologische
Therapie lägen Wirksamkeitsnachweise nicht vor. Allerdings stoße ein Wirksamkeitsnachweis für eine Behandlung
der DMD auf erhebliche Schwierigkeiten. Letztlich könne der Verlauf der Krankheit weder erklärt noch gezielt
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beeinflusst werden; nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse komme bestenfalls eine
symptomatische Behandlung in Frage. Beschränkten sich die Einwirkungsmöglichkeiten anerkannter
Behandlungsmethoden wie hier auf eine mehr oder weniger vorübergehende und nur begrenzt objektivierbare
Unterdrückung der Krankheitssymptome, genüge es nicht, sich zur Ablehnung der Kostenerstattung für noch nicht
empfohlene Methoden auf den fehlenden oder mangelhaften Wirksamkeitsnachweis zu berufen. Maßstab könne dann
nur entweder die naturwissenschaftlichmedizinische Prüfung oder die Bewertung der Methode durch die Verwaltung
und die Gerichte sein oder die Feststellung, ob der neuen Methode in der medizinischen Fachdiskussion bereits ein
solches Gewicht zukomme, dass eine Überprüfung und Entscheidung durch den Bundesausschuss veranlasst
gewesen wäre.
Dieser letztgenannte Prüfungsansatz richte sich nicht an medizinischen Kategorien aus, sondern an der tatsächlichen
Verbreitung in der Praxis und in der fachlichen Diskussion. Daran sei hier anzuknüpfen. Es könne nicht Sinn eines
Gerichtsverfahrens sein, die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft voranzutreiben oder in wissenschaftlichen
Auseinandersetzungen Position zu beziehen. Eine Behandlungsmethode sei dann erstattungsfähig, wenn sie in der
medizinischen Fachdiskussion eine breite Resonanz gefunden habe und von einer erheblichen Anzahl von Ärzten
angewandt werde. Die von Dr. B. eingesetzte Behandlungsmethode erfülle diese Voraussetzungen nicht.
5. Gegen dieses Urteil richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 2
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 sowie von Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.
Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung unterlägen dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG. Sie seien
ein Äquivalent eigener Arbeit und Leistung. Aus Art. 14 Abs. 1 GG folge ein verfassungsrechtlich garantierter Anspruch
des Versicherten auf Gewährung von Krankenbehandlung im Fall von Krankheit. Die Regelungen des SGB V seien als
Inhaltsbestimmung zu sehen. § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V begrenzten die Leistungsansprüche auf solche
Behandlungen, die nach Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse
entsprächen und darüber hinaus das Wirtschaftlichkeitsgebot beachteten. Weiter gehende Einschränkungen durch die
Richtlinien des Bundesausschusses seien nicht möglich. Eine entsprechende normative Wirkung lasse sich weder
einfachrechtlich noch verfassungsrechtlich begründen.
Somit dürfe das Begehren des Beschwerdeführers nur am Maßstab des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V gemessen werden.
Dabei sei der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung maßgeblich. Das
Landessozialgericht habe in seinem Urteil, an dessen tatsächliche Feststellungen das Bundessozialgericht gebunden
sei, festgestellt, dass die Behandlung des Beschwerdeführers über eine solche so genannte Binnenanerkennung
verfüge. Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG resultiere das Recht des Beschwerdeführers,
selbstbestimmt über seine Behandlung zu entscheiden. Da die Richtlinien des Bundesausschusses nicht zur
verfassungsmäßigen Ordnung gehörten, könne ein Leistungsanspruch nicht von einer Anerkennung durch sie
abhängig gemacht werden. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge, dass bei der Ausfüllung des Rahmenrechts auf
Krankenbehandlung solche Maßnahmen zu berücksichtigen seien, die zumindest geeignet seien, die Verschlimmerung
einer Krankheit zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Das treffe nach den Feststellungen des
Landessozialgerichts auf die Behandlung des Beschwerdeführers zu.
Auch sei Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Soweit nunmehr das Bundessozialgericht auch auf die Verbreitung der Methode
abstelle, sei dies für den Beschwerdeführer völlig überraschend gewesen. Da die Kriterien in dem Urteil erstmals
festgelegt worden seien, hätten weder das Berufungsgericht noch er selbst Veranlassung gehabt, dazu Stellung zu
nehmen. Der Rechtsstreit hätte daher zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückverwiesen
werden müssen.
III.
Zur Verfassungsbeschwerde haben die Bundesregierung, der AOKBundesverband, die Barmer Ersatzkasse als
Beklagte des Ausgangsverfahrens und der Verband der privaten Krankenversicherung Stellung genommen. Der
Bundesausschuss und der Gemeinsame Bundesausschuss haben ihnen vom Bundesverfassungsgericht gestellte
Fragen beantwortet.
1. Die Bundesregierung sieht sowohl die bedarfsgerechte Verteilung der begrenzten Mittel als auch die finanzielle
Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung gefährdet, wenn neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 164
der vertragsärztlichen Versorgung anerkannt würden, deren Nutzen wissenschaftlich nicht belegt sei. Mit § 2 Abs. 1
Satz 3 SGB V verfolge das Gesetz neben dem gesundheitspolitischen Ziel der Qualitätsverbesserung insbesondere
das finanzpolitische Ziel der Kostendämpfung. Nur bei dessen konsequenter Verfolgung sei gewährleistet, dass allen
Versicherten eine dem medizinischtechnischen Fortschritt entsprechende medizinische Versorgung zur Verfügung
gestellt werden könne. Es dürfe nicht sein, dass die Solidargemeinschaft der Versicherten mit den Kosten einer
Behandlung belastet würde, deren medizinischer Nutzen nicht belegt sei.
Das gelte auch dann, wenn die Wirksamkeit im Einzelfall nachgewiesen oder zumindest sehr wahrscheinlich sei. Bei
der Bewertung eines lediglich im Einzelfall eingesetzten Verfahrens könne eine positive Veränderung sowohl wegen als
auch trotz der ergriffenen Maßnahme eingetreten sein; es sei nicht möglich, beobachtete Wirkungen auf die
durchgeführte Maßnahme zurückzuführen. Jede Aussage über die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode erfordere
einen Vergleich; denn nur so lasse sich beurteilen, ob der beobachtete klinisch relevante Effekt auf die medizinische
Intervention zurückzuführen oder ob er als Spontanverlauf oder PlaceboEffekt zu werten sei. Eine solche
Einzelfallbetrachtung würde in eine Therapiebeliebigkeit münden.
2. Nach Auffassung des AOKBundesverbands, der sich auch im Namen der übrigen Spitzenverbände der
Krankenkassen geäußert hat, verletze die angegriffene Entscheidung des Bundessozialgerichts den Beschwerdeführer
weder in Grundrechten noch in grundrechtsähnlichen Rechten.
Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergebe sich kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkasse auf
Bereitstellung bestimmter Gesundheitsleistungen. Zwar folge aus ihm eine objektivrechtliche Pflicht des Staates, sich
schützend und fördernd vor das Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. Angesichts des weiten
Gestaltungsspielraums bei der Erfüllung der Schutzpflichten könne aber nur geprüft werden, ob die öffentliche Gewalt
Vorkehrungen zum Schutz der Grundrechte treffe, die nicht völlig ungeeignet oder unzulänglich seien.
Die Richtlinien des Bundesausschusses beschränkten den Leistungsanspruch des Versicherten nicht, sondern
konkretisierten ihn lediglich. Unmittelbar aus dem Gesetz ergebe sich kein Leistungsanspruch. Dieser werde in den
meisten Fällen erst durch die zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern geschlossenen Verträge und
Richtlinien konkret ausgestaltet. § 135 Abs. 1 SGB V gestalte unmittelbar das Leistungsrecht. Das Bundessozialgericht
gehe in der angegriffenen Entscheidung gerade nicht davon aus, die Richtlinien des Bundesausschusses verkörperten
Akte autonomer Rechtsetzung im Rahmen einer Satzungsautonomie. Vielmehr qualifiziere es sie als untergesetzliche
Rechtsnormen und damit als materielles Recht eigener Art. Einen numerus clausus zulässiger Rechtsetzungsformen
sehe das Grundgesetz nicht vor. Weitere Typen untergesetzlicher Rechtsnormen seien jedenfalls unter bestimmten
Voraussetzungen zulässig; zu ihnen gehörten auch die Richtlinien des Bundesausschusses. Sie seien Teil eines
historisch gewachsenen umfassenden Gefüges untergesetzlicher Normen der gemeinsamen Selbstverwaltung
zwischen Krankenkassen und Ärzten, dessen Wurzeln bis in die vorkonstitutionelle Zeit zurückreichten.
3. Die Barmer Ersatzkasse sieht den Beschwerdeführer nicht in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten
verletzt. Der Bundesausschuss sei paritätisch mit Vertretern der Ärzte und der Krankenkassen, zwei weiteren
unparteiischen Mitgliedern sowie einem ebenfalls unparteiischen Vorsitzenden besetzt. Die Prüfung von
Behandlungsmethoden, die bisher noch nicht Gegenstand der vertragsärztlichen Versorgung gewesen seien, erfolge
unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnis. Eine Ablehnung durch den
Bundesausschuss bedeute zugleich auch, dass die abgelehnte Außenseitermethode nicht zur notwendigen
Krankenbehandlung gehöre, so dass die Versicherten nach Maßgabe des § 27 SGB V keinen Anspruch gegenüber der
Krankenkasse hätten. Die Richtlinien stellten somit außenwirksames Recht dar. Der Bundesausschuss sei hierfür auch
verfassungsrechtlich ausreichend legitimiert.
4. Nach Auskunft des Verbandes der privaten Krankenversicherung sind in der privaten Krankenversicherung, sowohl
in der Voll- als auch in der Zusatzversicherung, nach den einschlägigen Musterbedingungen Kosten alternativer
Behandlungsmethoden in jedem Krankheitsfall dann erstattungsfähig, wenn sie sich in der Praxis als ebenso Erfolg
versprechend bewährt hätten wie schulmedizinische Verfahren und wenn die Alternativmethode keine höheren Kosten
verursache. Darüber hinaus seien die Kosten alternativer Behandlungsmethoden dann zu erstatten, wenn es sich um
unheilbare Erkrankungen handle, für die keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stünden.
Dies dürfte nach Einschätzung des Verbandes nur vergleichsweise selten der Fall sein, weil die schulmedizinischen
Behandlungsformen nicht nur die Heilung, sondern auch die Linderung, Besserung und Verhinderung einer
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Verschlechterung umfassten. Im Übrigen müsse auch die Heilbehandlung nach alternativen Methoden auf einem nach
medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbaren Ansatz beruhen, der die prognostizierte Wirkungsweise auf das
angestrebte Behandlungsziel zu erklären vermöge. Dabei reiche es aus, wenn die Erreichung des Behandlungsziels
mit einer nicht nur ganz geringen Erfolgsaussicht möglich erscheine.
Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen sei der Versicherungsnehmer nachweispflichtig. Dabei dürfte die Berufung
auf die "Binnenanerkennung" abzulehnen sein, weil mit diesem Verfahren die medizinische Wirksamkeit und
Notwendigkeit jeder neuen Alternativmethode zwangsläufig bejaht würde. Vielmehr müsse eine objektive Bewertung
der Erforderlichkeit möglich sein und die medizinische Notwendigkeit einer Heilbehandlung vom Standpunkt der
Schulmedizin aus beurteilt werden. Dabei seien noch nicht abschließend gesicherte Erkenntnisse mit zu
berücksichtigen. Neben den üblichen Versicherungen gebe es im Übrigen Spezialtarife, die bestimmte Leistungen aus
dem Spektrum der besonderen Therapierichtungen ausdrücklich zusagten.
5. Der Bundesausschuss und der Gemeinsame Bundesausschuss haben auf die Fragen des
Bundesverfassungsgerichts eingehend geantwortet und insbesondere ausgeführt: Eine Kostenübernahme durch die
gesetzliche Krankenversicherung in Fällen, in denen eine nicht allgemein wissenschaftlich anerkannte Methode im
konkreten Fall Wirkung zeige, werde nicht befürwortet. Der Wirkungsnachweis im Einzelfall sei nicht zu führen. Der
vermeintliche Erfolg einer Therapie stelle sich oftmals nur als positive Krankheitsentwicklung heraus, die kurze Zeit
später durch einen Rückfall in die alten Leiden beendet werde. Selbst wenn eine Krankheit als ausgeheilt gelten könne,
sei es nicht möglich nachzuweisen, dass der Heilerfolg auf die gewählte Behandlungsmethode zurückzuführen sei. Das
liege daran, dass Krankheiten in vielen Fällen in einem nicht vorhersehbaren oder rekonstruierbaren Spontanverlauf
heilten. Bekannt sei auch die Wirkung von Behandlungen ohne medizinischphysischen Ursachenzusammenhang
(PlaceboEffekt).
Würde sich die Ansicht durchsetzen, die Krankenkassen seien auch bei Wirkung einer Methode im Einzelfall zur
Kostentragung verpflichtet, sähe man sich mit dem Grundproblem konfrontiert, dass sich die Wirkung einer Therapie
allenfalls ex post feststellen lasse, Arzt und Patient aber vor dem Behandlungsbeginn die geeignete Therapie
bestimmen müssten. Eine Kostenerstattung aufgrund eines Wirksamkeitsnachweises im Einzelfall würde die
medizinisch unverantwortliche Entscheidung für unerforschte, riskante Methoden mit geringer
Wirkungswahrscheinlichkeit bei Auftreten eines eher zufälligen Behandlungserfolgs belohnen. Zudem wäre der Patient,
bei dem die Methode zufällig nicht angeschlagen habe, finanziell benachteiligt. Des Weiteren würden unkontrollierte
Heilversuche zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung unterstützt. Schließlich würde eine Flut von
Rechtsstreiten darüber ausgelöst, ob ein Behandlungserfolg vorliege und was die Ursache für ihn gewesen sei.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Bundessozialgerichts beruht auf einer Auslegung der
leistungsrechtlichen Vorschriften des § 1 Satz 1, § 2 Abs. 1, § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V,
die mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie mit Art. 2 Abs. 2
Satz 1 GG nicht vereinbar ist.
I.
1. a) Vorrangiger Maßstab für die verfassungsrechtliche Prüfung ist Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip.
Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist betroffen, wenn der Gesetzgeber Personen der
Pflichtversicherung in einem System der sozialen Sicherheit unterwirft (vgl. BVerfGE 29, 221 <235 f.>; 29, 245 <254>; 29, 260 <266 f.>; 109, 96 <109 f.>;
stRspr). Dies gilt auch für die Begründung der Pflichtmitgliedschaft mit Beitragszwang in der gesetzlichen
Krankenversicherung.
Auch Regelungen, die das öffentlichrechtliche Sozialversicherungsverhältnis, vor allem in Bezug auf die Beiträge der
Versicherten und die Leistungen des Versicherungsträgers, näher ausgestalten, sind am Grundrecht des Art. 2 Abs. 1
GG zu messen (vgl. BVerfGE 75, 108 <154>; 97, 271 <286 f.>; 106, 275 <304 f.>). Sein Schutzbereich wird berührt, wenn der Gesetzgeber durch
die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht in einem öffentlichrechtlichen Verband der
Sozialversicherung die allgemeine Betätigungsfreiheit des Einzelnen durch Einschränkung ihrer wirtschaftlichen
Voraussetzungen nicht unerheblich einengt (vgl. BVerfGE 97, 271 <286>). Ein solcher Eingriff bedarf der Rechtfertigung durch eine
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entsprechende Ausgestaltung der ausreichenden solidarischen Versorgung, die den Versicherten für deren Beitrag im
Rahmen des Sicherungszwecks des Systems zu erbringen ist. Für die Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen
Rentenversicherung hat das Bundesverfassungsgericht Art. 2 Abs. 1 GG als verfassungsrechtlichen Maßstab
herangezogen, wenn der Gesetzgeber gesetzlich zugesagte und beitragsfinanzierte Leistungen dieses
Versicherungszweigs wesentlich vermindert (vgl. BVerfGE 97, 271 <286>). In Bezug auf die gesetzliche Krankenversicherung ist
verfassungsgerichtlich entschieden, dass eine gesetzliche Regelung das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit
des Versicherten berührt, wenn die Freiheit zur Auswahl unter Arznei- und Hilfsmitteln, die ihm als Sachleistung zur
Verfügung gestellt werden, eingeschränkt wird (vgl. BVerfGE 106, 275 <304 f.>).
Der in einem System der Sozialversicherung Pflichtversicherte hat typischerweise keinen unmittelbaren Einfluss auf die
Höhe seines Beitrags und auf Art und Ausmaß der ihm im Versicherungsverhältnis geschuldeten Leistungen. In einer
solchen Konstellation der einseitigen Gestaltung der Rechte und Pflichten der am Versicherungsverhältnis Beteiligten
durch Gesetz (vgl. § 31 SGB I) und durch die auf ihm beruhenden Rechtsakte der Leistungskonkretisierung, schützt das
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG den beitragspflichtigen Versicherten vor einer Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und
Leistung. Daraus lässt sich in der gesetzlichen Krankenversicherung zwar kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf
bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung ableiten. Jedoch sind gesetzliche oder auf Gesetz beruhende
Leistungsausschlüsse und Leistungsbegrenzungen daraufhin zu prüfen, ob sie im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG
gerechtfertigt sind. Gleiches gilt, wenn die gesetzlichen Leistungsvorschriften - wie hier - durch die zuständigen
Fachgerichte eine für den Versicherten nachteilige Auslegung und Anwendung erfahren.
b) Bei der näheren Bestimmung und Entfaltung der dargestellten Schutzfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG kommt dem
grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip maßgebliche Bedeutung zu. Der Schutz des Einzelnen in Fällen von Krankheit
ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundaufgabe des Staates. Ihr ist der Gesetzgeber
nachgekommen, indem er durch Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung als öffentlichrechtlicher
Pflichtversicherung für den Krankenschutz eines Großteils der Bevölkerung, Sorge getragen und die Art und Weise der
Durchführung dieses Schutzes geregelt hat (vgl. BVerfGE 68, 193 <209>). In Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips richtet er die
Beiträge an der - regelmäßig durch das Arbeitsentgelt oder die Rente bestimmten - wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
des einzelnen Versicherten (§ 226 SGB V) und nicht am individuellen Risiko aus (vgl. BVerfGE 103, 172 <185>), ist ferner auf Stabilität der
Beitragssätze bedacht (§ 71 SGB V), wirkt auf Beitragssenkungen hin (§ 220 Abs. 4 SGB V) und nimmt auch bei der Ausgestaltung
der Verpflichtung zur Erbringung von Zuzahlungen zu gesetzlichen Leistungen (vgl. § 61 SGB V) auf die soziale Situation des
Einzelnen Rücksicht (§ 62 SGB V). Damit geht der Gesetzgeber davon aus, dass den Versicherten regelmäßig erhebliche
finanzielle Mittel für eine zusätzliche selbständige Vorsorge im Krankheitsfall und insbesondere für die Beschaffung von
notwendigen Leistungen der Krankenbehandlung außerhalb des Leistungssystems der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht zur Verfügung stehen.
In der sozialen Krankenversicherung sind abhängig Beschäftigte mit mittleren und niedrigen Einkommen sowie Rentner
pflichtversichert (vgl. BVerfGE 103, 172 <185>). Die gesetzliche Krankenversicherung erfasst nach der gesetzlichen Typisierung
jedenfalls die Personengruppen, die wegen ihrer niedrigen Einkünfte eines Schutzes für den Fall der Krankheit
bedürfen, der durch Zwang zur Eigenvorsorge erreicht werden soll (vgl. BVerfGE 102, 68 <89>). Mit dieser Versicherungsform wird
auch einkommensschwachen Bevölkerungsteilen ein voller Krankenversicherungsschutz zu moderaten Beiträgen
ermöglicht (vgl. BVerfGE 103, 172 <185>). Es bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung vor Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit
dem Sozialstaatsprinzip, wenn dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere
einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren
fachgerichtliche Auslegung und Anwendung vorenthalten werden.
Dabei macht es grundsätzlich keinen Unterschied, ob es um den Leistungsanspruch eines Versicherten oder - wie
hier - einer nach § 10 SGB V mitversicherten Person (vgl. dazu BVerfGE 107, 205 <206 f.>) geht. Der Beitrag wird zwar in diesem Fall
vom Versicherten gezahlt, der dadurch jedoch seiner Pflicht zum Unterhalt nachkommt, zu dem auch der Aufwand für
einen angemessenen Krankenversicherungsschutz gehört (vgl. BVerfGE 107, 205 <217>).
c) Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung
und seiner fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung im Einzelfall sind darüber hinaus auch die Grundrechte auf
Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Zwar folgt aus diesen Grundrechten regelmäßig
kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere
spezieller Gesundheitsleistungen (vgl. BVerfGE 77, 170 <215>; 79, 174 <202>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. 03.1997, NJW 1997, S. 3085; MedR
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 167
. Die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung
hat sich jedoch an der objektivrechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die
Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen (vgl. BVerfGE 46, 160 <164>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. 12.1997, a.a.O.;
Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. 11.2002, NJW 2003, S. 1236 <1237>; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. 03.2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>). Insofern
können diese Grundrechte in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der
maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. 08.1998,
NJW 1999, S. 857 f.).
1997, S. 318 <319> und vom 15. 12.1997, NJW 1998, S. 1775 <1776>)
Dies gilt insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. Denn
das Leben stellt einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung dar (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des
Ersten Senats vom 11. 08.1999, NJW 1999, S. 3399 <3401>). Behördliche und gerichtliche Verfahren müssen dieser Bedeutung und der im
Grundrecht auf Leben enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidung (vgl. BVerfGE 39, 1 <41>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des
Ersten Senats vom 19. 03.2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>) gerecht werden und sie bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen
Vorschriften des Krankenversicherungsrechts berücksichtigen (vgl. BVerfGE 53, 30 <65>; zur Frage eines originären Leistungsanspruchs aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG vgl. auch SchmidtAßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, S. 23 ff. m.w.N.).
2. a) Danach ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die gesetzliche Krankenversicherung den
Versicherten Leistungen nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 SGB V) nur unter Beachtung des
Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der
Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Gleiches gilt für die Entscheidung des Gesetzgebers, die nähere
Konkretisierung der durch unbestimmte Gesetzesbegriffe festgelegten Leistungsverpflichtung im Einzelfall im Rahmen
der kassenärztlichen Vorgaben, insbesondere der kassenärztlichen Verträge (§§ 82 ff., 87, 125, 127, 131 SGB V), vor allem den
Ärzten vorzubehalten (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB V; BSGE 73, 271), die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen (§ 95 SGB V; vgl. auch
BVerfGE 106, 275 <277, 303, 308>). Dem Arzt kommt dabei nicht nur die Feststellung des Eintritts des Versicherungsfalls Krankheit
zu, sondern auch und gerade die von ihm zu verantwortende Einleitung, Durchführung und Überwachung einer den
Zielen des § 27 Abs. 1 SGB V gerecht werdenden Behandlung (vgl. BSGE 82, 158 <161 f.>). Es steht auch mit dem Grundgesetz
im Einklang, wenn der Gesetzgeber vorsieht, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend,
zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben und nicht das Maß des Notwendigen überschreiten dürfen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB
V).
b) Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung darf auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen
mitbestimmt sein (vgl. BVerfGE 68, 193 <218>; 70, 1 <26, 30>). Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische
Entscheidungen erhebliches Gewicht (vgl. BVerfGE 103, 172 <184>). Dem Gesetzgeber ist es im Rahmen seines
Gestaltungsspielraums grundsätzlich erlaubt, den Versicherten über den Beitrag hinaus zur Entlastung der
Krankenkassen und zur Stärkung des Kostenbewusstseins in der Form von Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen zu
beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell zugemutet werden kann (vgl. BVerfGE 70, 1 <30>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer
des Ersten Senats vom 7. 03.1994, NJW 1994, S. 3007). Die gesetzlichen Krankenkassen sind nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu
leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des
Ersten Senats vom 5. 03.1997, NJW 1997, S. 3085).
c) Es ist dem Gesetzgeber schließlich nicht von Verfassungs wegen verwehrt, zur Sicherung der Qualität der
Leistungserbringung, im Interesse einer Gleichbehandlung der Versicherten und zum Zweck der Ausrichtung der
Leistungen am Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ein Verfahren vorzusehen, in dem neue Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen
sowie ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen
Erkenntnisse sachverständig geprüft werden, um die Anwendung dieser Methoden zu Lasten der Krankenkassen auf
eine fachlichmedizinisch zuverlässige Grundlage zu stellen.
Ob für die Erfüllung dieser Aufgabe das nach § 135 SGB V vorgesehene Verfahren der Entscheidung durch den
Gemeinsamen Bundesausschuss verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats
vom 19. 03.2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>), ist hier nicht zu entscheiden. Das Bundessozialgericht hat in dem mit der
Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil zur Begründung seiner Entscheidung im Ergebnis allein darauf abgestellt,
dass die umstrittene Behandlungsmethode nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Forschung
entspreche und keine erfahrungsgemäß wirksame Methode sei. Davon hat die verfassungsrechtliche Beurteilung
auszugehen. Das Bundesverfassungsgericht hat daher keinen Anlass zu prüfen, ob die Rechtsprechung des
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Bundessozialgerichts zur demokratischen Legitimation der Bundesausschüsse und des Gemeinsamen
Bundesausschusses und zur rechtlichen Qualität der von ihnen erlassenen Richtlinien als außenwirksamen
untergesetzlichen Rechtssätzen (vgl. dazu BSGE 78, 70 <74 ff.>; 81, 54 <59 ff.>; 81, 73 <76 ff.>) mit dem Grundgesetz in Einklang steht (siehe dazu aus
dem umfangreichen Schrifttum Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 119 ff., 153 ff.; Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, S. 454 ff.; Schnapp, in: von
Wulffen/Krasney <Hrsg.>, Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 497 ff.; Hase, MedR 2005, S. 391; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 176 ff., jeweils m.w.N.)
.
3. Das angegriffene Urteil des Bundessozialgerichts genügt jedoch nicht den Anforderungen aus Art. 2 Abs. 1 GG in
Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip sowie aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und verletzt den Beschwerdeführer in
seinem Recht auf eine Leistungserbringung durch die gesetzliche Krankenversicherung, die dem Schutz seines Lebens
gerecht wird.
a) Nicht zu entscheiden ist dabei, ob die Annahme des Bundessozialgerichts, wegen des eindeutigen Wortlauts des
§ 135 Abs. 1 SGB V sei die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode durch die Leistungserbringer im System der
gesetzlichen Krankenversicherung von der vorherigen Anerkennung durch den Bundesausschuss abhängig (vgl. BSGE 81, 54
<57 ff.>; 86, 54 <56>; BSG SozR 42500 § 135 Nr. 1), mit dem Grundgesetz auch in den Fällen vereinbar ist, in denen die medizinische
Wissenschaft wegen der Eigenart der lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Krankheit über eine
wissenschaftlich gesicherte, an Gesichtspunkten der statistischen Evidenz, gegebenenfalls auch niedrigerer
Evidenzstufen bei seltenen Krankheiten (vgl. § 20 Abs. 2 Satz 3 der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses in der Fassung vom 20. 09.2005),
ausgerichtete Therapie auf der Grundlage klinischer oder sonstiger Studien nicht oder noch nicht verfügt (vgl. auch BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. 03.2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>). Denn das Bundessozialgericht stellt in Fällen, in denen - wie
hier - eine solche Anerkennung nicht vorliegt und auch kein Fall eines so genannten Systemmangels (vgl. BSGE 81, 54 <65 f.>; 86,
54 <60 ff.>; 88, 51 <61 f.>) gegeben ist, entscheidend darauf ab, ob sich die Methode in der medizinischen Praxis durchgesetzt
hat. Ist dies nicht der Fall, dann lehnt das Gericht, wie in der angegriffenen Entscheidung, die Annahme einer
gesetzlichen "Versorgungslücke" ab, die durch eine richterliche Entscheidung im Einzelfall zu schließen wäre. Damit
wird - wie sich aus der weiteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zeigt - die Übernahme von Kosten durch
die gesetzlichen Krankenkassen auch in den Fällen einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden
Krankheit ausgeschlossen, für die eine dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechende
Behandlungsmethode nicht existiert (vgl. BSGE 86, 54 <66>), der behandelnde Arzt jedoch eine Methode zur Anwendung bringt,
die nach seiner Einschätzung im Einzelfall den Krankheitsverlauf positiv zu Gunsten des Versicherten beeinflusst.
b) Dies steht nicht im Einklang mit dem Grundgesetz.
aa) Es ist mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den
Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge
die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer
lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische
Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die
Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen
Krankenversicherung zu verweisen. Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte andere
Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf
eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Ein solcher Fall ist hier gegeben. Für die
Behandlung der Duchenne'schen Muskeldystrophie steht gegenwärtig allein ein symptomatisches Therapiespektrum
zur Verfügung, zu dem auch operative Maßnahmen gehören. Eine unmittelbare Einwirkung auf die Krankheit und ihren
Verlauf mit gesicherten wissenschaftlichen Methoden, ist noch nicht möglich (vgl. http://www.duchenneforschung.de/richtli1.htm).
bb) Die angegriffene Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des SGB V durch das Bundessozialgericht ist in
der extremen Situation einer krankheitsbedingten Lebensgefahr auch nicht mit der Schutzpflicht des Staates für das
Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu vereinbaren. Übernimmt der Staat mit dem System der gesetzlichen
Krankenversicherung Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten, so gehört die
Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung unter den genannten
Voraussetzungen zum Kernbereich der Leistungspflicht und der von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten
Mindestversorgung (vgl. auch Wiedemann, in: Umbach/Clemens <Hrsg.>, Grundgesetz, Bd. I, 2002, Art. 2 Rn. 376; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. I, Art. 2 Abs. 2 Rn. 94
<Bearbeitungsstand: 02.2004>; SchmidtAßmann, NJW 2004, S. 1689 <1691>).
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 169
c) Die im Streitfall vom Versicherten angerufenen Sozialgerichte haben in solchen Fällen, gegebenenfalls mit
sachverständiger Hilfe, zu prüfen, ob es für die vom Arzt nach gewissenhafter fachlicher Einschätzung vorgenommene
oder von ihm beabsichtigte Behandlung ernsthafte Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Erfolg der Heilung
oder auch nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im konkreten Einzelfall gibt (vgl. auch Schulin, in:
Schulin <Hrsg.>, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 6 Rn. 22). Solche Hinweise auf einen individuellen
Wirkungszusammenhang können sich aus dem Gesundheitszustand des Versicherten im Vergleich mit dem Zustand
anderer, in gleicher Weise erkrankten, aber nicht mit der in Frage stehenden Methode behandelter Personen ergeben
sowie auch mit dem solcher Personen, die bereits auf diese Weise behandelt wurden oder behandelt werden.
Insbesondere bei einer länger andauernden Behandlung können derartige Erfahrungen Folgerungen für die
Wirksamkeit der Behandlung erlauben. Weitere Bedeutung kommt der fachlichen Einschätzung der Wirksamkeit der
Methode im konkreten Einzelfall durch die Ärzte des Erkrankten zu, die die Symptome seiner Krankheit behandeln.
Hinweise auf die Eignung der im Streit befindlichen Behandlung können sich auch aus der wissenschaftlichen
Diskussion ergeben; in Bezug auf die Duchenne'sche Muskeldystrophie liegen inzwischen weltweit Beiträge vor.
Auf die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode im Einzelfall jedenfalls bei seltenen Krankheiten abzustellen, ist auch
dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht fremd. Nach § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V kann der Vertragsarzt
Arzneimittel, die aufgrund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen
sind, ausnahmsweise dennoch in medizinisch begründeten Einzelfällen verordnen. Auch das Bundessozialgericht hat
sich in seiner jüngeren Rechtsprechung bei einer Krankenbehandlung mit Arzneimitteln einer Einzelfallbetrachtung
unter bestimmten Voraussetzungen nicht verschlossen. Nach seiner Auffassung sind Maßnahmen zur Behandlung
einer Krankheit, die so selten auftritt, dass ihre systematische Erforschung praktisch ausscheidet, vom
Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil der zuständige
Bundesausschuss dafür keine Empfehlung abgegeben hat (vgl. BSGE 93, 236 <244 ff.>).
II.
Da das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil gegen Verfassungsrecht verstößt, ist es gemäß § 95 Abs. 2
BVerfGG aufzuheben. Ob es noch weitere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt, kann vorliegend dahinstehen.
Die Sache ist an das Bundessozialgericht zurückzuverweisen, das auf der Grundlage der in dieser Entscheidung
entwickelten Grundsätze neu über die Revision der beklagten Krankenkasse zu befinden haben wird.
Papier, Haas, Hömig, Steiner, Hohmann-Dennhardt, HoffmannRiem, Bryde, Gaier
BGH VI ZR 319/04 vom 8. 11.2005
Thöns
1. Im kooperativen Belegarztwesen verbundenen Ärzten stehen dieselben Rechtsformen zur Organisation ihrer
Zusammenarbeit offen wie bei ambulanter ärztlicher Tätigkeit. 2. Zur Frage der gesamtschuldnerischen
Haftung einer Belegärztegemeinschaft.
BGB §§ 705, 425; SGB V 115 Abs. 2
BGH, Urteil vom 8. 11.2005 - VI ZR 319/04 - OLG Zweibrücken, LG Kaiserslautern
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. 11.2005 durch die
Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom
23. 11.2004 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger erlitt bei seiner Geburt am 23. 08.1985 in der Privatklinik K. aufgrund ärztlicher Behandlungsfehler
erhebliche gesundheitliche Schäden. Die Beklagten waren neben Dr. R. und Dr. S. Mitglieder einer Gruppe von vier
einzeln niedergelassenen Gynäkologen, die gemeinsam als Belegärzte in der Klinik tätig waren. Dr. R. hatte die
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 170
Schwangerschaft ambulant betreut und die Mutter des Klägers stationär in die Belegklinik eingewiesen. Dr. S. leitete
die Geburt. Dabei unterliefen ihm schwerwiegende Behandlungsfehler, die zu einer massiven Hirnschädigung des
Klägers führten. Dr. S. wurde deswegen zum Ersatz der dem Kläger entstandenen materiellen und immateriellen
Schäden verurteilt. Hinsichtlich der materiellen Schäden wurde in einem weiteren Rechtsstreit auch die Ersatzpflicht
von Dr. R. festgestellt.
Nunmehr nimmt der Kläger auch die Beklagten als Gesamtschuldner neben Dr. R. und Dr. S. auf Ersatz seiner
materiellen Schäden in Anspruch. Er macht geltend, alle vier Gynäkologen hätten eine Belegärztegemeinschaft in Form
einer BGBGesellschaft gebildet.
Das Landgericht hat der Klage wegen Verletzung des Behandlungsvertrages stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat
die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen, mit der die Beklagten ihr
Klageabweisungsbegehren weiterverfolgen.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht, dessen Urteil in GesR 2005, 121 veröffentlicht ist, bejaht eine gesamtschuldnerische Haftung
der Beklagten, da der Behandlungsvertrag der Mutter des Klägers, in dessen Schutzbereich der Kläger einbezogen
gewesen sei, mit allen vier Belegärzten der Klinik zustande gekommen sei. Diese hätten sich nach außen erkennbar
als Gemeinschaftspraxis organisiert und seien auch gemeinschaftlich aufgetreten.
II.
Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Revision stand.
1. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zu Recht die Ersatzpflicht der Beklagten hinsichtlich der materiellen Schäden
des Klägers bejaht. Die Beklagten haften wegen positiver Verletzung des Behandlungsvertrages in Verbindung mit §§
705, 425 BGB. Dies folgt aus den Grundsätzen, die der erkennende Senat zur Haftung im Rahmen der ärztlichen
Gemeinschaftspraxis entwickelt hat. Sie gelten nicht nur für die ärztliche Zusammenarbeit in der ambulanten ärztlichen
Versorgung, sondern sind auch auf das Belegarztwesen anwendbar. Die vom Berufungsgericht vorgenommene
Vertragsauslegung wird diesen Grundsätzen gerecht und ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die der
Auslegung zugrunde liegenden Feststellungen sind von der Revision nicht angegriffen worden.
a) Nach der gesetzlichen Definition im Vertragsarztrecht sind Belegärzte im Sinne der dort geltenden
Vergütungsregelungen nicht am Krankenhaus angestellte Vertragsärzte, die berechtigt sind, ihre Patienten (Belegpatienten)
im Krankenhaus unter Inanspruchnahme der hierfür bereitgestellten Dienste, Einrichtungen und Mittel stationär oder
teilstationär zu behandeln, ohne hierfür vom Krankenhaus eine Vergütung zu erhalten (vgl. § 18 KHEntgG für die seit 1.1.2005 geltende
Belegarztvergütung im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung; identische Definitionen finden sich in § 121 Abs. 2 SGB V i.d.F. vom 20. 12.1988 und i.d.F. vom 21. 12.1992 sowie in § 23 Abs. 1 BPflVO
. Dieses Verständnis des Belegarztwesens liegt auch den Vergütungsregeln des zum Zeitpunkt der Geburt des
Klägers geltenden § 3 BPflVO zugrunde; die belegärztliche Tätigkeit wird nämlich schon in § 368 RVO und nachfolgend
auch in §§ 115, 121 SGB V erwähnt und als im vertragsärztlichen System zur Gewährleistung einer nahtlosen
Versorgung der Versicherten förderungswürdig bezeichnet.
