Robert Prosser - Meine Seestadt
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Robert Prosser - Meine Seestadt
Seestadt.Schreiben 2014 Im Laufe des Jahres setzten sich drei AutorInnen im Rahmen des SeestadtSchreibens mit Entwicklungen in der Seestadt auseinander. Die unterschiedlichen literarischen Zugänge geben dabei einen facettenreichen Einblick in eine Stadt im Werden. Die monatlichen Blogbeiträge werden hier gesammelt präsentiert. Robert Prosser Die Großbaustelle Aspern-Seestadt erschafft bleibende Lebensräume. Mich, als Teil des diesjährigen Blog-Trios, interessiert, was in der Gegenwart des Kran- und Zementspektakels, in dessen Abseits zu entdecken ist. In unregelmäßigen Streifzügen, so mein Vorhaben, soll das Gelände durchkreuzt werden, um Geschichten, Meinungen, Geschehnisse zu sammeln. Die Puppenspielerin (Wagensiedlung Gänseblümchen) Anfang Mai, während erste Bäume um den von Klatschmohn rot beflankten See gesetzt werden, quere ich die Schuttanlage, auf der anderen Seite der Bahntrasse gelegen, zu den Gleisen, die im Fabriksareal von General Motors Austria verschwinden. Vorbei an abgestellten Güterwaggons erreiche ich durch kniehohes Gestrüpp die Wagensiedlung Gänseblümchen. (Es gibt eine einfachere Möglichkeit, dorthin zu gelangen, nämlich ab der Ubahnstation Aspern Nord der Ostbahnbegleitstraße Richtung Essling zu folgen, was mir allerdings erst während des Rückweges klar wird.) Anfangs befand sich die aus verschiedensten mobilen Gefährten bestehende Kolonie unweit des nördlich der Großbaustelle gelegenen Parkplatzes, ist nun aber, nach Zwischenstation am Straßenrand, auf einem parallel zu den Gleisen verlaufenden Schotterweg angelangt. Der derzeitige Standort ist ein neuerliches Provisorium, der Vertrag mit der Stadt Wien nur von begrenzter Dauer. Dieses forcierte Wandern der mehr oder weniger ersten Bewohner der Seestadt ist zum Teil auf Meinungsverschiedenheiten mit der “Wien 3420 Aspern Development AG” zurückzuführen, deren Erwähnung im Gänseblümchen nicht unbedingt zu Sympathiebekundung führt, ist ein Wagenmensch (Selbsttitulation) doch kein Nomade per se, sondern sucht eine, mit herkömmlichen Wohungsangeboten zugegeben wenig kompatible, Form selbstbestimmten Lebens. Als ich mich durchs Gestrüpp am Rand des Ackers kämpfe, werde ich von A. neugierig beobachtet. Na, wo kommst du denn her? fragt sie mich, auf der Außentreppe eines blaugelb bemalten Zirkuswagens stehend. Es beginnt leicht zu regnen und sie lädt mich in ihren nebenan stehenden Bus ein, zu einer Tasse Tee mit frisch gepflückten Hollerblüten. A. ist erst seit kurzem im Gänseblümchen wohnhaft. Den Wagen hat sie für 800€ vom Circus Belly gekauft, eine verschimmelte, rollende Baustelle mit undichtem Dach, die sie bis zum nächsten Winter auf Vordermann gebracht haben will. Seit 8 Jahren, erzählt sie, ist sie im Bus unterwegs, als Zirkuspädagogin Schulen abklappernd, um den Kindern das Artisten-Dasein vorzustellen. Als Puppenspielerin wirkt sie freischaffend, flexibel wie der Lebensstandort zeigt sich ihre Kunstfertigkeit: Handpuppen, Schuhschachteltheater und eine große Klamaukpuppe sind die Darsteller eines Repertoires, das selbstverfasste wie fremde Stoffe beinhaltet. Eine ihrer eigenen Geschichten erzählt von einer Hexe mit Katzenallergie, was diese in einer Märchenwelt, in der die Prinzessin ihren Frosch und der König seine Königin hat, zu Monologen verleitet, die um erzwungene Einsamkeit kreisen. Aufgewachsen in Rheinland-Pfalz kaufte sie sich nach