Das spielende Kind am Strand.

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Das spielende Kind am Strand.
Auszug aus dem Beitrag zum Tagungsband :
Peter Hasenberg
Das spielende Kind am Strand.
Zeit und Erinnerung in Theo Angelopoulos‘ DIE EWIGKEIT UND EIN TAG
Was ist die Zeit? ...
Opa sagt, die Zeit ist ein Kind, das am Strand mit Murmeln spielt.1
„Der Filmemacher ist auch ein Zeitreisender.“2 So charakterisiert W. Ruggle in seiner
Monographie den griechischen Regisseur Theo Angelopoulos. In seinen Filmen reise
er durch die äussere und innere Geographie eines „geistigen Landes“, das sein
reales Gegenstück in dem Heimatland des Regisseurs finde. W. Schütte
charakterisiert den Regisseur als „zeitreisenden Landvermesser“: Angelopoulos hat –
so meint Schütte - das Genre des Historischen Films transzendiert, „indem er die
„geschlossene Zeit“ (des Historischen Romans wie Films) aufsprengte, transparent
machte für Zeit-Reisen quer durch die historischen Epochen“.3 Selbst in den Filmen
seit Mitte der 80er Jahre, die von der expliziten Aufarbeitung der politischen
Geschichte Abschied nehmen und sich mehr der Lebensgeschichte von Individuen
zuwenden (z.B. in der sogenannten ‚Trilogie des Schweigens‘4) bleiben die Bezüge
zur Nationalgeschichte unverzichtbar. Es tritt aber die Suche nach einer Versöhnung
von Biographie und Geschichte das wesentliche Element der von Angelopoulos im
Sinne einer „anamnetischen Kultur“ entwickelten Ästhetik.5
Theo Angelopoulos als einen Zeit-Künstler zu bezeichnen, ist längst ein
Allgemeinplatz der Kritik geworden. Wie kaum ein anderer zeigenössischer
Filmkünstler hat Angelopoulos der Gestaltung der zeitlichen Dimension eine zentrale
Bedeutung zuerkannt. Die Zeitthematik ist dabei in seinem Werk immer mehrfach
präsent: als Erfahrungsdimension des Individuums, d.h. als individuelle
Lebensgeschichte, die gleichzeitig immer auch verbunden ist mit der nationalen, d.h.
kollektiven Geschichte. Bei der Behandlung der Zeitthematik interessiert
Angelopoulos besonders der Zugriff auf Geschichtliches aus der Perspektive der
Erinnerung, der Rekonstruktion von Vergangenem im Bewußstsein der Protagonisten
seiner Filmerzählungen, beschäftigt Angelopoulos seit seinem ersten Spielfilm, der
den programmatischen Titel DIE REKONSTRUKTION (1970) trägt. Erinnerung als
Thema verlangt auch nach einer adäquaten formalen Umsetzung. Hier findet
Angelopulos ungewöhnliche Wege, indem er beispielsweise innerhalb einer
Einstellung die Zeitebenen wechselt. In langen Plansequenzen, die sein
künstlerisches Markenzeichen sind, atmen die Filme in ihrem eigenen zeitlichen
Rhythmus.