1994)
Für die Belegarzttätigkeit mit privatärztlicher Abrechnung hat der Gesetzgeber keine gesonderte Definition getroffen;
die des Vertragsarztrechts gilt auch für privatärztliche Belegärzte (vgl. Geiß, Die Haftung des Belegarztes, 91, 94 f., in: Das Belegarztsystem, Recht der
Medizin, Bd. 1, 1994). Aus § 121 Abs. 1 SGB V ergibt sich, dass die belegärztliche Tätigkeit durch einen EinzelBelegarzt
ausgeübt werden kann, vorzugsweise jedoch durch mehrere Belegärzte gleicher Fachrichtung (kooperatives Belegarztwesen)
ausgeübt werden soll. Damit trägt § 121 Abs. 1 SGB V der strukturellen Entwicklung Rechnung, die vom traditionellen
EinzelBelegarzt zunehmend zum kooperativen Belegarztwesen führt. Dieser Wandel fand bereits Mitte der 70er Jahre
Niederschlag in schriftlichen Empfehlungen von Ärztevereinigungen (vgl. Grundsatzpapier von Bundesärztekammer, Kassenärztlicher Bundesvereinigung
und Deutscher Krankenhausgesellschaft zur Förderung des kooperativen Belegarztwesens, DÄBl 1981, 749 ff. zur Auslegung der 1959 verabschiedeten Grundsätze für die Gestaltung von Verträgen zwischen
Krankenhausträgern und Belegärzten, DÄBl 1959, 1247 ff)
.
b) Für die Art und Weise der ärztlichen Zusammenarbeit gibt es keine besonderen gesetzlichen Regelungen. Eine
bestimmte Rechtsform für das kooperative Belegarztwesen hat der Gesetzgeber auch im Rahmen der
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 171
vertragsärztlichen Versorgung nicht vorgeschrieben. Vielmehr steht den kooperierenden Belegärzten sowohl im
vertragsärztlichen als auch im privatärztlichen Bereich die gesamte Bandbreite der Zusammenarbeitsformen offen, die
auch kooperierenden zur ambulanten Versorgung niedergelassenen Ärzten zur Verfügung steht (vgl. Bergmann, Das Belegarztsystem Qualitätssicherung durch Vertragsgestaltung, S. 75, 86, in: Das Belegarztsystem, aaO; Weber/Müller, Chefarzt- und Belegarztvertrag, 1999, Teil A, Rn. 36; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 19.
Aufl., Teil II - Sozialgesetzbuch V, § 115 SGB V Rn. 5; Jung in: von Maydell, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung, GKSGB V, Stand 30. 09.1994, § 121, Rn. 4;
vgl. Dolinski, Der Belegarzt, Diss. Konstanz [1996], § 2 ff. der Beratungs- und Formulierungshilfe für den Abschluss eines Belegarztvertrages [kooperatives Belegarztwesen], S. 118 ff.; Grundsatzpapier von
Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Deutscher Krankenhausgesellschaft zur Förderung des kooperativen Belegarztwesens, aaO, S. 750 f., insbesondere Hinweise 2 und 4; vgl. auch Senatsurteil BGHZ
. Mithin richten sich sowohl die Vergütung der Mitglieder einer Gemeinschaft kooperierender Belegärzte als
auch deren Haftung für Versäumnisse anderer Mitglieder nach der rechtlichen Struktur ihrer Zusammenarbeit.
Entspricht diese den Kriterien, die der erkennende Senat für eine Gemeinschaftspraxis aufgestellt hat (vgl. Senatsurteil BGHZ 142,
126, 135 f.), so müssen auch deren Haftungsregeln Anwendung finden.
144, 296, 309)
c) Unter Beachtung dieser Grundsätze hat das Berufungsgericht die vertragliche Haftung der Beklagten zu Recht
bejaht, denn nach den getroffenen Feststellungen war die "Belegärztegemeinschaft" zwischen den Beklagten sowie Dr.
S. und Dr. R. nach Art einer Gemeinschaftspraxis organisiert.
aa) Unter dem Begriff "Gemeinschaftspraxis" wird die gemeinsame Ausübung ärztlicher Tätigkeit durch mehrere Ärzte
der gleichen oder verwandter Fachgebiete in gemeinsamen Räumen mit gemeinschaftlichen Einrichtungen und mit
einer gemeinsamen Büroorganisation und Abrechnung verstanden, wobei die einzelnen ärztlichen Leistungen für den
jeweiligen Patienten während der Behandlung von einem wie von dem anderen Partner erbracht werden können (vgl.
Senatsurteile BGHZ 97, 273, 276; 142, 126, 137; 144, 296, 308). Sind diese Voraussetzungen gegeben, ist auch bei einer Belegärztegemeinschaft
der hier zu beurteilenden Art davon auszugehen, dass der jeweils behandelnde Arzt die Rechtsbeziehungen zum
Patienten zugleich auch für seine ärztlichen Kollegen begründet; ebenso ist aus der Interessenlage und der
Verkehrsauffassung zu entnehmen, dass der Patient zu all diesen Ärzten in vertragliche Beziehungen tritt, so dass
gemäß § 164 BGB der Arztvertrag zwischen dem Patienten und allen Ärzten der Gemeinschaftspraxis zustande kommt
(Senatsurteil BGHZ 142, 126, 137; vgl. auch Senatsurteil BGHZ 97, 273, 277; Uhlenbruck/Schlund in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 18, Rn. 14).
Dem steht nicht entgegen, dass bei einer derartigen belegärztlichen Zusammenarbeit aufgrund der zwischen
Krankenhausträger und Belegarzt/Belegärzten üblicherweise getroffenen vertraglichen Gestaltung des
Belegarztverhältnisses die Räumlichkeiten und die medizinischen sowie pflegerischen Einrichtungen vom Klinikträger
gestellt werden. Ausschlaggebend ist, wie diese Zusammenarbeit der Belegärzte im Einzelfall organisiert ist und in
welcher Weise die Ärzte nach außen gegenüber den Patienten auftreten (gemeinsame Nennung der Ärzte auf einem Praxisschild, gemeinsame
Briefbögen, Rezepte und Überweisungsscheine, gemeinschaftliche Leistungsabrechnung).
bb) Sowohl die Organisation der belegärztlichen Zusammenarbeit zwischen den Beklagten sowie Dr. S. und Dr. R. als
auch ihr Auftreten nach außen gegenüber den Patienten erfüllen diese Merkmale einer "Gemeinschaftspraxis".
Die betreffenden Ärzte hatten sich vertraglich als "Belegärztegemeinschaft" organisiert und die "gemeinsame Führung
der Klinik K." übernommen, an der seinerzeit keine weiteren Belegärzte tätig waren. Sie hatten ihre Zusammenarbeit
vertraglich geregelt und dabei vereinbart, dass alle durch ihre klinische Arbeit anfallenden Honorare auf ein
gemeinschaftliches Konto eingezahlt werden sollten. Ihre Einnahmen sollten nachträglich zu gleichen Teilen an alle
verteilt werden. Diese Verteilung wurde nach den unangegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichtes auch
durchgeführt. Jedenfalls für die Behandlung von Privatpatienten - der Mutter des Klägers wurde vorliegend eine
Privatrechnung erstellt - erfolgte die Rechnungslegung unter einem Briefkopf, der alle vier Belegärzte namentlich
nannte. Soweit ersichtlich, ist die ärztliche Korres pondenz der Belegärztegemeinschaft, die belegärztliche Behandlung
betreffend, auf Briefpapier erfolgt, das den Kopf "Klinik K." ohne weitere Differenzierung (wie etwa: "Belegarzt Dr. ..") trägt. Da die
Klinik keine weiteren Belegärzte vertraglich an sich gebunden und in den Verträgen mit ihren Belegärzten eine
Vereinbarung getroffen hatte, wonach sicherzustellen sei, dass sich nach außen hin "die Klinik und ihre Belegärzte ...
als Einheit darstellen", spricht auch die Verwendung dieses Briefkopfes (neben dem "Rechnungsbriefkopf") für eine gemeinsame
Außendarstellung der Belegärztegemeinschaft unter der Bezeichnung "Klinik K.". Diese Form des Auftretens nach
außen entspricht derjenigen einer ambulanten Gemeinschaftspraxis (vgl. Senatsurteil BGHZ 97, 273, aaO).
Die von den Beklagten sowie Dr. S. und Dr. R. für die jeweilige Patientin erbrachten ärztlichen Leistungen während der
Behandlung konnten von einem wie von dem anderen Partner erbracht werden. Nach den unangegriffenen
Feststellungen des Berufungsgerichts sah der gemeinsame Dienstplan nicht etwa vor, dass Patientinnen zwingend von
"ihrem" Belegarzt behandelt wurden. Die Geburten und Operationen wurden vielmehr von dem jeweils
"diensthabenden" Arzt geleitet. Dem steht nicht entgegen, dass Patientinnen, die zuvor von einem der Belegärzte
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 172
ambulant behandelt worden waren, nach Möglichkeit von diesem weiterbehandelt werden sollten. Diese Form der
ärztlichen Betreuung entspricht der üblichen Arbeitsteilung in einer Gemeinschaftspraxis, in der der Patient
normalerweise zu "seinem" Arzt geht, jedoch von einem anderen Praxismitglied behandelt wird, wenn ersterer
verhindert ist (Senatsurteil BGHZ 142, 126, 136 f.). Entgegen der Auffassung der Revision handelt es sich insoweit nicht um eine bloße
Vertretungsregelung, sondern vielmehr um ein typisches Kennzeichen einer Gemeinschaftspraxis.
cc) Aus dem Umstand, dass die Mutter des Klägers den Vertrag über ihre ambulante Behandlung - unstreitig - nur mit
einem der Belegärzte (Dr. S.)
geschlossen hat, folgt nicht, dass sich dieses Vertragsverhältnis bei ihrer stationären belegärztlichen Behandlung auch
nur mit diesem einzelnen Belegarzt fortgesetzt hat. Zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass sich etwas
anderes auch nicht aus der Rechtsprechung des erkennenden Senates ergibt. Das in diesem Zusammenhang erörterte
Senatsurteil BGHZ 144, 296 betraf einen Sachverhalt, in dem ein Patient, der in einer ambulanten Gemeinschaftspraxis
behandelt worden war, anschließend stationär in einer Klinik belegärztlich von einem der Ärzte aus dieser Praxis
weiterbehandelt wurde. Für diesen Fall hat der erkennende Senat entschieden, dass sich der mit allen Ärzten einer
Gemeinschaftspraxis geschlossene ambulante Behandlungsvertrag mit diesen fortsetzt, wenn der Patient stationär in
einer Klinik behandelt wird, in der die Ärzte der Gemeinschaftspraxis belegärztlich tätig sind. Dies gelte auch, wenn die
tatsächliche stationäre Behandlung nur von einem dieser Ärzte durchgeführt werde und hänge nicht davon ab, ob die
Belegärzte auch ihre stationäre Tätigkeit in Form einer Gemeinschaftspraxis organisiert hätten. Das entspricht dem bei
der Gestaltung von Verträgen zwischen Krankenhausträgern und Belegärzten geltenden Grundsatz, dass die
stationäre belegärztliche Behandlung nur die Fortsetzung der ambulanten Behandlung durch den gleichen Arzt darstellt
(OLG Celle, VersR 1993, 360 mit NABeschluss des erkennenden Senats vom 17. 11.1992 - VI ZR 58/92; Franzki/Hansen, NJW 1990, 737; vgl. auch Senatsurteil BGHZ 144, 296, 309 f.). Daraus
lässt sich jedoch nicht der Umkehrschluss ziehen, dass ein Patient, der zuvor lediglich von einem der Belegärzte
ambulant behandelt worden ist, bei Aufnahme in die Belegklinik nicht auch mit den anderen Belegärzten in vertragliche
Beziehungen tritt, wenn diese ihre Zusammenarbeit im Krankenhaus nach Art einer Gemeinschaftspraxis organisiert
haben. Der erkennende Senat hat bereits in jener Entscheidung erwogen, dass bei entsprechenden tatsächlichen
Feststellungen in Betracht komme, dass die Belegärzte hinsichtlich der im Krankenhaus erfolgten Behandlung als
"Gemeinschaftspraxis" aufgetreten
"Gemeinschaftspraxis" aufgetreten seien (BGHZ 144, 296, 309). Solche Feststellungen liegen hier vor und rechtfertigen die vom
Berufungsgericht gezogene Folgerung, dass der von der Mutter des Klägers bei ihrer Aufnahme in die Klinik
geschlossene Behandlungsvertrag mit allen vier Belegärzten zustande gekommen ist und die Beklagten deshalb
vertraglich für die Versäumnisse von Dr. S. einzustehen haben. Bei dieser Sachlage kommt es nicht darauf an, ob sich
ihre Einstandspflicht auch auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur akzessorischen
Haftung der Gesellschafter bürgerlichen Rechts für Verbindlichkeiten der Gesellschaft gemäß § 128 HGB ergä
dd) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, bei den vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Belegärzten handele
es sich vorliegend nur um eine Regelung im Innenverhältnis. Dies mag für die Vorstellungen der beteiligten Ärzte
hinsichtlich der Reichweite ihrer Vereinbarung zutreffen; für die rechtliche Bewertung ihrer Zusammenarbeit kommt es
jedoch nicht nur auf den Inhalt der zwischen ihnen getroffenen Vereinbarungen, sondern auch darauf an, in welcher
Weise sie nach außen gegenüber den Patientinnen auftreten. Soweit die Revision die tatrichterlichen Feststellungen
zum Auftritt der "Belegärztegemeinschaft" nach außen anders wertet als das Berufungsgericht, kann sie damit
revisionsrechtlich keinen Erfolg haben.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Müller Greiner Wellner Pauge Stöhr
Vorinst.:LG Kaiserslautern, Entscheidung vom 07.05.2003 - 4 O 772/02 OLG Zweibrücken, Entscheidung vom 23.11.2004 - 5 U 11/03 -
Thöns
SG Lüneburg, S 30 AS 328/05
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 173
Eilantrag gegen Krankenkasse zur Kostenübernahme hat Erfolg.
Eilverfahren, Arbeitslosengeld II, Kosten medizinischer Behandlung, Erhöhung Regelleistung, verfassungskonforme
Auslegung Sozialgericht Lüneburg S 30 AS 328/05 ER Beschluss In dem Rechtsstreit A. Antragstellerin,
Prozessbevollmächtigte:
B. gegen
C. Antragsgegnerin,
hat die 30. Kammer des Sozialgerichts Lüneburg am 11. 08.2005 durch die Richterin am Sozialgericht Groenke Vorsitzende -beschlossen: Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der
Antragstellerin ab 07.2005 einen Betrag in Höhe der nachgewiesenen Kosten monatlich zu zahlen, solange dies zur
Behandlung der Krankheit ihrer Tochter D. medizinisch erforderlich ist. Die Antragsgegnerin trägt die
außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Gründe I. Die Antragstellerin ist
Bezieherin von Arbeitslosengeld II. Sie lebt in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihren Töchtern D. und E. Mit Bescheid
vom 15. 12.2004 wurden ihr Leistungen in Höhe von 980,67 € monatlich bewilligt. Hierin waren enthalten die
Regelleistung für die Antragstellerin sowie ein Mehrbedarf wegen Alleinerziehung, das Sozialgeld für ihre beiden
Töchter und Kosten der Unterkunft und Heizung. Mit Schreiben vom 12. 01.2005 beantragte die Antragstellerin bei der
Antragsgegnerin einen Mehrbedarf für ihre 12jährige Tochter D. Diese leidet unter chronischer Neurodermitis sowie
verschiedenen Nahrungsmittelallergien. Die Antragstellerin machte geltend, dass ihre Tochter für eine konsequente
Dauertherapie bestimmte Pflegeprodukte sowie Medikamente benötigt, die sie nicht finanzieren könne. Sie legte ein
Attest der behandelnden Kinderärztin vor, in dem bestätigt wurde, dass D. eine konsequente Dauertherapie mit
Pflegeprodukten für die Haut sowie bei Juckreiz antiallergische und Juckreiz hemmende Medikamente benötige. Aus
dem Attest ging auch hervor, dass diese Medikamente rezeptfrei erhältlich sind und daher nicht zu Lasten der
Krankenkasse verordnet werden können. Weiter legte die Antragstellerin ein fachärztliches Attest des Oberarztes des
Städtischen Krankenhauses F. – Kinderklinik – vor, aus dem hervorgeht, dass D. im 03.2005 stationär dort betreut
wurde. Der Oberarzt G. legt dar, dass bei ihr eine starke Allergie und auch im Vergleich zu anderen Patienten eine
erhöhte Pflegebedürftigkeit der Haut bekannt sei. Weiter wird bestätigt, dass es aus medizinischer Sicht erforderlich
sei, durch einen verstärkten Einsatz von Hautpflegemitteln einer erneuten gesundheitlichen Beeinträchtigung
vorzubeugen. D. war seit Herbst 2004 insgesamt dreimal zu einem längeren stationären bzw. Kuraufenthalt in der
Klinik. Mit Bescheid vom 24. 03.2005 lehnte die Antragsgegnerin die Übernahme von zusätzlichen Kosten für die
Pflege von D. ab. Sie begründete dies damit, dass eine Erstattung von Leistungen zusätzlich zum Regelbedarf in den
Vorschriften des SGB II nicht vorgesehen ist. Mit Schreiben vom 22. 04.2005 legte die Antragstellerin Widerspruch
gegen diesen Bescheid ein. Sie begründete diesen damit, dass D. durch das vorliegende Krankheitsbild erheblich
belastet sei. Sie sei mit schweren Schüben einer atopischen Dermatitis im Klinikum F. stationär aufgenommen worden.
Es sei jedoch erforderlich, dass die Linderung der Krankheit durch weitere Versorgung auch im präventiven Bereich
notwendig sei. Dies sei insbesondere damit verbunden, dass erhebliche Kosten im Hinblick der Reinigung der
Kleidung, der Anschaffung der Kleidung sowie der notwendigen Hautpflegeprodukte erforderlich seien. Zusätzlich
wurde ein Befundbericht von G. vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass D. auf Grund ihrer Krankheit stark angespannt ist
und depressiv sowie schmerzgequält und unruhig wirkt. Weiter geht hieraus hervor, dass D. einen hohen Verbrauch an
differenten und indifferenten Hautpflegeprodukten hat. Die Antragsgegnerin schaltete im Rahmen des
Wiederspruchsverfahrens ihren ärztlichen Dienst ein. Dieser bestätigte gutachterlich vorhandene chronisch
entzündliche Veränderungen der Haut, ein überempfindliches Bronchialsystem sowie eine leichte seelische
Erkrankung. Ein Mehrbedarf für Ernährung sei entsprechend den Hinweisen nach § 21 Abs. 5 SGB II erforderlich und
werde voraussichtlich die Dauer von 12 Monaten übersteigen. Mit Bescheid vom 9. 02.2005 bewilligte die
Antragsgegnerin der Antragstellerin daraufhin Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung in Höhe von 25,56 €
monatlich. Zugleich wurde erneut der medizinische Dienst eingeschaltet und angefragt, ob auf Grund der Besonderheit
des Einzelfalles ein höherer Mehrbedarf gewährt werden könne. Der ärztliche Dienst der Antragsgegnerin äußerte sich
dahingehend, dass sich der Mehrbedarf ausschließlich auf die Ernährung beziehe und nach den vorliegenden
Unterlagen eine Erhöhung des angegebenen Bedarfs medizinisch nicht gerechtfertigt sei. Mit Widerspruchsbescheid
vom 14.06.2005 wurde der Antrag der Antragstellerin, soweit der Mehrbedarf die Höhe von 25, 56 € monatlich
übersteigt, zurückgewiesen. Begründet wurde dies damit, dass für den Bedarf von Pflegeprodukten das SGB II keine
Leistungen vorsieht. Hiergegen hat die Antragstellerin am 11. 07.2005 Klage erhoben und zugleich den Erlass einer
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einstweiligen Anordnung beantragt. Die Antragstellerin trägt vor, aufgrund der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen
ergäbe sich, dass D. schwer an Neurodermitis erkrankt sei und zur weiteren Behandlung hohe Verbrauchsmengen an
verschiedenen Pflegeprodukten habe. Der Bedarf sei in diesem Fall so hoch, dass er ca. 240,00 € monatlich betrage.
Diese Kosten könnte die Antragstellerin nicht tragen, da das Arbeitslosengeld II hierfür nicht ausreiche. Da die Kosten
weithin laufend anfielen, sei der notwendige Lebensunterhalt nicht gewährleistet. Die ärztlichen Atteste ergäben des
Weiteren, dass eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes drohe. Die Antragstellerin beantragt, die
Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr einen zusätzlichen Betrag in Höhe von
240,00 € monatlich bzw. in Höhe der tatsächlich nachgewiesenen Kosten monatlich zu zahlen, solange dies zur
Krankheit der Tochter D. medizinisch erforderlich ist. Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen. Sie trägt
vor, wegen der Erkrankung des Kindes sei bereits ein Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung in Höhe von
monatlich 25,56 € anerkannt worden. Das SGB II sehe keine darüber hinausgehende Erstattungsmöglichkeit für Kosten
für Heil- und Pflegemittel vor. Im Übrigen bezieht sie sich auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Hinsichtlich
der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der
Antragsgegnerinnen sowie der Gerichtsakten Bezug genommen. II. Der Antrag hat Erfolg. Nach § 86 b Abs. 2 SGG
kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung
in bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden
Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.
Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das
Gericht der Hauptsache ist das Gericht des ersten Rechtszuges. Voraussetzung für den Erlass der hier vom
Antragsteller begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG, mit der er die Gewährung von
Leistungen nach dem SGB II begehrt, ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein
Anspruch des Antragstellers auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch
sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Dabei darf die einstweilige Anordnung des Gerichts wegen
des summarischen Charakters dieses Verfahrens grundsätzlich nicht die endgültige Entscheidung in der Hauptsache
vorwegnehmen, weil sonst die Erfordernisse, die bei einem Hauptsacheverfahren zu beachten sind, umgangen
würden. Auch besteht die Gefahr, dass eventuell in einem Eilverfahren vorläufig, aber zu Unrecht gewährte Leistungen
später nach einem Hauptsacheverfahren, dass zu Lasten des Antragstellers ausginge, nur unter sehr großen
Schwierigkeiten erfolgreich wieder zurückgefordert werden könnten. Daher ist der vorläufige Rechtsschutz nur dann zu
gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abzuwendende Nachteile entstünden, zur deren
Beseitigung eine spätere Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69, 74 m.w.N.). Der
Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Zahlung der tatsächlich
entstehenden Kosten für Heil- und Pflegeprodukte für ihre an Neurodermitis erkrankte Tochter nach § 23 Abs. 1 SGB II.
Es handelt sich bei den Kosten für die Medikamente und Pflegeprodukte um einen von den Regelleistungen umfassten
und nach den Umständen unabweisbaren Bedarf zu Sicherung des Lebensunterhaltes. Die Regelleistung umfasst nach
§ 20 Abs. 1 SGB II insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege u.a. Hierzu gehören auch Kosten für Medikamente
und Produkte, die von der gesetzlichen Krankenkasse nicht übernommen wird, so z. B. auch die Praxisgebühr. Es
handelt sich daher bei Körperpflegeprodukten und nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten um einen von der
Regelleistung umfassten Bedarf. Dieser ist auch unabweisbar, da es sich im vorliegenden Fall jedenfalls nach
summarischer Prüfung um einen medizinisch notwendigen Bedarf handelt. Dies ist belegt durch das von der
Antragstellerin vorgelegte Attest der Kinderärztin und das fachärztliche Attest des Klinikarztes G. vom 15. 03.2005
sowie durch den ebenfalls vorgelegten Befundbericht von G. vom 17. 03.2005. Soweit die Antragsgegnerin sich darauf
beruft, nach Ansicht ihres ärztlichen Dienstes sei dieser Bedarf medizinisch nicht notwendig, kann dies nach den
vorgelegten Unterlagen nicht überzeugen. Die Stellungnahme des ärztlichen Dienstes lautet wörtlich: „Der Mehrbedarf
bezieht sich ausschließlich auf die Ernährung und hier ist nach den vorliegenden Unterlagen keine Erhöhung des
angegebenen Bedarfs medizinisch gerechtfertigt.― Diese Stellungnahme lässt eine Auseinandersetzung mit den
vorgelegten Attesten nicht erkennen. Es fehlt auch an einer Begründung, weshalb trotz der schweren Neurodermitis
der beantragte Bedarf medizinisch nicht gerechtfertigt sei. Darüber hinaus wurde die Stellungnahme nach Aktenlage
abgegeben, so dass keine Untersuchung des Kindes D. durch den ärztlichen Dienst erfolgt ist. Im Gegensatz dazu
stammen die von der Antragstellerin vorgelegten Atteste von behandelnden Ärzten des Kindes. Darüber hinaus sind
jedenfalls in dem Befundbericht vom 17. 03.2005 der Gesundheitszustand und die medizinische Vorgeschichte des
Kindes ausführlich dargestellt. Die Antragstellerin hat weiter mittels der vorgelegten Atteste glaubhaft vorgetragen, dass
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ihr deutlich erhöhte Ausgaben für die Hautpflegeprodukte und nicht verschreibungspflichtigen Medikamente entstehen.
Da die Ausgaben für die benötigten Heil- und Körperpflegemittel von der Krankenkasse nicht übernommen werden,
sind sie grundsätzlich von der Antragstellerin aus der Regelleistung zu zahlen. Angesichts der Höhe der Ausgaben ist
jedoch offensichtlich, dass die Regelleistungen zur Bedarfsdeckung nicht ausreichen, weil sie die in diesem Rahmen
üblicherweise anzusetzenden Beträge für derartige Produkte weit überschreiten. Die im Antrag angegebene Höhe der
Ausgaben mit ca. 240.- € monatlich ist jedoch nicht glaubhaft gemacht, jedenfalls nicht als Bedarf, der in dieser Höhe
regelmäßig jeden Monat anfällt. Die (Anfang Juli) vorgelegten Nachweise für den Monat Juni belegen Kosten in Höhe von
92, 67 €. Es ist daher davon auszugehen, dass der Bedarf entsprechend dem Gesundheitszustand von D. erheblich
schwanken kann. Aus diesem Grund sind die Kosten von der Antragsgegnerin jeweils in der Höhe zu übernehmen, wie
sie nachgewiesen werden. Die Leistungen sind nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II als Darlehen zu erbringen. Allerdings
erscheint problematisch, dass dieses Darlehen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB II durch monatliche Aufrechnung in
Höhe von bis zu 10 von Hundert der an die Antragstellerin zu zahlenden Regelleistung zu tilgen ist. Im Hinblick auf die
Höhe der zu gewährenden Leistungen könnte darin möglicherweise ein Verfassungsverstoß liegen. Wie oben bereits
dargelegt, ist im Rahmen des Eilverfahrens davon auszugehen, dass es sich um einen medizinisch notwendigen
Bedarf an Heil- und Körperpflegeprodukten handelt. Dieser ist im speziellen Fall des Kindes D. überdurchschnittlich
hoch. Aus diesem Grund reicht die Regelleistung zur Deckung des Bedarfes nicht aus. Das SGB II muss jedoch, um
eine Grundsicherung zu gewährleisten, einen solchen medizinisch notwendigen Bedarf gewähren. Zwar gibt es keine
Vorschrift im SGB II, wonach in besonders begründeten Einzelfällen die Regelleistungen zu erhöhen wären oder eine
nicht rückzahlbare Beihilfe zu zahlen wäre. Jedoch gebietet der Individualisierungsgrundsatz, dass dieser Bedarf zu
decken ist. Der Individualisierungsgrundsatz ist Ausdruck der an der Menschenwürde ausgerichteten Zielsetzung der
Sozialhilfe und damit verfassungsrechtlich unverzichtbar (Brünner in LPK – SGB II, RdNr. 22 zu § 20). Im früheren BSHG war der
Individualisierungsgrundsatz in § 3 geregelt. Eine entsprechende Regelung findet sich heute in § 9 SGB XII; im SGB II
ist jedoch keine entsprechende Vorschrift vorhanden. Eine Öffnung der Regelleistung für die individuelle
Bedarfssituation ist damit weitgehend verhindert (Hauck/Noftz SGB II, Rd.Nr. 6 zu § 20). Da es jedoch – wie im vorliegenden Fall - in
Einzelfällen vorkommen kann, dass die Regelleistung für den individuell anzuerkennenden Bedarf nicht ausreicht,
würde in derartigen Einzelfällen die Regelleistung das soziokulturelle Existenzminimum nicht mehr abdecken. Sie wäre
damit unangemessen niedrig und verfassungswidrig. In diesen Fällen ist es angebracht, im Wege der
verfassungskonformen Auslegung im Einzelfall einen höheren Bedarf anzuerkennen (Eicher/Spellbrink, SGB II, Rd.Nr. 8 zu § 20; Brünner in LPK
–SGB II, Rd.Nr. 23 zu § 20). Da im Fall des Kindes der Antragstellerin die Kosten für Heil- und Körperpflegemittel zur
Gewährleistung der medizinischen Versorgung und zur Gesunderhaltung notwendig sind, könnte in der Rückforderung
des Darlehens möglicherweise ein Verfassungsverstoß liegen, weil die Tochter der Antragstellerin dann durch
Wahrnehmung ihres Grundrechtes aus Artikel 2 Grundgesetz auf Dauer finanziell benachteiligt wird. Wenn die
Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II für längere Zeit – etwa mehr als ein Jahr - zu zahlen sind, wird die
Antragsgegnerin zu prüfen haben, ob sie im Wege der Ermessungsausübung von einer Aufrechnung absieht. Denn im
Wege verfassungskonformer Auslegung könnte dazu Anlass bestehen (s. für den Fall der Wahrnehmung des Umgangsrechts Beschluss des LSG
NiedersachsenBremen vom 28. 04.2005, Aktenzeichen L 8 AS 57/05 ER). Die von der Antragstellerin favorisierte Heranziehung von § 47 ff. SGB XII
kommt nicht in Betracht. Nach § 48 SGB XII werden Leistungen zur Krankenbehandlung entsprechend dem Dritten
Kapitel 5. Abschnitt ersten Titel des Fünften Buches erbracht. Damit gewährt die Vorschrift Hilfe bei Krankheit im
selben Umfang wie die gesetzliche Krankenversicherung. Wie der von der Antragstellerin vorgelegte Nachweis ihrer
Krankenversicherung zeigt, übernimmt diese derartige Leistungen jedoch nicht. Die Anwendung von § 73 SGB XII
scheitert daran, dass unter Geltung des BSHG die hier fraglichen Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt und nicht
der Hilfe in besonderen Lebenslagen zugeordnet worden wären. Die Vorschrift des § 73 SGB XII entspricht der
Vorschrift des § 27 Abs. 2 BSHG, die sich in dem Abschnitt über die Hilfe in besonderen Lebenslagen befand. Auch
wenn das SGB XII die ausdrückliche Unterscheidung zwischen Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen
Lebenslagen nicht mehr erkennt, ist sie in der Sache beibehalten worden. Es besteht keinen Anlass, unter Geltung des
SGB II bzw. des SGB XII zu einer anderen Betrachtungsweise überzugehen (ebenso LSG NiedersachenBremen, Beschluss vom 28. 04.2005, a.a.O.),
also die Kosten für die Heil- und Körperpflegemittel nunmehr der Hilfe in besonderen Lebenslagen zuzuordnen. Die
Vorschrift des § 28 SGB XII in der eine Erhöhung eines Mehrbedarfs vorgesehen ist, kann nicht herangezogen werden,
da nach § 5 Abs. 2 SGB II diese Leistung ausgeschlossen ist für Empfänger von Arbeitslosengeld II. Im Hinblick darauf,
dass die Ermessensausübung der Antragsgegnerin bei der Darlehensrückforderung sich an einer
verfassungskonformen Auslegung zu orientieren hat, kann von einer Schlechterstellung der SGB IIEmpfänger
gegenüber den Sozialhilfeempfängern nicht ausgegangen werden. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Abs. 1,
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193 Abs. 1 SGG. Rechtsmittelbelehrung Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde zulässig. Sie ist binnen eines
Monats nach Bekanntgabe des Beschlusses beim Sozialgericht Lüneburg, Lessingstraße 1, 21335 Lüneburg, schriftlich
oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Hilft das Sozialgericht der Beschwerde
nicht ab, legt es sie dem Landessozialgericht NiedersachsenBremen zur Entscheidung vor. Die Beschwerdefrist ist
auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozialgericht NiedersachsenBremen,
GeorgWilhelmStraße 1, 29223 Celle, oder bei der Zweigstelle des Landessozialgerichts NiedersachsenBremen, Am
Wall 201, 28195 Bremen, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.
BGH VI ZR 196/03 vom 21.12.2004
Thöns
Die mit der Geburt eines durch eine Erkrankung der Mutter an Röteln schwer geschädigten Kindes
verbundenen wirtschaftlichen Belastungen, sind nicht allein deshalb Gegenstand des jeweiligen
Behandlungsvertrages mit dem Hausarzt oder dessen niedergelassenem Urlaubsvertreter, weil die Mutter
diese Ärzte zur Abklärung und Behandlung eines Hautausschlags aufgesucht und im Laufe der Behandlung
ihre Schwangerschaft erwähnt hatte. Der Patient obsiegte.
BGH, Urteil vom 21. 12.2004 – VI ZR 196/03 – KG Berlin LG Berlin
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 21. 12.2004 durch die Vorsitzende
Richterin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Rechtsmittel der Beklagten werden das Urteil des
20. Zivilsenats des Kammergerichts Berlin vom 2. 06.2003 aufgehoben und das Urteil des Landgerichts Berlin vom 19.
07.2001 im Kostenpunkt und insoweit abgeändert, als es zum Nachteil der Beklagten ergangen ist. Die Klage der
Klägerin zu 2 wird abgewiesen.
Von den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten der Beklagten, sowie den Kosten der Streithelfer in der
ersten Instanz tragen der Kläger zu 1 91% und die Klägerin zu 2 9%.
Von den Gerichtskosten der zweiten Instanz tragen der Kläger zu 1 67% und die Klägerin zu 2 33%. Von den
außergerichtlichen Kosten beider Beklagten sowie den Kosten der Streithelfer in der zweiten Instanz tragen der Kläger
zu 1 54% und die Klägerin zu 2 46%.
Die Gerichtskosten der Revisionsinstanz sowie die außergerichtlichen Kosten beider Beklagten und der Streithelfer in
der Revisionsinstanz trägt die Klägerin zu 2.
Ihre eigenen außergerichtlichen Kosten tragen die Kläger jeweils selbst.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin zu 2 (im weiteren: die Klägerin) verlangt von den Beklagten Ersatz von Unterhaltsaufwendungen für ihren Sohn, den
Kläger zu 1 (im weiteren: der Kläger).
Der inzwischen verstorbene frühere Beklagte zu 1 (im weiteren: der Beklagte), dessen alleinige Erbin die jetzige Beklagte zu 1 ist,
war der langjährige Hausarzt der Klägerin. Die Beklagte zu 2 (im weiteren: die Beklagte) nahm in der Zeit vom 24. 07.1996 bis zum
2. 08.1996 seine Urlaubsvertretung wahr.
Am 24. 07.1996 begab sich die Klägerin wegen eines deutlichen Hautausschlags in die Praxis der Beklagten. Diese
diagnostizierte eine allergische Reaktion auf ein Medikament, das der Klägerin von ihrem Orthopäden verordnet
worden war, und verschrieb der Klägerin das Medikament Z.. Da das Beschwerdebild sich nicht besserte, stellte die
Beklagte die Medikation zwei Tage später um. Bei einer erneuten Vorstellung am 1. 08.1996 war wiederum keine
Besserung festzustellen. An diesem Tag teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass möglicherweise eine
Schwangerschaft bestehe. Da der Hautausschlag noch nicht abgeklungen war, schrieb die Beklagte die Klägerin bis
zum
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5. 08.1996 krank und wies sie an, den Beklagten nach dessen Urlaubsrückkehr an diesem Tag aufzusuchen. In einem
Bericht an den medizinischen Dienst vom 16. 08.1996 hielt die Beklagte als Diagnose fest: "Ekzem unklarer Genese".
Am 2. 08.1996 begab sich die Klägerin zu dem Streithelfer zu 1, einem Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe,
der eine Schwangerschaft in der sechsten Woche feststellte. Am 5. 08.1996 suchte die Klägerin den Beklagten auf,
den die Beklagte bereits telefonisch über die Krankheit der Klägerin und deren mögliche Schwangerschaft informiert
hatte. Am 15. 08.1996 veranlaßte der Streithelfer zu 1 einen Rötelntest, der von der Streithelferin zu 2 vorgenommen
wurde und einen HAHTiter von mehr als 1:32 ergab.
Am 10. 04.1997 wurde der Kläger mit einer Rötelnembryopathie geboren. Er leidet u.a. unter allgemeiner
Entwicklungsretardierung, infantiler Cerebralparese, offenem ductus arteriosus Botalli, Sehbehinderungen und
Schwerhörigkeit. Der Grad seiner Behinderung beträgt 100.
Die Klägerin wirft den Beklagten vor, eine bestehende Rötelnerkrankung nicht erkannt zu haben. Bei Kenntnis des
Vorliegens einer Rötelninfektion zu Beginn der Schwangerschaft und des sich daraus ergebenden hohen
Mißbildungsrisikos für das Kind würde sie sich zu einer Abtreibung entschlossen haben, da sie ihre soziale Situation als
problematisch angesehen habe.
Das Landgericht hat die Klage des Klägers auf Schadensersatz und Schmerzensgeld abgewiesen, der Klage der
Klägerin auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe des jeweils geltenden doppelten Regelunterhalts jedoch
stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die Berufungen der Beklagten zurückgewiesen. Der Kläger hatte seine
Berufung bereits zuvor zurückgenommen. Mit ihren vom Berufungsgericht zugelassenen Revisionen verfolgen die
Beklagten ihre Anträge auf Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht hat Behandlungsfehler beider Beklagten bejaht. Sie hätten es fehlerhaft unterlassen, die
Klägerin darauf hinzuweisen, dass sie den Gynäkologen von der Hautreaktion unterrichten und ihm insbesondere
mitteilen solle, dass die von den Beklagten gestellte Diagnose einer Medikamentenallergie nicht gesichert sei.
Mit dem Sachverständigen sei davon auszugehen, dass die Klägerin eine Rötelnerkrankung durchgemacht habe,
deren Beginn auf den 22. 07.1996 zu datieren sei. Es sei davon auszugehen, dass der Gynäkologe bei
ordnungsgemäßer therapeutischer Aufklärung der Klägerin die dann gebotene erweiterte Titerbestimmung
vorgenommen hätte.