dem Studium den Bus, in welchen wir sitzen, um drauflos zu fahren mit dem Ziel, ihren Platz im Leben zu entdecken. Das Resultat nach acht Jahren: sie hat viel Leben gefunden und ebenso viele Plätze, jedoch keinen fixen Standort. Als Konstante, egal ob in England, Spanien oder Israel, ob sommers im Norden oder winters im Süden, blieb der Bus. Den vor kurzem gefassten Entschluss, sesshaft zu werden, möchte sie mithilfe des eigenhändig reparierten Zirkuswagens umsetzen, der Ideale und der in Wien begegneten Liebe wegen. Es gibt, sagt A. und man spürt die Überzeugung, die in ihren Worten steckt, nichts schöneres, als im Wagen zu leben, es ist ehrlich und aufrichtig, weil man die Natur anders, näher wahrnehmen kann. Kurz darauf bricht das Gewitter los, die von Schwechat kommenden oder dorthin steuernden Flugzeuge verschwinden in den tiefhängenden Wolken, und sie öffnet die Schiebetür des Busses einen Spalt weit auf tropfnasse Wiesen und Äcker, die in den nächsten Jahrzehnten zur Seestadt verbaut werden, noch aber, für ein Unwetter zumindest, die Ansichten A.s glaubhaft bestätigen. Teil 1 Robert Prosser Wichtig ist vor allem eins: Zeit. Wenn sie hier ist, sagt A., spürt sie, wie reich sie ist, weil ihr Alltag sich an natürliche Rhythmen orientieren darf, die das hektische Stadtzentrum verwehrt. Von Mietkosten befreit, lässt es sich in einer Art leben, die über wenig Besitz und viel Raum zur Selbstentfaltung verfügt. Das, sagt A., macht einige Menschen neugierig, andere dagegen reagieren ablehnend, vielleicht, vermutet sie, aufgrund altbekannter, rechtspopulistisch angeheizter Klischees. (Das im Gänseblümchen anzutreffende soziale Spektrum ist in Wahrheit, scheint mir, ebenso vielfältig wie jenes, das in der Seestadt zu finden sein wird.) Den Nachbarn der hinter Bahndamm und Wald gelegenen Häuserreihen ist die Ansammlung der Wägen in erster Linie suspekt. Vor kurzem kam einer von ihnen vorbei, der erste, der sich ein eigenes Bild machen wollte. Er blieb einige Stunden und reagierte auf das Gänseblümchen wie Allergiker auf Pollenflug, allerdings im verkehrten, sprich äußerst positiven Sinne. Früher hingen Puppenspieler, kamen sie in eine neue Stadt, weiße Wäsche aus ihren Wägen, um zu zeigen, dass man nichts von ihnen zu befürchten habe, erzählt A. – heute wäre ein Gespräch, der Wille zum gegenseitigen Kennenlernen, nötig. Teil 1 Robert Prosser Der Highlander Auf der Wiese zwischen Flederhaus und See steht Ende Mai ein bärtiger Mann mit nacktem Oberkörper. Er wuchtet einen Baumstamm hoch, wirft diesen weit von sich. Kurz durchgeatmet, dann beginnt das Schauspiel von neuem. Auf meine Nachfrage hin stellt sich der junge Mann als Highlander vor, gebürtig aus Rumänien, der hier mit sieben Gleichgesinnten für die klassischen Bewerbe dieser Sportart trainiert. In einer mit blauer Plastikfolie bespannten Holztruhe am Feldrand wird die Ausrüstung verwahrt, größtenteils verschiedenste Gewichte, die ihrerseits übers Gras geworfen werden. Der Stamm ist fünf Meter lang, wiegt 45 Kilogramm und muss in der Luft eine 360 Grad-Drehung absolvieren, erst dann ist der „Caber Toss“ erfolgreich. Stone put (Steinstoßen), Scottish Hammer Throw (Hammerwerfen, aber schottisch, d.h. das Eisen wird mit einer Körperdrehung möglichst weit geworfen, ohne dass sich die Füße vom Boden bewegen), Weight over the bar (ein Gewicht wird einhändig über eine Latte befördert) und Weight Throw (Gewichtwerfen) nennen sich die restlichen Bewerbe, die die Highland-Athletik definieren. Sheaf