Den vielfachen Zeitbezügen in den Filmen selbst ist ein weiterer Aspekt
hinzuzufügen, der dem Werk zeitlich vorgelagert ist. Der eigentliche kreative Prozess
der Stoffentwicklung wird von Angelopoulos auch als Zugriff auf die in der Erinnerung
festgehaltene Zeit gesehen. Er versteht die Entstehung eines Drehbuches als
Bearbeitung von Zeit und Erinnerung. Die Ideen entwickeln sich, indem wie „durch
einen unterirdischen, verborgen sich in ihm [d.h. dem Betrachter] abspielenden
Vorgang von Tagen, Monaten und Jahren, ein kürzlich zufällig auf der Straße
vernommener oder in einem Buch gelesener Satz, eine bedeutungslose Nachricht
der Zeitungen, ein schlummerndes beziehungsweise in der Tiefe des Kabinetts von
Bildern, das ein jeder besitzt, schlafendes Bild plötzlich, in jenem bestimmten
Augenblick verwandelt heraufbeschworen wurde.“6 Die schlummernden Bilder, die in
der Zeit verschütteten Erinnerungen, kommen durch die Inspiration des Augenblicks
zu einem neuen Leben: „Der Augenblick wurde solchermaßen unvermittelt zur
fördernden Begegnung mit dem Unaussprechlichen.“7
DIE EWIGKEIT UND EIN TAG (1997/98) – schon der Titel dieses seines vorletzten
Werkes deutet an, dass hier die Zeit in besonderer Weise im Mittelpunkt steht. So
drängt sich der Film geradezu auf, Gegenstand einer eingehenderen Analyse der
Zeitdimensionen zu werden, wodurch sich gleichzeitig ein differenzierter Einblick in
Angelopoulos‘ Schaffen eröffnet.8 Es mag in seinem Werk Filme geben, die einzelne
Aspekte intensiver behandeln, in keinem anderen Film gibt es eine derart
exemplarische Verdichtung von Themen und Formen. DIE EWIGKEIT UND EIN TAG
enthält alle wesentliche Elemente seines Werkes in einer Art Zusammenfassung, so
dass man den Film zu Recht als „beste Einführung“ (J. Romney9) in das Werk
betrachten kann.
Für G. Seeßlen hat Angelopoulos mit diesem Film das erreicht, wovon viele
Regisseure nur träumen: „Alle großen Regisseurinnen und Regisseure haben nur an
dem einen, großen Film gearbeitet. Angelopoulos aber hat ihn in Die Ewigkeit und
ein Tag vollendet.“10 Aber der Film – so Seeßlen – sei „so von seiner eigenen
Vollendung beseelt, dass man ihn ebenso hassen kann, wie man ihn lieben möchte“,
er produziere beim Zuschauer eine „Erschöpfung“ aus der „Erkenntnis, dass alles
gesagt ist.“(ebd.) Der deutsche Regisseur Rudolf Thome fühlte sich sogar provoziert,
ein filmische Antwort zu geben: nachdem er den Film 1998 in Haifa gesehen hatte,
habe er – so berichtet er in einem Interview – sich derart geärgert, so dass er sich
entschloss, auch ein Porträt eines Künstlers als alter Mann zu machen, nur „völlig
anders: nicht pathetisch und mit tiefer Bedeutung und mit hohem Kunstanspruch,
sondern leicht, komisch, ironisch, und ganz einfach.“11 Der Film, der dann aus dieser
Idee hervorging, ist PARADISO – SIEBEN TAGE MIT SIEBEN FRAUEN (1999), ein
Werk, der bei der Kritik auch nur ein geteiltes Echo fand. Bei allen unterschiedlichen
Reaktionen, die der Film hervorgerufen hat, gab es allenfalls Fragen, ob
Angelopoulos sich nicht zu stark wiederholt und ob seine Themen noch zeitgemäß
sind, nie gab es Zweifel an der künstlerischen Vollendung. Daher ist der Film ohne
Zweifel ein höchst geeignetes Studienobjekt, das im folgenden detailliert analysiert
werden soll.
Geschichtete Zeitebenen
„Seine besondere Meisterschaft läßt Angelopulos dort erkennen, wo er verschiedene
Zeitebenen miteinander verwebt und ein komplexes Raum-Zeit-Gefühl vermittelt, das
auf den ersten Blick schwer zu lesen sein mag, den Zuschauer aber einem
erzählerischen Ideenreichtum aussetzt, der kaum noch seinesgleichen kennt,“ stellt
H. Messias in seiner Kritik des Films fest.12 Schon in der für sich genommen völlig
unspektakulären Anfangssequenz gelingt es Angelopoulos die Komplexität der
Zeitgestaltung aufscheinen zu lassen, ohne den Zuschauer zu überfordern. Die
Kamera erfasst in der ersten Einstellung eine alte Villa. Sie fährt kaum merklich auf
das Gebäude zu. Die Villa wirkt verlassen. Aus dem Off wird eine zweite Zeitebene