Dass die Klägerin abgetrieben hätte, wenn sie gewusst hätte, welches Risiko eine Rötelninfektion für den Fötus
bedeute und mit welchen schweren Mißbildungen der Kläger geboren werden könnte, sei ohne weiteres
nachvollziehbar und bedürfe keiner besonderen Begründung, weil hierfür eine tatsächliche Vermutung streite. Die
gesetzliche Beseitigung der eugenischen Indikation ab dem 1. 10.1995 ergebe nichts anderes, weil es hier nicht um
pränatale Diagnostik, sondern um das erhebliche Risiko eines durch Rötelninfektion schwerstbehinderten Kindes gehe.
II. Das hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. a) Das Berufungsgericht hat eine Pflicht der Beklagten zur therapeutischen Aufklärung der Klägerin darüber
angenommen, diese müsse den die Schwangerschaft begleitenden Frauenarzt von ihrer Hautreaktion und
insbesondere davon unterrichten, die Diagnose einer allergischen Reaktion sei nicht gesichert, ohne sich dazu auf ein
Gutachten eines medizinischen Sachverständigen stützen zu können. Das beanstandet die Revision der Beklagten
ausdrücklich. Es bedarf jedoch keiner Abklärung durch das Gutachten eines Sachverständigen, denn ein
Schadensersatzanspruch der Klägerin besteht schon aus anderen Gründen nicht. Der geltend gemachte Schaden
einer Unterhaltsbelastung der Klägerin durch die Existenz des Klägers ist entgegen der beiläufig geäußerten Ansicht
des Berufungsgerichts nicht vom Schutzzweck des Behandlungsvertrages umfaßt.
b) Zutreffend weisen beide Revisionskläger darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats
eine Haftung des behandelnden Arztes für den durch die Geburt eines Kindes verursachten Vermögensschaden nur
dann in Betracht kommt, wenn sich dabei ein Risiko verwirklicht hat, auf dessen Vermeidung die Behandlung der
Mutter durch die behandelnden Ärzte im Rahmen eines bestehenden Behandlungsvertrages gerichtet war. Ging es bei
der Behandlung nicht um die Abwendung einer Belastung der Patientin durch ein Kind, dann darf auch nicht
angenommen werden, dass die Bewahrung vor den Unterhaltsaufwendungen infolge der Geburt des Kindes zum
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Schutzumfang des Behandlungsvertrages gehörte (vgl. Senatsurteile BGHZ 124, 128, 137 f.; 143, 389, 393 ff.; 151, 133, 136; vom 25. 06.1985 VI ZR 270/83 VersR 1985,
1068, 1069).
Anders als in dem der Senatsentscheidung vom 18. 01.1983 (VI ZR 114/81 BGHZ 86, 240 ff.) zugrundeliegenden Sachverhalt hatten
im hier zu entscheidenden Fall beide Beklagte keinen derartigen ärztlichen Auftrag erhalten.
Unter den vom Berufungsgericht festgestellten Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Abklärung
der Ursache des Ekzems wegen befürchteter Auswirkungen auf die der Klägerin und beiden Beklagten nach Beginn
der Behandlung bekannt gewordene Schwangerschaft erfolgen sollte.
Anders als ein die Schwangerschaft begleitender Frauenarzt waren der beklagte Hausarzt und seine Urlaubsvertreterin
nicht im Hinblick auf die Schwangerschaft und nicht zu deren medizinischer Begleitung eingeschaltet worden (vgl. OLG
Düsseldorf NJW 1995, 1620 f.; Gehrlein NJW 2000, 1771, 1772). Daran ändert sich nichts deshalb, weil jeweils beiden Beklagten vor dem Ende
der Behandlung das Ergebnis des Schwangerschaftstests der Klägerin bekannt geworden war. Auch wenn die
Beklagten hiernach mit einer Schwangerschaft der Klägerin zu rechnen hatten, reicht allein dieser Umstand nicht aus,
um zu einer Erweiterung des Behandlungsvertrages im Sinne einer zielgerichteten Absprache über eine Verhinderung
der Geburt zu führen. So hat der erkennende Senat in einem Fall, in dem die Patientin bei der Vorbereitung auf eine
orthopädische Operation zur Abklärung von Unterleibsbeschwerden einem Gynäkologen vorgestellt, aber eine
bestehende Schwangerschaft übersehen worden war, einen Zusammenhang zwischen dem Zweck des ärztlichen
Handelns und der Geburt des Kindes verneint und die auf Ersatz des Unterhalts gerichtete Klage abgewiesen (BGHZ 143,
389, 395). Dort war die Zielsetzung des ärztlichen Handelns nicht auf die Vermeidung einer Geburt gerichtet. Gleiches gilt
erst recht im hier zu entscheidenden Fall, in dem die Klägerin die Beklagten ausschließlich zur Abklärung und
Behandlung eines Hautausschlags aufsuchte. Dementsprechend war eine Beratung über Möglichkeiten zur
Unterbrechung der Schwangerschaft nicht Inhalt der Behandlungsverträge zwischen der Klägerin und den beiden
Beklagten, sondern konnte nur in die Zuständigkeit des die Schwangerschaft begleitenden Facharztes fallen.
d) Hatten nach allem die Behandlungsverträge mit den Beklagten nicht den Zweck, die Klägerin vor den Folgen einer
Unterhaltsbelastung zu bewahren, so hätte sich eine Beratung der Klägerin über die Möglichkeit eines
Schwangerschaftsabbruchs allenfalls als Reflex und zudem nach der Beurteilung des gerichtlichen Sachverständigen
nur bei einer maximalen hausärztlichen Versorgung der Klägerin ergeben. Diese lediglich mittelbare Folge rechtfertigt
ebenfalls nicht die Annahme einer Erweiterung des Behandlungsvertrages.
2. Schon deshalb kann die Klage keinen Erfolg haben. Aus diesem Grund bedarf es auch keiner abschließenden
Beurteilung, ob bei einer entsprechenden Fallgestaltung ein Anspruch der Klägerin auch deshalb nicht in Betracht
käme, weil keine der Voraussetzungen für eine rechtmäßige medizinische Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB (vgl.
Senatsurteile BGHZ 151, 133, 138 f.; vom 15. 07.2003 VI ZR 203/02 VersR 2003, 1541 f.,
jeweils m.w.N.)
vorgetragen oder vom Berufungsgericht festgestellt ist.
Ob schließlich die schuldhafte Vereitelung eines allein auf § 218a Abs. 1 StGB gestützten Schwangerschaftsabbruchs
nach der Gesetzeslage für einen Schadensersatzanspruch ausreichen könnte, ist angesichts der Rechtsprechung des
erkennenden Senats (vgl. Senatsbeschluß vom 24. 06.2003 VI ZR 130/03 FamRZ 2003, 1378; Senatsurteil vom 19. 02.2002 VI ZR 190/01 VersR 2002, 767, 768; BVerfGE aaO 295 f.)
zweifelhaft, bedarf aber nach Lage des Falles keiner Entscheidung, weil es bereits an einem auf entsprechende
Beratung gerichteten Behandlungsvertrag fehlt. Es ist deshalb nicht zu prüfen, ob sich die Klägerin unter den
gegebenen Umständen darauf berufen könnte, dass die Beklagten durch ihr Fehlverhalten die Möglichkeit eines
legalen straflosen Abbruchs der Schwangerschaft nach der im Juli/08.1996 geltenden Regelung der §§ 218a Abs. 1,
219 Abs. 2 StGB in der Fassung des Art. 8 Nr. 3, 6 des Gesetzes vom 21. 08.1995 (Schwangerenund Familienhilfeänderungsgesetz; BGBl I 1050,
1055; vgl. Senatsurteile BGHZ 129, 178, 184 ff.; vom 19. 02.2002 VI ZR 190/01 VersR 2002, 767 f.; vom 1. 04.2003 VI ZR 366/02 VersR 2003, 777 f.; vom 7. 12.2004 VI ZR 308/03 zur Veröffentlichung
in nicht vertretbarer Weise schuldhaft vereitelt haben und deshalb zum Ersatz der mit der
Unterhaltspflicht für den Kläger verbundenen materiellen Schäden verpflichtet sein könnten.
bestimmt; BVerfGE 88, 203, 273 ff., 279 ff.)
III. Nach alledem waren die Urteile der Vorinstanzen im Kostenpunkt und insoweit aufzuheben, als sie zum Nachteil der
Beklagten ergangen sind. Die Klage war insgesamt abzuweisen. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91 Abs. 1, 97
Abs. 1, 100 Abs. 1, 101 und 516 Abs. 3 ZPO.
Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll
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BGH VI ZR 328/03 vom 16. 11.2004
Thöns
Eine Verletzung der Pflicht des behandelnden Arztes zur therapeutischen Aufklärung (Sicherungsaufklärung), die als
grober Behandlungsfehler zu werten ist, führt regelmäßig zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den
ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden, wenn sie
geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen; eine Wahrscheinlichkeit für ein Ergebnis einer
Kontrolluntersuchung ist in einem solchen Fall nicht erforderlich (Fortführung von BGH, Urteil vom 27. 04.2004 VI ZR 34/03 VersR 2004, 909, zur
Veröffentlichung in BGHZ bestimmt). Der Patient obsiegte.
BGB § 823 Aa, C; ZPO §286 G
BGH, Urteil vom 16. 11.2004 VI ZR 328/03 OLG Braunschweig LG Braunschweig
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 16. 11.2004 durch die Vorsitzende
Richterin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Rechtsmittel des Klägers werden das Urteil des
1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 16. 10.2003 aufgehoben und das Urteil der 4. Zivilkammer
des Landgerichts Braunschweig vom 10. 10.2002 abgeändert. Der Anspruch des Klägers auf Zahlung eines
Schmerzensgeldes und Ersatz des bezifferten materiellen Schadens des Klägers ist dem Grunde nach gerechtfertigt.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeden nach Schluß der mündlichen Verhandlung vor
dem Berufungsgericht aus der unterlassenen therapeutischen Aufklärung bei der Behandlung vom 6. 01.2000
entstandenen und künftig entstehenden materiellen Schaden zu ersetzen, soweit der Ersatzanspruch nicht auf
Sozialversicherungsträger übergegangen ist.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche weiteren aus der unterlassenen
therapeutischen Aufklärung bei der Behandlung vom 6. 01.2000 künftig entstehenden immateriellen Schäden zu
ersetzen. Zur Entscheidung über den Betrag des Zahlungsanspruchs wird der Rechtsstreit an das Berufungsgericht
zurückverwiesen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger, der am 6. 01.2000 abends Lichtblitze in seinem linken Auge bemerkt hatte, begab sich noch am selben
Tag in den augenärztlichen Bereitschaftsdienst, den die Beklagte wahrnahm. Gesichtsfeldmessungen und Messungen
des Augeninnendrucks ergaben keinen auffälligen Befund. Auch bei einer Untersuchung des Augenhintergrundes nach
Erweiterung der Pupille stellte die Beklagte keine pathologischen Veränderungen fest. Am 11. 01.2000 trat beim Kläger
eine massive Ablösung der Netzhaut im linken Auge auf. Trotz zweier Operationen in der Universitätsklinik, bei denen
die Netzhaut angelegt und stabilisiert wurde, ist die Sehfähigkeit des Klägers beeinträchtigt.
Der Kläger hält die Untersuchung durch die Beklagte für fehlerhaft; auch habe sie ihn nicht in gehöriger Weise darauf
hingewiesen, dass er alsbald Kontrolluntersuchungen durchführen lassen müsse. Er begehrt Schmerzensgeld, Ersatz
materiellen Schadens sowie die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm sämtliche nach Schluß der
mündlichen Verhandlung aus dem Behandlungsfehler der Beklagten vom 6. 01.2000 entstehenden materiellen und
immateriellen Schäden zu ersetzen. Seine Klage hatte in beiden Tatsacheninstanzen keinen Erfolg. Mit seiner vom
Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt er sein Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe:
I. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, es sei an die
Feststellungen des Landgerichts gebunden, die Beklagte habe den Kläger nicht auf die Gefährdung der Netzhaut durch
eine fortschreitende GlaskörperAbhebung hingewiesen und ihn auch nicht aufgefordert, diesen Vorgang unbedingt
weiter überwachen zu lassen. Da beim Kläger eine beginnende GlaskörperAbhebung vorgelegen und die Beklagte das
auch erkannt habe, habe sie den Kläger über diese mögliche Diagnose und das dabei bestehende vergleichsweise
geringe Risiko einer Netzhautablösung unterrichten müssen. Sie habe den Kläger auffordern müssen, sich auch ohne
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Zunahme der Symptome zu einer Kontrolluntersuchung beim Augenarzt vorzustellen. Diese Unterlassungen seien als
"einfache" Behandlungsfehler zu werten. Dass die Beklagte den Kläger nicht zusätzlich darauf hingewiesen habe, er
müsse bei Fortschreiten der Symptome sofort einen Augenarzt aufsuchen, sei als ein grober Behandlungsfehler zu
werten.
Der Ursachenzusammenhang zwischen diesem groben Behandlungsfehler und dem Körperschaden des Klägers sei
zwar nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger nach eigenen Angaben keine sich ausweitende oder
verschlimmernde Symptomatik bemerkt habe. Es sei nämlich nicht ausgeschlossen, dass der Kläger bei zutreffender
Information auch ohne Verschlechterung seines Zustandes zu einer augenärztlichen Kontrolle gegangen wäre und ein
Augenarzt dann Anzeichen für eine beginnende Netzhautablösung festgestellt hätte. Möglicherweise hätte dann
erfolgreich Vorsorge gegen die spätere Netzhautablösung getroffen werden können. Ein Ursachenzusammenhang
könne jedoch nicht festgestellt werden. Es sei zwar davon auszugehen, dass der Kläger nach ordnungsgemäßer
Beratung durch die Beklagte innerhalb von zwei oder drei Tagen zu einer Kontrolluntersuchung gegangen wäre. Es sei
aber vorstellbar, dass die GlaskörperAbhebung, die der Netzhautablösung vorangehe, sehr plötzlich und sehr massiv
eingesetzt und dann sehr schnell eine erst am 11. 01.2000 erkennbare Netzhautablösung nach sich gezogen habe.
Daher sei völlig offen, ob es zuvor Anzeichen für eine solche Ablösung gegeben habe, die bei einer
Kontrolluntersuchung erkennbar gewesen wären. Dem Kläger sei keine Beweislastumkehr für den
Ursachenzusammenhang zuzubilligen. Es fehle an einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei einer
augenärztlichen Kontrolle Anzeichen für die Netzhautablösung erkennbar gewesen wären. Dass eine solche Kontrolle
Aufschluß darüber gegeben hätte, ob sich zu jenem Zeitpunkt Anzeichen für eine Netzhautablösung gezeigt hätten, sei
keine ausreichende Grundlage für eine Beweislastumkehr. Zwar liege es nicht fern, das Gesamtverhalten der
Beklagten ohne Differenzierung zu den einzelnen Unterlassungen als grob fehlerhaft anzusehen. Selbst dann aber sei
es nicht gerechtfertigt, dem Kläger ohne jede Wahrscheinlichkeit in die eine oder die andere Richtung eine
Beweislastumkehr hinsichtlich des Auftretens von Gefährdungsanzeichen bei der hypothetischen Kontrolluntersuchung
zuzubilligen. II. Diese Ausführungen des Berufungsgerichts halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Das Berufungsgericht wertet im Anschluss an die Ausführungen des Sachverständigen und im Einklang mit der
Rechtsprechung des erkennenden Senats als grob fehlerhaft, dass die Beklagte den Kläger nach Abschluß der
Notfalluntersuchung nicht darauf hingewiesen hat, er müsse bei Fortschreiten der Symptome sofort einen Augenarzt
aufsuchen (vgl. dazu Senatsurteile vom 29. 05.2001 VI ZR 120/00 VersR 2001, 1030; vom 3. 07.2001 VI ZR 418/99 VersR 2001, 1116, 1117; vom 28. 05.2002 VI ZR 42/01 VersR 2002, 1026 jeweils
m.w.N.). Die Revision nimmt dies als ihr günstig hin; auch die Revisionserwiderung erhebt insoweit keine
Beanstandungen. Beim Kläger lag eine beginnende GlaskörperAbhebung als Vorstufe einer Netzhautablösung nahe
und die Beklagte hatte dies erkannt. Sie war infolgedessen verpflichtet, dem Kläger ihre Erkenntnisse ebenso wie ihren
Verdacht bekannt zu geben (Diagnoseaufklärung; vgl. Senatsurteil BGHZ 29, 176, 183 f.; OLG Nürnberg AHRS 3130/108). Dementsprechend hatte sie den
Kläger im Rahmen der ihr obliegenden therapeutischen Aufklärungspflicht darauf hinzuweisen, er müsse bei
fortschreitenden Symptomen sofort einen Augenarzt einschalten und im Übrigen alsbald den Befund überprüfen
lassen, damit der Kläger mögliche Heilungschancen wahrnehmen konnte. Das hat die Beklagte versäumt. Im Ansatz
zutreffend hat das Berufungsgericht in dieser unterlassenen therapeutischen Aufklärung einen Behandlungsfehler
gesehen (vgl. Senatsurteil vom 27. 06.1995 VI ZR 32/94 VersR 1995, 1099, 1100) und ihn als grob bewertet.
2. Zuzustimmen ist dem Berufungsgericht auch darin, dass der Ursachenzusammenhang zwischen diesem groben
Behandlungsfehler und dem entstandenen Körperschaden des Klägers nicht schon deshalb ausgeschlossen ist, weil
der Kläger keine sich ausweitende oder verschlechternde Symptomatik bemerkt hat. Das Oberlandesgericht stellt ohne
Rechtsfehler fest, dass nicht auszuschließen ist, ein zur Kontrolluntersuchung eingeschalteter Augenarzt hätte vom
Kläger selbst noch nicht bemerkte, aber für den Facharzt erkennbare Anzeichen einer beginnenden Netzhautablösung
entdecken und daraufhin eine erfolgreiche Therapie durchführen können. 3. Rechtsfehlerhaft verneint das
Berufungsgericht jedoch eine Umkehr der Beweislast für den Ursachenzusammenhang zwischen der unterlassenen
Aufklärung und dem Schaden des Klägers, weil eine solche Beweislastumkehr dem Kläger nicht "ohne jede
Wahrscheinlichkeit in die eine oder andere Richtung" zugebilligt werden könne. Damit zieht das Berufungsgericht nicht
die gebotenen Folgerungen aus dem Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers. a) Wie der Senat wiederholt
ausgesprochen hat, führt ein grober Behandlungsfehler grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für
den Ursachenzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden.
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aa) Eine Umkehr der Beweislast ist schon dann anzunehmen, wenn der grobe Behandlungsfehler geeignet ist, den
eingetretenen Schaden zu verursachen; nahelegen oder wahrscheinlich machen muss der Fehler den Schaden
dagegen nicht (vgl. Senatsurteile BGHZ 85, 212, 216 f.; vom 24. 09.1996 VI Thöns ZR 303/95 VersR 1996, 1535, 1537; vom 1. 10.1996 VI ZR 10/96 VersR 1997, 362, 363; vom 27. 04.2004 VI ZR
34/03 VersR 2004, 909, 911).
Eine Verlagerung der Beweislast auf die Behandlungsseite ist nur ausnahmsweise ausgeschlossen, wenn ein
haftungsbegründender Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. Senatsurteile BGHZ 129, 6, 12; 138, 1, 8; vom 1. 10.1996 VI ZR
10/96 aaO; vom 27. 04.2004 VI ZR 34/03 aaO). Gleiches gilt, wenn sich nicht das Risiko verwirklicht hat, dessen Nichtbeachtung den
Fehler als grob erscheinen läßt (vgl. Senatsurteil vom 16. 06.1981 VI ZR 38/80 VersR 1981, 954, 955), oder wenn der Patient durch sein Verhalten
eine selbständige Komponente für den Heilungserfolg vereitelt hat und dadurch in gleicher Weise wie der grobe
Behandlungsfehler des Arztes dazu beigetragen hat, dass der Verlauf des Behandlungsgeschehens nicht mehr
aufgeklärt werden kann (vgl. Senatsurteile vom 28. 05.2002 VI ZR 42/01 VersR 2002, 1026, 1028; vom 27. 04.2004 VI ZR 34/03 aaO; KG VersR 1991, 928 mit Nichtannahmebeschluß des
Senats vom
. Das Vorliegen einer solchen
Ausnahme hat allerdings die Behandlungsseite zu beweisen (vgl. Senatsurteil vom 27. 04.2004 VI ZR 34/03 aaO). bb) Hiernach war es Sache
der Beklagten darzulegen und zu beweisen, dass ein ordnungsgemäßer Hinweis an den Kläger, er solle bei
Befundverschlechterung umgehend eine Kontrolluntersuchung durchführen lassen, eine Netzhautablösung mit den
eingetretenen Folgen weder verhindert noch abgemildert hätte. Wie auch das Berufungsgericht nicht verkennt, war ein
solcher Hinweis geeignet, den Kläger zu einer kurzfristigen Kontrolluntersuchung zu veranlassen; eine solche wäre
geeignet gewesen, Anzeichen einer beginnenden Netzhautablösung erkennbar zu machen und frühzeitiger
Behandlungsmaßnahmen durchzuführen, die ihrerseits die später eingetretene Netzhautablösung verhindern oder
feststellbar hätten vermindern können.
19. 02.1991 VI ZR 224/90; OLG Braunschweig VersR 1998, 459, 461 mit Nichtannahmebeschluß des Senats vom 20. 01.1998 VI ZR 161/97)
cc) Dass ein haftungsbegründender Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich wäre, hat das
Berufungsgericht nicht feststellen können. Solches ergibt sich nicht aus den gutachtlichen Äußerungen des
Sachverständigen; das wird auch von der Revisionserwiderung nicht geltend gemacht. Soweit diese darauf abstellt,
das Berufungsgericht habe keine Wahrscheinlichkeit für Anzeichen einer beginnenden Netzhautablösung feststellen
können, ist das nicht gleichbedeutend damit, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen der unterlassenen
Aufklärung des Patienten und der Netzhautablösung äußerst unwahrscheinlich war.
dd) Einer Umkehr der Beweislast steht auch nicht entgegen, dass der Kläger weitergehende Anzeichen als die bis
dahin aufgetretenen Lichtblitze nicht bemerkt hat. Die Beklagte hätte den Kläger durch einen Hinweis auf die Gefahr
einer Netzhautablösung, die infolge der Glaskörperabhebung drohte, zu einer baldigen Kontrolle des
Augenhintergrundes veranlassen müssen, um das eingetretene Risiko möglichst gering zu halten. Das hat sie
versäumt. Die Netzhautablösung ist eingetreten und hat zu einer Verringerung des Sehvermögens auf dem Auge
geführt. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Kläger auch ohne Fortschreiten der Symptome alsbald eine
Kontrolluntersuchung hätte durchführen lassen, wäre er ordnungsgemäß über die Diagnose und die Gefahr für sein
Sehvermögen aufgeklärt und auf die Notwendigkeit einer sofortigen Kontrolluntersuchung bei Verschlechterung
hingewiesen worden. Das hätte, wie bereits ausgeführt, zur Vermeidung des Gesundheitsschadens führen können.
Ohnehin ist die vom Berufungsgericht vorgenommene Aufspaltung in eine "einfache" und eine "grobe" Pflichtwidrigkeit
verfehlt, weil insoweit eine Gesamtbetrachtung der geschuldeten therapeutischen Aufklärung geboten ist, die sich als
insgesamt grob fehlerhaft erweist, ohne dass es hierzu weiterer tatsächlicher Feststellungen bedarf. b) Das
Berufungsgericht hat den Ursachenverlauf in seine einzelnen Bestandteile aufgespalten und dann Anzeichen für eine
Netzhautablösung vor dem 11. 01.2000 sowie für den Erfolg einer vorbeugenden Behandlung vermißt. Eine Umkehr
der Beweislast zugunsten des Klägers hat es verneint, weil zu den genannten Umständen auch keine
Wahrscheinlichkeiten feststellbar seien. Das widerspricht den Grundsätzen des erkennenden Senats zu den
Rechtsfolgen eines groben Behandlungsfehlers.
aa) Eine Unterteilung des Ursachenzusammenhangs in unmittelbare und mittelbare Ursachen ist dem Haftungsrecht
fremd (vgl. Senatsurteile vom 11. 11.1997 VI ZR 146/96 VersR 1998, 200 f.; vom 26. 01.1999 VI ZR 374/97 VersR 1999, 862; vom 27. 06.2000 – VI ZR 201/99 – VersR 2000, 1282, 1283). Beim
groben Behandlungsfehler umfaßt die in Betracht stehende Umkehr der Beweislast den Beweis der Ursächlichkeit des
Behandlungsfehlers für den haftungsbegründenden Primärschaden, der ohne die Beweislastumkehr dem Patienten
nach § 286 ZPO obläge. Auf die haftungsausfüllende Kausalität, d.h. den Kausalzusammenhang zwischen körperlicher
oder gesundheitlicher Primärschädigung und weiteren Gesundheitsschäden des Patienten wird die Beweislastumkehr
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nicht ausgedehnt, es sei denn, der sekundäre Gesundheitsschaden wäre typisch mit dem Primärschaden verbunden
und die als grob zu bewertende Mißachtung der ärztlichen Verhaltensregel sollte gerade auch solcherart Schädigungen
vorbeugen (vgl. Senatsurteile vom 21. 10.1969 VI ZR 82/68 VersR 1969, 1148, 1149; vom 9. 05.1978 VI ZR 81/77 VersR 1978, 764, 765). Eine Zerlegung des
Kausalzusammenhangs in seine einzelnen logischen Bestandteile im Übrigen kommt nicht in Betracht. bb) Nach diesen
Grundsätzen durfte das Berufungsgericht hier eine Umkehr der Beweislast nicht verneinen. Die Parteien streiten nicht
um einen Sekundärschaden des Klägers. Vielmehr beruht die Schädigung des Sehvermö
gens auf dem Primärschaden der Netzhautablösung, die der Kläger als Schädigung geltend macht (vgl. zur Abgrenzung zwischen
Primärund Sekundärschaden Senatsurteile vom 28. 06.1988 VI ZR 210/87 VersR 1989, 145; vom 21. 07.1998 VI ZR 15/98 VersR 1998, 1153, 1154). 4. Nach allem ist die Klage zum
Zahlungsanspruch dem Grunde nach gerechtfertigt (§§ 823 Abs. 1, 847 BGB a.F.; 304 Abs. 1, 555 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Feststellungsklage hat
im Rahmen des gestellten Antrags ebenfalls Erfolg. Sie ist zulässig. Die Beklagte hat ihre haftungsrechtliche
Verantwortlichkeit in Abrede gestellt und Verjährung droht; die Möglichkeit eines weiteren Schadenseintritts kann nicht
verneint werden, das erforderliche Feststellungsinteresse ist daher gegeben (vgl. Senatsurteil vom 16. 01.2001 VI ZR 381/99 VersR 2001, 874).
Der Feststellungsantrag ist auch begründet, denn Gegenstand der Feststellungsklage ist ein befürchteter
Folgeschaden aus der Verletzung eines deliktsrechtlich geschützten absoluten Rechtsguts (vgl. Senatsurteil vom 16. 01.2001 VI ZR 381/99
aaO). Auch der Vorbehalt hinsichtlich künftiger noch ungewisser und bei der Ausurteilung der Zahlungsklage auf
Schmerzensgeld noch nicht berücksichtigungsfähiger immaterieller Schäden ist zulässig (vgl. Senatsurteil vom 20. 01.2004 VI ZR 70/03 NJW
2004, 1243, 1244). Zum Betrag der Zahlungsklage ist die Sache nicht entscheidungsreif. Insoweit ist sie an das
Berufungsgericht zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
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OLG Naumburg 1 U 97/03 verkündet am: 14.11.2004
Thöns
Im Anschlusss an einen kleinen operativne Eingriff bei einem Kleinkind kam es im Aufwachraum zu einem
Herzstillstand. Der Narkosearzt wurde verurteilt.
Der beklagte Narkosearzt hat bei der Behandlung des Klägers den fachärztlichen anästhesiologischen
Standard fahrlässig verletzt, indem er dem Kläger während eines ambulanten Kurzeingriffs insgesamt 3 mg
Rapifen ® injizierte. Nach den überzeugenden Ausführungen des Privatsachverständigen Dr. med. und der
gerichtlichen anästhesiologischen Sachverständigen Dr. med. P. und Dr. med. Gi. ist die beim Kläger maximal
zu rechtfertigende Dosierung des vorgenannten Opioids um mehr als das Doppelte überschritten worden. Der
Beklagte Narkosearzt hat den fachärztlichen anästhesiologischen Standard weiter zumindest fahrlässig
dadurch verletzt, dass er keine lückenlose intensive Überwachung des Klägers nach der Operation organisiert
und sichergestellt hat. Ob dieser Behandlungsfehler hier als ein grober Behandlungsfehler zu bewerten ist,
kann offen bleiben. 1 U 97/03
Oberlandesgericht Naumburg
verkündet am: 14. 09.2004
601130/01
Landgericht Magdeburg
gez. Solty, JAnge., als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vizepräsidenten des 0- berlandesgerichts Zink und
die Richter am Oberlandesgericht Wiedemann und Grimm auf die mündliche Verhandlung vom
14. 09.2004 für Recht erkannt
Auf die Berufung der Beklagten zu 1) wird unter Zurückweisung der Berufung des
Beklagten zu 2) das am 23. 10.2003 verkündete Urteil des Landgerichts
Magdeburg, 6 0 1130101, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 183
1. Der Beklagte zu 2) wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 150.000,00 EUR nebst 4% Zinsen
hieraus seit dem 7. 06.2001 zu zahlen.
2. Der Beklagte zu 2) wird weiter verurteilt, an den Kläger auf dessen Lebenszeit eine monatliche Schmerzensgeldrente
in Höhe von 255,64 EUR, beginnend am 1. 08.1999, zu zahlen, wobei die Zahlung jeweils für drei Monate im Voraus zu
erfolgen hat, fällig jeweils zum dritten Werktag eines jeden Quartals.
3. Der Beklagte zu 2) wird weiter verurteilt, an den Kläger 1.263,91 EUR zu zahlen.
4. Es wird festgestellt, dass der Beklagte zu 2) verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche künftige materiellen und
immateriellen Schäden zu ersetzen, die dem Kläger aus der ärztlichen Behandlung durch den Beklagten zu 2) am 23.
04.1998 entstehen, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen
ist.
5. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Gerichtskosten sowie die außergerichtlichen Auslagen des Klägers in beiden Instanzen haben der Kläger selbst
und der Beklagte zu 2) jeweils zur Hälfte zu tragen. Die außergerichtlichen Auslagen der Beklagten zu 1) in beiden
Instanzen fallen dem Kläger zur Last. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt. Das Urteil ist vorläufig
vollstreckbar
Der Beklagte zu 2) kann die Zwangsvollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des
zu vollstreckenden bzw. des tatsächlich vollstreckten Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in
gleicher Höhe geleistet hat. Ihm wird nachgelassen, die zu erbringende Sicherheit durch selbstschuldnerische
Bürgschaft einer deutschen Großbank, Volksbank oder öffentlichen Sparkasse zu leisten.
Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung durch die Beklagte zu 1) wegen ihrer außergerichtlichen Auslagen durch
Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu volistreckenden bzw. des tatsächlich vollstreckten Betrages abwenden,
wenn nicht zuvor die Beklagte zu 1) Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.
Die Revision wird nicht zugelassen. Die Beschwer übersteigt 20.000 EUR.
Gründe
Der minderjährige Kläger begehrt von den Beklagten als Gesamtschuldner materiellen Schadenersatz,
Schmerzensgeld in Form eines Kapitalbetrages und einer monatlichen Rente sowie die Feststellung der
Einstandspflicht beider Beklagter für künftige materielle und immaterielle Schäden aus einer ambulanten Behandlung
am 23. 04.1998, insbesondere des während dieser Behandlung erlittenen Atem- und Kreislaufstillstandes.
Am 23. 04.1998 führte die Beklagte zu 1) als niedergelassene Chirurgin bei dem damals ca. fünfeinhalb Jahre alten
Klägerin ambulanter Operation eine Zirkumzision (d.h. eine kreisförmige Entfernung der Vorhautblätter des Penis) zur Beseitigung einer Phimose
(d.h. einer Vorhautverengung) durch. Der Eingriff wurde unter Allgemeinnarkose in Kombination mit einem Peniswurzelblock (d.h. einer
lokalen Betäubung der Peniswurzel) vorgenommen. Hierfür hatte die Beklagte zu 1) den Beklagte zu 2) hinzugezogen, der als
Anästhesist u.a. einen mobilen Anästhesiedienst betreibt und bereits seit 1993 regelmäßig an Operationen in der
Gemeinschaftspraxis der Beklagten zu 1) und des Dr med. G. mitgewirkt hatte. Für ihre Zusammenarbeit haften die
Beklagten keine gesonderte Vereinbarung geschlossen. Die Beklagte zu 1) stellte dem Beklagten zu 2) in der
chirurgischen Gemeinschaftspraxis einen Aufwachraum zur Verfügung. Der Beklagte zu 2) brachte die von ihm
benötigten Geräte, Apparate und Verbrauchsstoffe und eigenes Personal mit. Am 23. 04.1998 begleiteten ihn die
damals ca. seit drei Jahren im Beruf stehende Anästhesieschwester L. und die Auszubildende Ka. ; der Beklagte zu 2)
führte auch die fachärztlich geforderte apparative Ausstattung mit EKGMonitor, Blutdruckmessgeräten,
Sauerstoffinsuiflation, Pulsoxymetrie und Absaugung bei sich.
Der chirurgische Eingriff begann 9:40 Uhr. In der Zeit von 9:35 Uhr bis 10:05 Uhr verabreichte der Beklagte zu 2) dem
Kläger Disoprivan ® (Wirkstoff: Propofol), ein schnell und schonend wirkendes Hypnotikum, insgesamt 220 mg. Daneben
injizierte der Beklagte zu 2) dem Kläger jeweils um 9:35 Uhr, 9:40 Uhr und 9:45 Uhr je 1 mg Rapifen ® (Wirkstoff: Alfentanil), ein
stark wirksames, morphinartiges Hypnotikum. Während der gesamten Operationszeit betrug die Sauerstoffsättigung
des Blutes 99 %. Zusätzlich legte der Beklagte zu 2) einen s.g. Peniswurzelblock mit dem Lokalanästhetikum
Bupivacain ®.
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Um 10:00 Uhr war der chirurgische Eingriff abgeschlossen. Der Kläger wurde in den Aufwachraum verbracht; er war
unmittelbar nach Abschluss der Operation ansprechbar und reflexaktiv. Im Aufwachraum fand eine apparategestützte
Überwachung der Vitalfunktionen, z.Bsp. durch EKGMonitoring oder Anschluss eines Pulsoxymeters, jedenfalls nicht
statt. Zwischen den Parteien des Rechtsstreits ist umstritten, ob und ggfs. in welchem Umfang eine postoperative
Überwachung der Vitalfunktionen des Klägers durch den Beklagten zu 2) bzw. dessen Schwestern erfolgte. Der Kläger
hat behauptet, dass er seinen im Aufwachraum anwesenden Eltern übergeben worden sei. Der Beklagte zu 2) hat dies
bestritten und insoweit zuletzt behauptet, dass er selbst jeweils 10:35 Uhr und 10:45 Uhr Nachschau gehalten habe,
ohne Auffälligkeiten zu entdecken, und dass er jederzeit verfügbar gewesen wäre. Der Kläger war nach der Operation
zunächst kurzzeitig wach und wurde dann schläfrig. Nach einer Visite der Beklagten zu 1), die dem Kläger wegen
seiner Schmerzen nochmals ein Analgetikum (Paracetamol 250) verabreichte, schlief der Kläger gegen 10:45 Uhr ein. Etwa
IÖ:55 Uhr wurden beim Kläger Hautverfärbungen entdeckt, wobei zwischen den Parteien des Rechtsstreits streitig ist,
ob der Vater des Klägers diese als erster bemerkte und die Auszubildende Ka. informierte oder ob umgekehrt Frau Ka.
die Veränderungen bemerkte und die Eltern des Klägers danach fragte, seit wann diese Auffälligkeiten bestünden. Der
Beklagte zu 2) wurde sofort hinzugezogen und stellte einen Atem- und Kreislaufstillstand sowie einen fehlenden
Pupillenreflex fest. Er führte eine Notfallbehandlung durch. Nach Kreislaufstabilisierung, die etwa 11:15 Uhr erreicht
war, wurde der Kläger mit dem Rettungsdienst in das Krankenhaus B. zur weiteren Behandlung verlegt. Gegen 12:05
Uhr setzte beim Kläger eine Schnappatmung ein. Gegen 12:30 Uhr wurde der Kläger mit RettungsdienstHubschrauber
in die Universitätsklinik in Gö. verlegt, wo er bis zum 28. 05.1998 in stationärer Behandlung verblieb. Dem schloss sich
eine weitere Behandlung in der Neurologischen Rehabilitationsklinik in Ge. bis zum 23. 07.1999 an. Für mehrere
Monate war eine Versorgung des Klägers nur über eine transnasale Magensonde möglich; der Kläger konnte seinen
Urin- und Stuhlabgang nicht willentlich steuern und kontrollieren. Die neurologische Behandlung umfasste intensives
und umfangreiches Training in den Bereichen Bewegung und Fortbewegung, Sensorik und Sprechen bis hin zum
Esstraining. Bei der Entlassungsuntersuchung wurde diagnostiziert, dass der Kläger an einer noch mittelschweren,
aber rückläufigen rechtsbetonten Tetraparese (d.h. einer inkompletten Lähmung aller vier Gliedmaßen) leidet. Das Stehen und Gehen weniger
Schritte war dem Kläger mit einer Gehhilfe möglich, im Übrigen war er zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl
angewiesen. Es wurden weiter cerebrale Bewegungsstörungen im Sinne einer Choreoathetose (d.h. eine krankhaft gesteigerte Motorik in
Kombination des Veitstanzsyndroms und langsamer, bizarr geschraubter Bewegungen insbesondere der weiter vom Rumpf entfernten Teile der Extremitäten, z.Bsp. der Hand- und Fingergelenke) mit
erheblicher Beeinträchtigung der Gleichgewichtsreaktion diagnostiziert. Neben den neurologischen Störungen des
Bewegungsapparates wurde ein schweres hirnorganisches Psychosyndrom mit starker psychomotorischer
Verlangsamung, begrenzter Aufmerksamkeitsspanne und Ausdauer, mit Antriebsminderung, Konzentrations- und
Merkfähigkeitsstörungen sowie mittelschwere zentrale Sprach- und Artikulationsstörungen und eine begrenzt aktive
Sprachproduktion festgestellt.