Toss, das Werfen eines Heu- oder Strohballens über eine in der Höhe angebrachte Latte, ist zwar ein bei der Menge beliebtes Spektakel, jedoch sind sich Sport-Historiker, bzw. Vertreter der Highland-Tradition unsicher, ob dieses tatsächlich zu den klassischen Formen gezählt werden darf und sich nicht vielmehr über Kirmes und Volksfest ins Repertoire geschlichen hat. Ursprünglich dazu gedacht, den keltischen Königen die stärksten und schnellsten Gefolgsleute zu finden, hat sich daraus, erzählt mir der rumänische Highlander, längst eine eigenständige Sportart entwickelt, die auch fern von Schottland zahlreiche Liebhaber findet. Zu den Wettkämpfen in Wien und Umgebung reisen beispielsweise Konkurrenten aus Ungarn, Tschechien und der Slowakei an – zu solchen Anlässen wird Kilt getragen. Von LKWs aufgewirbelter Staub zieht über die Wiese und der Highlander erzählt weiter, vor einem Jahr den Entschluss gefasst zu haben, in dieser Sportart mehr als nur ein Hobby zu sehen. Die erste Station, um die Professionalität zu erreichen, nimmt er diesen September in Angriff, wenn die in Aspern trainierenden Sportler zu den bekanntesten Bewerben reisen, den „Scottisch Highland Games“ in Braemar, wo, ob der Nähe zur royalen Sommerresidenz, die Anwesenheit von Königin Elisabeth II. zu erwarten ist. Teil 2 Robert Prosser Der Gärtner Nördlich der Baustelle, zwischen Zufahrtsstraße und Acker, liegt das Sprungbrett, ein auf ehrenamtlicher Mitarbeit basierendes Experimentierfeld für alternative Wohn- und Lebensformen. Ein auf dem Gelände angetroffener Mann, der hauptberuflich als Gärtner arbeitet und seine Expertise in verschiedensten Beeten und Pflanzungen zur Anwendung bringt, ist sich des historischen Hintergrundes von Aspern bewusst. Gerade hier, an einem von Napoleon oder den Nationalsozialisten geprägten Ort kriegerischer Auseinandersetzungen und Besitznahmen, drängen sich, so der Gärtner, Fragen nach einem friedlichen Zusammenleben auf. Wie kann der Einzelne in naher Zukunft trotz knapper Ressourcen ein qualitativ hochwertiges Leben führen? Die Vielfalt der Ansätze und Fragestellungen spiegelt sich in jener der Baumarten: Pappeln, Weide, Rubinien, Schlehe, Holler, Weißdorn, Kirschen, Ahorn, Walnuss, Marillen, Wildrosen, Haselnuss bilden eine von Weitem sichtbare Insel im Gräsermeer. Es ist ein temporär existierender Ort, der der expandierenden Baustelle wird weichen müssen. Der Gärtner sieht im Sprungbrett einen Beitrag zur Stadtentwicklung, ein Labor für zukunftsfähige Lebensstile. Hier treffen sich Architekten, Weltreisende, Bobos. Ein bürgerliches, auf Nachhaltigkeit fokussiertes Bewusstsein vermischt sich mit der DIY-Mentalität von Aussteigern. Der Open-Source-Gedanke zählt: Projekte und Ideen sind von allen Seiten willkommen, deren Ergebnisse wiederum stehen der Gemeinschaft zur Verfügung. Eine durch Europa tingelnde Delegation des US-amerikanischen, popkulturell ikonisch verehrten Burning Man Festivals feierte hier das Erntedank-Fest, kurz quartierte sich ein aus der Stadt geflohener Obdachlose ein. Hopi-Rituale finden, wie auch der monatlich einmal abgehaltene Feuertanz, rege Anhängerschaft. In den Beeten wachsen Melonen, Artischocken, Erdmandeln oder Raritäten wie alte Tomatensorten. Der Biomeiler wärmt die verschiedensten, zum Teil aus Hanflehm erbauten Behausungen. Ist die Energie des Biomeilers nach zwei Jahren aufgebracht, kann er als Hochbeet für Kürbis, Paprika und Gurken verwendet werden. In den Augen des Gärtners ist das Sprungbrett