lebendig, Stimmen aus einer Zeit, als das Gebäude noch bewohnt war. Drei Jungen
unterhalten sich, planen einen Ausflug an den Strand. In ihrem Dialog wird die
Erinnerung an den Großvater, also eine frühere Generation, wach. Der Großvater
wiederum wird erinnert als ein Geschichtenerzähler, der über die Zeit gesprochen hat
und über Geschichten von einer versunkenen Stadt. Mit der Anspielung auf das
Atlantis-Motiv ist in wenigen Schritten der Sprung von der Gegenwart des
verlassenen Gebäudes über die Stimmen, über den Dialoginhalt in eine mythische
Vergangenheit vollzogen. Im Kopf des Zuschauers setzen sich die Überblendungen
der Zeitebenen zusammen, entstehen die Bilder des Hauses, der spielenden Jungen
am Strand, der versunkenen Stadt. Die folgende Einstellung zeigt den Jungen nun,
wie er aus dem Bett aufsteht, nun aber gegenüber der akustischen Szene des
Dialogs der Jungen noch ein Stück weiter in die Vergangenheit zurück versetzt, denn
der Junge ist erst im Aufbruch zu dem Treffen mit seinem Freunden. Der Junge steht
aus seinem Bett auf und stiehlt sich heimlich aus dem Haus. Aus dem Schlafzimmer
dringen Geräusche vom Liebesspiel seiner Eltern, die gewissermaßen Zeit und
Raum in diesem Augenblick der Liebe vergessen haben. Mit den Freunden läuft der
Jungen nun den Strand hinunter. Aus dem Off ruft ihn die Stimme einer Frau, seiner
Mutter, eine Stimme, die zeitlich und räumlich bewusst nicht lokalisiert ist. Dieser Ruf
ist eine leitmotivisch eingesetzte Klammer, die als ein wichtiges Strukturelement die
Zeit des Films organisiert, denn er wird mehrfach wieder aufgegriffen, als Ruf der
Mutter, aber auch als Ruf seiner Frau.
[.....]
Wie lange dauert das Morgen? ist die letzte Frage, die er Anna stellt. Und ihre
Antwort: Eine Ewigkeit und einen Tag. Der Ewigkeit geht immer der eine Tag, der
letzte Tag voraus und der Sinn des Lebens entscheidet sich gerade auch hier. Dabei
bedeutet Erinnerung eine Hinwendung zur Zeit, aber auch ein Heraustreten aus der
Zeit, die Möglichkeit, etwas ganz nah und gleichzeitig aus einer Distanz zu sehen.
Aus dem Spannungsverhältnis zwischen Erinnerung und gegenwärtigem Bewußtsein
ergibt sich die Möglichkeit einer Sicht, die mit den Brüchen und
Widersprüchlichkeiten versöhnt. Th. Koebner, der im Spätwerk von Angelopoulos
eine „schmerzliche Versteinerung“46 der Figuren erkennt, sieht am Ende Trauer und
Freude ausbalanciert: „Die Verschränkung der Zeiten dient dazu, ein Leben zu
rekonstruieren, und vertieft die Dimension der Trauer über das Verfehlte und
Versäumte. Doch balanciert die Imagination der Freude in der Todesvision – er tanzt
mit seiner Frau – die Melancholie aus.“47 Angelopoulos will aber mehr als das. Der
versöhnliche Schluss kommt nicht dadurch zustande, dass ein paar schöne
Erinnerungen den Schmerz teilweise überdecken, sondern dadurch, dass
Alexandros gerade nicht nur in der Vergangenheit gefangen bleibt, sondern aktiv
wird. Alexandros‘ gelingt es, in der Beschwörung der Erinnerung den roten Faden
seines Lebens zu finden, aber er entfernt sich nicht aus der Welt, sondern begibt sich
in sie hinein. Die verpasste Lebenschance, für die Menschen, die er liebte, da zu
sein, findet ihr Echo in der Hinwendung zum Nächsten, zu dem albanischen Jungen.
Sein Lebensprogramm, sein Eintreten für die Freiheitsidee, sein Kampf gegen
Unterdrückung findet einen konkreten Ausdruck in der Hinwendung zu dem Jungen,
um den er sich kümmert. In christlichem Sinne kann man diesen durchaus als eine
Christusfigur deuten, der Nächste, in dem Christus Gestalt annimmt. Man kann den
Jungen zu den Männern in Geld in Beziehung setzten, weil sein Anorak die Farben
Gelb und Schwarz aufweist und man in der Anordnung der schwarzen Balken sogar
eine Art Kreuzmotiv erkennen kann. Die Begegnung mit dem Jungen ist keine
Abschweifung, sondern notwendiger Bestandteil der Erlösung, die Alexandros zuteil
wird. Diese Fähigkeit hat Alexandros gewonnen, indem er den Tod akzeptierte. R.