Der Kläger hat behauptet, dass er aufgrund des Atem- und Kreislaufstillstandes am 23. 04.1998 einen irreversiblen
Hirnschaden mit erheblichen Bewegungsstörungen und fehlender Gleichgewichtsreaktion erlitten habe, dessen
Auswirkungen im Wesentlichen dem Ergebnis der Entlassungsuntersuchung vom 23. 07.1999 in Ge. entsprechen. Es
sei schon jetzt absehbar, dass der Kläger wegen der Tetraparese lebenslang Orthesen werde tragen müssen und dass
er weiter gehende Körperschäden erleiden werde, insbesondere an den Kniescheiben und an der Wirbelsäule. Auf
Grund der erlittenen Gesundheitsschäden sei ihm der Besuch einer Regelschule verwehrt. Er werde sein ganzes
Leben auf fremde Hilfe angewiesen bleiben.
Die Eltern des Klägers wendeten für Fahrtkosten, und zwar für eigene Krankenhausbesuche und für Transportkosten
für die Heimfahrten des Klägers während der neurologischen Rehabilitationsbehandlung in Ge. ‚ insgesamt 2,472,00
DM (= 1.263,91 EUR) auf.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dass beide Beklagte für den Atem- und Kreislauf- stillstand am 23. 04.1998
und die hieraus entstandenen Schäden materiell verantwortlich seien. Er hat behauptet, dass der Beklagte zu 2) das
bei der Allgemeinnarkose verwendete Hypnotikum Rapifen © pflichtwidrig überdosiert habe und dass er es versäumt
habe, eine kontinuierliche, individuelle Clberwachung der Aufwachphase des Klägers nach der Operation
durchzuführen oder zu veranlassen. Die Beklagte zu 1) habe nach seiner Auffassung pflichtwidrig versäumt, die
Tätigkeit des Beklagten zu 2) zu überwachen; insoweit hat sich der Kläger auf Rechtsprechung zum
Organisationsverschulden von Krankenhausträgern bei der Sicherstellung der postoperativen Kontrollen bezogen.
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Der Kläger hat ein angemessenes Schmerzensgeld sowie die Zuerkennung einer Schmerzensgeldrente geltend
gemacht, wobei er auf Grund des Ausmaßes und der Schwere seiner psychischen und physischen Schäden ein
Schmerzensgeld in Höhe von 200.000,00 DM (= 102.258,37 EUR) sowie die Zuerkennung einer Schmerzensgeldrente in Höhe
von monatlich
500,00 DM (=255,64 EUR) für angemessen erachtet. Er hat weiter neben dem o.g. materiellen Schaden die Feststellung der
Einstandspflicht der Beklagten für Zukunftsschäden begehrt. Die Beklagten haben sich gegen die Klage verteidigt. Die
Beklagte zu 1) hat die Auffassung vertreten, dass die postoperative Überwachung des Klägers allein in den
Verantwortungsbereich des Beklagten zu 2) falle. Sie habe sich — berechtigter Weise — auf eine ordnungsgemäße
postoperative Nachsorge durch den Beklagten zu 2) verlassen.
Der Beklagte zu 2) hat bestritten, dass seine Behandlung nicht dem fachärztlichen Standard entsprochen habe.
Nachdem die Haftpflichtversicherung des Beklagten zu 2) vorgerichtlich mit Schreiben vom 8. 03.1999 die Dosierung
des Rapifen © noch als sachgerecht verteidigt hatte, hat der Beklagte zu 2) im Verlaufe des Rechtsstreits eingeräumt,
dass die Dosierung ungewöhnlich hoch sei und dies damit gerechtfertigt, dass der Beklagten zu 1) beim operativen
Eingriff das Schnittinstrument abgerutscht sei und der Fehischnitt eine heftige Schmerzreaktion beim Kläger ausgelöst
habe, die wiederum eine zusätzliche Gabe des Opioid Rapifen ® erforderlich gemacht habe. In der postoperativen
Phase sei ein apparatives Monitoring medizinisch nicht geboten gewesen.
Der Beklagte zu 2) hat darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen der Allgemeinnarkose und dem Atem- und
Kreislaufstillstand des Klägers am Behandlungstag unter Hinweis auf den zeitlichen Abstand von ca. 45 Minuten zum
Narkoseende in Abrede gestellt und dagegen behauptet, dass der lebensbedrohende Zustand des Klägers durch einen
Krampfanfall oder das Zurückfallen der Zunge ausgelöst worden sei. Selbst wenn jedoch der Atem- und
Kreislaufstillstand des Klägers durch eine engmaschigere Überwachung früher entdeckt worden wäre, wäre eine
Sauerstoffunterversorgung des Klägers unvermeidbar gewesen, die die hier behaupteten Gesundheitsschäden
hervorgerufen hätte.
Das Landgericht hat neben den Krarikenunterlagen der Beklagten über die Behandlung des Klägers am 23. 04.1998
und der Produktinformation des Herstellers von Rapifen ® (vgl. GA Bd. II Bl. 37 f.) das von der Krankenversicherung des Klägers
eingeholte Gutachten des Anästhesisten Dr. med. A. T. vom 12. 02.1999 (GA Bd. 1 81. 30 bis 34) nebst Ergänzung vom 29.
10.1999 (GA Bd. 1 81. 102104) im Wege des Urkundsbeweises verwertet. Es hat die Zeugen H. - J. G. (Mitinhaber der chirurgischen Ge
meinschaftspraxis)
, M. Ga. (Krankenschwester der Beklagten zu 1)), 0. Ka.
und A. L. (Krankenschwestern des Beklagten zu 2)) vernommen (vgl. Sitzungs
allgemein zur Organisation der postoperativen
Überwachung sowie zum Verlauf der Behandlung des Klägers am 23. 04.1998. Die Kammer hat ein gerichtliches
Gutachten der Anästhesisten Dres. med. P. und Gi. ‚ Direktor und Oberarzt der Abteilung Anästhesiologie der
Medizinischen Hochschule H. eingeholt (Gutachten vom 7. 04.2003, GA Bd. II Bl. 57 bis 88), welches durch den Sachverständigen Dr. med.
Gi. in der Sitzung am 2. 10.2003 erläutert worden ist (vgl. Sitzungsprotokoll GA Bd. II 81. 131 bis 135), sowie ein gerichtliches Gutachten
des Neurologen Dr. med. 8. ‚ des kommissarischen Leiters des Zentrums für Neurologische Medizin der Medizinischen
Hochschule H. (Gutachten vom 21. Juni2002, CA Bd. 1 81. 156 bis 171).
protokolle vom 22. 11.2001, GA Bd. 1 81. 123 bis 129, und vom 29. 11.2001, GA Bd. 1 Bl. 130 bis 132)
Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere wegen der widerstreitenden Rechtsauffassungen der Parteien des
Rechtsstreits und wegen des Verlaufs des Verfahrens in erster Instanz, nimmt der Senat auf die tatsächlichen
Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
Das Landgericht Magdeburg hat der Klage gegen beide Beklagte als Gesamtschuldner im vollen Umfange
stattgegeben und diese Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, dass der Beklagte zu 2) wegen eigener
Behandlungsfehler, nämlich einer Überdosierung des Hypnotikums Rapifen ® während der Allgemeinnarkose sowie
einer unzureichenden postoperativen Überwachung des Patienten, hafte und die Beklagte zu 1) deshalb, weil sie sich
nicht „blind darauf habe verlassen dürfen, dass der Beklagte zu 2) alle notwendigen Vorkehrungen zu einer
ordnungsgemäßen postoperativen Überwachung getroffen habe.
Die Beklagte zu 1) hat gegen das ihr am 4. 11.2003 zugestellte Urteil mit einem am 19. 11.2003 beim
Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese Berufung innerhalb der ihr insgesamt bis
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zum 1. 03.2004 verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet. Sie macht insbesondere geltend, dass sie wegen
der zwischen ihr und dem Beklagten zu 2) bestehenden horizontalen Arbeitsteilung grundsätzlich nicht verpflichtet sei,
die anästhesiologische Behandlung des Patienten durchzuführen oder zu kontrollieren. Sie bestreitet, dass im
konkreten Fall Anlass zur Besorgung einer unzureichenden Überwachung bestanden habe, weil der Beklagte zu 2) alle
erforderlichen Geräte und zahlenmäßig ausreichend Personal mitgebracht habe und weil allein der Umstand, dass sich
der Beklagte zu 2) nicht ständig im Aufwachraum aufhalten konnte, nicht darauf schließen lasse, dass die postoperative
Überwachung nicht gewährleistet sei. Im Übrigen vermisst sie erstinstanzliche Feststellungen zur Kausalität zwischen
ihrer vermeintlichen Pflichtverletzung und den vom Kläger behaupteten Schäden.
Der Beklagte zu 2) hat gegen das ihm am 31. 10.2003 zugestellte Urteil mit einem am 27. 11.2003 beim
Oberlandesgericht vorab per Fax eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese Berufung innerhalb der ihm
insgesamt bis zum 27. 02.2004 verlängerten Berufungsbegründungsfrist begründet. Der Beklagte zu 2) wendet sich
zunächst gegen die Feststellung einer pflichtwidrigen Überdosierung von Rapifen ® und verweist insoweit auf seinen
erstinstanzlichen Vortrag zum Anlass der Höherdosierung (Beweisantritt: Zeugenvernehmung Dr. G. ). Im Übrigen erachtet er das
Verständnis des Gerichts von einer ‚engen Überwachung― für überzogen. Dies gelte umso mehr, als die unmittelbare
Phase der postoperativen Überwachung bei Auftreten der Komplikation wegen Zeitablaufs bereits beendet gewesen
sei. Schließlich habe das Gericht die Ausführungen des Sachverständigen zur Kausalität überinterpretiert.
Die Beklagten beantragen jeweils,
unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage insgesamt abzuweisen. Der Kläger beantragt,
die Berufungen beider Beklagter jeweils zurückzuweisen.
Er verteidigt im Wesentlichen das erstinstanzliche Urteil.
Der Senat hat am 14. 09.2004 mündlich zur Sache verhandelt; wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des
Sitzungsprotokolls des Senats vom 14. 09.2004 (vgl. GA Bd. III Bl. 162 f.) Bezug genommen.
Die Berufungen beider Beklagter sind jeweils zulässig; insbesondere wurden sie form- und fristgemäß eingelegt und
begründet. In der Sache hat nur die Berufung der Beklagten zu 1) Erfolg; das Rechtsmittel des Beklagten zu 2) ist
hingegen unbegründet.
Das Landgericht hat zutreffend eine zumindest fahrlässig pflichtwidrige medizinische Versorgung des Klägers bei der
Durchführung der Allgemeinnarkose sowie während der postoperativen Überwachung der Vitalfunktionen festgestellt.
Beide Behandlungsfehler fallen im Rahmen der zwischen den beiden Beklagten bestehenden horizontalen
Arbeitsteilung in den Aufgaben- und Verantwortungsbereich des Beklagten zu 2). Entgegen der Auffassung des
Landgerichts hat die Beklagte zu 1) die ihr im Rahmen der Behandlung vom 23. 04.1998 obliegenden Pflichten nicht
verletzt; das Landgericht hat insoweit den Pflichtenkreis der Beklagten zu 1) überspannt. Zutreffend ist das Landgericht
weiter davon ausgegangen, dass die beim Kläger festgestellten neurologischen Gesundheitsschäden und —
beeinträchtigungen auf die vorgenannten Behandlungsfehler zurückzuführen sind. Die erstinstanzliche Verurteilung ist
in der Höhe nicht angegriffen worden; sie lässt Fehler zuungunsten der Beklagten auch nicht erkennen. Lediglich der
Feststellungsausspruch war in seiner Formulierung zu korrigieren, allerdings i.S. einer Urteilsberichtigung nach § 319
ZPO.
Im Einzelnen:
1. Der Beklagte zu 2) hat bei der Behandlung des Klägers am 23. 04.1998 den fachärztlichen anästhesiologischen
Standard fahrlässig verletzt, indem er dem Kläger während eines ambulanten Kurzeingriffs insgesamt 3 mg Rapifen ®
injizierte. Sowohl nach der (fachübergreifenden) Deutung des gerichtlichen neurologischen Sachverständigen Dr. med. 8. (vgl.
Gutachten vom 21. 06.2002, 5. 26 f. = GA Bd. 1 Bl. 168 Rs., 169) als auch nach den überzeugenden Ausführungen des Privatsachverständigen Dr.
med. T. (vgl. ergänzendes Gutachten vom 29. 10.1999, 5. 2 f = GA Bd. 1 81. 103 f.) und der gerichtlichen anästhesiologischen Sachverständigen Dr.
med. P. und Dr. med. Gi. (vgl. Gutachten vom 7. 04.2003, 5. 5 f. = GA Bd. II Bl. 61 f. sowie Sitzungsprotokoll vom 2. 10.2003, 5. 1 f. = GA Bd. II Bl. 131 f.) ist die beim Kläger
maximal zu rechtfertigende Dosierung des vorgenannten Opioids um mehr als das Doppelte überschritten worden. Als
entscheidende Anknüpfungspunkte für die Ermittlung der zulässigen Maximaldosierung beim Kläger am Operationstag
haben die Sachverständigen die Körpermasse — hier 18 kg — sowie die Dauer des chirurgischen Eingriffs — hier 20
min—angegeben. Die so ermtelte Maximaldosierung von 1,1 mg (das Landgericht ist zugunsten des Beklagten zu 2) sogar von 1,5 mg
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 187
ausgegangen) orientierte sich an der Verträglichkeit aus Patientensicht und schloss Nachinjektionen, z. Bsp. wegen
fortbestehender Schmerzempfindlichkeit, ausdrücklich ein. Sie durfte aus keinem Grunde überschritten werden.
Insoweit ist das nunmehrige Verteidigungsvorbringen des Beklagten zu 2) von der Notwendigkeit einer Nach- injektion
(tatsächlich hat es ja zwei Nachinjektionen gegeben) schon unerheblich.
Darüber hinaus hält der Senat — ebenso wie die Kammer — die Behauptung von einer Schmerzreaktion auf das
»Abrutschen eines Schneideinstruments der Beklagten zu 1) für widerlegt, weil sich für ein solches Geschehen in den
Krankenunterlagen kein Anhaltspunkt findet. Die Verabreichung von Rapifen © in regelmäßigen 5MinutenAbständen
und in jeweils gleicher Dosis deutet vielmehr auf ein von vornherein geplantes Vorgehen hin. Der Senat folgt auch darin
den vom Sachverständigen Dr. med. Gi. geäußerten Zweifeln, die sich aus der Aufzeichnung der Vitalparameter des
Klägers während der Operation ergeben (vgl. Sitzungsprotokoll vom 2. 10.2003, 5. 2 = GA Bd. II 81. 132). Schließlich hat der Senat auch
berücksichtigt, dass sich der Beklagte zu 2) erstmals mit Schriftsatz vom 5 05.2003, also mithin erstmals mehr als fünf
Jahre nach der Operation und etwa dreieinhalb Jahre nach erstmaliger Feststellung der Überdosierung durch das
Ergänzungsgutachten des Privatsachverständigen Dr. med. T. (vgl. GA Bd. l 81. 103 f.), auf den angeblichen Fehlschnitt der
Beklagten zu 1) berufen hat, ohne dass erkennbar wäre, worauf nach dieser langen Zeit die sichere Erinnerung
beruhen soll. Entsprechende Aufzeichnungen hat der Beklagte zu 2) seiner Zeit nicht angefertigt.
2. Der Beklagte zu 2) hat den fachärztlichen anästhesiologischen Standard weiter zumindest fahrlässig dadurch
verletzt, dass er keine lückenlose intensive Überwachung des Klägers nach der Operation organisiert und sichergestellt
hat. Ob dieser Behandlungsfehler hier als ein grober Behandlungsfehler zu bewerten ist, kann offen bleiben. 2.1. Nach
den auch insoweit nachvollziehbaren, übereinstimmenden und sachlich überzeugenden Ausführungen der drei
gerichtlichen Sachverständigen sowie des von der Krankenversicherung des Klägers beauftragten Sachverständigen
Dr. med. T. besteht das besondere Risiko einer Opioidgabe u.a. gerade in ausgeprägten Atemdepressionen, dieses
Risiko wurde hier durch die hohe Dosierung des Opioids erheblich erhöht und durch den Schlaf des Patienten
nochmals verstärkt. Erfordert jede postoperative Überwachung ohnehin die sorgfältige Überwachung durch
qualifiziertes Personal, so war hier gerade unter Berücksichtigung des Operationsverlaufs eine besonders sorgfältige
Überwachung des Klägers nach der Operation notwendig (vgl. Privatgutachten Dr. med. T. vom 12. 02.2002, 5. 5 bis 8 = CA Bd. 1 Bl. 32 bis 33; Gutachten Dr. med.
8. vom 21. 06.2002, 8. 28 = GA Bd. 1 Bl. 169 Rs.; Gutachten Dres. med. P. & Ci. vom 7. 04.2003, 8. 6 bis 9 und 11 f. = GA Bd. II 81. 62 bis 68; Sitzungsprotokoll vom 2. 10.2003, 5. 3 f. = CA Bd. II 81. 133 f.;
. Jedenfalls angesichts der hier bestehenden besonderen Risiken war
auch eine Verwendung eines Minimalmonitorings, zumindest auch eines Pulsoxymeters, erforderlich (vgl. ebenda, insbesondere o.a.
Sitzungsprotokoll, 5. 3 f. = CA Bd. II 81. 133 f.). Ebenso war es nötig, den Kläger wach zu halten. Zutreffend haben alle Sachverständigen
insoweit auch auf den Inhalt der Leitlinie der DGAI (Stand 11. 10.1997) hingewiesen, die eine Übertragung der postoperativen
Überwachung an nichtärztliches Personal selbstverständlich eröffnet, aber eben nur an Personal mit entsprechender
Ausbildung oder Erfahrung 1
ebenso Gebrauchsinformation des Herstellers zu Rapifen ® = CA Bd. II Bl. 70)
2.1.1. Unstreitig sind apparatgestützte Kontrollmessungen nicht durchgeführt worden. Die vom Beklagten zu 2) für
diese Unterlassung angeführte Begründung — Minderjährige würden durch Kopfbewegungen häufig die Messfühler
abstreifen und dadurch jeweils einen Fehl- alarm auslösen — ist, wie der Sachverständige Dr. med. Ci. in seiner
Anhörung vor der Kammer zutreffend angemerkt hat, völlig verfehlt. Angesichts der hohen Risiken eines längere Zeit
unbemerkt bleibenden Atem- und Kreislaufstillstandes kann der Beklagte zu 2) mit seinem »Bequemlichkeitsargument―
kein Gehör finden.
2.1.2. Zur Überzeugung des Senats hat der Beklagte zu 2) den Kläger zudem unmittelbar nach der Operation im
Wesentlichen unter die Aufsicht seiner Eltern, also medizinischer Laien, gestellt. Die postoperative Überwachung durch
sein Personal hatte der Beklagte zu 2) nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme schon im Allgemeinen nicht
hinreichend organisiert, weil es keine festen Zuständigkeiten für die postoperative Überwachung und deren
Aufzeichnung gab. Hinzu kommt, dass es auch keine Anweisungen an sein Personal wegen der Besonderheiten der
stattgefundenen Behandlung gegeben hat. Keine der beiden Schwestern des Beklagten zu 2) hat solche Anweisungen
geschildert oder auch nur geäußert, dass sie von der Gabe eines Opioids und der hier stattgefundenen hohen
Dosierung Kenntnis gehabt hätte (vgl. ZV Ka. ‚ Sitzungsprotokoll vom 22. 11.2001, 5. 5 f. = GA Bd. 1 Bl. 127 f.; ZV L. ‚ Sitzungsprotokoll vom 29. November2001, S. 2 f. = CA Bd. 1 Bl.
131 f.). Sowohl in den Krankenunterlagen des Klägers als auch im vorprozessualen Schriftwechsel der Parteien bzw. ihrer
Vertreter ist übereinstimmend von der »Übergabe― des Klägers an seine Eltern unmittelbar nach Verbringen in den
Aufwachraum die Rede (vgl. Patientenkartei Dr. Kn. ‚ CA Bd. 1 Bl. 54; Arztbrief Dr. Kn. vom 26. 06.1998, CA Bd. 1 Bl. 56; Arztbrief Kreiskrankenhaus 8. vom 23. 04.1998 über die Angaben
der Eltern des Klägers bei Aufnahme, CA Bd. 1 Bl. 57; kein Bestreiten im Schreiben der Haftpflichtversicherung des Beklagten zu 2) vom 8. 03.1999 CA Bd. 1 Bl. 43 f.). Als
direktes Ergebnis fehlender Zuständigkeiten sind keinerlei laufende Aufzeichnungen über die post- operative
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Überwachung vorhanden. Nach diesem Beweisergebnis kann offen bleiben, ob eine entsprechende Instruktion der
Zeugin Ka. angesichts des geringen Ausbildungs- und Erfahrungsstandes u.U. ohnehin nicht ausgereicht hätte. Es
kann auch dahin stehen, ob der Beklagte zu 2), wie von ihm behauptet, zweimal im Abstand von zehn Minuten nach
dem Kläger gesehen hätte. Denn selbst wenn der Senat die angebliche persönliche Nachschau um 10:35 Uhr und um
10:45 Uhr als wahr unterstellt, änderte dies nichts daran, dass eine kontinuierliche postoperative Überwachung nicht
sicher gestellt war (so auch ausdrücklich auf Vorhalt Dr. med. Ci. ‚ Sitzungsprotokoll vom 2. 10.2003, 5. 4 = CA Bd. II Bl. 134). Der vorliegende Fall zeigt gerade,
welche schwer wiegende Folgen eine zehnminütige Überwachungslücke haben kann; ein solches vermeidbares Risiko
ist als fachärztlicher Standard nicht hinnehmbar. Insoweit bestehen auch keinerlei Unterschiede zwischen einer
stationären und einer ambulanten Behandlung,
2.2. Entgegen der Behauptung des Beklagten zu 2) ereignete sich der Atem- und Kreislauf- stillstand des Klägers nicht
nach Abschluss der anästhesiologischen Behandlung. Die post- operative Überwachungspflicht endet erst dann, wenn
die Vitalfunktionen des Patienten (Schutzreflexe, Atmung und Kreislaufregulation) vollständig wiederhergestellt sind und solche unmittelbar
mit der Narkose zusammenhängende Komplikationen nicht mehr zu besorgen sind (vgl. Gutachten Dres. med. P. & Ci. ‚ 5. 9. = CA Bd. II Bl. 65;
Sitzungsprotokoll 5. 3 bis 5 = CA Bd. II Bl. 133 bis 135; ebenso BGH VersR 1989, 1296; OLC Düsseldorf VersR 2002, 1151). Im vorliegenden Fall bestand aus den
vorgenannten Cründen auch aus exanteSicht des Beklagten zu 2) gegen 10:45 Uhr noch die Cefahr nachlassender
Vigilanz (d.h. Bereitschaft zur Aufmerksamkeit) und aufkommender Atemdepression, so dass eine Fortdauer — bzw. hier nach dem
Beweisergebnis eine erstmalige Aufnahme — einer kontinuierlichen postoperativer, Überwachung geboten war (vgl. o.a.
Gutachten S. 10 = CA Bd. II Bl. 66; o.a. Sitzungsprotokoll 5. 4 f. = CA Bd. II 81. 134 f.).
2.3. Es spricht vieles dafür, dass die fehlende Organisation und Absicherung einer kontinuierlichen postoperativen
Überwachung durch qualifiziertes Personal als grober Behandlungsfehler zu bewerten ist. Das lässt sich den
Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. med. Gi. auf die Vorhalte der Kammer und des
Prozessbevollmächtigten des Beklagten zu 2) in seiner Anhörung vor dem Landgericht entnehmen (so auch die Bewertung der
Kammer, UA 5. 10) und findet sich als ausdrückliche Aussage in dem ergänzenden Gutachten des Privatsachverständigen Dr.
med. T. vom 29. 10.1999 (vgl. 5. 2 f = GA Bd. 1 Bl. 103 f.). Der Senat hat von einer ergänzenden Anhörung des Sachverständigen
Dr. med. Gi. zum Zwecke einer direkten Nachfrage abgesehen, weil es nach dem Ergebnis der bisherigen
Beweisaufnahme auf die Bewertung des o.g. Behandlungsfehlers als grob nicht ankommt.
3. Dem gegenüber ist eine Pflichtverletzung der Beklagten zu 1) gegenüber dem Kläger nicht nachgewiesen.
3.1. Die Beklagte zu 1) haftet grundsätzlich nicht für Behandlungsfehler des Beklagten zu 2), weil beim
Zusammenwirken mehrerer Ärzte im Rahmen der s.g. horizontalen Arbeitsteilung jeder Arzt grundsätzlich nur den
Facharztstandard desjenigen medizinischen Fachbereiches zu gewährleisten hat, in den die von ihm übernommene
Behandlung fällt. Danach haftet der Chirurg grundsätzlich weder für eine fehlerhafte Dosierung eines Hypnotikums
noch für eine unzureichende postoperative Kontrolle der Kreislauf- und Atmungsstabilität, weil beide Aufgaben in den
Verantwortungsbereich des Anästhesisten fallen (vgl. Gutachten Dr. med. T. vom 12. 02.1999, 5. 5 GA Bd. 1 Bl. 32; Gutachten Dres. med. P. & Gi. vom 7. 04.2003, 5. 13 =
GA Bd. II Bl. 69; vgl. auch GeißlGreiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl. 2001, Rn. 197; 221, 234 m.w.N.; BGH VersR 1991, 694; OLG Düsseldorf VersR 1993, 865 und VersR 2002, 1151). Hiervon ist
auch das Landgericht im Ansatz zutreffend ausgegangen.
Etwas Anderes könnte gelten, wenn die Beklagte zu 1) überobligatorisch auch Behandlungspflichten des Beklagten zu
2) mit übernommen hätte; hierfür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Beide Beklagte und auch der Zeuge Dr. G. haben
angegeben, dass es keine gesonderte allgemeine Abreden dieser Art gab und dass auch keine konkret auf den Kläger
bezogene Mitübernahme anästhesiologischer Leistungen durch die Beklagte zu 1) vorlag.
Ausnahmsweise könnten eigene Koordinierungspflichten des Chirurgen schließlich daraus entstehen, dass sich
Behandlungsrisiken gerade aus der relativen Unvereinbarkeit der von ihm und dem Anästhesisten angewandten
Methoden oder Instrumenten ergeben (vgl. BGH VersR 1999, 579) — dies ist hier nach den übereinstimmenden Ausführungen
aller einbezogenen Sachverständigen jedoch gerade nicht der Fall.
3.2. Es besteht weiter grundsätzlich auch keine gegenseitige Überwachungspflicht beim Zusammenwirken mehrerer
Ärzte im Rahmen der horizontalen Arbeitsteilung (vgl. BGH NJW 1987, 2293; OLGR Hamm 1994, 145; OLGR Hamburg 1996, 56). Soweit das
Landgericht der Beklagten zu 1) deren Gleichgültigkeit gegenüber der Art und Weise der Arbeitsorganisa tion des
Beklagten zu 2) und deren ‚blindes Vertrauen in die fachgerechte Erbringung der anästhesiologischen Behandlung als
Pflichtverletzung vorwirft, überspannt es die Anforderungen an die Chirurgin. Dieses Postulat läuft letztlich darauf
hinaus, dass das Landgericht eine ständige Überwachung und Kontrolle des Spezialisten — hier des Facharztes für
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Anästhesiologie — durch einen Nichtspezialisten — eines Arztes aus einem anderen medizinischen Fachbereich —
verlangt. Es fragt sich auch, mit welchem Ziel die Überwachung erfolgen sollte, weil der Sinn der horizontalen
Arbeitsteilung gerade darin besteht, den Sachverstand verschiedener medizinischer Fachbereiche zu bündeln, was
grundsätzlich einschließt, dass jeder Arzt diejenigen Entscheidungen im Rahmen der Gesamtbehandlung trifft, die in
seinen Fachbereich fallen.
Ausnahmen hat die Rechtsprechung anerkannt, wenn Qualifikationsmängel des mitwirkenden Arztes des anderen
medizinischen Fachbereiches offensichtlich sind (vgl. OLG Zweibrücken VersR 1988, 165 »Anfängeroperation―; weitere Beispiele bei Ulsenheimer in:
, was hier jedenfalls nicht zutrifft, bzw. wenn ein Arzt Fehlleistungen des
hinzugezogenen Arztes erkennt bzw. wegen Evidenz hätte erkennen müssen (vgl. BGH VersR 1989, 186). Auf diesen
letztgenannten Fall beruft sich das Landgericht — jedoch zu Unrecht.
Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 140 Rn. 20)
Der Kläger selbst macht nicht geltend, dass die Beklagte zu 1) die Überdosierung des Rapifen © erkannt hatte bzw.
hätte erkennen müssen. Hierfür gibt es auch keinerlei Anhaltspunkte.
Die Beweisaufnahme hat darüber hinaus gerade nicht ergeben, dass die unzureichende postoperative Überwachung
des Klägers für die Beklagte zu 1) offensichtlich war. Die Beklagte zu 1) befand sich während der gesamten Zeit der
postoperativen Behandlungsphase unstreitig im Operationssaal — mit einer Ausnahme, nämlich ihrer eigenen (chirurgischen)
Entlassungsuntersuchung gegen 10:45 Uhr. Dem Kläger ist zwar darin zu folgen, dass sie anlässlich dieser Kontrolle
hätte feststellen können, dass keinerlei apparatives Monitoring (mehr) im Einsatz war. Dafür, dass es für die Beklagte zu
1) — in Unkenntnis der Überdosierung des Rapifen ® - auch offensichtlich gewesen sein soll, dass die postoperative
anästhesiologische Kontrolle noch nicht abgeschlossen werden durfte, hat der Senat keine Anhaltspunkte.
4. Die durch das neurologische Gutachten des Dr. med. 8. nachgewiesenen körperlichen und geistigen
Gesundheitsbeeinträchtigungen des Klägers sind kausal auf die Behandlungsfehler des Beklagten zu 2)
zurückzuführen.
4.1. Im Falle der Feststellung eines groben Behandlungsfehlers hätte es dem Beklagten zu
2) oblegen, den Nachweis zu führen, dass es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen der pflichtwidrigen
anästhesiologischen Behandlung des Klägers und dessen Schädigungen gibt (vgl. zur Umkehr der Beweislast bei grobem Behandlungsfehler BGH
VersR 1995, 46; ders. VersR 1998, 585; MDR 2002, 1120; zuletzt GesR 2004, 290 m.w,N.). Dies hat der Beklagte zu 2) schon nicht behauptet, auch nicht
hilfsweise im Rahmen seines Berufungsvorbringens.
4.2. Das Landgericht hat zutreffend festgestellt, dass der Kläger sogar den positiven Nachweis eines ursächlichen
Zusammenhangs geführt hat. Ein Atemstillstand, wie hier vom Kläger am 23. 04.1998 erlitten, ist nicht nur als typische
Nebenwirkung des überdosierten Rapifen © bekannt; der gerichtliche Sachverständige Dr. med. Gi. hat vielmehr jede
andere mögliche Ursache — wie einen Krampfanfall oder ein Zurückfallen der Zunge — nach der stattgefundenen
Beweisaufnahme durch Vernehmung von Zeugen und Anhörung der Part&en über den klinischen Verlauf der
Behandlung sicher ausgeschlossen (vgl. Gutachten vom 7. 04.2003, 5. 12 = GA Bd. II Bl. 68; Sitzungsprotokoll vom 2. 10.2003, S. 5 = GA Bd.
. Er hat darüber hinaus überzeugend ausgeführt, dass bei pflichtgemäßer postoperativer Überwachung des
Klägers der Atem- und Kreislaufstillstand so rechtzeitig erkannt worden wäre, dass eine hypoxische Hirnschädigung
„mit großer Wahrscheinlichkeit― hätte vermieden werden können (vgl. Gutachten vom 7. 04.2003, S. 12, 13 = GA Bd. II Bl. 68, 69). Dies genügt für
den Nachweis der Kausalität.
II Bl. 135)
5. Der Senat erachtet das von der Kammer festgesetzte Schmerzensgeld in Kombination eines Kapitalbetrages in
Höhe von 150.000,00 EUR und einer monatlichen Rente in Höhe von 255,64 EUR für angemessen i.S.v. § 847 BGB.
Der Beklagte zu 2) hat hiergegen keine Einwendungen erhoben.
Fehler bei der Ermessensausübung sind weder hinsichtlich der Teilbeträge noch im Hinblick auf den Gesamtbetrag des
Schmerzensgeldes ersichtlich. Es ist lediglich zur Klarstellung anzumerken, dass entgegen des Zitats des Landgerichts
§ 843 BGB für die Schmerzensgeldrente nicht einschlägig ist.
Der Senat hat dabei berücksichtigt, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Bundes- gerichtshofes und der
Obergerichte, auch des erkennenden Senats, die Zuerkennung einer Schmerzensgeldrente neben einem Kapitalbetrag
nur im Ausnahmefall in Betracht kommt. Hier können die schweren und lebenslangen körperlichen und geistigen
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 190
Behinderungen des Klägers, insbesondere die erhebliche Reduzierung der Fähigkeiten zum gezielten Einsatz seines
Bewegungsapparates sowie zur Ausbildung eines selbständigen Sprachvermögens, nicht durch einen einmaligen
Betrag abgegolten werden (vgl. BGH VersR 1976, 967ff; OLG Naumburg, Urteil vom 28. 11.2001, 1 U 161/99 = VersR 2002, 1295). Dem Kläger wird es aufgrund
der ihm zugefügten Schwerstschäden zeit seines Lebens schwer fallen, seine ihm angeborene Menschenwürde in
unserer Leistungsgesellschaft fortdauernd zu behaupten. Dem zuzubilligenden Schmerzensgeld kommt daher auch die
besondere Aufgabe zu, gewissermaßen symbolhaft zu bestätigen, dass der Kläger trotz der ihm zugefügten
körperlichen und geistigen Behinderungen seine Menschenwürde nicht verloren hat.
Die für den Kapitalbetrag erkannte Verzinsung ist jedenfalls auch aus § 291, 288 BGB begründet.
6. Gegen die haftungsausfüllende Kausalität und die Höhe der geltend gemachten materiellen
Schadenersatzansprüche hat der Beklagte zu 2) keine Einwendungen erhoben. Es bestehen insoweit auch keine
Zweifel an den tatsächlichen Feststellungen der Kammer; Rechtsfehler sind nicht ersichtlich.
7. Das Landgericht hat zu Recht auch einen Anspruch auf Feststellung der Einstandspflicht des Beklagten zu 2) für
künftige Schäden des Klägers aus der pflichtwidrigen anästhesiologischen Behandlung vom 23. 04.1998 für begründet
erachtet. Der Urteilsausspruch war insoweit dem tatsächlichen Begehren des Klägers und der Intension des
erstinstanzlichen Gerichts, welche jeweils auf einen Vorbehalt für künftige materielle und immaterielle Schäden
begrenzt waren, nach § 319 ZPO anzupassen.
III.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen beruht auf § 92 Abs. 1 und 2, 97 Abs. 1,100
Abs. 1 ZPO.
Die weiteren Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 26 Nrn. 7 und 8 EGZPO i.V.m. § 708 Nr. 10, 711 5. 1 sowie
543, 544 Abs. 1 S. 1 ZPO.
Die Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO war nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat
noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des
Revisionsgerichts erfordert.
gez. Zink gez. Grimm gez. Wiedemann
BGH, Urteil vom 04.11.2004- III ZR 201/04 - OLG Brandenburg
Thöns
Zur Pflicht eines Krankenhauses, den Patienten vor Abschluß einer Wahlleistungsvereinbarung über die
Entgelte und den Inhalt der wahlärztlichen Leistungen zu unterrichten (Fortführung der Senatsurteile 8GHZ 157, 87ff, vom 8. 01.2004 - III ZR
375/02 - NJW 2004, 686 und vom 22. 07.2004- III ZR 355/03 - NJWRR 2004, 1428).
BPflV § 22 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2
LG Potsdam
Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündUche \‗erhandlung vom 4. 11.2004 durch den Vorsitzenden
Richter Schlick und die Richter Dr. Wurm, Streck, börr und Dr. Herrmann
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 11. Zivilsenats
des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 10. Februar
2004 aufgehoben.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 11. Zivilkammer
des Landgerichts Potsdam vom 3. 07.2003 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat auch die Kosten der Rechtsmittelzüge zu tragen.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 191
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger ist Chefarzt der Abteilung für HerzThoraxGefäßchirurgie des D. H. in B. . Der Beklagte befand sich dort
wegen eines Herzinfarkts und Schlaganfalls vom 15. bis 25. 02.2002 in stationärer Behandlung. Der Kläger operierte
ihn am 16. 02.2002.