eine Oase zwischen Beton und Äcker-Monokultur. Seine Vision ist es, dass diese Oase sich in einen Park für die Seestadt transformiert. Einer der abgestellten Wohnwägen dient als Atelier der Regisseurin Steffi Franz, deren jüngste filmische Arbeit die Wohnwagensiedlung Gänseblümchen (s. Blogbeitrag # 1) samt nachbarschaftlicher Großbaustelle zum Inhalt hatte. Die Dokumentation trägt einen Titel, der auch zum Sprungbrett und dem dortigen Experimentieren und Staubaufwerfen passt wie kaum ein anderes Motto: Dreck ist Freiheit. Teil 3 Robert Prosser Der Gärtner (Teil 2) Die Materialien, die im Sprungbrett weiterverarbeitet werden, stammen mitunter von Arbeitern, die, vom Erfindergeist angetan, vorbeibringen, was auf dem Seestadt-Baugelände sonst am Müll landet: zerdellte Rohre, gesplitterte Latten, verbogene Eisengitter. Vor zwei Jahren, erzählt der Gärtner, war er bei einer Frühlingsfeier erstmalig am Gelände. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine UbahnStation, der Weg nach Aspern war mit entsprechendem Aufwand verbunden. Zwischen Bäumen und Strauchwerk stand einzig eine auf einer Holzplattform errichtete Jurte, worin man sich traf, um Kontakte zu knüpfen, Pläne auszuhecken. Viele, die ähnlich ihm selbst durchs Hörensagen das Sprungbrett mit Begeisterung entdeckt hatten, fehlte es am Knowhow, ihre Ideen alternativer Lebensart umzusetzen. Etliche planten mit Eifer zukünftige Projekte, nach demotivierenden Stunden im Feld samt regendurchnässter Kleidung und im Schlamm steckenden Stiefeln, verließ sie jedoch das Durchhaltevermögen. Seither fand nicht nur die U2 hierher, sondern auch, ohne dass es auf der nur wenigen Meter entfernten Großbaustelle bemerkt worden wäre, eine Riege illustrer Gäste, die von allfälligen Widrigkeiten nicht unterzukriegen ist: Von einer Reisegemeinschaft namens Duna-Vision, die sechs Monaten lang dem Lauf der Donau folgte, vom Ursprung bis zur Mündung ins Schwarze Meer, über eine Gruppe, die von Stockholm bis nach Athen zu Fuß ging, bis hin zur weltweit tätigen Rainbow-Community, die ein naturnahes, zivilisationsfernes Dasein propagiert – diese und einige mehr, wie Pilger beispielsweise, die von heiligen Stätten Asiens gekommen einen Ort zum Durchatmen suchten, bevor sie endgültig in die vor langem verlassene Heimat zurückkehrten, machten auf den Asperner Äckern Halt. Im Windschatten der Baustelle geschah und geschieht ein Kulturaustausch, den man in dieser Vielfalt an anderen Orten Wiens erst finden müsste. Der Gärtner fragt sich, ob es möglich sein wird, trotz der Wohnblocks die vielfältige Tierwelt Asperns zu bewahren. Ums Sprungbrett, von den Ubahnstationen über die Baustelle bis zu den Siedlungsstraßen, teilen sich Fasane, Feldhamster, Eidechsen, Kröten, Weinbergschnecken und verschiedenste Greifvögel ihre Reviere. Die Seestadt, betont er, ist ein Stadtentwicklungsprojekt, das auf einem Areal mit enormen Artenreichtum umgesetzt wird. Und das, gibt der Gärtner zu bedenken, obwohl die Äcker vom Herbst bis ins Frühjahr einer Dreckwüste gleichen. In dieser Hälfte des Jahres, wenn kein Getreide wächst, sich keine Halmspitzen im Wind wiegen, zeigt sich die in Aspern gepflegte, agraische Monokultur in all ihrer Hässlichkeit. Was der Gärtner dagegen schätzt, ist die Dynamik, die das Sprungbrett erlaubt. Knapp war er davor, aus Wien fortzuziehen, doch als sich die Möglichkeit ergab, hier mitzuwirken, änderte er seine Entscheidung. In der Randzone handelt und denkt man anders als im historisch