Zwick unterstreicht: „Die Freiheit, die aus dem Akzeptieren des Todes erwächst, hat
ihrerseits wieder mit der Überwindung von Grenzen zu tun: mit dem Aufbrechen von
monadischer Verkapselung, mit Sich-Öffnen, mit der Begegnung mit dem anderen,
kurz: mit Kommunikation, mit Verständigung über alle Abschrankungen hinweg.“48
Das sich hier auch eine explizit religiöse Deutung aufdrängt, liegt nahe, auch wenn
sich Angelopoulos stets geweigert hat, sich auf religiöse Deutungen – gar explizit
christliche – festlegen lassen. Er gesteht immerhin zu: „Ich kann nicht ausschließen,
das etwas aus meinem Innern in meine Filme gelangt, das als metaphysisch erklärt
werden kann.“49 Der Film gibt keine Antworten, er schickt den Zuschauer selbst auf
die Suche und dabei ist – so wie Angelopoulos es sieht – der Weg wichtiger als das
Ziel.
1
Zit nach: Theodoros Angelopoulos, Die Ewigkeit und ein Tag. Die Filmnovelle und Gedanken zum
Entstehen eines Films, hrsg. von Giorgis Fotopoulos, edition text + kritik. München 2001, 35. Zitate
aus dem Filmdialog beziehen sich in der Regel auf die Übersetzung der Filmnovelle. Diese weicht an
einigen Stellen, teilweise nur geringfügig von den deutschen Untertiteln ab.
2
W. Ruggle: Theo Angelopoulos. Filmische Landschaft. edition filmbulletin. Baden 1990, 7.
3
W. Schütte, „Ein zeitreisender Landvermesser“, in: P. W. Jansen, W. Schütte (Hg.): Theo
Angelopoulos. Reihe Film 45. München 1992, 9-42, hier: 9.
4
Zu dieser Trilogie gehören die Filme DIE REISE NACH KYTHERA (1984), DER BIENENZÜCHTER
(1986) und LANDSCHAFT IM NEBEL (1988).
5
G. Larcher wendet den Begriff der „anamnetischen Kultur“ von J. Metz auf Angelopulos‘ Schaffen an.
Vgl. G. Larcher: Kunstfilm und anamnetische Kultur, in: G. Larcher, F. Grabner, Ch. Wessely (Hg.):
Visible Violence. Sichtbare und verschleierte Gewalt im Film. Beiträge zum Symposium Film and
Modernity. Violence, Sacrifice and Religion, Graz 1997. Beiträge zur mimetischen Theorie, 10.
Münster 1998, 11-23, bes. 16ff.
6
Th. Angelopoulos: Statt eines Vorworts, in: Jansen, Schütte (Hg.), 7f., hier: 7.
7
Ebd.
8
Vgl. auch: Vf., Arbeitshilfe zu DIE EWIGKEIT UND EIN TAG, Hg. vom Programmbereich AV-Medien,
Katholisches Filmwerk GmbH, Frankfurt/Main 2000
9
J. Romney: Make It Yellow. in: Sight and Sound, Mai 1999, 8-11, hier: 9.
10
G. Seeßlen: Europas letzter Western, in: DIE ZEIT, 4 (1999), auch unter:
http://www.zeit.de/1999/4/199904_angelopoulos.html
11
R.Thome, in Presseheft zu PARADISO, auch unter: http://www.moana.de/Filme
Deutsch/SFPaD/SFPaint.html
12
H. Messias: Die Ewigkeit und ein Tag“, in: film-dienst, 2 (1999), 10.
46
Th. Koebner: Theo Angelopoulos, in: Th. Koebner (Hg.): Filmregisseure. Biographien,
Werkbeschreibungen, Filmographien. Stuttgart 1999, 31-35, hier: 34.
47
Koebner. 35.
48
R. Zwick: „Grenzen überwinden, um bei uns selber anzukommen.“ Zu den Filmen von Theo
Angelopoulos. In: zur debatte, 6 (2001), 28f., hier 29.
49
Ulrich, 28.

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