In der von dem aufnehmenden Krankenhausmitarbeiter und dem Beklagten unterzeichneten schriftlichen
Wahlleistungsvereinbarung vom 15, 02.2002 kreuzte dieser unter Überschrift ―Ich wünsche die folgenden
Wahlleistungen― unter anderem das Kästchen ―ärztliche Leistungen aller an der Behandlung beteiligten Ärzte des
Krankenhauses, soweit diese zur gesonderten Berechnung ihrer Leistungen berechtigt sind, ...― an. Der Vordruck mit
der Wahlleistungsvereinbarung enthielt den Hinweis, dass die Inanspruchnahme der Wahileistungen nicht auf einzelne
liquidationsberechtigte Ärzte des Krankenhauses beschränkt werden könne. Eine Vereinbarung über wahlärztliche
Leistungen erstrecke sich auf alle an der Behandlung des Patienten beteiligten Ärzte des Krankenhauses,
einschließlich der von diesen Ärzten veranlaßten Leistungen von Ärzten und ärztlich geleiteten Einrichtungen
außerhalb des Krankenhauses.
Zusammen mit dem Vordruck der Wahlleistungsvereinbarung wurde dem Beklagten ein Informationsblatt über die
Vereinbarung wahlärztlicher Leistungen ausgehändigt. Der Text dieses Schriftstückes lautet, soweit hier von
Interesse:
―Die BPfIV unterscheidet zwischen allgemeinen Krankenhausleistungen und Wahlleistungen.
1. Allgemeine Krankenhausleistungen sind Krankenhausleistungen, die unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit
des Krankenhauses im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinisch zweckmäßige und
ausreichende Versorgung des Patienten notwendig sind. Sofern Sie gesetzlich krankenversichert sind, entstehen Ihnen
für die Inanspruchnahme der allgemeinen Krankenhausleistungen außer den gesetzlichen Zuzahlungen keine
gesonderten Kosten.
Wahileistungen hingegen sind über die allgemeinen Krankenhaus- leistungen hinausgehende Sonderleistungen. Diese
sind gesondert zu vereinbaren uhd vom Patienten zu bezahlen.
2. Für sogenannte wahlärztliche Leistungen bedeutet dies, dass Sie sich damit die persönliche Zuwendung und
besondere fachliche Qualifikation und Erfahrung der liquidationsberechtigten Ärzte des Krankenhauses (i.d.R. Chefärzte oder
Oberärzte) hinzu kaufen.
Selbstverständlich werden Ihnen auch ohne Abschluß der Wahlleistungsvereinbarungen alle medizinisch erforderlichen
Leistungen zuteil, jedoch richtet sich dann die Person des behandelnden Arztes ausschließlich nach der medizinischen
Notwendigkeit.
3. Im einzelnen richtet sich die konkrete Abrechnung nach den Regeln der amtlichen GOÄ/Gebührenordnung für
Zahnärzte (GOÄIGOZ). Diese Gebührenwerke weisen folgende Grundsystematik auf:
In einer ersten Spalte wird die abrechenbare Leistung mit einer Gebührenziffer versehen. Dieser Grundziffer ist in einer
zweiten Spalte die verbale Beschreibung der abrechenbaren Leistungen zugeordnet. In einer dritten Spalte wird die
Leistung mit einer Punktzahl bewertet. Dieser Punktzahl ist ein für die ganze GOÄ einheitlicher Punktwert zugeordnet,
welcher in Cent ausgedrückt ist. Der ab 01.01 .2002 gültige Punktwert liegt gemäß § 5 Abs. 1 GOÄ bei 5,82873 Cent.
Aus der Multiplikation von Punktzahl und Punktwert ergibt sich der Preis für diese Leistung, welche in einer Spalte 4
der GOA ausgewiesen ist.
Beispiel:
Ziffer Leistungsbeschreibung Punktzahl Preis (Einfachsatz)
1 Beratung - auch mittels Fernsprecher 80 €4,66
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 192
Bei dem so festgelegten Preis handelt es sich um den sogenannten GOÄEinfachsatz. Dieser Einfachsatz kann sich
durch Steigerungsfaktoren erhöhen. Diese berücksichtigen die Schwierigkeit und den Zeitaufwand der einzelnen
Leistung oder die Schwierigkeit des Krankheitsfalles. Innerhalb des normalen Gebührenrahmens gibt es
Steigerungssätze zwischen dem Einfachen und dem 3,5fachen des Gebührensatzes, bei technischen Leistungen
zwischen dem Einfachen und
dem 2,5fachen des Gebührensatzes und bei Laborleistungen zwischen dem Einfachen und dem 1,3fachen des
Gebührensatzes. Der Mittelwert liegt für technische Leistungen bei 1,8, für Laborleistungen bei 1,15 und für alle
anderen Leistungen bei 2,3.
Welche Gebührenpositionen bei Ihrem Krankheitsbild zur Abrechnung gelangen und welche Steigerungssätze
angewandt werden, läßt sich nicht abstrakt vorhersagen. Hierfür kommt es darauf an, welche Einzelleistungen konkret
erbracht werden, welchen Schwierigkeitsgrad die Leistung besitzt und welchen Zeitaufwand sie erfordert.
Insgesamt kann die Vereinbarung wahlärztlicher Leistungen eine nicht unerhebliche finanzielle Belastung bedeuten.
Prüfen Sie bitte, ob Ihre private KrankenversicherunglBeihilfe etc. diese Kosten deckt‗.
Ferner enthielt das Informationsblatt den Hinweis, dass die GOÄIGOZ jederzeit zur Einsicht zur Verfügung stehe.
Die auf Zahlung von 5.769,14€ gerichtete Honorarklage hatte mit Ausnahme eines Teils der Zinsforderung in erster
Instanz Erfolg. Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht
zugelassene Revision des Klägers.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision hat auch in der Sache Erfolg.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung der Klageabweisung ausgeführt, die Wahlleistungsvereinbarung sei nicht
wirksam zustande gekommen, weH die Belehrung des Beklagten unzureichend gewesen sei. Zwar genügten die dem
Beklagten erteilten Hinweise ―dem Grunde nach‗ den an eine Belehrung zu stellenden Anforderungen, jedoch
verharmlose das in dem Informationsblatt angeführte Berechungsbeispiel für die Arztgebühren, das anhand der gering
bewerteten Gebührennummer 1 entwickelt worden sei, in irreführender Weise die auf den Patienten zukommenden
finanziellen Lasten.
II.
Hiergegen wendet sich die Revision mit Recht.
1. Die zwischen den Parteien geschlossene Wahlleistungsvereinbarung ist wirksam. Sie verstößt insbesondere nicht
gegen § 22 Abs. 2 Satz 1 der hier anwendbaren Bundespflegesatzverordnung (BPflV) vom 26. 09.1994 (BGBI. 1 5. 2750). Nach
dieser Bestimmung sind Wahlleistungen vor der Erbringung schriftlich zu vereinbaren; der Patient ist vor Abschluß der
Vereinbarung über die Entgelte der Wahlleistungen und deren Inhalt im einzelnen zu unterrichten. Nach der ständigen
Rechtsprechung des Senats ist eine Wahlleistungsvereinbarung, die ohne hinreichende vorherige Unterrichtuhg des
Patienten abgeschlossen worden ist, unwirksam (vgl. zuletzt Senatsurteile BGHZ 157, 87, 90; vom 8. 01.2004 - III ZR 375/02 - NJW 2004, 686 und vom
22. 07.2004 - III ZR 355/03 - NJWRR 2004, 1428 jeweils m.w.N.)
. Die Vorinstanz hat zu Unrecht angenommen, der Beklagte sei nicht zureichend
unterrichtet worden.
2. Der Senat hat inzwischen die Anforderungen präzisiert, die an eine ausreichende Unterrichtung zu steilen sind (Urteile
BGHZ aaC, 5. 5 f; vom 8. 01.2004 aaC, 5. 687 f und vom 22. 07.2004 aaO; siehe auch Kern, LMK 2004, 59 f). Danach reicht es einerseits nicht aus, wenn der Patient
lediglich darauf hingewiesen wird, dass die Abrechnung eines selbst liquidierenden Chefarztes nach der GOÄ erfolge;
andererseits ist es nicht erforderlich, dass dem Patienten unter Hinweis auf die mutmaßlich in Ansatz zu bringenden
Nummern des Gebührenverzeichnisses der Geboihrenordnung für Ärzte detailliert und auf den Einzelfall abgestellt die
Höhe der voraussichtlich entstehenden Arztkosten - etwa in Form eines im Wesentlichen zutreffenden
Kostenanschlags - mitgeteilt wird. Der Senat hat vielmehr Kriterien aufgestellt, an denen sich die Unterrichtung des
Patienten zu orientieren hat. Ausreichend ist danach in jedem Fall:
- eine kurze Charakterisierung des Inhalts wahiärztiicher Leistungen, wobei zum Ausdruck kommt, dass hierdurch ohne
Rücksicht auf Art und Schwere der Erkrankung die persönliche Behandlung durch die liquidationsberechtigten Ärzte
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 193
sichergestellt werden soll, verbunden mit dem Hinweis darauf, dass der Patient auch ohne Abschluß einer
Wahlleistungsvereinbarung die medizinisch notwendige Versorgung durch hinreichend qualifizierte Ärzte erhält;
- eine kurze Erläuterung der Preisermittlung für ärztliche Leistungen nach der GOÄ (GOÄ) bzw. für Zahnärzte
(GOZ)(Leistungsbeschreibung anhand der Nummern des Gebührenverzeichnisses; Bedeutung von Punktzahl und Punktwert; Möglichkeit, den Gebührensatz je nach Schwierigkeit und Zeitaufwand zu
erhöhen)
; Hin- »‗eis auf Gebührenminderung nach § 6a GOA;
- ein Hinweis darauf, dass die Vereinbarung wahlärztlicher Leistung eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung zur
Folge haben kann;
- ein Hinweis darauf, dass sich bei der Inanspruchnahme wahlärztilcher
Leistungen die Vereinbarung zwingend auf alle an der Behandlung des
Patienten beteiligten liquidationsberechtigten Ärzte erstreckt (vgl. § 22
Abs. 3 Satz 1 BPflV)
;
- und ein Hinweis darauf, dass die GOÄ/Gebühren- ordnung für Zahnärzte auf Wunsch eingesehen werden kann; die
ungefragte Vorlage dieser Texte erscheint demgegenüber entbehrlich, da diesen für sich genommen kein besonderer
Informationswert zukommt. Der durchschnittliche Wahlleistungspatient ist auch nicht annähernd in der Lage, sich selbst
anhand des Studiums dieser umfänglichen und komplizierten Regelungswerke einen Überblick über die Höhe der auf
ihn zukommenden Arztkosten zu verschaffen.
3. Den hiernach zu stellenden Anforderungen an die Unterrichtung des Patienten gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 BPfIV
werden der Vordruck für die Wahlleistungsvereinbarung und das lnfomationsblatt im Wesentlichen gerecht.
a) Die Charakterisierung des Inhalts wahlärztlicher Leistungen befindet sich in Nummer 1 des Informationsblattes.
Nummer 2 bringt zum Ausdruck, dass d!e Wahlleistungsvereinbarung die persönliche Behandlung durch die
liquidationsberechtigten Ärzte sicherstellt. Der Hinweis darauf, dass der Patient auch ohne Abschluß, der
Wahlleistungsvereinbarung die medizinisch notwendige Versorgung durch hinreicend quaNfizierte Ärzte erhält, st
ebenfalls in Num‗ mer 2 des lnformationsblattes in Fettdruck hervorgehoben - enthalten.
Der Beklagte macht demgegenüber geltend, diese ihm rnitgeteilte Information genüge nicht den gesetzlichen
Anforderungen, weil Nummer 2 Abs. 2 des lnformationsblattes nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck bringe, dass
das Krankenhaus auch ohne Abschluß der Wahlleistungsvereinbarung einen Arzt einsetzen werde, der für die jeweils
erforderlichen Leistungen die notwendige ärztliche Qualifikation habe.
Dem ist nicht beizupflichten. Die Information bringt zum Ausdruck, dass der Patient auch dann alle medizinisch
erforderlichen Leistungen erhält, wenn er die Wahlleistungsvereinbarung nicht abschließt. Die Person des
behandelnden Arztes richtet sich nach der medizinischen Notwendigkeit. Der Erhalt der medizinisch erforderlichen
Leistungen schließt, wie sich für einen durchschnittlich verständigen Leser ohne weiteres erschließt, die Behandlung
durch Ärzte ein, die über die hierfür notwendige Qualifikation verfügen. Anderenfalls wäre nicht gewährleistet, dass die
Leistungen den medizinischen Erfordernissen entsprechen. Die Qualifikation der ―Regelbehandlungsärzte― muss nicht
gesondert herausgestellt werden.
b) Die Erläuterung der Preisermittlung für ärztliche Leistungen nach der GOÄ unter Einschluß des Hinweises auf die
Leistungsbeschreibung anhand der Nummern des Gebührenverzeichnisses, der Bedeutung von Punktzahl und
Punktwert sowie der Möglichkeit, der Gebührensatz je nach Schwierigkeit und Zeitaufwand zu erhöhen, befindet sich in
Nummer 3 des lnformationsblattes. Die dort gegebenen detaillierten Informationen enthalten alle notwendigen
Elemente und ind klar und verständlich aufgebaut.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wirkt das dort anhand der punktmäßig gering zählenden
Gebührennummer 1 entwickelte Berechnungsbeispiel nicht verharmlosend und irreführend. Es ist für den hinreichend
verständigen Leser ohne weiteres zu erkennen, dass es sich lediglich um ein Beispiel zur Erläuterung des zuvor
abstrakt beschriebenen Berechnungsvorganges handelt, und dass es Gebühren gibt, die mit höheren Punktzahlen
bewertet sind (vgl. auch Senatsurteil vom 8. 01.2004 aaC, 5. 688). Hinzu tritt, dass im fünften Absatz von Nummer 3 des lnformationsblattes
ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass sich eine Vorhersage, welche Gebührenpositionen bei dem jeweiligen
Krankheitsbild zur Abrechnung gelangen und welche Steigerungssätze anzuwenden sind, nicht treffen lasse. Dies
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 194
unterstreicht den lediglich exemplarischen Charakter des anhand der Gebührennummer 1 der GOA vorgenommenen
Berechnungsbeispiels.
c) Der Hinweis auf die möglichen erheblichen finanziellen Mehrbelastungen infolge des Abschlusses der
Wahlleistungsvereinbarung ist auf Seite 2 des lnformationsblattes in Fettdruck enthalten. Wie der Senat bereits in
seinem Urteil vom 8. 01.2004 (aaC) entschieden hat, ist die dort gewählte Formulierung mit der doppelten Verneinung
―nicht unerhebliche finanzielle Belastung― selbst bei oberflächlicher Lektüre verständlich.
Der Beklagte meint demgegenüber, die Belehrung über die möglichen finanziellen Mehrbelastungen sei intransparent,
da der entsprechend& Passus erst auf der zweiten Seite des lnformationsblattes enthalten sei. Die erste Seite
des Blattes lasse nicht erkennen, dass es überhaupt noch eine Fortsetzung der Informationen auf einer zweiten gebe.
Der Text zur Erläuterung der GOA sei mit dem letzten Satz auf der ersten Seite inhaltlich abgeschlossen. Ein Hinweis
auf die zweite Seite sei nicht vorhanden.
Auch dem ist nicht zu folgen. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass dem Beklagten beide Seiten des
lnformationsblattes übergeben wurden. Von einem durchschnittlich informierten und verständigen Patienten kann
erwartet werden, dass er sich vergewissert, ob die erste Seite eines lnformationsblattes ihre Fortsetzung auf einer
zweiten findet, auch wenn die auf der ersten Seite gegebenen Informationen inhaltlich abgeschlossen zu sein
scheinen. Dabei spielt es entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung keine Rolle, ob die zweite Seite auf einem
gesonderten Blatt oder auf der Rückseite eines einzigen Blattes abgedruckt ist. Es ist deshalb unbeachtlich, dass das
Berufungsgericht insoweit keine Feststellungen getroffen hat.
d) Die Unterrichtung darüber, dass sich die Vereinbarung bei der Inanspruchnahme wahlärztlicher Leistungen auf alle
an der Behandlung des Patienten beteiligten liquidationsberechtigten Ärzte erstreckt ( 22 Abs. 3 Satz 1 BPfIV), ist unter Angabe
dieser Vorschrift in den Hinweisen des Wahlleistungsvereinbarungsvordrucks enthalten.
e) Die Angabe der Möglichkeit, die GOÄ einzusehen, befindet sich in der letzten Zeile des lnformationsblattes. f) In den
Vordrucken fehlt allerdings eine Verweisung auf § 6a GOÄ, wonach die Gebühren der behandelnden Ärzte bei
stationären und teilstationären ‗Leistungen um 15 v.H. zu mindern sind. Dies ist hir jedoch unschädlich. Die nach § 22
Abs. 2 Satz 1 BPflV erforderliche Information über Entgelte der Wahlleistungen und deren Inhalt dient dazu, den
Patienten vor finanzieflen Belastungen, die möglicherweise nicht von seinem Krankenversicherungsschutz gedeckt
sind, zu warnen, und ihn so vor übereilten Entscheidungen zu bewahren, die seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
oder willigkeit überfordern. Zur Wahrung dieses Warn- und Schutzzweckes ist es nicht erforderlich, den Patienten, der
ärztliche Wahlleistungen in Anspruch genommen hat, nur deshalb von Forderungen aus dem Vertrag freizuhalten, weil
er nicht zuvor über § 6a GOÄ belehrt worden war. Der Patient würde treuwidrig handeln, wenn er sich zur Vermeidung
jeglicher Zahlung auf die Unvollständigkeit einer Belehrung berufen würde, der nur der Hinweis auf eine
kostenmindernde Bestimmung fehlt (vgl. Senatsurteil vom 8. Januar2004 aaC).
4. Die Vorinstanzen haben - von dem Beklagten unbeanstandet - festgestellt, dass er bei Abschluß der
Wahlleistungsvereinbarung geschäftsfähig war und seine Willenserklärung nicht wegen Irrtums oder arglistiger
Täuschung anfechtbar ist. Gegen die Höhe der geltend gemachten Forderung erhebt der Beklagte keine
Einwendungen. Es sind auch keine ersichtlich.
Da der Rechtsstreit zur Entscheidung reif ist, hat der Senat in der Sache selbst entschieden ( 563 Abs. 3 ZPO).
Schlick Wurm Streck
LG Augsburg Az 3 KLs 400 vom 30.09.2004
Bei fachübergreifendem Bereitschaftsdienst führt eine nicht fachgerechte Behandlung nach einer
Schilddrüsenoperation zum Tod der Patientin. Das Verfahren gegen den bereitschaftsdienstleistenden
Assistenzarzt der Inneren Medizin wird gegen Geldzahlung eingestellt, der chirurgische Chefarzt wird wegen
fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 195
„Bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte der Angeklagte die postoperative ärztliche Versorgung von
Schilddrüsenpatienten durch entsprechende organisatorische Maßnahmen so gestalten müssen, dass die
bestehende Nachblutung bei der Patientin rechtzeitig erkannt worden wäre.―
BGH VI ZR 186/03 vom 14.09.2004
Thöns
Bestehen bei einer Zwillingsschwangerschaft für Mutter oder Kind im Falle eines Zuwartens erhebliche
Risiken, so ist über die Alternative einer primären Schnittentbindung aufzuklären. Der Patient obsiegte.
BGH, Urteil vom 14. 09.2004 VI ZR 186/03 OLG Bamberg LG Würzburg
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 14. 09.2004 durch die Vorsitzende
Richterin Dr. Müller, die Richter Dr. Greiner und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Stöhr
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des
4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. 05.2003 aufgehoben und das Urteil des Landgerichts
Würzburg vom 5. 10.2000 abgeändert. Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung eines Schmerzensgeldes ist gegen den
Beklagten zu 2) dem Grunde nach gerechtfertigt.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1) und 2) gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin allen
materiellen Schaden zu ersetzen, der ihr im Zusammenhang mit ihrer Geburt entstanden ist und entstehen wird, soweit
Ersatzansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
In diesem Umfang werden die Berufungen der Beklagten zurückgewiesen.
Die Sache wird zur Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldes an das Berufungsgericht zurückverwiesen,
das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Mutter der Klägerin wurde am 14. 06.1991 wegen grenzwertiger Hypertonie und der Risiken bei EPHGestose und
einer Zwillingsschwangerschaft stationär in die Universitäts Frauenklinik, deren Träger der Beklagte zu 2) ist,
aufgenommen. Sie schloß mit dem Beklagten zu 1) einen Behandlungsvertrag als Privatpatientin. Der errechnete
Entbindungstermin war der 8. 07.1991.
Die Mutter der Klägerin war bei einem Gespräch am 24. 06.1991
mit einem "zunächst expektativen Vorgehen" einverstanden. Am 3. 07.1991 wurde sie nach
mehreren CTGAbleitungen um 19.45 Uhr in den Kreißsaal gebracht. Ab 21.00 Uhr zeigte sich bei einer
Ultraschalluntersuchung kaum Fruchtwasser, die Herzfrequenz des einen (rechten) Zwillings war nicht darstellbar. Um
21.30 Uhr entschloß sich der geburtsleitende Arzt zur Schnittentbindung. Die Klägerin wurde als erster Zwilling aus der
Beckenendlage um 21.58 Uhr lebend, der zweite (rechte) ebenfalls weibliche Zwilling um 21.59 Uhr tot mit Leichenflecken
geboren. Bei der Klägerin besteht infolge der erlittenen Asphyxie und Anämie eine schwere zerebrale
Bewegungsstörung, sie ist fast blind und leidet an einer schlecht behandelbaren Epilepsie und einer globalen mentalen
Entwicklungsverzögerung. Sie erlitt ein Hirnödem mit Hirnsubstanzverlust und ist infolge ihrer Mehrfachbehinderung
schwer pflegebedürftig. Als Todesursache für den tot geborenen zweiten Zwilling wurde ein intrauteriner Fruchttod bei
Asphyxie festgestellt mit Verdacht auf fetofetale Transfusion. Die Klägerin nimmt den Beklagten zu 2) auf Zahlung von
Schmerzensgeld und beide Beklagte auf Feststellung ihrer materiellen Schadensersatzpflicht in Anspruch.
(38. Schwangerschaftswoche)
Das Landgericht hat den Beklagten zu 2) verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 300.000 DM zu zahlen;
ferner hat es die gesamtschuldnerische Ersatzpflicht der Beklagten für allen materiellen Schaden festgestellt, der der
Klägerin im Zusammenhang mit ihrer Geburt entstanden ist und entstehen wird, soweit Ersatzansprüche nicht auf Dritte
übergegangen sind. Hiergegen haben die Beklagten Berufung und die Klägerin Anschlussberufung wegen einer
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 196
Erhöhung des Schmerzensgeldes eingelegt. Das Oberlandesgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der vom
erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht führt in dem angefochtenen Urteil aus:
Die den Beklagten vorgeworfenen Fehler seien weitgehend nicht bewiesen; soweit ein Fehler vorliegen könnte, lasse
sich jedenfalls seine Ursächlichkeit für den Gesundheitsschaden der Klägerin nicht feststellen. Eine Beweislastumkehr
unter dem Gesichtspunkt eines groben Behandlungsfehlers komme nicht in Betracht. Soweit der Privatgutachter Prof.
Dr. Re. eine Schwangerschaftsbeendigung durch eine primäre Schnittentbindung in der
38. Schwangerschaftswoche unter Hinweis auf die drohende Plazentainsuffizienz gefordert habe, könne eine solche
nach den Ausführungen des Gerichtssachverständigen bis zum Nachmittag/Abend des 3. 07.1991 ausgeschlossen
werden. Zudem könne das Unterlassen einer primären Schnittentbindung bei Zwillingsgravidität in der 38.
Schwangerschaftswoche und führendem ersten Zwilling in Beckenendlage nicht eo ipso als Behandlungsfehler
gewertet werden. Bei dem Vorwurf der unterlassenen Aufklärung der Mutter der Klägerin über die Vorund Nachteile
einer Schnittentbindung bzw. eines abwartenden Verhaltens nach Aufnahme in die stationäre Behandlung handele es
sich nicht um eine Einwilligungsaufklärung, sondern um eine „Selbstbestimmungsaufklärung (therapeutische Aufklärung)―. Diese
sei Teil der Behandlung; ein Verstoß gegen sie stelle deshalb einen Behandlungsfehler, nicht aber eine
Aufklärungspflichtverletzung dar. Einen solchen Verstoß habe die Klägerin nicht bewiesen. Insoweit stünden sich die
Angaben des Zeugen Prof. Dr. R. und der Mutter der Klägerin als Partei gegenüber, ohne dass der Senat die
Richtigkeit der einen oder anderen Version bejahen könne.
II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.
1. Ersichtlich geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Mutter der Klägerin spätestens bei dem Gespräch am 24.
06.1991 über die Vorund Nachteile einer primären Schnittentbindung bzw. eines abwartenden Verhaltens hätte
aufgeklärt werden müssen. Dieser rechtliche Ansatz wird von den Beklagten nicht in Zweifel gezogen. Er entspricht
auch der Rechtsprechung des erkennenden Senats.
Hiernach ist eine Unterrichtung über eine alternative Behandlungsmöglichkeit erforderlich, wenn für eine medizinisch
sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu
jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten
(vgl. Senatsurteile BGHZ 102, 17, 22; 144, 1, 10; vom 21. 11.1995 VI ZR 329/94 VersR 1996, 233). Gemäß diesem allgemeinen Grundsatz braucht der
geburtsleitende Arzt zwar in einer normalen Entbindungssituation, bei der die Möglichkeit einer Schnittentbindung
medizinisch nicht indiziert und deshalb keine echte Alternative zur vaginalen Geburt ist, ohne besondere Veranlassung
die Möglichkeit einer Schnittentbindung nicht zur Sprache bringen. Anders liegt es aber, wenn für den Fall, dass die
Geburt vaginal erfolgt, für das Kind ernstzunehmende Gefahren drohen, daher im Interesse des Kindes gewichtige
Gründe für eine Schnittentbindung sprechen und diese unter Berücksichtigung auch der Konstitution und der
Befindlichkeit der Mutter in der konkreten Situation eine medizinisch verantwortbare Alternative darstellt (vgl. Senatsurteile BGHZ
106, 153, 157; vom 16. 02.1993 VI ZR 300/91 VersR 1993, 703, 704; vom 19. 01.1993 VI ZR 60/92 VersR 1993, 835, 836). Dabei macht es keinen Unterschied, ob die
Risiken für die Mutter oder das Kind entstehen, weil die Mutter die natürliche Sachwalterin der Belange auch des
Kindes ist (vgl. Senatsurteil BGHZ 106, 153, 157 f.).
Hierzu verweist die Revision auf die Ausführungen des Gerichtssachverständigen, wonach eine primäre
Schnittentbindung als echte Alternative in Betracht gekommen ist. Zudem ergibt sich aus dem Berufungsurteil, dass der
Gerichtssachverständige in einer solchen Situation eine primäre Schnittentbindung als den zu bevorzugenden Modus
angesehen hat. Das Unterlassen einer Schnittentbindung bei Zwillingsgravidität in der 38. Schwangerschaftswoche und
führendem ersten Zwilling in Beckenendlage hat das Berufungsgericht nur deswegen nicht "eo ipso" als
Behandlungsfehler gewertet, weil damit nicht gegen eindeutig festgelegte Behandlungskriterien verstoßen worden sei.
Unter diesen Umständen ist gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass eine Aufklärung über die
Behandlungsalternative erfolgen mußte, aus revisionsrechtlicher Sicht nichts einzuwenden.
2. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht keine
Überzeugung gewinnen konnte, ob eine Aufklärung erfolgt ist. Dessen auf einer sorgfältigen Abwägung der Aussagen
des Zeugen Prof. Dr. R. und der Mutter der Klägerin beruhende Beweiswürdigung läßt keine revisionsrechtlich
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 197
relevanten Fehler erkennen. Zwar dürfen an den Beweis der ordnungsgemäßen Aufklärung keine übertriebenen und
unbilligen Anforderungen gestellt werden. Solche lassen sich aber nicht daraus ableiten, dass das Berufungsgericht
nicht der Aussage des Zeugen Prof. Dr. R. den Vorzug gegenüber der detaillierten Darstellung der Mutter der Klägerin
gegeben hat, zumal dieser nur pauschal erklärt hat, es sei Usus gewesen, die Patientinnen entsprechend dem Inhalt
der mündlichen Erläuterung des Sachverständigen zu informieren. Unter diesen Umständen läßt die Wertung des
Tatsachengerichts im konkreten Fall Rechtsfehler nicht erkennen. 3. Mit Recht rügt jedoch die Revision, dass das
Berufungsgericht hinsichtlich der Frage, ob die gebotene Aufklärung erfolgte, die Beweislast verkannt hat. Entgegen
der Auffassung des Berufungsgerichts handelt es sich nicht um einen Fall der sog. Sicherheitsoder therapeutischen
Aufklärung, also der ärztlichen Beratung über ein therapierichtiges Verhalten zur Sicherstellung des
Behandlungserfolgs und zur Vermeidung möglicher Selbstgefährdungen des Patienten. In diesem Bereich wären
ärztliche Versäumnisse allerdings als Behandlungsfehler anzusehen, so dass sie den von der Rechtsprechung hierzu
entwickelten Regeln folgen und die Klägerin wie vom Berufungsgericht angenommen beweisen müßte, dass die
gebotene Aufklärung unterblieben ist oder unzureichend war (vgl. dazu Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl. 2001, Rdn. B 95 ff.; Steffen/Dressler,
Arzthaftungsrecht, 9. Aufl. 2002, Rdn. 325, 574 ff.). Bei der im Streitfall maßgebenden Frage einer Aufklärung über eine primäre
Schnittentbindung als Behandlungsalternative zu der durchgeführten zunächst abwartenden Behandlung handelt es
sich jedoch um einen Fall der sog. Eingriffsoder Risikoaufklärung, die der Unterrichtung des Patienten über das Risiko
des beabsichtigten ärztlichen Vorgehens dient, damit dieser sein Selbstbestimmungsrecht ausüben kann. Die
Beweislast für die Erfüllung dieser Aufklärungspflicht liegt beim Arzt (vgl. Senatsurteile vom 22. 05.2001 VI ZR 268/00 VersR 2002, 120, 121; vom 29.
09.1998 VI ZR 268/97 VersR 1999, 190, 191; vom 12. 11.1991 VI ZR 369/90 VersR 1992, 237, 238; vom 8. 01.1985 VI ZR 15/83 VersR 1985, 361, 362; vom 21. 09.1982 VI ZR 302/80 VersR 1982, 1193,
. 4. Auf dieser Verkennung der Beweislast beruht das angefochtene Urteil. Das Berufungsgericht konnte sich
aufgrund der Beweisaufnahme keine Überzeugung bilden, ob die Angaben des Zeugen Prof. Dr. R. oder die der Mutter
der Klägerin hinsichtlich einer erfolgten Aufklärung über die Vorund Nachteile einer Schnittentbindung bzw. eines
abwartenden Verhaltens zutreffen. Das ergibt sich entgegen der Auffassung der Revisionsbeklagten eindeutig aus der
abschließenden Beweiswürdigung in den Gründen des angefochtenen Urteils. Als Folge dieses "non liquet" ist nach
den oben dargelegten Grundsätzen davon auszugehen, dass die erforderliche Aufklärung über die
Behandlungsalternative nicht erfolgt ist.
1194)
Soweit die Beklagten einwenden, eine Verletzung der Aufklärungspflicht sei für die Schädigung der Klägerin nicht
kausal geworden, kann dem nicht gefolgt werden, ohne dass es hierzu noch tatsächlicher Feststellungen bedarf. Die
Beklagten gehen selbst davon aus, dass die Schädigung der Klägerin erst am 3. 07.1991 erfolgt sei. Das steht in
Einklang mit den Ausführungen des Gerichtssachverständigen. Danach ist der rechte Zwilling nämlich erst in den
späten Nachmittagsstunden des 3. 07.1991 verstorben, wobei die Klägerin höchstwahrscheinlich erst nach dem Tod
des rechten Zwillings geschädigt worden sei. Hierzu verweist die Revision auf die Aussage des Sachverständigen, man
könne mit Sicherheit sagen, dass eine Schnittentbindung noch am 3. 07.1991 gegen etwa 16.00 Uhr "das schwere Leid
von den Kindern genommen hätte". Zu diesem Zeitpunkt hätte jedoch die erforderliche Aufklärung längst erfolgt sein
müssen.
Erfolglos machen die Beklagten geltend, dass die Aufklärung erst am 3. 07.1991 geboten gewesen sei. Wie eingangs
dargelegt, nimmt das Berufungsgericht an, dass die Aufklärung bereits am 24. 06.1991 erfolgen mußte, bevor die
Entscheidung für ein "zunächst expektatives Vorgehen" getroffen wurde. Das erweist sich unter den Umständen des
Streitfalls als zutreffend und entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats. Hiernach muss die
Aufklärung so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient, hier die Mutter der Klägerin, durch hinreichende Abwägung der für
und gegen die Behandlungsalternativen sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein
Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahren kann (vgl. Senatsurteile vom 23. 03.2003 VI ZR 131/02 VersR 2003, 1441, 1443; vom 17. 03.1998 VI
ZR 74/97 VersR 1998, 766, 767; vom 4. 04.1995 VI ZR 95/94 VersR 1995, 1055, 1056 f.; vom 14. 06.1994 VI ZR 178/93 VersR 1994, 1235, 1236; vom 7. 04.1992 VI ZR 192/91 VersR 1992, 960 f.). 5. Im
Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen kommt es auf die weiteren Rügen der Revision und insbesondere auf das
Vorliegen eines ursächlichen Behandlungsfehlers nicht mehr an. Schon wegen des oben dargestellten
Aufklärungsfehlers haftet nämlich der Beklagte zu 2) hinsichtlich des geltend gemachten Schmerzensgeldanspruchs
dem Grunde nach und haften beide Beklagten hinsichtlich des Feststellungsanspruchs als Gesamtschuldner für den
Schaden der Klägerin. III. Bei dieser Sachlage kann der erkennende Senat über den Grund des
Schmerzensgeldanspruchs und über den Feststellungsantrag entscheiden. Eine abschließende Entscheidung über die
Höhe des Schmerzensgeldes kommt hingegen nicht in Betracht, weil das Berufungsgericht – aus seiner Sicht
folgerichtig – keine Feststellungen zur Höhe und insbesondere zur Anschlussberufung der Klägerin getroffen hat.
Insoweit ist die Sache daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 198
Müller Greiner WellnerDiederichsen Stöhr
Thöns
BSG Az. B 6 KA 14/03 R vom 8.9.2004
1. Veranlassen Vertragsärzte nach von ihnen in ihrer vertragsärztlichen Praxis durchgeführten Operationen
ihre Patienten, einen stationären Aufenthalt in einer Klinik zu nehmen, sind die Operationen nicht der
ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zuzurechnen.
2. Dem Vertragsarzt steht für Leistungen, die er nicht gemäß den Bestimmungen des Vertragsarztrechts
erbracht hat, auch kein Vergütungsanspruch auf bereicherungsrechtlicher Grundlage zu (Fortführung der ständigen
Rechtsprechung des BSG; Abgrenzung zu BSG vom 4.3.2004 - B 3 KR 4/03 R = BSGE 92, 233 = SozR 42500 § 39 Nr. 1). Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten über die Berichtigung von Honoraranforderungen.
2 Die Kläger sind als Orthopäden zur vertragsärztlichen Versorgung in P. zugelassen und in Gemeinschaftspraxis tätig.
Sie führen in großer Zahl orthopädische Operationen wie arthroskopische und Kreuzbandoperationen durch. Sie
operieren in den von ihnen angemieteten Operationsräumen einer orthopädische Privatklinik, die sich in dem
Stockwerk über der Praxis der Kläger befindet. Der Kläger zu 1. ist Mehrheitseigner der GmbH, die die Privatklinik
betreibt. Diese verfügt über acht Betten in einer Wachstation und über 20 Betten auf der Normalstation. Eine ärztliche
Betreuung ist durchgängig sichergestellt.
3 In für die Patienten bestimmten Merkblättern zu verschiedenen Operationen wie Kreuzbandplastiken und
Schulteroperationen empfahlen die Kläger den Aufenthalt in der Privatklinik nach der Operation. In den Merkblättern
wurde darauf hingewiesen, dass keine Verträge mit den gesetzlichen Krankenkassen bestünden und dass die Kosten
der Leistungen, die von der Privatklinik in Anspruch genommen
würden, von den Patienten selbst getragen werden müssten. Im Quartal I/1998 betrug der allgemeine Tagessatz im
DreiBettZimmer 395,00 DM.
4 Nachdem Krankenkassen die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) auf die Praxis der Kläger hingewiesen
hatten, Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen im Anschluss an ambulant durchgeführte Operationen in der
Privatklinik aufzunehmen, setzte die Beklagte mit Bescheid vom 15. 07.1998 von den Honoraranforderungen der
Kläger für das Quartal I/1998 die von diesen erbrachten Operationsleistungen ab, da es sich nicht um ambulante
Operationen, sondern um stationäre Behandlungen gehandelt habe. Mit ihrem Widerspruch machten die Kläger
geltend, die Patienten seien auf ihren eigenen Wunsch in der Privatklinik untergebracht worden. In keinem Fall habe
eine medizinische Notwendigkeit für einen stationären Aufenthalt bestanden. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.
08.1999 änderte die Beklagte den Bescheid vom 15. 07.1998 und hob die Honorarberichtigung für diejenigen
Leistungen auf, die die Kläger bei Patienten erbracht hatten, die nach ihrer ambulanten Operation am selben Tag nach
Hause entlassen worden waren. Den weitergehenden Widerspruch wies die Beklagte zurück (verbleibende Honorarkürzung von 439.013
DM).
5 Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 1. 03.2000). Die Kläger hätten keinen Vergütungsanspruch für die
streitigen Leistungen, da es sich bei diesen nicht um ambulante Behandlungen gehandelt habe. Solche lägen nur dann
vor, wenn der Patient behandelt werde, ohne dass er Unterkunft und Verpflegung erhalte, insbesondere also, wenn er
nach der Operation und der Anästhesie wieder nach Hause entlassen werde.