überfrachteten, unterm Habsburger-Erbe erstickendem Zentrum Wiens, ein Schaffensdrang, sagt der Gärtner, der höchstens unterbrochen wird, wenn der Entminungsdienst durch die Felder kurvt, auf der Suche nach Altlasten des Zweiten Weltkrieges. Teil 4 Robert Prosser Der Cricketspieler Ein Freitag Abend Mitte Oktober, das Flederhaus grün erleuchtet. Zwischen Baucontainern und See nützen vierzehn Inder die freie Fläche und spielen Cricket unter provisorisch montierten Laternen. Es dämmert, die Station Aspern Nord erscheint aus der Entfernung wie ein riesiges, glühendes Nest im dunkler werdenden Gras, der Wind fegt um die zur Ubahn eilenden Bauarbeiter, in Jacken verpackt und die Kapuzen hochgezogen, während die Inder aufgehitzt, mitgerissen vom Spiel höchstens in Tshirt dem Ball nachhetzen oder den breiten Schläger schwingen. Sie schreien, jubeln, fluchen, und ich muss mir eingestehen, dass Cricket vielleicht doch nicht jener todlangweilige Sport ist, für den ich ihn bisher gehalten habe. Aus dem Rechteck des Laternenlichts saust der Ball in hohem Bogen in die Wiese und erzwingt eine Pause, in welcher mir einer der Cricketspieler, ein im 22. Bezirk aufgewachsener 20jähriger namens Rahul, von Amritsar erzählt, der Heimatstadt seiner Eltern und Metropole des Punjabs, die er vergangenes Frühjahr erstmals besucht hat. Mich selbst verschlug es im April 2010 dorthin, und zwischen Rahul und mir entspinnt sich gemeinsames Evozieren der buntbemalten, Militärmärsche hupenden Trucks, der vor Hitze glänzenden, schwarzen Büffel am Straßenrand, wie die Vororte sich bündeln zum von Autorikschas verstopften, lärmenden Zentrum, wo im Innern eines aus weißen Marmor gemeißelten Rechtecks aus Gebäuden, Türmen und Promenaden ein blitzsauber ins Steinbecken geflößter, mit Schwimmverbot belegter See liegt, in dessen Mitte wiederum, einzig über einen Steg von der südlichen Seite aus zu erreichen, das Heiligtum der Sikhs aufragt: Der Goldene Tempel. Aus sämtlichen Weltecken, wohin auch immer die Emigration führte, reisen die Gläubigen an, paradieren über die Hauptstraße, vorbei an sündteuren Cafés und Pizzerias; Souvenirshops finden sich selbst innerhalb der Eingangstore und manche Pilger verbeugen sich bereits hier, legen sich wie in Anbetung der Kaufkraft bäuchlings auf den Boden. Ich erinnere mich der tausenden Menschen und der tiefen, eigentümlich schläfrigen Einheit, die diese Tage und Wochen bei freier Kost im Tempel verbringen, in den kleinen Parks und unter Torbögen am Wasser rasten, Jahreslöhne als freiwillige Spende abgespart im Gepäck, stündlich die Kammern der Priester und allabendlich die Zeremonie abklappern, wenn das heilige, goldene Buch aus dem Tempel getragen und am nächsten Morgen unter Fanfaren wieder hinein begleitet wird. Der Cricketspieler berichtete per Iphone seinen Freunden zuhaus in Wien von den Geschehnissen im Goldenen Tempel, wie manche mit ihren Neugeborenen auf weißen Steinböden in Innenhöfen oder nahe der belagerten Reihe von Latrinen schliefen, während die im Marmor gespeicherte Tageshitze mit Einbruch der Dämmerung auszustrahlen begann und die durcheinander gewürfelten Körper wärmte. Dreimal täglich liefen Freiwillige im Essenssaal durch die Reihen der am Boden sitzenden Menschen, schöpften aus Eimern Linsen und Reis in die vor den Wartenden liegenden Aluminiumtableaus, und er erinnert sich an die in dunkles Blau gewandeten Wächter, die den Anstand verteidigten, Händchenhalten und jede andere Art der Berührung verboten, fehlende