6 Im Urteil vom 4. 12.2002, mit dem das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen hat, ist zur Begründung
ausgeführt, die Beklagte habe die Honoraranforderungen der Kläger zu Recht berichtigt. Die in den streitigen Fällen
gegenüber den Patienten erbrachten Leistungen könnten nicht mehr der ambulanten Versorgung zugerechnet werden.
Es handele sich vielmehr um stationäre Leistungen. Diese seien, wie sich aus verschiedenen Vorschriften ergebe,
dadurch gekennzeichnet, dass den Patienten neben der medizinischen Versorgung Unterkunft und Verpflegung
gewährt würden. Kein geeignetes Kriterium für die Abgrenzung von ambulanter zu stationärer Behandlung sei es, ob
eine stationäre Aufnahme aus medizinischer Sicht erforderlich sei. Auch nicht notwendige stationäre Behandlungen
blieben stationäre Behandlungen. Der vom Patienten mit der Klinik geschlossene Behandlungsvertrag über einen
"stationären Aufenthalt" und gerade nicht über einen "normalen Hotelaufenthalt" belege, dass hier stationäre
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 199
Leistungen erbracht worden seien. Es habe für die frisch operierten Patienten auch Sinn gemacht, im Anschluss an die
Operation in der Klinik zu übernachten,
um beim Auftreten von Komplikationen deren medizinischen Apparat in Anspruch nehmen zu können. Die Preise für
eine Übernachtung im DreiBettZimmer von knapp 400 DM bzw. von 520 DM für ein Einzelzimmer sprächen ebenfalls
dagegen, dass die Patienten nur übernachten wollten. Deren Höhe sei nur gerechtfertigt, wenn mit ihnen eine
pflegerische und medizinische Betreuung mit abgegolten sei. Demgegenüber greife der von den Klägern erhobene
Einwand, die Übernachtung in der Klinik sei ohne medizinische Indikation auf eigenen Wunsch der Patienten erfolgt,
nicht durch. Zum einen hätten sie gegenüber den Patienten den Eindruck erweckt, die Übernachtung in der Klinik sei
medizinisch sinnvoll. In den von ihnen herausgegebenen Merkblättern werde für den Regelfall empfohlen, nach der
ambulanten Operation für ein bis drei Tage in der Klinik zu verbleiben. Dies vermittle den Eindruck, ein Patient handele
medizinisch unvernünftig, wenn er nach der Operation nicht in der Klinik verbleibe. Darüber hinaus habe der Einwand
der Kläger, die Aufenthalte in der Klinik seien medizinisch nicht notwendig gewesen, nicht bestätigt werden können.
Entgegen der Aufforderung durch das Gericht hätten sie es unterlassen, in 50 Behandlungsfällen die OPBerichte
vorzulegen, die die Beklagte exemplarisch auf die medizinische Notwendigkeit hätte überprüfen sollen. Damit sei davon
auszugehen, dass die betroffenen Patienten in den streitigen Fällen im Anschluss an die durchgeführten Operationen
in der Klinik stationär aufgenommen worden seien.
Mit ihrer Revision rügen die Kläger eine Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe verkannt, dass der Vertragsarzt
mit Inanspruchnahme seiner Leistung durch den Patienten einen Vergütungsanspruch erwerbe, sofern er eine nach
dem Leistungsverzeichnis abrechnungsfähige Leistung erbracht habe. Das sei bei ihnen - den Klägern - mit der
Durchführung der ambulanten Operationen der Fall gewesen. Daran habe sich nichts dadurch geändert, dass
bestimmte Patienten im Anschluss daran in der Klinik übernachtet hätten. Es habe den Patienten völlig frei gestanden,
nach der Abschlussuntersuchung nach Durchführung der ambulanten Operation sich zB nach Hause zu begeben, sich
einer professionellen häuslichen Krankenpflege zu bedienen, sich in einem Hotel betreuen zu lassen oder als
Selbstzahler in einer Privatklinik zu übernachten. Eine ambulante Operation verliere selbst dann nicht ihren Charakter
als ambulant erbrachte Leistung, wenn von vornherein wegen der Art der Erkrankung, dem Zustand des Patienten und
der Art der Operation mit der Notwendigkeit einer stationären Behandlung zu rechnen sei und der Patient deshalb am
selben Tage wegen der selben Erkrankung in stationäre Krankenhausbehandlung aufgenommen werden müsse. An
dem Charakter der von ihnen durchgeführten ambulanten Operation als ambulante Leistungen ändere sich auch nichts
für den Fall, dass es sich bei den Empfehlungen über die Vorteile einer Übernachtung in der Privatklinik um fehlerhafte
Maßnahmen gehandelt habe. Schließlich sei die Schlussfolgerung des LSG nicht zu halten, es habe sich nicht
erwiesen, dass die Aufenthalte in der Privatklinik nicht medizinisch
notwendig gewesen seien. Dafür hatten sie, die Kläger, ohnehin nicht die Beweislast. Im Übrigen seien sie auf Grund
ihrer Verschwiegenheitsverpflichtung weder berechtigt noch verpflichtet gewesen, die OPBerichte vorzulegen.
8 Die Kläger beantragen sinngemäß,
9 die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. 12.2002 und des Sozialgerichts Karlsruhe vom 1.
03.2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. 07.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.
08.1999 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Leistungen zu vergüten, die sie - die Kläger - im Quartal
I/1998 gegenüber denjenigen Patienten erbracht haben, die in der Liste Nr. 2 unter Nr. 1 bis 275 aufgeführt sind.
10 Die Beklagte beantragt,
11 die Revision zurückzuweisen.
12 Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Aus den vom LSG festgestellten Tatsachen ergebe sich, dass die
Kläger die Patienten in den streitigen Fällen nach der Operation stationär aufgenommen hätten. Damit entfalle ein
Vergütungsanspruch für ambulante Operationen.
13 Die übrigen Beteiligten haben sich im Verfahren zur Sache nicht geäußert.
14 Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des
Sozialgerichtsgesetzes <SGG>) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 200
15 Die Revision der Kläger ist nicht begründet. Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Beklagte ihre
Honoraranforderung für das Quartal I/1998 zu Recht berichtigt hat.
16 Rechtsgrundlage für die sachlichrechnerische Richtigstellung der Honoraranforderung durch die Beklagte sind § 45
Abs 2 Satz 1 BundesmantelvertragÄrzte in der seit 1. 01.1995 geltenden Fassung und § 34 Abs 4 Satz 2
ErsatzkassenvertragÄrzte in der seit
1. 07.1994 geltenden Fassung, die auf der Grundlage von § 83 Abs 3 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch <SGB
V>(idF des GesundheitsReformgesetzes vom 20. 12.1988, BGBl I 2477) zunächst abgeschlossen, dann auf der Grundlage des § 83 Abs 1 SGB V (idF
des Gesundheitsstrukturgesetzes <GSG> vom 21. 12.1992, BGBl I 2266) geändert wurden. Nach diesen im Wesentlichen gleichlautenden
Vorschriften hat die KÄV die Aufgabe, die von den Vertragsärzten eingereichten Abrechnungen rechnerisch und
gebührenordnungsmäßig zu prüfen und nötigenfalls richtig zu stellen, was auch im Wege nachgehender Richtigstellung
erfolgen kann. Dabei kann die KÄV das Richtigstellungsverfahren von Amts wegen oder auf Antrag einer
Krankenkasse durchführen (vgl BSGE 89, 90, 93 f = SozR 32500 § 82 Nr. 3 S 6 zum ärztlichen Bereich; ebenso zuletzt - zum zahnärztlichen Bereich - BSG Urteil vom 28. 04.2004 - B 6 KA
19/03 R , zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). 17 Hiernach war die Beklagte berechtigt, die Honoraranforderung der Kläger für die von
ihnen in den streitbefangenen Behandlungsfällen erbrachten Operationsleistungen sachlichrechnerisch richtig zu
stellen, weil es sich nicht um ambulante Leistungen handelte. Voraussetzung für die Vergütung von Leistungen durch
die beklagte KÄV ist, dass die abgerechneten Leistungen der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zuzurechnen
sind. Ist das nicht der Fall, weil eine stationäre Leistung erbracht worden ist, scheidet ein Vergütungsanspruch gegen
die KÄV aus.
18 Damit kommt der Abgrenzung von Leistungen, die der ambulanten Versorgung, und solchen, die der stationären
zuzurechnen sind, entscheidende Bedeutung zu. Nach § 39 Abs 1 Satz 1 SGB V wird die Krankenhausbehandlung
vollstationär, teilstationär, vor- und nachstationär (§ 115a SGB V) sowie ambulant (§ 115b SGB V) erbracht. Sie umfasst im Rahmen
des Versorgungsauftrags des Krankenhauses alle Leistungen, die im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für
die medizinische Versorgung der Versicherten im Krankenhaus notwendig sind, insbesondere ärztliche Behandlung,
Krankenpflege, Versorgung mit Arznei, Heil- und Hilfsmitteln, Unterkunft und Verpflegung (Abs 1 Satz 3 aaO). Dabei dürfen die
Krankenkassen gemäß § 108 SGB V Krankenhausbehandlung nur durch zugelassene Krankenhäuser (Hochschulkliniken im Sinne
des Hochschulbauförderungsgesetzes bzw. Krankenhäuser, die in den Krankenhausplan eines Landes aufgenommen sind <Plankrankenhäuser>, oder Krankenhäuser, die einen Versorgungsvertrag mit den
erbringen. Nach den im maßgeblichen Zeitraum geltenden Richtlinien des
Bundesausschusses der Ärzte und
Verbänden der Krankenkassen abgeschlossen haben)
Krankenkassen über die Verordnung von Krankenhauspflege (KrankenhauspflegeRichtlinien) vom 26. 02.1982 (Beilage Nr. 32/02 zum BAnz Nr.
125) setzte die Verordnung von Krankenhauspflege durch den Vertragsarzt voraus, dass nach Art und Schwere der
Krankheit die medizinische Versorgung gemeinsam mit der pflegerischen Betreuung nur mit den Mitteln eines
Krankenhauses möglich ist, dh die ambulante vertragsärztliche Behandlung nicht ausreicht (Nr. 1.2. aaO).
19 Die Abgrenzung, ob eine ambulante oder eine stationäre Behandlung erbracht worden ist, erweist sich gerade bei
Operationen als schwierig, da diese entweder ambulant, teilstationär oder stationär durchgeführt werden können. Der
3. Senat des BSG hat im Urteil vom 4. 03.2004
- B 3 KR 4/03 R (zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen) im Einzelnen die in Betracht kommenden Abgrenzungsgesichtspunkte
aufgezeigt. Danach sind zB weder die Durchführung einer Vollnarkose, die Inanspruchnahme eines
Krankenhausbettes, die "Aufnahme" in das Krankenhaus oder die zeitweise Gewährung von Unterkunft und
Verpflegung aussagekräftige Abgrenzungskriterien. Eine Definition, die die bestehenden Abgrenzungsschwierigkeiten
von vollstationärer, teilstationärer und ambulanter Krankenhausbehandlung weitestgehend vermeide, könne nur vom
Merkmal der Aufenthaltsdauer ausgehen. Danach liege eine stationäre Behandlung vor, wenn eine physische und
organisatorische Eingliederung des Patienten in das spezifische Versorgungssystem des Krankenhauses gegeben sei,
die sich zeitlich über mindestens einen Tag und eine Nacht erstrecke. Ein operativer Eingriff finde demgemäß nur
"ambulant" iS des § 115b SGB V statt, wenn der Patient weder die Nacht vor noch die Nacht nach dem Eingriff im
Krankenhaus verbringe. Die Entscheidung zum Verbleib des Patienten über Nacht werde in der Regel zu Beginn der
Behandlung vom Krankenhausarzt getroffen, könne aber im Einzelfall auch später erfolgen. So stelle sich eine
Behandlung mit einem operativen Eingriff, nach dem der Patient wegen möglicher Komplikationen im nachoperativen
Bereich ausnahmsweise nicht am gleichen Tag nach Hause entlassen werden könne und im Krankenhaus verbleiben
müsse, als einheitliche vollstationäre Krankenhausbehandlung dar. Dementsprechend gingen auch die
Vertragsparteien des Vertrages nach § 115b SGB V zutreffend davon aus, dass die Vergütung der im Katalog
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 201
aufgeführten ambulanten Operationen dann nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) bzw. der
Bundespflegesatzverordnung erfolge, wenn der Patient am selben Tage in unmittelbarem Zusammenhang mit einer
ambulanten Operation "stationär aufgenommen" werde (BSG aaO). 20 Diesen für den Bereich der ambulanten Operationen
im Krankenhaus (§ 115b SGB V) gewonnenen Kriterien schließt sich der erkennende Senat für die generelle Abgrenzung von
ambulant und stationär erbrachten Operationen an.
21 Nach den aufgezeigten Maßstäben handelt es sich bei den hier streitigen Operationsleistungen der Kläger um
solche, die der stationären Behandlung zuzurechnen sind. Nach den den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des
LSG haben die Kläger den Patienten bei verschiedenen Operationsleistungen in Merkblättern angeraten, im Anschluss
an die durchgeführte Operation einen Aufenthalt von ein bis drei Tagen in der Privatklinik zu nehmen. Damit haben die
Kläger zwar keine Krankenhauspflege "verordnet", abgesehen davon, dass die Einweisung eines Patienten durch
einen Vertragsarzt in ein Plan- oder gar in ein NichtPlankrankenhaus ohnehin nicht die Leistungspflicht der
gesetzlichen Krankenkassen auslöst (s BSGE 82, 158, 161 = SozR 32500 § 39 Nr. 5 S 26 f; zur Leistungspflicht bei Notfallbehandlungen in nicht zugelassenen Krankenhäusern s
BSGE 89, 39 = SozR 32500 § 13 Nr. 25). Sie haben aber durch ihre Vorgehensweise - das Anbieten einer Unterbringung in der Klinik
und das Anraten dieser Maßnahme - die Aufenthalte in der Privatklinik veranlasst, sodass sie ihrem
Verantwortungsbereich zuzurechnen sind. Dem steht auch nicht entgegen, dass ihre vertragsärztliche Praxis rechtlich
von der Privatklinik getrennt ist und nur in der Person des Klägers zur 1., der Mehrheitseigner des Rechtsträgers der
Privatklinik ist, eine rechtliche Verbindung besteht. Nicht zu beanstanden ist weiterhin, dass das LSG diesen Aufenthalt
nicht als bloße Hotelunterkunft, sondern als stationäre Behandlung gewertet hat. Zu Recht hat das Berufungsgericht
darauf hingewiesen, dass neben der vertraglichen Ausgestaltung des Aufnahmevertrages, in dem von einem
stationären Aufenthalt die Rede ist, weitere Indizien für die Annahme einer stationäre Behandlung sprechen. So stand
in der Klinik eine ärztliche Betreuung rund um die Uhr zur Verfügung. Auch der Preis von annähernd 400 DM für eine
Übernachtung in einem DreiBettZimmer belegt, dass bei dem Aufenthalt in der Klinik die ärztliche und pflegerische
Betreuung und nicht die bloße Übernachtung im Vordergrund gestanden hat.
22 Das Verhalten der Kläger führt im Ergebnis dazu, dass die Vorgaben der nach dem KHG durchzuführenden
staatlichen Krankenhausbedarfsplanung unterlaufen werden. Danach müssen in ausreichendem Umfang
Krankenhausbetten für die stationäre Behandlung vorgehalten werden, um eine bedarfsgerechte Versorgung der
Bevölkerung mit leistungsfähigen, eigenverantwortlich wirtschaftenden Krankenhäusern zu gewährleisten (§ 1 Abs 1 KHG).
Die Krankenhausplanung kann insgesamt nur sachgerecht durchgeführt und ihren Zielen gerecht werden, wenn
Leistungen, die typischerweise eine stationäre Behandlung erfordern, auch stationär erbracht und nicht über die
Inanspruchnahme von Krankenhauspflege in nicht zugelassenen Kliniken in die ambulante Versorgung verlagert
werden. Die Vorgehensweise der Kläger erschöpfte sich damit nicht in einem Verstoß gegen die Zuordnung von
Leistungen zur vertragsärztlichen bzw. stationären Versorgung der Versicherten. Sie waren vielmehr dadurch, dass sie
ihren Patienten im Anschluss an die Operationen eine stationäre Betreuung im selben Haus in einer
Privatklinik anbieten konnten, in der Lage, auch Operationen durchzuführen, die generell nur stationärer Behandlung
zugänglich waren. Damit hatten sie die Möglichkeit, unzulässigerweise ihr operatives Angebot zu erweitern und
zunächst zu Lasten der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung Leistungen zu erbringen, die an sich zur stationären
Versorgung gehören, auch wenn dadurch bei den Krankenkassen keine Inanspruchnahme für stationäre Aufenthalte
angefallen sein sollte.
Die Kläger können von der beklagten KÄV eine Vergütung der von ihnen erbrachten Operationsleistungen auch nicht
aus anderen rechtlichen Gesichtspunkten, etwa auf Grund entsprechender Anwendung der Vorschriften über die
Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 812 ff, § 818 Abs 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches), beanspruchen. Dem steht
entgegen, dass die Leistungen unter Verstoß gegen vertragsarztrechtliche Bestimmungen erbracht worden sind. Nach
der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Vertragsarztrecht und zum Leistungsrecht der
gesetzlichen Krankenversicherung haben Bestimmungen, die die Vergütung ärztlicher oder sonstiger Leistungen von
der Erfüllung bestimmter formaler oder inhaltlicher Voraussetzungen abhängig machen, innerhalb dieses Systems die
Funktion, zu gewährleisten, dass sich die Leistungserbringung nach den für die vertragsärztliche Versorgung geltenden
gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen vollzieht. Das wird dadurch erreicht, dass dem Vertragsarzt oder dem
sonstigen Leistungserbringer für Leistungen, die unter Verstoß gegen derartige Vorschriften bewirkt werden, auch dann
keine Vergütung zusteht, wenn diese Leistungen im Übrigen ordnungsgemäß erbracht worden sind (zum Vertragsarztrecht: BSG
Urteil vom 4. 05.1994, BSGE 74, 154, 158 = SozR 32500 § 85 Nr. 6 S 35 f, mwN aus der älteren Rechtsprechung; Urteil vom 10. 05.1995 - 6/14a RKa 3/93 - USK 95122; Urteil vom 10. 05.1995, SozR 35525 §
32 Nr. 1 S 3 f; Urteil vom 21. 06.1995, BSGE 76, 153, 155 f = SozR 32500 § 95 Nr. 5 S 22 f; Urteil vom 13. 11.1996, BSGE 79, 239, 249 f = SozR 32500 § 87 Nr. 14 S 57 f; Urteil vom 18. 12.1996, BSGE 80, 1,
3 f = SozR 35545 § 19 Nr. 2 S 8 f; Urteil vom 28. 01.1998 = SozR 31500 § 97 Nr. 3 S 7; Urteil vom 26. 01.2000 - B 6 KA 59/98 R - USK 200097; zum Leistungsrecht: BSG Urteil vom 28. 03.2000, BSGE 86, 66,
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 202
. Denn die Bestimmungen des Leistungserbringungsrechts über die Erfüllung bestimmter formaler
oder inhaltlicher Voraussetzungen der Leistungserbringung könnten ihre Steuerungsfunktion nicht erfüllen, wenn der
Vertragsarzt oder der mit ihm zusammenarbeitende nichtärztliche Leistungserbringer die rechtswidrig bewirkten
Leistungen über einen Wertersatzanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung im Ergebnis dennoch vergütet bekäme
(so schon BSGE 74, 154, 158 = SozR 32500 § 85 Nr. 6 S 35 f). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Ihr steht das bereits angesprochene
Urteil des BSG vom
76 = SozR 32500 § 13 Nr. 21 S 97 f)
4. 03.2004 - B 3 KR 4/03 R - nicht entgegen. In jenem Verfahren, in
dem die Krankenkasse einen Anspruch des Krankenhauses in Höhe der Kosten für eine ambulante Operation
anerkannt hatte, ist ein Bereicherungsanspruch des Krankenhausträgers bejaht worden, weil lediglich die Art und Höhe
der Abrechnung der Leistung, nicht aber die grundsätzliche Berechtigung zur Abrechnung streitig war. Es ging nur
darum, ob die erbrachte Krankenhausleistung als stationäre Behandlung nach § 109 SGB V einzustufen und deshalb
pflegesatzrechtlich zu vergüten oder als ambulante Operation nach § 115b SGB V anzusehen war.
24 Nach alledem hatte die Beklagte die streitigen Operationsleistungen nicht zu vergüten.
25 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4, § 194 SGG in der bis zum 1. 01.2002 geltenden und hier
noch anzuwendenden Fassung (vgl BSG SozR 32500 § 116 Nr. 24 S 115 ff).
Thöns
BFH Az. V R 27/03 vom 15. 07.2004
Für die Umsatzsteuerfreiheit von Schönheitsoperationen nach § 4 Nr. 14 UStG 1993 reicht es nicht aus, dass
die Operationen nur von einem Arzt ausgeführt werden können, vielmehr müssen sie der medizinischen
Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung und damit dem Schutz der menschlichen
Gesundheit dienen.
UStG 1993 § 4 Nr. 14 Richtlinie 77/388/EWG Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c
Vorinstanz: FG Berlin vom 12. 11.2002 7 K 7264/02 (EFG 2003, 418)
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Arzt für Mund, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Im Rahmen von
Privatliquidationen führte er medizinisch nicht indizierte Schönheitsoperationen gegen Entgelt durch. Umsatzsteuer
wurde gegen den Kläger zunächst nicht festgesetzt. Aufgrund einer Außenprüfung gelangte der Beklagte und
Revisionsbeklagte (das Finanzamt FA) zu der Auffassung, dass die medizinisch nicht indizierten Schönheitsoperationen der
Umsatzsteuer zu unterwerfen seien, da sie nicht vom Regelungsbereich der Steuerbefreiung gemäß § 4 Nr. 14 des
Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG) umfasst seien, und erließ für die Streitjahre 1996 bis 1998 entsprechende
Umsatzsteuerbescheide.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg (vgl. Entscheidungen der Finanzgerichte EFG- 2003, 418).
Gegen das Urteil des Finanzgerichts (FG) wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Revision. Er rügt in erster Linie
Verletzung des § 4 Nr. 14 UStG. Der Kläger meint, die Befreiungsvorschrift erfasse die Ausübung der Heilkunde durch
einen Arzt, auch wenn sie keinem therapeutischen Ziel im Sinne des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen
Gemeinschaften (EuGH) vom 14. 09.2000 Rs. C384/98, D (Slg. 2000, I6795, UmsatzsteuerRundschau UR- 2000, 432) diene.
Schließlich macht der Kläger geltend, dass die Finanzverwaltung selbst aus dem Urteil des EuGH in Slg. 2000, I6795,
UR 2000, 432 unterschiedliche Folgerungen ziehe; im Übrigen verweist er auf ein Schreiben des Bundesministeriums
der Finanzen vom 27. 05.2003 IV D 1 S 7170- 27/03, nach dem nicht zu beanstanden ist, wenn vor dem 1. 01.2003
erbrachte Leistungen auf dem Gebiet der Schönheitschirurgie als steuerfrei behandelt werden, soweit durch Erlasse
oder Verfügungen oder einzelne Auskünfte in den Ländern entsprechende Vertrauenstatbestände geschaffen wurden.
Er meint deshalb, die Steuer sei auch aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO 1977) auf 0 DM/€
herabzusetzen.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Umsatzsteuer für 1996, 1997 und 1998 auf jeweils 0
DM/€ festzusetzen; hilfsweise, die Umsatzsteuer gemäß § 163 AO 1977 aus Billigkeitsgründen auf 0 DM/€
festzusetzen.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 203
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet. 1. Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG sind "die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt,
Heilpraktiker, Krankengymnast, Hebamme oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 1
Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes und aus der Tätigkeit als klinischer Chemiker" steuerfrei. 2. Das FG hat
rechtsfehlerfrei entschieden, dass diese Vorschrift richtlinienkonform restriktiv dahin auszulegen ist, dass nur
Tätigkeiten zur Diagnose, Behandlung und soweit wie möglich- Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen
steuerfrei sind. a) Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts, durch das Richtlinien der EG
umgesetzt worden sind, ergibt sich bereits daraus, dass der nationale Gesetzgeber mit dem Erlass der nationalen
Normen die Vorgaben der Richtlinie umsetzen wollte; sie folgt aber auch aus der gemeinschaftsrechtlichen
Verpflichtung der Gerichte und der sonstigen Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, im Rahmen ihrer
Zuständigkeiten alle zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erforderlichen Maßnahmen zu
treffen (ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. z.B. Urteil vom 18. 12.1997 Rs. C129/96, InterEnvironnement Wallonie, Slg. 1997, I7411 Randnr. 40).
b) § 4 Nr. 14 UStG beruht soweit für den Streitfall von Interesse- auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten
Richtlinie des Rates vom 17. 05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Umsatzsteuern 77/388/EWG Richtlinie 77/388/EWG- (so auch die Regierungsbegründung zu § 4 Nr. 14 UStG 1980).
aa) Die Bestimmung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG lautet:
"(1) Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur
Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung
vonSteuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer: ... c) die
Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden
Mitgliedstaat definierten ärztlichen oder arztähnlichen Berufe erbracht werden."
Diese Bestimmung ist nach der Rechtsprechung des EuGH dahin auszulegen, dass medizinische Leistungen, die nicht
in der medizinischen Betreuung von Personen durch das Diagnostizieren und Behandeln einer Krankheit oder einer
anderen Gesundheitsstörung bestehen, nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallen; befreit sind nur
diejenigen Leistungen, deren Zweck der Schutz der menschlichen Gesundheit ist; die befreiten Leistungen müssen der
medizinischen Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung dienen (EuGHUrteile in Slg. 2000, I6795, UR 2000, 432;
vom 6. 11.2003 Rs. C45/01, ChristophDornierStiftung für Klinische Psychologie, UR 2003, 584 Randnr. 48; vom 20. 11.2003 Rs. C212/01, Margarete Unterpertinger, UR 2004, 70; vom 20. 11.2003 Rs.
. bb) Demnach fallen nicht unter die Steuerbefreiung nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der
Richtlinie 77/388/EWG: anthropologischerbbiologische Untersuchungen im Rahmen eines Vaterschaftsprozesses (EuGH in
Slg. 2000, I6795, UR 2000, 432), - die Erstellung eines Gutachtens zum Gesundheitszustand einer Person im Rahmen eines
Verfahrens wegen Gewährung einer Invaliditätspension (EuGHUrteil in UR 2004, 70), das Ausstellen von ärztlichen
Bescheinigungen für Zwecke eines Kriegsrentenanspruchs, - ärztliche Untersuchungen für die Erstellung von
Gutachten für Haftungsfragen und die Bemessung des Schadens von Personen, die die Erhebung einer Klage wegen
Körperverletzung in Erwägung ziehen, - die Erstellung von ärztlichen Gutachten im Anschluss an solche
Untersuchungen sowie die Erstellung von Gutachten auf der Grundlage von Arztberichten ohne Durchführung ärztlicher
Untersuchungen, - ärztliche Untersuchungen für die Erstellung von Gutachten über ärztliche Kunstfehler für Personen,
die die Erhebung einer Klage in Erwägung ziehen, - die Erstellung von ärztlichen Gutachten im Anschluss an solche
Untersuchungen sowie die Erstellung von Gutachten auf der Grundlage von Arztberichten ohne Durchführung ärztlicher
Untersuchungen (EuGHUrteil in UR 2004, 75). cc) Dasselbe muss für eine Schönheitsoperation gelten, deren Zweck nicht der
Schutz der menschlichen Gesundheit ist. Die Ansicht, dass "ärztliche" Leistungen der Schönheitschirurgen ohne
Rücksicht auf ihre medizinische Indikation steuerfrei sind, ist mit der Bestimmung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c
der Richtlinie 77/388/EWG und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EuGH unvereinbar.
C307/01, Peter d´Ambrumenil, UR 2004, 75)
c) Die Vorschrift des § 4 Nr. 14 UStG ist entgegen der Ansicht des Klägers einer richtlinienkonformen Auslegung
zugänglich. Sie ist nicht eindeutig im Sinne des Klagebegehrens.
Bereits zu § 4 Nr. 14 UStG 1967, auf den der Wortlaut des § 4 Nr. 14 UStG 1993 zurückgeht, hat der Bundesfinanzhof
(BFH) entschieden, dass nicht alle vom Arzt ausgeführten Umsätze steuerfrei sind, sondern nur diejenigen, die er in
Ausübung seiner heilkundlichen Tätigkeit bewirkt (BFHUrteil vom 26. 05.1977 V R 95/76, BFHE 123, 199, BStBl II 1977, 879). Wie weit die
heilkundliche Tätigkeit geht, war seit jeher umstritten. Unstreitig war z.B., dass die Gutachtertätigkeit eines Arztes zur
Erhaltung und Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit eine nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfreie "Tätigkeit als
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Arzt" ist; streitig war hingegen bereits bei Einführung des § 4 Nr. 14 UStG 1967, ob hierunter auch die
Gutachtertätigkeit des Arztes in Wahrnehmung anderer als gesundheitlicher Zwecke gehört (vgl. Salch, UR 1968, 298).
Bis zum Ergehen des EuGHUrteils in Slg. 2000, I6795, UR 2000, 432 bejahte die wohl herrschende Meinung eine
Tätigkeit als Arzt bereits dann, wenn die Gutachtertätigkeit nur durch einen Arzt erfolgen konnte (vgl. Sauer in Plückebaum/Malitzky,
Umsatzsteuergesetz, 10. Aufl., Stand 03.1999, Köln/Berlin/Bonn/ München, § 4 Nr. 14 Rz. 70). Dem entspricht, dass auch die Leistungen der
Schönheitschirurgen als steuerfrei behandelt wurden (so noch Oberfinanzdirektion OFD- Karlsruhe/ Stuttgart, Verfügung vom 25. 03.2002, Steuererlasse in Karteiform
StEK, Umsatzsteuergesetz 1980, § 4 Ziff. 14, Nr. 81), da auch sie nur durch einen Arzt durchgeführt werden können.
Die Finanzverwaltung ist von dieser weiten Auslegung der Vorschrift des § 4 Nr. 14 UStG jedoch zu Recht abgerückt,
und vertritt nunmehr die Auffassung, dass ästhetischplastische Leistungen eines Chirurgen (Schönheitsoperationen)
steuerpflichtig sind, wenn nicht nach den Umständen des Einzelfalls eine medizinische Indikation vorliegt (OFD
München/Nürnberg, Verfügung vom 7. 04.2003, StEK, Umsatzsteuergesetz 1980, § 4 Ziff. 14, Nr. 85). Nach den Grundsätzen der zitierten Rechtsprechung des
EuGH reicht es nicht aus, dass die Operationen nur von einem Arzt ausgeführt werden können, vielmehr müssen sie
der medizinischen Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung und damit dem Schutz der
menschlichen Gesundheit dienen; nur dann liegt eine ärztliche Ausübung der Heilkunde vor.
3. Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG waren die streitigen Schönheitsoperationen medizinisch nicht
indiziert; ihre Kosten wurden von den Sozialversicherungsträgern nicht getragen. Sie dienten nicht der medizinischen
Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung und sind deshalb nicht nach § 4 Nr. 14 UStG
steuerfrei. 4. Der Hilfsantrag des Klägers, die Umsatzsteuer gemäß § 163 AO 1977 aus Billigkeitsgründen auf 0 DM/€
festzusetzen, ist unzulässig.
Das FG hat in der Sache lediglich über die Anfechtungsklage gegen die Umsatzsteuerbescheide für 1996 bis 1998 vom
15. 01.2002 entschieden. Soweit der Kläger bereits beim FG die Berücksichtigung von Billigkeitserwägungen begehrte,
hat es die Klage als unzulässig angesehen, da weder ein Ablehnungsbescheid vorgelegen habe noch das nach § 44
der Finanzgerichtsordnung (FGO) erforderliche Vorverfahren durchgeführt worden sei
. Einen Verfahrensmangel hat der Kläger insoweit nicht gerügt (zur Rüge eines Verfahrensmangels vgl. § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b
. Es ist dem Senat deshalb aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht möglich, über den Billigkeitsantrag des Klägers
in der Sache zu entscheiden. Bei der Entscheidung über diesen Billigkeitsantrag kann auch die frühere Behandlung der
Schönheitsoperationen durch die Finanzverwaltung eine Rolle spielen.
(S. 5 der Vorentscheidung)
FGO)
Thöns
BGH VI ZR 266/03 vom 06.07.2004
Ein durch einen ärztlichen Fehler geschädigter Kassenpatient ist bei der Schadensbeseitigung nicht
schon deshalb auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt, weil ihm
grundsätzlich der Anspruch auf Heilbehandlung gegen seine Krankenkasse auch nach einem
Behandlungsfehler verbleibt. Die Haftpflicht des Schädigers kann die Übernahme der Kosten einer
privatärztlichen Behandlung für einen geschädigten Kassenpatienten umfassen, wenn nach den
Umständen des Einzelfalls feststeht, dass das Leistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung
nur unzureichende Möglichkeiten zur Schadensbeseitigung bietet oder die Inanspruchnahme der
vertragsärztlichen Leistung aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise dem Geschädigten nicht
zumutbar ist.
BGB § 249 Gb; SGB X § 116 Abs.1
BGH, Urteil vom 6. 07.2004 VI ZR 266/03 OLG Nürnberg
LG Weiden i. d. OPf.
BGB § 249 Gb; SGB X § 116 Abs.1
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 6. 07.2004 durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und
Zoll
für Recht erkannt:
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 205
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 8. 08.2003 im
Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es zum Nachteil der Klägerin erkannt hat.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Ersatz ihres materiellen und immateriellen Schadens sowie die Feststellung der Haftung der
Beklagten für materielle und immaterielle Zukunftsschäden wegen mangelhafter zahnmedizinischer Behandlung durch
die Beklagte.
Von 09.1997 bis 10.1998 setzte die Beklagte nach Genehmigung eines Heilund Kostenplans durch die Krankenkasse
der Klägerin Zahnersatz ein, der mangelhaft war und erhebliche Schmerzen im Kieferund Gesichtsbereich sowie eine
Myoarthropathie verursachte. Mehrfache Versuche der Beklagten, die Mängel zu beseitigen, blieben ohne Erfolg. Die
Klägerin begab sich daraufhin in Behandlung zu dem Vertragszahnarzt Dr. G.. Dieser erstellte am 4. 11.1999 einen
Heilund Kostenplan, den er bei der Krankenkasse der Klägerin allerdings nicht einreichte. Die Klägerin ließ Dr. G.
zunächst mit der Sanierung beginnen, nachdem die von der Krankenkasse eingeschalteten Gutachter die
Mangelhaftigkeit der zahnprothetischen Versorgung durch die Beklagte bestätigt hatten. Nachdem im vorliegenden
Verfahren der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. P. ebenfalls eine komplette Erneuerung des Zahnersatzes für
erforderlich hielt, stellte Dr. G. die Sanierung fertig und berechnete der Klägerin 48.207,62 DM für seine Leistungen.
Die Krankenkasse der Klägerin lehnt es ab, sich an diesen Kosten zu beteiligen. Das ursprünglich von der Beklagten
an die Krankenkasse der Klägerin wegen der Mangelhaftigkeit ihrer Arbeiten zurücküberwiesene Honorar zahlte die
Krankenkasse wieder an die Beklagte zurück, weil ihr wegen des fehlenden Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin
kein Schaden aus der Mangelhaftigkeit der Leistung erwachsen sei.
Das Landgericht hat der Klage auf Schmerzensgeld und Erstattung der Kosten für die Sanierung überwiegend
stattgegeben. Gegen dieses Urteil haben die Beklagte Berufung und die Klägerin Anschlussberufung eingelegt, letztere
mit dem Ziel, die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines höheren Schmerzensgeldes sowie der gesamten von
Dr. G. in Rechnung gestellten Behandlungskosten zu erreichen. Das Oberlandesgericht hat auf die Berufung der
Beklagten das Urteil des Landgerichts dahingehend abgeändert, dass die Beklagte neben dem vom Landgericht
zuerkannten Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 DM (12.782,29 €) lediglich zur Zahlung von Mehrkosten in Höhe von
5.613,27 € verpflichtet sei. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung der Beklagten
sowie die Anschlussberufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht für den materiellen
Schadensersatzanspruch zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Anspruch auf Ersatz der vollen
Behandlungskosten weiter. Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht führt zum materiellen Schadensersatzanspruch aus, dass die Klägerin zwar auch als
Kassenpatientin gegenüber dem Arzt zivilrechtliche Schadensersatzansprüche geltend machen könne, weil die von der
Beklagten erbrachte zahnprothetische Leistung in einem Umfang mangelhaft gewesen sei, der die komplette
Neuversorgung notwendig gemacht habe. Doch könne sie als Kassenpatientin die Schadensabwicklung nur innerhalb
des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung durchführen. Die Klägerin habe nach Erstellung eines neuen
Heilund Kostenplanes gemäß § 27 SGB V weiterhin gegen ihre Krankenkasse Anspruch auf Krankenbehandlung.
Dadurch sei ihre Versorgung ausreichend gewährleistet. Es stelle einen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht
dar, wenn der Kassenpatient nicht die Möglichkeit der für ihn kostenlosen Sanierung des vom Vorbehandler, hier von
der Beklagten, hinterlassenen Beschwerdebildes in Anspruch nehme und die Sanierung auf privatärztlicher Basis
vornehmen lasse. Die Klägerin habe deshalb nur Anspruch auf Erstattung des Betrags, den sie an die Beklagte als
Eigenanteil bezahlt habe, sowie derjenigen Kosten, die vertragszahnärztlich nicht abrechen
bare Leistungen beträfen, aber zur Behebung des Schadens erforderlich gewesen seien.
Die Klägerin könne nicht Ersatz der Kosten für die von Dr. G. eingesetzten Brücken verlangen, da nach § 30 Abs. 1
SGB V die Versorgung bei großen Brücken auf den Ersatz von bis zu vier fehlenden Zähnen je Kiefer und bis zu drei
fehlenden Zähnen je Seitenzahngebiet begrenzt sei. Es komme eine Einstückmodellgußprothese in Betracht, auch
wenn sich aus dem Schreiben der Krankenkasse vom 13. 11.2001 ergebe, dass bereits die Beklagte festsitzende
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 206
Brücken eingesetzt habe. Die Kasse sei zwar an ihre damals erteilte Genehmigung des Heilund Kostenplans gebunden
gewesen und hätte deshalb auch im Rahmen der Sanierung festsitzende Brücken bezahlen müssen, obwohl die
Voraussetzungen für deren Bewilligung nach dem Vortrag der Klägerin nicht vorgelegen hätten. Doch hätte die
Klägerin bei korrektem Vorgehen von der Beklagten als vertragszahnärztliche Leistung nur eine Vollprothese
beanspruchen können. Für eine festsitzende Brückenkonstruktion hätte sie selbst aufkommen müssen. Sie könne
deshalb nicht als Schadensersatz mehr verlangen. Die Beklagte habe auch nicht die Kosten für die Überkronung des
Zahnes
4.3 zu ersetzen. Denn entweder habe sie die Überkronung fehlerhaft unterlassen, dann wären die Kosten in Höhe der
Eigenbeteiligung bei ordnungsgemäßer Behandlung sowieso für die Klägerin angefallen, oder die Überkronung sei
infolge der durch die Mängel in der prothetischen Versorgung bei der Klägerin aufgetretenen Myoarthropathie
erforderlich geworden, dann seien sie aber durch deren Behandlungskosten, die zu erstatten seien, abgedeckt. II. Das
Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. 1. Die Revision wendet sich nicht gegen den ihr
günstigen Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, der Klägerin stehe der geltend gemachte Schadensersatzanspruch
dem Grunde nach zu, weil die von der Beklagten vorgenommene zahnprothetische Versorgung der Klägerin derart
mangelhaft sei, dass nur eine vollständige Neuversorgung der Klägerin geeignet sei, die Mangelhaftigkeit der Leistung
der Beklagten zu beseitigen. Sie hält jedoch den zuerkannten Schadensersatzanspruch für zu niedrig, weil der
Geschädigte nicht verpflichtet sei, eine fehlerhafte vertragszahnärztliche Versorgung als Kassenpatient sanieren zu
lassen. In dieser Allgemeinheit ist dies allerdings nicht zutreffend. 2. Nach § 249 Satz 2 BGB a.F. hat der Schädiger bei
Verletzung eines Menschen den "daraus entstehenden" Schaden zu ersetzen. Er hat dem Geschädigten die Mittel zur
Verfügung zu stellen, mit denen dieser sich in die Lage versetzen kann, in der er sich ohne das schädigende Ereignis
befinden würde. Der Zweck des Schadensersatzes erschöpft sich allerdings im Ausgleich des in haftungsrechtlich
erheblicher Weise verursachten Schadens; eine darüber hinausgehende Besserstellung des Geschädigten soll er nicht
bewirken. Deshalb hat nach einem allgemeinen Grundsatz des Schadensrechts der Schädiger den Verletzten in den
Verhältnissen zu entschädigen, in denen er ihn betroffen hat (vgl. Senatsurteil vom 18. 10.1988 VI ZR 223/87 VersR 1989, 54, 56). Nach diesen
Grundsätzen kann nicht unberücksichtigt bleiben, ob der Geschädigte Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung
ist. Allerdings ist ein geschädigter Kassenpatient bei der Schadensbeseitigung nicht schon deshalb auf die Leistungen
der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt, weil ihm der Anspruch auf Heilbehandlung gegen seine
Krankenkasse auch nach einem Behandlungsfehler verbleibt (vgl. §§ 69, 76 Abs. 4, 66 SGB V; s. auch BGH, Urteil vom 19. 12.1990 IV ZR 33/90 VersR 1991, 478,
479; BSGE 55, 144, 148 f.; BSG, Urteil vom 8. 03.1995 1 RK 7/94 SozR 3 2500 § 30 Nr. 5, S. 13; Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, S. 182 ff.). Bietet jedoch das Leistungssystem
der gesetzlichen Krankenversicherung dem Geschädigten nur unzureichende Möglichkeiten zur Schadensbeseitigung
oder ist die Inanspruchnahme dem Geschädigten aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise nicht zuzumuten,
kann die Haftpflicht des Schädigers auch die Übernahme der Kosten einer privatärztlichen Behandlung umfassen.
Von diesen Grundsätzen geht auch das Berufungsgericht aus, hat sie jedoch nicht ohne Rechtsfehler auf den Streitfall
angewendet.
a) Fraglich ist in einem solchen Fall schon die Aktivlegitimation des Geschädigten, soweit der Schadensersatzanspruch
nach § 116 Abs. 1 SGB X im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses auf den Sozialversicherungsträger übergeht,
weil seine Inanspruchnahme in Betracht kommt (vgl. Senatsurteile vom 11. 11.1969 VI ZR 91/68 VersR 1970, 129, 130 und vom
. Im vorliegenden Fall begegnet die Annahme der Aktivlegitimation der Klägerin jedoch
keinen rechtlichen Bedenken und wird von den Parteien auch nicht in Zweifel gezogen, weil davon auszugehen ist,
dass die Krankenkasse sich nicht an den Kosten der Schadensbehebung beteiligt. Sie hat in den Schreiben vom 13.
11.2001 und vom 22. 02.2002 an den damaligen Prozeßbevollmächtigten der Klägerin eine Kostenübernahme
ausdrücklich abgelehnt und das von ihr ursprünglich zurückgeforderte Honorar der Beklagten wieder an diese
überwiesen. Jedenfalls unter den Umständen des Streitfalls war die Klägerin auch nicht verpflichtet, gegen die
Leistungsverweigerung der Krankenkasse rechtlich vorzugehen und die Behandlung bis zur Klärung der Ansprüche
gegen die Krankenkasse zurückzustellen. Die Klägerin litt nach den nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen im
Berufungsurteil unter zermürbenden Schmerzen, weswegen ihr ein Aufschieben der zahnärztlichen Behandlung bis zur
rechtskräftigen Klärung ihrer Ansprüche nicht zumutbar war.
20. 03.1973 VI ZR 19/72 VersR 1973, 566 f., m.w.N.)
b) Zwar ist die Auffassung des Berufungsgerichts im Ansatz zutreffend, dass ein Kassenpatient grundsätzlich keinen
Anspruch auf Kostenerstattung einer ärztlichen Behandlung als Privatpatient durch den Schädiger hat (vgl. OLG Düsseldorf, VersR
1991, 884). Doch läßt das Berufungsgericht außer acht, dass die Umstände des Einzelfalles die Inanspruchnahme
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 207
privatärztlicher Leistungen rechtfertigen können und deshalb bei der Frage, welche Aufwendungen für eine gebotene
Heilbehandlung erforderlich sind, berücksichtigt werden müssen (vgl. Senatsurteile vom 23. 09.1969 VI ZR 69/68 VersR 1969, 1040 und vom 11. 11.1969 VI ZR
91/68 aaO; BGH, Urteil vom 16. 12.1963 III ZR 219/62 VersR 1964, 257 m.w.N.; OLG München, VersR 1981, 169, 170; OLG Oldenburg, VersR 1984, 765; OLG Hamm, NJW 1995, 786, 787; OLG Hamm, NZV
2002, 370, 371; OLG Karlsruhe, OLGReport 2002, 20; Geigel/
. Zu Recht rügt die Revision in diesem Zusammenhang eine unzureichende
Sachverhaltsaufklärung durch das Berufungsgericht. Dieses hätte klären müssen, ob die durch Vernehmung des
Zeugen Dr. G. und Einholung eines Sachverständigengutachtens unter Beweis gestellte Behauptung der Klägerin
zutrifft, dass durch eine vertragszahnärztliche Behandlung der Schaden nicht annähernd hätte behoben werden
können.
Rixecker, Der Haftpflichtprozeß 24. Aufl., Kap. 2 Rdn. 44)
c) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung war die Klägerin aufgrund ihrer Pflicht zur Schadensminderung
unter den besonderen Umständen des Streitfalls nicht gehalten, sich zu einem anderen Vertragszahnarzt zu begeben,
nachdem Dr. G. im Hinblick auf die außerordentliche Komplexität und Schwierigkeit der notwendigen Behandlung nicht
bereit gewesen ist, zu den Sätzen einer kassenärztlichen Vergütung tätig zu werden. Schon nach der für die
Schadensbeseitigung gegebenen Dispositionsfreiheit ist die Wahl des Arztes durch den Geschädigten frei, da das
persönliche Vertrauensverhältnis zu demjenigen, der den Schaden beseitigen soll, ein gewichtiges Auswahlkriterium
ist. Dazu litt die Klägerin wegen der mangelhaften Behandlung durch die Beklagte unter erheblichen Schmerzen.
Diesen Schmerzzustand so lange aufrechtzuerhalten, bis ein Vertragszahnarzt gefunden worden wäre, der das
Vertrauen der Klägerin hätte genießen können und bereit gewesen wäre, zu den kassenärztlichen Bedingungen die
Behandlung zu erbringen, war der Klägerin nicht zumutbar.
d) Schließlich begegnen die Ausführungen im Berufungsurteil durchgreifenden rechtlichen Bedenken, mit denen das
Berufungsgericht der Klägerin die Erstattung der Kosten für die den Zahn 1.7 betreffende festsitzende Brücke versagt.
Das Berufungsgericht geht von der Revision nicht beanstandet davon aus, dass die Krankenkasse eine festsitzende
Brücke für die Behandlung durch die Beklagte genehmigt hatte. Es kann dahinstehen, ob diese Genehmigung die
Krankenkasse auch für die Folgebehandlung gebunden hätte und ob der Zahn
1.7 bei der Behandlung durch die Beklagte bereits fehlte. Die Klägerin hat nach dem Grundsatz der Naturalrestitution
jedenfalls einen Anspruch darauf, so gestellt zu werden, wie sie ohne das schädigende Ereignis stünde. Ohne die
mangelhafte Arbeit der Beklagten hätte die Klägerin eine festsitzende Brückenkonstruktion gegen Zahlung ihres
Eigenanteils schon im Rahmen der ersten Behandlung erhalten. Aufgrund der mangelhaften Behandlung durch die
Beklagte hat sich diese Rechtsposition der Klägerin nicht verschlechtert. Das Berufungsgericht durfte deshalb der
Klägerin den Anspruch auf Kostenerstattung für die von Dr. G. eingegliederte Brücke nicht versagen und sie nicht auf
den Anspruch gegen die Krankenkasse auf eine Einstückmodellgußprothese verweisen. III. Nach alledem war das
Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht
zurückzuverweisen. Dabei wird die Klägerin Gelegenheit haben, vorzutragen, weshalb die Überkronung mit Stiftaufbau
des Zahnes 4.3 Folge der fehlerhaften Behandlung durch die Beklagte und zur Schadensbehebung erforderlich war.
Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll
Thöns
BSG Az. B 3 KR 4/03 R vom 04.03.2004
1. Zur Abgrenzung von vollstationärer, teilstationärer und ambulanter Behandlung im Krankenhaus.
2. Die bereicherungsrechtliche Forderung eines Krankenhauses gegen eine Krankenkasse wegen
Durchführung einer ambulanten Operation unterliegt dem Anspruch auf Prozesszinsen. Tatbestand
1 Am 14. 10.1998 wurden einer damals 14 Jahre alten Versicherten der beklagten Krankenkasse (KK) in der vom
klagenden Krankenhausträger betriebenen Klinik für Mund, Kiefer- und Gesichtschirurgie in Kiel die retinierten und
verlagerten Weisheitszähne operativ entfernt. Nach komplikationslosem Verlauf wurde die Versicherte noch am selben
Tag wieder entlassen. Der Klinikaufenthalt dauerte von 7.00 bis 17.00 Uhr. Für die Behandlung stellte der Kläger der
Beklagten den Fachabteilungspflegesatz in Höhe von 912,20 DM und den Basispflegesatz für eine vollstationäre
Behandlung in Höhe von 165,55 DM, insgesamt also 1.077,75 DM (jetzt: 551,04 EUR), in Rechnung. Die Beklagte erklärte sich
aber nur bereit, die Behandlung als ambulante Operation zu vergüten und bat um eine entsprechend spezifizierte neue
Rechnung. Der Kläger lehnte dies ab und machte geltend, die vier Weisheitszähne würden in solchen Fällen zwar
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 208
regelmäßig durch niedergelassene Kieferchirurgen in zwei ambulanten Behandlungen unter Lokalanästhesie entfernt.
Wegen großer Ängstlichkeit der Versicherten sei aber eine ambulante Behandlung in Lokalanästhesie nicht möglich
gewesen. Der Versicherten seien daher nach Prämedikation in Dämmerschlafnarkose mit zusätzlicher örtlicher
Betäubung die vier Weisheitszähne entfernt worden. Die postoperative Intensivüberwachung auf der Station habe
sechs Stunden gedauert. Dies stelle einen stationären Eingriff mit Gewährung von Krankenhauspflege,
Intensivüberwachung und ärztlicher Behandlung dar.
Die Beklagte hielt demgegenüber an ihrer Auffassung fest, dass nur eine
ambulante Operation stattgefunden habe. Eine stationäre Behandlung erfordere einen Tag- und Nachtaufenthalt des
Patienten.
3 Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 24. 05.2002 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die
Berufung des Klägers mit Urteil vom
10. 12.2002 zurückgewiesen. Beide Gerichte haben die Durchführung einer stationären Behandlung verneint, weil die
Patientin nicht über Nacht in der Klinik verblieben sei. Es handele sich - so das LSG - um eine Operation, die in den
Katalog der nach § 115b Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) von Krankenhäusern ambulant durchführbaren
Operationen aufgenommen worden sei, und deshalb bestehe eine rechtliche und tatsächliche Vermutung dafür, dass
der Eingriff habe ambulant erbracht werden können und auch ambulant erbracht worden sei. Der Kläger habe nicht
dargetan, dass eine ambulante Behandlung nicht hinreichend gewesen sei. Die Einstufung als zumindest teilstationäre
Behandlung komme nicht in Betracht, weil es am Einsatz spezifischer Mittel des Krankenhauses fehle, über die eine
Praxis eines niedergelassenen Arztes, die für ambulante Operationen dieser Art eingerichtet sei, nicht verfüge. Die
Vergütung der Behandlung als ambulante Operation scheitere - so das SG - daran, dass der Kläger die nach § 115b
Abs 2 Satz 2 SGB V notwendige Mitteilung über die Teilnahme am Programm für das ambulante Operieren im
Krankenhaus bisher nicht abgegeben habe (S 13 des SGUrteils). 4 Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung des § 39
Abs 1 SGB V sowie des § 1 Abs 1 Bundespflegesatzverordnung (BPflV). Er macht geltend, es komme nicht darauf an, ob
ein solcher Eingriff auch ambulant in der Praxis eines niedergelassenen Arztes hätte durchgeführt werden können. Für
eine stationäre Behandlung sei entscheidend, dass der Patient in das Versorgungssystem des Krankenhauses
eingegliedert werde. Dies geschehe mit der Entscheidung des Arztes zur stationären Aufnahme, wie sie hier (mit Zuweisung
eines Bettes in der Station III) vorgelegen habe.
5 Im Revisionsverfahren hat die Beklagte anerkannt, für die Behandlung entsprechend einer vertraglichen Vergütung
für eine ambulante Operation einen Betrag von 339,16 EUR (663,32 DM) zu zahlen; der Kläger hat das Teilanerkenntnis
angenommen.
6 Der Kläger beantragt,
7 das Urteil des SchleswigHolsteinischen LSG vom 10. 12.2002 sowie das Urteil des SG Kiel vom 24. 05.2002 zu
ändern und die Beklagte zu verurteilen, weitere 211,88 EUR nebst vertraglicher Zinsen auf 551,04 EUR, hilfsweise
Prozesszinsen zu zahlen.
8 Die Beklagte beantragt,
9 die Revision zurückzuweisen.
10 Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
11 Die Revision des Klägers ist unbegründet, soweit die Hauptsache nicht durch das angenommene Teilanerkenntnis
gemäß § 101 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erledigt worden ist, das Klagebegehren also den über den anerkannten
Betrag von 339,16 EUR hinausgehenden Zahlungsanspruch betrifft. Hinsichtlich des Zinsanspruchs erweist sich die
Revision für die Zeit ab Rechtshängigkeit der Klageforderung in der anerkannten Höhe als begründet.
12 1. Die auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu beachtenden Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor. 13
Die Klage ist als (echte) Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG zulässig. Bei einer auf Zahlung der Behandlungskosten
eines Versicherten gerichteten Klage eines Krankenhausträgers gegen eine KK geht es um einen sog Parteienstreit im
Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt (BSGE 86, 166, 167 f = SozR 32500 §
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 209
. Dies gilt unabhängig davon, ob der Zahlungsanspruch auf eine vertragliche
Rechtsgrundlage oder auf Bereichungsrecht gestützt wird. Ein Vorverfahren war mithin nicht durchzuführen, die
Einhaltung einer Klagefrist nicht geboten.
112 Nr. 1; BSGE 90, 1 f = SozR 32500 § 112 Nr. 3)
14 2. Die Klage ist aber unbegründet. Der Kläger ist als Rechtsnachfolger zur Geltendmachung der Forderung
allerdings aktivlegitimiert. Der Zahlungsanspruch betrifft einen Behandlungsfall vom 14. 10.1998. Zu jener Zeit war
noch das Land SchleswigHolstein Träger des zur ChristianAlbrechtsUniversität zu Kiel gehörenden Klinikums und der
darin integrierten Klinik für Mund, Kiefer- und Gesichtschirurgie, in der die Behandlung stattgefunden hat. Durch das
"Gesetz zur Neuordnung der Universitätsklinika (Änderung des Hochschulgesetzes)" vom 28. 10.1998 (GVOBl SchlH S 313) wurden die
Universitätskliniken in Kiel und Lübeck zu eigenständigen rechtsfähigen Anstalten des öffentlichen Rechts erhoben (§ 135
Abs 1 Hochschulgesetz <HSG> in der ab 1. 01.1999 geltenden Fassung). Die bis dahin dem Land SchleswigHolstein zustehenden Rechte und
Pflichten als Krankenhausträger wurden zum 1. 01.1999 an die Universitätskliniken in ihrer Rechtsform als rechtsfähige
Anstalten des öffentlichen Rechts abgetreten bzw. von diesen übernommen (§ 135 Abs 3 und 4 HSG). Die Klage vom 20. 02.2001
ist deshalb zunächst durch das Universitätsklinikum Kiel als Rechtsträger erhoben worden. Durch das "Gesetz zur
Errichtung desUniversitätsklinikums SchleswigHolstein und zur Änderung des Hochschulgesetzes" vom 12. 12.2002
(GVOBl SchlH S 240) sind die als rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts errichteten Kliniken an der
ChristianAlbrechtsUniversität zu Kiel und an der Universität zu Lübeck aufgehoben worden (Art 1 Abs 2 Satz 2). Zugleich ist der
Kläger als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts errichtet worden; er besteht aus den beiden Universitätskliniken
(Art 1 Abs 1) und trat zum 1. 01.2003 in sämtliche Rechte und Pflichten der beiden aufgehobenen Anstalten des öffentlichen
Rechts ein (Art 1 Abs 2 Satz 2; vgl auch § 118 HSG). Der Kläger ist danach auch prozessual als Rechtsnachfolger in das laufende
Verfahren eingetreten.
15 3. Dem Kläger steht ein übergegangener vertraglicher Vergütungsanspruch für die Behandlung der Versicherten am
14. 10.1998 nicht zu, weil eine stationäre oder teilstationäre Behandlung nicht stattgefunden hat. Auf die Frage, ob eine
stationäre Behandlung erforderlich war, kommt es danach nicht an. 16 a) Rechtsgrundlage des Vergütungsanspruchs
eines zugelassenen Krankenhauses für eine stationäre Behandlung ist § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V. Die Zulassung der
vom Kläger betriebenen Hochschulklinik zur stationären Behandlung von Versicherten der gesetzlichen KKn folgt aus §
108 Nr. 1 SGB
V. Wie der Senat bereits mehrfach ausgeführt hat, entsteht die Zahlungsverpflichtung der gesetzlichen KK unabhängig
von einer Kostenzusage unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten (BSGE 86, 166, 168 = SozR 32500 §
112 Nr. 1; BSGE 90, 1, 2 = SozR 32500 § 112 Nr. 3). Der Behandlungspflicht der zugelassenen Krankenhäuser iS des § 109 Abs 4 Satz 2
SGB V steht ein Vergütungsanspruch gegenüber, der auf der Grundlage der gesetzlichen Ermächtigung in den §§ 16,
17 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) nach Maßgabe der - vorliegend in der bis zum 31. 12.2003 geltenden
Fassung anzuwendenden - BPflV in der Pflegesatzvereinbarung zwischen KK und Krankenhausträgern festgelegt wird
(vgl Hencke in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, SGB V, Bd 3, Stand 1. 10.2001, § 109 RdNr 10). 17 Der Kläger kann die abgerechneten tagesgleichen
Pflegesätze (Abteilungspflegesatz Mund, Kiefer- und Gesichtschirurgie und Basispflegesatz) nicht beanspruchen. Grundvoraussetzung für den
Vergütungsanspruch eines Krankenhauses nach Maßgabe der Vorschriften des KHG und der BPflV ist, dass eine volloder teilstationäre Behandlung stattgefunden hat. Denn das Pflegesatzrecht und damit die Erlöse aus den Pflegesätzen
nach § 4 Nr. 2 KHG beziehen sich nur auf die stationären und teilstationären Leistungen des Krankenhauses (§ 2 Nr. 4 KHG).
Damit übereinstimmend regelt auch § 1 Abs 1 BPflV, dass nur die voll- und teilstationären Leistungen der
Krankenhäuser nach der BPflV vergütet werden. Liegt eine ambulante Krankenhausbehandlung vor, scheidet eine auf
die Vorschriften des KHG und der BPflV gestützte Vergütung aus.
18 b) Die maßgebenden Merkmale für eine stationäre und teilstationäre Behandlung gibt das Gesetz aber weder bei
den Vergütungsregelungen noch bei den Regelungen über die Leistungsansprüche des Versicherten in den §§ 39 ff
SGB V vor.
19 Nach § 39 Abs 1 Satz 1 SGB V idF des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) vom 21. 12.1992 (BGBl I 2266) wird die
Krankenhausbehandlung vollstationär, teilstationär, vor- und nachstationär (§ 115a SGB V) sowie ambulant (§ 115b SGB V)
erbracht. Versicherte haben Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die
Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre,
vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann (§ 39
Abs 1 Satz 2 SGB V). Die Krankenhausbehandlung umfasst im Rahmen des Versorgungsauftrags des Krankenhauses alle
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Leistungen, die im Einzelfall nach Art und Schwere der Krankheit für die medizinische Versorgung der Versicherten im
Krankenhaus notwendig sind, insbesondere ärztliche Behandlung, Krankenpflege, Versorgung mit Arznei, Heil- und
Hilfsmitteln, Unterkunft und Verpflegung; die akutstationäre Behandlung umfasst auch die im Einzelfall erforderlichen
und zum frühestmöglichen Zeitpunkt einsetzenden Leistungen zur Frührehabilitation (§ 39 Abs 1 Satz 3 SGB V). Eine Definition
des Begriffs "stationäre Krankenhausbehandlung" findet sich damit nicht, sondern nur eine Leistungsumschreibung.
20 Diese Leistungsumschreibung reichte in der Vergangenheit aus, um stationäre Leistungen von ambulanten
Leistungen abzugrenzen, weil ambulante Operationen in der Praxis eines niedergelassenen Arztes praktisch nicht
möglich waren; über die dafür erforderlichen räumlichen Voraussetzungen (Operationsstühle oder tische, sterile Räume, Ruhebetten) sowie die
personellen Voraussetzungen (AnästhesieFacharzt und entsprechend geschultes Personal) verfügten typischerweise nur Krankenhäuser, in
denen die Patienten regelmäßig auch über Nacht verblieben und verpflegt wurden - soweit dies zuträglich war. Das hat
sich aber mit der Verbreitung des ambulanten Operierens durch niedergelassene Ärzte und die Einführung dieser
Möglichkeit auch in Krankenhäusern geändert.
21 Die Durchführung ambulanter Operationen im Krankenhaus ist auf der Grundlage des durch Art 1 Nr. 71 GSG
eingeführten § 115b SGB V erst zum
1. 01.1993 ermöglicht worden. Danach sind die Krankenhäuser zur ambulanten Erbringung der in dem Katalog gemäß
Abs 1 Satz 1 Nr. 1 dieser Vorschrift genannten Operationen zugelassen, wobei es hierzu einer Mitteilung des
Krankenhauses an die KKn auf Landesebene, an die Kassenärztliche Vereinigung sowie an den Zulassungsausschuss
bedarf. Die Zulassung wird erst durch die Mitteilung nach § 115b Abs 2 Satz 2 SGB V 5
wirksam, und zwar im Umfang der darin aufgeführten Operationen (BSG SozR 32500 § 116 Nr. 19).
22 Dem in § 115b Abs 1 Nr. 1 SGB V enthaltenen Auftrag zur Vereinbarung eines Katalogs ambulant durchführbarer
Operationen sind die Spitzenverbände der KKn, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassenärztliche
Bundesvereinigung erstmals mit dem am 1. 04.1993 in Kraft getretenen Vertrag über das ambulante Operieren im
Krankenhaus vom 22. 03.1993 (DÄ 1993, Heft 27, C1293) nachgekommen. In § 3 des dreiseitigen Vertrags ist bestimmt, dass der
Katalog ambulant durchführbarer Operationsleistungen aus den im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) aufgeführten
ambulanten Operationen und ambulanten Anästhesien (Abschnitte B VI und B VII) sowie den entsprechenden Leistungen aus den
Abschnitten B IX und B X EBM in der jeweils gültigen Fassung besteht. Die Entfernung der retinierten und verlagerten
Weisheitszähne ist als Katalogleistung nach § 3 des Vertrags vom 22. 03.1993 unter der Nr. 3010 der im EBM
aufgeführten Leistungen erfasst; nach der Neufassung des Vertrags (DÄ 2003, Beilage zu Heft 37) stellt diese Leistung auf Grund
gesonderter Kennzeichnung eine "in der Regel" ambulant durchzuführende Operation dar.
23 Der Aufenthalt des Versicherten im Krankenhaus zur Durchführung einer Operation bedeutet danach im
Unterschied zu früheren Zeiten noch keine vollstationäre Behandlung; hinzukommen müssen weitere Erfordernisse, die
eine solche Behandlung von einer ambulanten oder jedenfalls teilstationären Behandlung abgrenzen.
24 Dazu ist die Durchführung einer sog Vollnarkose aber ebenso wenig ausreichend wie die postoperative Lagerung
des Patienten in einem Ruhebett. Denn die ambulant durchführbaren Operationen umfassen ein breites Spektrum von
Eingriffen, das von einfachen Operationen unter örtlicher Betäubung bis hin zu aufwändigen, mehrstündigen operativen
Eingriffen reicht, die unter Vollnarkose durchgeführt werden (Busch, KrV 1996, 251). Ebenso wenig begründet die mehrstündige,
intensive postoperative Überwachung schon eine stationäre Behandlung. In Erfahrungsberichten aus der Praxis über
das ambulante Operieren wird mitgeteilt, dass die Patienten ein Tagesbett zugewiesen bekommen und nach der
jeweiligen Operation im Aufwach- bzw. Ruheraum eine medizinische und pflegerische Betreuung bis zur Entlassung
erhalten (Breese, KH 1994, 205, 207; vgl auch Asmuth/Blum, KH 1996, 403 ff). In der Regel weile der Patient weniger als vier Stunden, allerdings
auch nicht länger als acht bis zehn Stunden im Krankenhaus, wobei sich Art und Umfang der ärztlichen Tätigkeit im
Vergleich zur stationären Leistungserbringung nicht wesentlich unterschieden (Asmuth/Blum, KH 1996, 403, 406). Oft werden unter
der Behandlungsform "ambulantes Operieren" alle operativen Eingriffe verstanden, bei denen der Patient sowohl die
Nacht vor als auch - bei planmäßigem Verlauf - die Nacht nach dem Eingriff im eigenen Bett, also nicht im
Krankenhaus verbringt (Schreiber/Schriefers, DÄ 1993, C1086; Grünenwald, WzS 1994, 78, 81; Zastrow/Schöneberg, Bundesgesundheitsblatt 1994, 199, 200; Ulsenheimer in
Eichhorn/Schmidt Rettig Thöns, Krankenhausmanagement im Werte- und Strukturwandel, 1995, S 118; Kern, NJW 1996, 1561; DegenerHencke in: Maaßen/Schermer/Wiegand/Zipperer, Gesetzliche
Krankenversicherung, § 115b SGB V RdNr 3; Tuschen/Quaas, BPflV, 4. Aufl 1998, § 1 BPflV Erl zu Abs 1; Limpinsel in Jahn, SGB V, § 115b RdNr 4; Gnutzmann in Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft
Medizinrecht im DAV, 3. Bd 2001, S 89, 90; Jahn, ebenda, S 99, 100; eine entsprechende Erläuterung enthält auch die Richtlinie der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung ambulanter Operationen vom
. Von daher entspricht vorliegend
die Krankenhausbehandlung der Versicherten angesichts des operativen Eingriffs im Rahmen eines an einem Tag auf
13. 04.1994, abgedruckt im Anhang zum Beitrag von Jahn in der Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht im DAV, 3. Bd 2001, S 108 ff)
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den Zeitraum von 7.00 bis 17.00 Uhr beschränkten Krankenhausaufenthalts entgegen der Auffassung des Klägers
geradezu dem typischen Erscheinungsbild ambulanter Operationen.
25 Auch die Tatsache, dass die Versicherte vor der Behandlung einen Krankenhausaufnahmevertrag (durch ihren gesetzlichen
Vertreter) unterschrieben hat und nach der Operation auf der "Station" ein Bett in Anspruch genommen hat, ist nicht
geeignet, eine stationäre Behandlung zu begründen. Zur Abgrenzung zwischen stationärer und ambulanter
Krankenhausbehandlung ist das vielfach herangezogene Kriterium der "Aufnahme" in das Krankenhaus nicht geeignet.
Der Gesetzgeber hat allerdings dieses Kriterium in der amtlichen Begründung zum GSG zur Abgrenzung von
teilstationärer und ambulanter Behandlung herangezogen und als die "physische und organisatorische Eingliederung
des Patienten in das spezifische Versorgungssystem des Krankenhauses" definiert (BTDrucks 12/3608, S 82 zu § 39 SGB V). Unter
Übernahme dieser Beschreibung wird in Rechtsprechung und Literatur überwiegend die Auffassung vertreten, das
Merkmal der Aufnahme sei generell für die Abgrenzung der (voll- und teil)
stationären von der ambulanten Krankenhausbehandlung maßgeblich (vgl BSG SozR 32200 § 197 Nr. 2; Grünenwald, WzS 1994, 78, 81; Noftz in
Hauck/Noftz, SGB V, § 39 RdNr 46, 48). Auch § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V verwendet im Hinblick auf den Anspruch der Versicherten auf
vollstationäre Krankenhausbehandlung den Begriff der Aufnahme. Damit ist aber noch nicht geklärt, wann eine
Aufnahme im Sinne einer "physischen und organisatorischen Eingliederung des Patienten in das spezifische
Versorgungssystem des Krankenhauses" konkret zu bejahen ist.
26 In Betracht kommen könnte insoweit zB die (geplante oder tatsächliche) Dauer des Krankenhausaufenthalts oder das Vorliegen
eines "Aufnahmevertrags". Mitunter wird auch nach dem Ausmaß der Integration in das Krankenhaus differenziert,
insbesondere danach, ob der Versicherte im Krankenhaus untergebracht und verpflegt wird, da Unterkunft und
Verpflegung vom Grundsatz her allein bei stationärer, nicht dagegen bei ambulanter Behandlung gewährt werden (BSG
SozR 32200 § 197 Nr. 2; Höfler in Kasseler Kommentar, § 39 SGB V RdNr 3, 19; Zipperer, in Maaßen/Schermer/Wiegand/Zipperer, Gesetzliche Krankenversicherung, § 39 SGB V RdNr 13). Damit ist
aber noch nicht geklärt, wann eine "Unterkunft" vorliegt, insbesondere ob dazu nicht auch ein Aufenthalt von einigen
Stunden ausreicht. In der Praxis wird vielfach beim ambulanten Operieren zudem auch Verpflegung bereit gestellt,
soweit die Patienten dies wünschen und zur Nahrungsaufnahme in der Lage sind (vgl Koch/Scholta/Busse, KH 1996, 409, 412).
Andererseits wiederum werden teilstationäre Leistungen als stationäre Leistungen "ohne Hotel- und
Unterkunftsleistungen" definiert, die lediglich auf Grund der benötigten medizinischorganisatorischen Infrastruktur nicht
im niedergelassenen ambulanten Bereich erbracht werden könnten (so Breu/Neubauer, KH 1999, 144). Das Kriterium der "Aufnahme"
oder "Integration" in den Krankenhausbetrieb ist unter diesen Umständen nicht handhabbar. Das Unterschreiben eines
"Aufnahmevertrags" kann schon deshalb kein geeignetes Kriterium sein, weil es sonst der Versicherte in der Hand
hätte, allein dadurch die Leistungsverpflichtung der KK zu bestimmen, ohne dass sich an der Leistung selbst etwas
ändert. Schließlich kann auch die Inanspruchnahme eines Bettes auf der "Station" unter dem Gesichtspunkt einer
leistungsgerechten Vergütung kein entscheidender Umstand sein, weil sonst Krankenhäuser, die für ambulante
Operationen sog tagesklinische Betten eingerichtet haben, gegenüber solchen Krankenhäusern, die nur Stationsbetten
vorhalten, benachteiligt würden, weil sie bei gleichem Kostenaufwand nur eine geringere Vergütung als ambulante
Leistung erhielten.
27 c) Eine Abgrenzungsschwierigkeiten weitestgehend vermeidende Definition von vollstationärer, teilstationärer und
ambulanter Krankenhausbehandlung kann nur vom Merkmal der geplanten Aufenthaltsdauer ausgehen. Insofern hat
das LSG im Ansatz zutreffend dargelegt, eine physische und organisatorische Eingliederung in das spezifische
Versorgungssystem des Krankenhauses sei augenfällig gegeben, wenn sie sich zeitlich über mindestens einen Tag
und eine Nacht erstrecke. Damit ist die vollstationäre Behandlung erfasst. Es besteht auch weit gehende Einigkeit in
der Literatur, dass der Patient bei der vollstationären Versorgung zeitlich ununterbrochen - also Tag und Nacht - im
Krankenhaus untergebracht ist (Grünenwald, WzS 1994, 78, 79; Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, § 39 RdNr 46; Schmidt in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 39 SGB V RdNr
130; Tuschen/Quaas, BPflV, 4. Aufl 1998, § 1 BPflV Erl zu Abs 1; Vreden, KH 1998, 333, 334; Schomburg, SVFAng 2001, Nr. 126, 25, 28). Ein Eingriff findet demgemäß nur
"ambulant" iS des § 115b SBG V statt, wenn der Patient die Nacht vor und die Nacht nach dem Eingriff nicht im
Krankenhaus verbringt.
28 Ist das der Fall, liegt auch keine teilstationäre Behandlung vor. Bei der teilstationären Behandlung ist die
Inanspruchnahme des Krankenhauses zwar ebenfalls zeitlich beschränkt. Diese Form der stationären Behandlung
erfolgt insbesondere bei Unterbringung der Patienten in Tages- und Nachtkliniken (Grünenwald, WzS 1994, 78, 79; Schmidt in Peters, aaO, § 39
SGB V RdNr 133; Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, § 39 RdNr 49; Vreden, KH 1998, 333, 334; Schomburg, SVFAng 2001, Nr. 126, 25, 28). Bedeutsam ist die teilstationäre
Versorgung vor allem auf dem Gebiet der Psychiatrie, sie findet aber auch bei somatischen Erkrankungen, bei
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krankhaften Schlafstörungen (Schlafapnoe) oder im Bereich der Geriatrie statt (Grünenwald, WzS 1994, 78, 80; Schmidt in Peters, Handbuch der
Krankenversicherung, § 39 SGB V RdNr 134, Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, § 39 RdNr 50). Kennzeichnend ist hier eine zeitliche Beschränkung auf die
Behandlung tagsüber, bei der die Nacht zu Hause verbracht wird (Tageskliniken), oder auf die Behandlung abends und
nachts, bei der der Patient sich tagsüber in seinem normalen Umfeld bewegt (Nachtkliniken). Aus der zeitlichen
Beschränkung und den praktischen Anwendungsbereichen wird erkennbar, dass die teilstationäre Behandlung zwar
keine "RundumdieUhrVersorgung" der Patienten darstellt, sich die Behandlung aber auch nicht im Wesentlichen im
Rahmen eines Tagesaufenthalts im Krankenhaus erschöpft. Vielmehr erstrecken sich teilstationäre
Krankenhausbehandlungen auf Grund der im Vordergrund stehenden Krankheitsbilder regelmäßig über einen längeren
Zeitraum, wobei allerdings die medizinischorganisatorische Infrastruktur eines Krankenhauses benötigt wird, ohne dass
eine ununterbrochene Anwesenheit des Patienten im Krankenhaus notwendig ist (ähnlich Schomburg, SVFAng 2001, Nr. 126, 25, 28). Einen
Sonderfall stellen Behandlungen dar, die in der Regel nicht täglich, wohl aber in mehr oder weniger kurzen Intervallen
erfolgen, wie es zB bei vielen Dialysepatienten der Fall ist, die zwar nicht jeden Tag, aber mehrmals in der Woche für
einige Stunden im Krankenhaus versorgt werden. Eine derartige Form der Behandlung stellt einen Grenzfall zwischen
teilstationärer und ambulanter Krankenhausbehandlung dar (Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, § 39 RdNr 48), der in der Praxis nicht selten als
teilstationär eingestuft wird (so auch noch der zum 1. 01.2004 gestrichene § 14 Abs 2 Satz 4 BPflV), nach vorstehender Definition aber zur
ambulanten Behandlung zu zählen sein dürfte (so tendenziell bereits BSGE 47, 285, 286 = SozR 2200 § 185b Nr. 6; vgl nunmehr auch § 2 Abs 2 Satz 3 BPflV in seiner zum
1. 01.2004 durch das Gesetz vom 23. 04.2002, BGBl I 1412 geänderten Fassung).