Kopfbedeckung, sei es ein Turban oder die ausgeteilten orangen Tücher, mit erhobenen Augenbrauen und Stöcken, mit lauten Stimmen und Rauswurf ahndeten. Unentwegt drangen aus den Lautsprechern die Gesänge der Priester in Schlaf oder Andacht, ununterbrochen vorgetragener aus dem Buch Guru Granth Sahib, verfasst in Gurmukhi, einer eigens dafür entwickelten Sprache. Mir selbst blieb vor allem der Eintritt durchs westliche Tor im Gedächtnis, vorbei an der Gemeinschaftsküche, an deren Hintereingang jeden Morgen die gespendeten Tonnen von Gemüse und Reis abgeladen wurden, wo sich der Priestersingsang mit den klappernden Geräuschen des Abwasches vermischte, da tausend Aluminiumtableaus ins Spülwasser der Bottiche tauchten und einen trommelnden, hypnotischen Rhythmus bildeten. Ob er sich vorstellen kann, in Aspern zu wohnen, frage ich ihn, bevor das Cricketspiel ihn wieder mit sich reißt. Rahul zuckt mit der Schulter, deutet auf die am Abend unkenntlichen Schemen der Wohnblöcke, wenigstens, sagt er, sind jetzt Fenster drin und wirken die Häuser nicht mehr so trostlos. Teil 5 Robert Prosser Der Sprayer Der Geruch der Flämarbeiten zieht von den Dächern übers Rollfeld. Eine Gruppe Studenten betrachtet vom Aussichtspunkt am östlichen Seeufer die Baustelle, der Wind macht es unmöglich, die Ausführungen des Dozenten zu verstehen, der übers Wasser deutet. Das Sprungbrett zeigt sich verlassen hinter kahlem Gestrüpp, auf dem Parkplatz davor viele Bauwägen, weiße von Strabag und grüne von Porr, die, denke ich mir, als Behausung in der Wagensiedlung Gänseblümchen sicherlich heißbegehrt wären. Die Gebäude wirken zunehmend vollendet, erhalten durch die jüngst eingesetzten Fensterscheiben eine vorstellbare Wohnlichkeit, oder, wie August Staudenmayer einmal anmerkte: Die Fenster sind wie Augen, Häuser kriegen erst dadurch eine Seele. Gegen Jahresende sollen rund 6000 Menschen hier leben und die seit Mitte der 1990er laufenden Planungen der Seestadt in eine neue Phase lenken. Es entstehen Technologie-Cluster und Gebetsräume, Anbindungen für sechs Buslinien und zwei Straßenbahnstationen, 240 Hektar im Gesamten und davon wiederum 70 Hektar Grünflächen, so künden es zumindest die im Infopoint erhältlichen Prospekte an. Was, frage ich mich, wünscht und erwartet sich jemand, der in die Seestadt zieht? In der Wochenendausgabe der Tageszeitung Der Standard (30. / 31. August 2014) beginnt ein Artikel mit der Überschrift „Wie Wien 100.000 neue Wohnungen schaffen will“ wie folgt: Wenn die Seestadt Aspern fertig ist, wird Wien zwei Millionen Einwohner haben. Ein kausaler Zusammenhang besteht aber nur bedingt: Schließlich wird die Seestadt nur etwa acht Prozent der dann rund 250.000 neuen Wienerinnen und Wiener beherbergen können. Der große Rest muss woanders unterkommen. „Eigentlich bräuchten wir zehn Aspern“, sagte deshalb TU-Stadtforscher Rudolf Giffinger kürzlich zum Standard... usw. usf. Vorm temporären Sitz des Jugendclubs nahe des Flederhauses treffe ich einen jungen Mann, der auf den Baucontainer gemalte Graffitis fotografiert. Von dir? frage ich und er verneint, der kleine Bruder eines Bekannten hätte es gemacht. Ich mal schon ein wenig länger, sagt er und belässt es dann, wie es zu seinem Metier gehört, bei einem Lächeln und Achselzucken, als ich ihn frage, ob er legal oder illegal unterwegs sei. Ich seh hier einen Haufen Möglichkeiten, meint er, und zeigt in weitem Bogen über Baustelle und Ubahntrasse. Allein die Pfeiler dort, sagt er und deutet auf die Betonpfosten, die