29 d) Die Entscheidung zum Verbleib des Patienten über Nacht wird in der Regel zu Beginn der Behandlung vom
Krankenhausarzt getroffen, kann aber im Einzelfall auch noch später erfolgen. Geht es zB um Fälle, in denen der
operative Eingriff zwar nach den Regeln der Heilkunst ambulant vorgenommen werden darf, und wird er auch so
geplant und durchgeführt, ist eine Entlassung des Patienten nach Hause noch am gleichen Tage nach der üblichen
Ruhephase ausnahmsweise aber nicht möglich, weil wegen einer Komplikation im nachoperativen Verlauf eine
ständige Beobachtung und weitere Behandlung über die Nacht hinweg angezeigt erscheint, liegt nunmehr eine einheitliche - vollstationäre Krankenhausbehandlung vor. Dementsprechend gehen die Vertragsparteien ausweislich §
6 Abs 1 Satz 2 des Vertrags nach § 115b SGB V vom 22. 03.1993 (bzw. § 7 Abs 2 des ab
zutreffend davon aus, dass die Vergütung der im Katalog aufgeführten Leistungen dann nach dem
KHG bzw. der BPflV erfolgt, wenn der Patient an demselben Tag in unmittelbarem Zusammenhang mit einer
ambulanten Operation "stationär aufgenommen" wird. 30 Auf der anderen Seite liegt eine stationäre Behandlung auch
dann vor, wenn der Patient nach Durchführung eines Eingriffs oder einer sonstigen Behandlungsmaßnahme über
Nacht verbleiben sollte, aber gegen ärztlichen Rat auf eigenes Betreiben das Krankenhaus noch am selben Tag
wiederverlässt (Beispiel eines sog "Stundenfalls"); dann handelt es sich um eine "abgebrochene" stationäre Behandlung.
1. 01.2004 gültigen Vertrags)
31 Nach den nicht angegriffenen und für den Senat daher bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG liegen im
vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte für eine solche "abgebrochene" stationäre Behandlung vor.
32 e) Dem Kläger stand auch keine vertragliche Vergütung für die Durchführung der Behandlung als ambulante
Operation nach § 115b SGB V zu, obwohl diese Leistung - ordnungsgemäß - erbracht worden ist. Denn der Kläger hat
die zur Wirksamkeit der ergänzenden Zulassung zum ambulanten Operieren im Krankenhaus nach § 115b Abs 2 Satz
2 SGB V erforderliche Mitteilung über die Teilnahme an diesem Programm nicht abgegeben, sodass die Zulassung
nicht wirksam geworden ist. Das Krankenhaus war daher zur Erbringung der Behandlung in dieser Form zu Lasten der
Beklagten nicht befugt.
33 f) Allerdings stand dem Kläger ein Bereicherungsanspruch entsprechend § 812 Abs 1 Satz 1, 1. Alternative
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zu. In der Höhe belief sich dieser Anspruch - ebenso wie der entsprechende
Vergütungsanspruch nach § 115b SGB V - auf 339,16 EUR, weil die Beklagte im Falle der Leistungserbringung durch
ein nach § 115b SGB V zugelassenes Krankenhaus diesen Betrag hätte aufbringen müssen (vgl § 818 Abs 2 BGB). Den
Bereicherungsanspruch hat die Beklagte im Revisionsverfahren in dieser Höhe anerkannt. Ein weiterer
Zahlungsanspruch steht dem Kläger nicht zu.
34 4. Der anerkannte Zahlungsanspruch über 339,16 EUR ist ab 24. 02.2001 in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen. 35 Der in den Rechtszügen wechselnd formulierte Klageantrag zum
Zinsanspruch ist auszulegen als Anspruch auf Zahlung von Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen
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Basiszinssatz ab 14 Tage nach Rechnungsdatum (Vertragszinsen), hilfsweise ab Rechtshängigkeit (Prozesszinsen). Nur der
Hilfsantrag ist begründet.
36 Ein vertraglicher Zinsanspruch steht dem Kläger mangels vertraglichen Vergütungsanspruchs nicht zu. Der in Höhe
von 339,16 EUR begründete, anerkannte Bereicherungsanspruch ist jedoch mit 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen
Basiszinssatz ab 24. 02.2001 unter dem Gesichtspunkt eines Prozesszinsenanspruchs zu verzinsen (§ 291 BGB). Zwar hat
das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass in den in die Zuständigkeit der
Sozialgerichtsbarkeit fallenden Rechtsgebieten für Verzugs- und Prozesszinsen grundsätzlich kein Raum ist. Eine
Ausnahme gilt jedoch für jene Zahlungsansprüche, bei denen das Gesetz eine Zinszahlung ausdrücklich anordnet (BSGE
71, 72, 74 = SozR 37610 § 291 Nr. 1) oder bereichsspezifische Besonderheiten zu beachten sind (BSGE 64, 225, 230 = SozR 7610 § 291 Nr. 2 zu
soldatenrechtlichen Ausgleichsansprüchen). Das ist auch hier der Fall.
37 Es gibt keinen Grund, den Anspruch auf Prozesszinsen (§ 291 BGB) hinsichtlich des Bereicherungsanspruchs eines
Leistungserbringers gegenüber einer KK zu versagen, wenn im entsprechenden vertraglichen Bereich ein Anspruch auf
Verzugszinsen vorgesehen ist. Das ist für die Vergütung von stationären Leistungen seit jeher der Fall (vgl die Pflicht zur Regelung
von Verzugszinsansprüchen bei verspäteter Zahlung in den Pflegesatzvereinbarungen gemäß § 17 Abs 1 Satz 3 BPflV). Der Bereich des ambulanten Operierens stellt
insofern lediglich eine Ergänzung des traditionellen Aufgabenkatalogs der Krankenhäuser dar, sodass auch hierfür ein
Anspruch auf Verzugszinsen bei verspäteter Zahlung zuzubilligen ist, solange die Verträge nach § 115b SGB V einen
solchen nicht ausschließen, wie es bis heute der Fall ist. Die zivilrechtliche Regelung des § 291 BGB ist hier
entsprechend heranzuziehen, weil es an sozialrechtlichen Sonderregelungen, die der Anwendbarkeit entgegenstehen
würden, fehlt (BSGE 64, 225, 233 = SozR 7610 § 291 Nr. 2; BVerwGE 54, 285, 290). Insbesondere gilt die - auf Sozialleistungsansprüche
zugeschnittene - Verzinsungsregelung des § 44 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) im Bereich der Entgeltansprüche
von Leistungserbringern nicht (BSGE 71, 72, 75 = SozR 37610 § 291 Nr. 1; Mrozynski, SGB I, 3. Aufl 2003, § 44 RdNr 2 mwN).
38 Der Anspruch auf Prozesszinsen steht dem Kläger ab 24. 02.2001 zu, weil an diesem Tag die Klage beim SG
eingegangen und daher die sozialgerichtliche Rechtshängigkeit nach § 94 SGG eingetreten ist. Für den Eintritt der
Rechtshängigkeit sind § 253 Abs 1 und § 261 Abs 1 Zivilprozessordnung (ZPO), wonach die Rechtshängigkeit einer
zivilrechtlichen Klage erst mit der Zustellung der Klageschrift an den Beklagten eintritt, nicht einschlägig (BSGE 64, 225, 230 =
SozR 7610 § 291 Nr. 2).
39 Der Bereicherungsanspruch war jedenfalls am 24. 02.2001 fällig. Er ist bereits mit Abschluss der
Krankenhausbehandlung am 14. 10.1998 fällig geworden. Die nach § 303 Abs 3 Satz 1 SGB V iVm § 301 Abs 1 SGB
Verforderliche Erstellung und Übermittlung einer den Erfordernissen des § 301 SGB V entsprechenden Abrechnung
einer von § 115b SGB V erfassten Krankenhausbehandlung (§ 301 Abs 1 Satz 1 Nr. 9 SGB V), die vom Kläger entsprechend seiner
Behauptung einer stationären Behandlung nicht erteilt worden ist, führt nur die Fälligkeit eines vertraglichen
Vergütungsanspruchs herbei, ist aber für einen entsprechenden Bereicherungsanspruch nicht erforderlich. Diese
Forderung wird mit ihrem Entstehen nach Abschluss der rechtsgrundlosen Leistungserbringung auch fällig (§ 271 BGB).
40 Die Höhe des Zinsanspruchs ergibt sich aus § 291 BGB iVm § 288 Abs 1 BGB in der hier anwendbaren Fassung
des Gesetzes zur Beschleunigung fälliger Zahlungen vom 30. 03.2000 (BGBl I 330). Die Vorschrift ist insoweit
inhaltsgleich mit § 288 Abs 1 BGB in der ab 1. 01.2002 geltenden Fassung des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes
(SMG) vom 26. 11.2001 (BGBl I 3138).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 SGG in der hier noch anzuwendenden, bis zum 1. 01.2002
geltenden Fassung iVm § 116 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO). Der Senat hat bei seiner Entscheidung,
die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen gegeneinander aufzuheben (vgl § 92 Abs 1 ZPO), berücksichtigt, dass der
Kläger betragsmäßig zwar zu rund 60 vH in der Hauptsache obsiegt hat, der Schwerpunkt der rechtlichen
Auseinandersetzung aber bei dem als unbegründet erkannten vertraglichen Vergütungsanspruch gelegen hat.
BGH VI ZR 203/02 vom 15.07.2003
Thöns
Für die Prüfung der Voraussetzungen einer medizinischen Indikation im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB für
einen rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch macht die "nach ärztlicher Erkenntnis" gebotene Prognose
regelmäßig die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich. Der Patient obsiegte.
BGB § 249 A; StGB § 218a Abs. 2
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BGH, Urteil vom 15. 07.2003 VI ZR 203/02 KG Berlin LG Berlin
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 15. 07.2003 durch die Vorsitzende
Richterin Dr. Müller und die Richter Wellner, Pauge, Stöhr und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Kammergerichts vom 18. 03.2002 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das
Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin ist die Mutter einer am 10. 09.1997 mit einer schweren Fehlbildung einer offenen Wirbelsäule (Spina bifida) im
lumbosacralen Bereich geborenen Tochter. Sie nimmt den beklagten Arzt auf Schmerzensgeld sowie auf Unterhalt für
ihre Tochter mit der Begründung in Anspruch, dieser habe bei den von ihm seit dem 6. 05.1997 ab der 19.
Schwangerschaftswoche durchgeführten Sonographien pflichtwidrig die Fehlbildung des Kindes nicht erkannt, weshalb
eine Abtreibung unterblieben sei. Diese wäre gerechtfertigt gewesen, um die Gefahr einer schwerwiegenden
Beeinträchtigung insbesondere des seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren wegen
behandlungsbedürftiger Depressionen abzuwenden. Das Landgericht hat der Klage unter Klageabweisung im Übrigen
teilweise stattgegeben und den Beklagten zur Zahlung von Schmerzensgeld, Unterhaltsbedarf und Betreuungsaufwand
verurteilt sowie festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet sei, der Klägerin sämtlichen zukünftigen Unterhaltsaufwand
infolge der Geburt ihrer Tochter zu ersetzen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Kammergericht die Klage unter
teilweiser Abänderung des landgerichtlichen Urteils vollständig abgewiesen und die Anschlussberufung der Klägerin
zurückgewiesen. Mit ihrer zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, ein Anspruch der Klägerin auf Schmerzensgeld sei nicht begründet, da die
insoweit darlegungspflichtige Klägerin nicht hinreichend vorgetragen habe, dass nach der geltenden Fassung des §
218a StGB ein Schwangerschaftsabbruch rechtmäßig gewesen wäre. Da der Gesetzgeber bei der Neuregelung der
Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs die embryopathische Indikation aus dem Gesetz gestrichen habe, hätte
die Klägerin einen Schwangerschaftsabbruch lediglich aus medizinischen Gründen zum Schutz der Mutter gemäß §
218a Abs. 2 StGB rechtmäßig vornehmen lassen können. Die Darlegung der Klägerin lasse jedoch eine Beurteilung,
ob die damals zu befürchtenden Depressionen und die jetzt eingetretenen Folgen, die zumindest indiziell zu
berücksichtigen seien, eine hinreichend schwerwiegende Gefahr für ihre Gesundheit bedeutet hätten bzw. bedeuteten,
nicht zu. Die Unzumutbarkeit der Schwangerschaft bzw. die Voraussetzungen für einen die Opfergrenze für die
Schwangere überschreitenden Ausnahmetatbestand seien damit nicht hinreichend dargelegt. Das Ausmaß sowie die
Behandlung der Depressionen seien nicht näher ausgeführt worden. Bei der Abwägung der Rechtsgüter, also
einerseits der Gesundheit der Mutter und andererseits des Lebens des Kindes, sei sicherlich auch maßgebend, ob und
in welchem Umfang die Beeinträchtigungen der Gesundheit der Mutter mit Erfolg behandelbar seien. Hinsichtlich der
konkreten sekundären Folgen gebe es auch im Arzthaftungsprozeß keine Erleichterungen für die Darlegungslast der
Patientin. Hier fehle es nicht nur an einer nachvollziehbaren medizinischen Einordnung. Auch die Darlegung zur
psychotherapeutischen Behandlung ohne näheren Vortrag zur Art, Umfang und Erfolg der Behandlung genügten nicht
und seien selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass in diesem Bereich eine Offenlegung durch den
Behandelnden gegenüber der Patientin nur im begrenzten Maß vertretbar sein mögen zu pauschal erfolgt. Ein
Anspruch auf Ersatz des entstandenen und entstehenden Unterhaltsaufwandes für ihr behindertes Kind stehe der
Klägerin schon dem Grunde nach nicht zu. Schutzzweck des Behandlungsvertrages bei der medizinischen Indikation
sei auch bei erkennbarer Behinderung des ungeborenen Kindes ausschließlich die Gesundheit der Mutter. Der
wirtschaftliche Aspekt der Unterhaltsbelastung für das behinderte Kind sei bei der medizinischen Indikation nicht
ansatzweise als Reflex des Behandlungsvertrages ableitbar.
II. Das Urteil des Berufungsgerichts hält den Angriffen der Revision nicht stand.
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 215
1. Die Erwägungen des Berufungsgerichts zum Schutzzweck des Behandlungsvertrages bei der medizinischen
Indikation im Sinne des § 218a 5Abs. 2 StGB stehen nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden
Senats. Der Senat hat in seinem Urteil vom 18. 06.2002 VI ZR 136/01 (VersR 2002, 1148, demnächst BGHZ 151, 133 ff.), welches das
Berufungsgericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung freilich noch nicht kennen konnte, entschieden, dass das auf
einem ärztlichen Behandlungsfehler beruhende Unterbleiben eines nach den Grundsätzen der medizinischen Indikation
gemäß § 218a Abs. 2 StGB rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruchs die Pflicht des Arztes auslösen kann, den Eltern
den Unterhaltsaufwand für ein Kind zu ersetzen, das mit schweren Behinderungen zur Welt kommt. Nach den
Feststellungen des Berufungsgerichts diente im vorliegenden Fall die vom Beklagten durchgeführte Feinsonographie
der Suche nach Fehlbildungen; die Klägerin hatte ihn zu diesem Zweck aufgesucht. Die vom Beklagten nach dem
ärztlichen Standard durchzuführende Diagnostik sollte demnach die Klägerin in die Lage versetzen, das ihr vom
Gesetzgeber zugebilligte Recht auszuüben, sich für einen rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden,
wenn nach Feststellung einer schweren Fehlbildung des Kindes der Abbruch der Schwangerschaft unter
Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis
angezeigt gewesen wäre, um eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres
körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere, für sie
zumutbare Weise hätte abgewendet werden können. Drohen die schwerwiegenden Gefahren für die Mutter, die zur
Erfüllung der Voraussetzungen der Indikation des § 218a Abs. 2 StGB führen, gerade auch für die Zeit nach der Geburt
und ist demgemäß der vertragliche Schutzzweck auch auf die Vermeidung dieser Gefahren durch das "Haben" des
Kindes gerichtet, so erstreckt sich die aus der Vertragsverletzung resultierende Ersatzpflicht auch auf den Ausgleich
der durch die Unterhaltsbelastung verursachten vermögensrechtlichen Schadenspositionen. Eine dahingehende
Bestimmung des vertraglichen Schutzumfanges, die bei derartigen Sachverhalten unter Geltung der früheren
"embryopathischen Indikation" in der Rechtsprechung anerkannt war (vgl. z.B. Senatsurteil BGHZ 86, 240, 247; Senatsurteile vom 4. 03.1997 VI ZR 354/95
VersR 1997, 698, 699 und vom 4. 12.2001 VI ZR 213/00 VersR 2002, 233, 234), nunmehr auch für entsprechende Fallgestaltungen im Rahmen der nach
der geltenden Rechtslage maßgeblichen medizinischen Indikation entspricht der gesetzgeberischen Lösung, die bisher
von § 218a Abs. 3 StGB a.F. erfaßten Fallkonstellationen jetzt in die Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB
einzubeziehen (vgl. Senatsurteil vom 18. 06.2002 VI ZR 136/01 aaO; zustimmend Deutsch, NJW 2003, 26, 28). 2. Eine auf der hier revisionsrechtlich zu
unterstellenden Verletzung des Behandlungsvertrages beruhende Vereitelung eines möglichen
Schwangerschaftsabbruchs kann allerdings wovon das Berufungsgericht mit Recht ausgegangen ist nur dann Ansatz
dafür sein, die Eltern im Rahmen eines vertraglichen Schadensersatzanspruchs gegen den Arzt auf der
vermögensmäßigen Ebene von der Unterhaltsbelastung für das Kind freizustellen und der Klägerin ein
Schmerzensgeld zuzuerkennen, wenn der Abbruch rechtmäßig gewesen wäre, also der Rechtsordnung entsprochen
hätte und von ihr nicht mißbilligt worden wäre (st. Rspr.: vgl. insbesondere BGHZ 129, 178, 185 = VersR 1995, 964, 966; Senatsurteile vom 4. 12.2001 VI ZR 213/00 aaO;
vom 19. 02.2002 VI ZR 190/01 VersR 2002, 767, 768 und vom 18. 06.2002 VI ZR 136/01 aaO, S. 1149). Aufgrund der gesetzlichen Neufassung des § 218a Abs. 2
StGB in der Fassung des Schwangerenund Familienhilfeänderungsgesetzes vom 21. 08.1995 (BGBl. I 1050) ist der mit
Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch dann nicht rechtswidrig,
wenn er unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach
ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder das Risiko einer schwerwiegenden
Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden und die
Gefahr nicht auf andere, für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. Bei Fallgestaltungen, die nach der
früheren rechtlichen Regelung der "embryopathischen Indikation" unterfielen, ist nunmehr im Rahmen des § 218a Abs.
2 StGB zu prüfen, ob sich für die Mutter aus der Geburt des schwerbehinderten Kindes und der hieraus resultierenden
besonderen Lebenssituation Belastungen ergeben, die sie in ihrer Konstitution überfordern und die Gefahr einer
schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres insbesondere auch seelischen Gesundheitszustandes als so bedrohend
erscheinen lassen, dass bei der gebotenen Güterabwägung das Lebensrecht des Ungeborenen dahinter
zurückzutreten hat (vgl. Senatsurteil vom 18. 06.2002 VI ZR 136/01 aaO, S. 1150). Das Berufungsgericht ist zwar hiervon im rechtlichen
Ansatzpunkt zutreffend ausgegangen, hat jedoch bei seiner Beurteilung die Anforderungen an die Darlegungslast der
Klägerin überspannt und in diesem Zusammenhang wie die Revision mit Recht geltend macht erheblichen Sachvortrag
und Beweisangebote der Klägerin übergangen.
3. Zwar muss die Mutter im Schadensersatzprozeß grundsätzlich nach allgemeinen Grundsätzen darlegen und
gegebenenfalls beweisen, dass die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch wegen
medizinischer Indikation bei fehlerfreier Diagnose des untersuchenden Arztes vorgelegen hätten. Bei den
Anforderungen an die Darlegungslast sind jedoch auch die gerade durch den hier revisionsrechtlich zu unterstellenden
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Behandlungsfehler verursachten Schwierigkeiten zu berücksichtigen, welche die Darlegung der Voraussetzungen einer
nachträglichen, auf den Zeitpunkt des denkbaren Abbruchs der Schwangerschaft bezogenen Prognose bereitet. Durch
das Vorenthalten der richtigen Diagnose über die voraussichtliche schwere Behinderung ihres Kindes ist die Klägerin
nämlich gar nicht in die Lage versetzt worden, diese Mitteilung im maßgeblichen Zeitpunkt, in dem sie sich noch für
einen Schwangerschaftsabbruch hätte entscheiden können, auf sich wirken zu lassen. Deshalb können aus der
tatsächlichen späteren Entwicklung nur mittelbar Rückschlüsse darauf gezogen werden, wie diese Diagnose sich auf
ihren Gesundheitszustand ausgewirkt hätte. Hinzu kommt, dass auch allgemein an die Substantiierungspflichten der
Parteien im Arzthaftungsprozeß maßvolle und verständige Anforderungen zu stellen sind, weil vom Patienten
regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann (vgl. Senatsurteil vom 19.
05.1981 VI ZR 220/79 VersR 1981, 752). Entsprechende Fragen sind, wie dies im Arzthaftungsprozeß ganz allgemein zu fordern ist,
grundsätzlich nicht ohne sachverständige Beratung zu entscheiden (vgl. Senatsurteil, BGHZ 98, 368, 373). Dies gilt umso mehr für die
Prüfung der Voraussetzungen einer medizinischen Indikation im Sinne des § 218a Abs. 2 StGB, bei der die "nach
ärztlicher Erkenntnis" gebotene Prognose schon im Hinblick auf den Gesetzeswortlaut regelmäßig die Einholung eines
Sachverständigengutachtens erforderlich macht (vgl. Müller, NJW 2003, 697, 703).
Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht im vorliegenden Fall nicht beachtet. Die Klägerin hat nicht nur vorgetragen,
dass sie unter schweren Depressionen leide, sondern hat dies auch in das Zeugnis der behandelnden Psychologin
gestellt. Eine medizinische Einordnung ihrer psychischen Störungen konnte von ihr entgegen der Auffassung des
Berufungsgerichts aus den dargelegten Gründen ebensowenig verlangt werden wie Vortrag zu Art, Umfang und
Erfolgsaussicht der Behandlung. Daneben hat die Klägerin auch körperliche Beeinträchtigungen geltend gemacht,
insbesondere einen Bruch von zwei Wirbeln im Jahr 1994, aufgrund dessen sie keine schweren Lasten tragen dürfe.
Dass durch das ständige Tragen des schwerbehinderten Kindes bereits eine Verschlechterung eingetreten sei und eine
Operation erforderlich werde, hat sie unter Beweis durch ein orthopädisches Sachverständigengutachten gestellt.
4. Das Berufungsgericht wird dem entsprechenden Vortrag der Klägerin nachzugehen haben, um sich nach Einholung
sachkundigen Rates die erforderliche tatrichterliche Überzeugung davon zu verschaffen, ob die gesundheitlichen
Beeinträchtigungen der Klägerin bei rückwirkender Betrachtung für eine medizinische Indikation ausgereicht hätten.
Müller Wellner Pauge Stöhr Zoll
BGH VI ZR 304/02 vom 08.07.2003
Thöns
Zu den Voraussetzungen eines Diagnosefehlers (im Anschluss an Senatsurteile vom 30. 05.1958 – VI ZR 139/57 – VersR 1958, 545, vom 14. 07.1981 VI ZR
35/79 – VersR 1981, 1033, 1034 und vom 14. 06.1994 – VI ZR 236/93 – AHRS 1815/102).
BGB§ 823 Ac
BGH, Urteil vom 8. 07.2003 VI ZR 304/02 OLG Koblenz LG Koblenz Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf
die mündliche Verhandlung vom 8. 07.2003 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller, den Richter Dr. Greiner, die
Richterin Diederichsen und die Richter Pauge und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten zu 1 wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 19.
07.2002 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als es zum Nachteil der Beklagten zu 1 ergangen ist. Im Umfang
der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrte von der Beklagten zu 1 (künftig: die Beklagte) Schmerzensgeld und die Feststellung ihrer Ersatzpflicht für
sämtliche gegenwärtigen und zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden, die ihm anlässlich der ärztlichen
Behandlung vom 26. 11.1995 im Krankenhaus der Beklagten entstanden sind und entstehen werden.
Der Kläger wurde nach einem Sturz am 26. 11.1995 in der Unfallchirurgie des Krankenhauses stationär versorgt. Der
frühere Beklagte zu 3 erkannte einen Bruch des achten Brustwirbelkörpers nicht und nahm fälschlich eine Prellung an.
Nach der Entlassung des Klägers am 28. 11.1995 nahmen die Beschwerden nicht ab. Er begab sich deshalb erneut in
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ärztliche Behandlung. Dort wurde der Bruch des Brustwirbels erkannt und der Kläger daraufhin in einem anderen
Krankenhaus stationär vom 1. bis 7. 12.1995 behandelt.
Das Landgericht hat die Zahlungsklage wegen Verjährung abgewiesen; die Feststellungsklage sei unzulässig. Das
Oberlandesgericht hat dieses Urteil auf die Berufung des Klägers teilweise abgeändert und der Feststellungsklage
gegen die Beklagte hinsichtlich der Ersatzpflicht für materielle Schäden stattgegeben. Mit der vom erkennenden Senat
zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren auf Abweisung der Klage weiter.
Entscheidungsgründe:
I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, die Ansprüche aus
Behandlungsvertrag seien anders als deliktische Ansprüche des Klägers nicht verjährt. Für sie gelte nach § 195 BGB
a.F. eine Verjährungsfrist von dreißig Jahren. Die Beklagte habe den zwischen ihr und dem Kläger bestehenden
Behandlungsvertrag schuldhaft verletzt. Sie müsse sich das Verhalten des früheren Beklagten zu 3, eines angestellten
Oberarztes, nach § 278 BGB zurechnen lassen. Dieser habe fälschlich eine Prellung statt eines Wirbelkörperbruches
diagnostiziert. II. Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Allerdings hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei das Interesse des Klägers an einer alsbaldigen Feststellung der
Ersatzpflicht der Beklagten (§ 256 Abs. 1 ZPO) trotz der Möglichkeit einer Leistungsklage bejaht. Ein Kläger ist nicht gehalten,
seine Klage in eine Leistungsund eine Feststellungsklage aufzuspalten, wenn ein Teil des Schadens schon entstanden
ist und mit der Entstehung eines weiteren Schadens jedenfalls nach seinem Vortrag noch zu rechnen ist (vgl. Senatsurteil vom 28.
09.1999 VI ZR 195/98 VersR 1999, 1555, 1556; BGH, Urteile vom 4. 12.1986 III ZR 205/85 BGHRZPO § 256 Abs. 1 Feststellungsinteresse 2 und vom 7. 06.1988 IX ZR 278/87 BGHRZPO § 256 Abs. 1
. 2. Das Berufungsgericht geht auch im Ansatzpunkt zutreffend davon aus, dass dem Kläger aus dem
mit der Beklagten als Trägerin des Krankenhauses abgeschlossenen Behandlungsvertrag vertragliche Ansprüche
zustehen können, wenn die Beklagte oder deren Ärzte als ihre Erfüllungsgehilfen (§ 278 BGB) die geschuldete ärztliche
Behandlung in einer dem fachärztlichen Standard zuwiderlaufenden Weise, also fehlerhaft, erbracht haben. Es hat
zutreffend erkannt, dass die Ansprüche auf Ersatz materiellen Schadens hieraus erst in 30 Jahren verjährten (§ 195 BGB a.F.;
Art. 229 § 6 Abs. 4 EGBGB i.V.m. §§ 195, 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB). 3. Das Berufungsgericht hat jedoch verkannt, dass ein Behandlungsfehler nicht
immer schon dann anzunehmen ist, wenn ein Arzt zu einer objektiv unrichtigen Diagnose gelangt (unten a)). Es hat
infolgedessen verfahrensfehlerhaft den unter Beweis gestellten Vortrag der Beklagten außer acht gelassen 5(unten b)),
dass der Bruch des achten Brustwirbelkörpers nicht erkennbar gewesen sei. Dadurch hat es gegen Art. 103 Abs. 1 GG
verstoßen, wie die Revision mit Erfolg beanstandet.
Feststellungsinteresse 10)
a) Grundsätzlich ist zwar das Nichterkennen einer erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden
Symptome als Behandlungsfehler zu werten (vgl. Senatsurteile vom 30. 05.1958 VI ZR 139/57 VersR 1958, 545, 546, vom 14. 07.1981 VI ZR 35/79 VersR 1981, 1033, 1034
und vom 14. 06.1994 VI ZR 236/93 AHRS 1815/102). Irrtümer bei der Diagnosestellung, die in der Praxis nicht selten vorkommen, sind
jedoch oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes. Die Symptome einer Erkrankung sind nämlich
nicht immer eindeutig, sondern können auf die verschiedensten Ursachen hinweisen. Dies gilt auch unter
Berücksichtigung der vielfachen technischen Hilfsmittel, die zur Gewinnung von zutreffenden
Untersuchungsergebnissen einzusetzen sind (vgl. Senatsurteil vom 14. 07.1981 VI ZR 35/79 aaO). Auch kann jeder Patient wegen der
Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer
Ausprägung aufweisen. Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind,
können deshalb nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden (vgl. Senatsurteile vom 14. 07.1981 VI ZR 35/79 aaO; vom 14.
06.1994 VI ZR 236/93 – aaO).
Dieser Gesichtspunkt greift allerdings nicht, wenn Symptome vorliegen, die für eine bestimmte Erkrankung
kennzeichnend sind, vom Arzt aber nicht ausreichend berücksichtigt werden (vgl. Senatsurteil vom 30. 05.1958 VI ZR 137/57 aaO; OLG Saarbrücken
MedR 1999, 181, 182; Bischoff, Festschrift für Geiß, 2000, S. 345 ff.). Darum geht es hier nicht. Die Frage nach einem ärztlichen Fehlverhalten kann
sich jedoch auch stellen, wenn der behandelnde Arzt ohne vorwerfbare Fehlinterpretation von Befunden eine objektiv
unrichtige Diagnose stellt und diese darauf beruht, dass der Arzt eine notwendige Befunderhebung entweder vor der
Diagnosestellung oder zur erforderlichen Überprüfung der Diagnose unterlassen hat. Ein solcher Fehler in der
Befunderhebung kann zur Folge haben, dass der behandelnde Arzt oder der Klinikträger für eine daraus folgende
objektiv falsche Diagnose und für eine der tatsächlich vorhandenen Krankheit nicht gerecht werdende Behandlung und
deren Folgen einzustehen hat (vgl. zum Beispiel Senatsurteile BGHZ 138, 1, 5 ff. und vom 3. 11.1998 – VI ZR 253/97 – VersR 1999, 231, 232 – jeweils m.w.N.).
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 218
b) Nach diesen Grundsätzen durfte das Berufungsgericht einen Diagnosefehler des Beklagten zu 3 nicht schon
deshalb bejahen, weil seine Diagnose einer Prellung – wie zwischen den Parteien unstreitig ist – objektiv unrichtig war.
Feststellungen dazu, dass der tatsächlich vorliegende Bruch des Wirbelkörpers nach den erhobenen Befunden (etwa den
Röntgenaufnahmen) für die behandelnden Ärzte erkennbar war, fehlen ebenso wie Feststellungen dazu, dass die
Befunderhebung in der Klinik der Beklagten unzulänglich war. Die Revision weist mit Recht darauf hin, dass die
Beklagte den unter Sachverständigenbeweis gestellten Vortrag des Klägers über einen Behandlungsfehler bestritten
und ihrerseits unter Beweis gestellt hatte, die Diagnose einer Prellung sei eine in der gegebenen Situation vertretbare
Deutung der damals erhobenen Befunde gewesen; auch die Röntgenaufnahmen hätten keinen Hinweis auf eine frische
knöcherne Verletzung der Wirbelsäule ergeben. Dieser Vortrag war nach den oben zu a) dargelegten Grundsätzen
erheblich. Die Beklagte hatte damit ausreichend bestritten, dass die unstreitig objektiv unrichtige Diagnose
behandlungsfehlerhaft war.
Thöns
Diesem Vortrag hätte das Berufungsgericht nachgehen müssen. Insbesondere hat das Berufungsgericht trotz des
entscheidungserheblichen Vortrags der Beklagten keinen sachverständigen Rat dazu eingeholt, warum die Diagnose
nicht nur objektiv falsch, sondern behandlungsfehlerhaft gewesen sein soll.
4. Die Revision beanstandet ferner mit Erfolg, dass das Berufungsgericht erstinstanzlichen Vortrag der Beklagten
außer acht gelassen hat, mit dem diese eine Kausalität des objektiven Diagnoseirrtums bestritten und auf den sie in der
Berufungserwiderung in zulässiger Weise Bezug genommen hat. Grundsätzlich muss der Patient die Voraussetzungen
eines Behandlungsfehlers und dessen Ursächlichkeit für den geklagten Gesundheitsschaden darlegen und beweisen.
Dies gilt sowohl für den Vorwurf eines Diagnosefehlers als auch für den eines Fehlers in der Befunderhebung. Gelingt
dem Patienten zwar der Beweis eines Behandlungsfehlers in der Form eines Diagnosefehlers oder eines Fehlers in der
Befunderhebung, nicht aber der Nachweis der Ursächlichkeit dieses Fehlers für den geltend gemachten
Gesundheitsschaden, kommen ihm Beweiserleichterungen nur dann zu Hilfe, wenn der objektive Fehler der
Behandlungsseite entweder als grob zu werten ist (fundamentaler Diagnosefehler vgl. Senatsurteile BGHZ 132, 47 ff. und vom 14. 07.1981 VI ZR 35/79 – aaO), ein
grober Fehler in der Befunderhebung vorliegt (vgl. Senatsurteile BGHZ 138, 1, 5 ff. und vom 6. 07.1999 VI ZR 290/98 VersR 1999, 1282, 1284) oder wenn die
Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr wegen eines (lediglich einfachen) Fehlers bei der Befunderhebung oder der
Befundsicherung gegeben sind (vgl. dazu Senatsurteile BGHZ 132, 47, 52 ff.; vom 3. 11.1998 VI ZR 253/97 VersR 1999, 231, 232 und vom 6. 07.1999 VI ZR 290/98 – aaO 1283).
Das Berufungsurteil enthält keine Feststellungen dazu, dass sich die Verzögerung der richtigen Diagnosestellung und
die dadurch verzögerte Behandlung nachteilig auf die Gesundheit des Klägers ausgewirkt haben oder dass die
Voraussetzungen für eine Umkehr der Beweislast zugunsten des Klägers vorgelegen haben. Das war jedoch nicht
selbstverständlich und hätte näherer Ausführungen bedurft, die im Übrigen dem Berufungsgericht ohne
sachverständige Beratung nur bei Darlegung eigener Sachkunde möglich gewesen wären.
III. Nach allem war das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es zum Nachteil der Beklagten ergangen ist, und die
Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§§ 562 Abs. 1, 2, 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO),
das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Müller Greiner Diederichsen Pauge Zoll
Thöns
BGH VI ZR 265/02 vom 08.04.2003
Wird ein Patient bei einer ambulanten Behandlung so stark sediert, dass seine Tauglichkeit für den
Straßenverkehr für einen längeren Zeitraum erheblich eingeschränkt ist, kann dies für den behandelnden Arzt
die Verpflichtung begründen, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass sich der Patient nach der
durchgeführten Behandlung nicht unbemerkt entfernt. Der Patient obsiegte.
BGH, Urteil vom 8. 04.2003 VI ZR 265/02 OLG Frankfurt/Main
LG Darmstadt
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 8. 04.2003 durch die Vorsitzende
Richterin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Pauge und Stöhr
für Recht erkannt:
Urteildatenbank, Dr. med. Matthias Thöns, Witten, [email protected], ohne Gewähr, Seite 219
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 13. Zivilsenats in Darmstadt des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main
vom
12. 06.2002 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Kläger machen gegen den Beklagten zu 1 (im folgenden Beklagter), einen zwischenzeitlich in Ruhestand lebenden Chefarzt
für Innere Medizin im Kreiskrankenhaus S., Schadensersatzansprüche u. a. auf Ersatz entgangenen Unterhalts
geltend.
Am 7. 12.1993 unterzog sich der Ehemann der Klägerin zu 1 und Vater der Kläger zu 2 und 3, nachstehend als Patient
bezeichnet, bei dem Beklagten einer Magenspiegelung. Der Patient wurde vor der Sedierung durch den Beklagten über
die Risiken des invasiven Eingriffs aufgeklärt und belehrt, dass er nach dem Eingriff kein Kraftfahrzeug führen dürfe.
Eine entsprechende Belehrung hatte er bereits durch seinen Hausarzt erhalten. Er erklärte dem Beklagten, er sei mit
dem eigenen Wagen ins Krankenhaus gekommen und werde
mit dem Taxi nach Hause fahren. Der große und schwergewichtige Patient erhielt anschließend zur Sedierung 20 mg
Buscopan und 30 mg Dormicum (Wirkstoff Midazolam). Nach Durchführung der gegen 8.30 Uhr vorgenommenen Untersuchung
verblieb er zunächst eine halbe Stunde im Untersuchungszimmer unter Aufsicht. Nach dieser halben Stunde wurden
ihm 0,5 mg Anexate (Wirkstoff Flumazenil) intravenös verabreicht. Danach hielt er sich auf dem Flur vor den Dienstund
Behandlungsräumen des Beklagten auf, der wiederholt Blickund Gesprächskontakt zu ihm hatte. Ohne vorher
entlassen worden zu sein, entfernte er