sich bis nach Aspern Nord ziehen und auf sich die U2 befördern. Und nächsten Sommer kann man hier auch schwimmen, setzt er nach und zieht sich die Kapuze ins Gesicht. Teil 6 Robert Prosser Der Glaser Ich will ungestört leben, wie und wo es mir taugt, sagte die Puppenspielerin im Gänseblümchen. Ich will nach Schottland und Stämme werfen, sagte der gebürtige Rumäne auf der Wiese zwischen U2Station und Baustelle. Ich will Sortenvielfalt und anpflanzen was möglich ist und der Boden zulässt, sagte der Gärtner vom Sprungbrett und setzte nach: Ich will, dass viele Leut sich anschauen, was wir machen und eigene Ideen mitbringen. Ich will reisen, sagte Rahul, der 20jährige Sohn indischer Einwanderer, und mehr von der Welt sehen als Wien. Was ich will, geht dich nichts an, sagte der Graffiti-Sprayer. Mitte Dezember geh ich ein letztes Mal die Baustelle ab. Die Kantine „Big Mama“ ist vom Rand der breiten, die Seestadt durchkreuzenden Straße verschwunden, der RestaurantContainer einem Laternenpfahl gewichen. In der Wagensiedlung wurde, bleibt zu hoffen, genug Holz herangeschafft, falls wider Erwarten der Winter einbricht. Die Gemüse- und sonstigen Pflanzen des Sprungbretts sind bestimmt in einem Keller zwischengelagert. Die Highlander trainieren bei jeder Witterung, und so lange das ehemalige Flugfeld nicht vereist ist, laufen die abendlichen KricketTurniere auf Hochtouren. Vorm Shop, der einige Schritte von der Baustelle entfernt in Richtung Ubahn liegt, nippt ein Arbeiter an einer Dose RedBull und beobachtet, wie die untergehende Sonne den bewölken Himmel über der Fabrik rötlich färbt. Nächste Woche endlich Feiertage, sagt er, und dann mal heim nach Ungarn. Seit einigen Tagen zweifelt er am Sinn des Ganzen. Klingt schön: Arbeit in Österreich, Haus am Balaton. Letztens sei er aber am Christkindlmarkt im Ersten gewesen, beim Michaelerplatz. Die Arbeit dieses Tages war erledigt, die nächsten Fenster sollten erst am Tag darauf geliefert werden, und was böte sich mehr ans, als mit Glühwein und einem Spaziergang durch die Wiener Altstadt in den frühen Feierabend zu starten. Vorm Marktstand hörte er im Gedränge einen dumpfen Schlag und dachte sich nichts dabei. Jemand rempelte ihn an, raunte ihm zu, er soll sehen, dass er weg kommt. Verärgert, weil er Glühwein verschüttet hatte, drehte er sich um und sah den Security, der bis gerade eben den Juwelier gegenüber bewacht hatte, am Pflasterstein liegen, den Kopf in einer Blutlache. Im Inneren des Geschäfts ein vermummter Mann mit Pistole, ein zweiter griff in die Auslage und stopfte sämtliche Rolex-Uhren mit flinken Bewegungen in eine Sporttasche. Sirenen näherten sich, der eine steckte die Waffe ein, rannte den Kohlmarkt runter, der andere schulterte die Tasche und floh in die Herrengasse. Das erste Polizeiauto kam vom Heldenplatz, hielt mit quietschenden Reifen, wie im Film, erzählte er, es bremste und schlitterte einige Meter weiter. Um den Wachmann kümmerte sich niemand, weitere Polizeieinheiten rasten heran, aber umsonst, die Täter waren fort, stand am nächsten Tag in der Zeitung. Ich bin nur dagestanden und hab zugesehen, sagte er. Ich und jeder andere am Christkindlmarkt. War gesteckt voll, aber wie die abgehauen sind, gingen alle zur Seite, drückten sich an die Hauswände und machten Platz. Ich arbeite seit fast zwanzig Jahren als Glaser. In Österreich, Deutschland, der Schweiz, wo auch immer. Zwanzig Jahre. Die zwei haben nicht mal zwei Minuten gebraucht und sicher mehr Geld gemacht wie ich in nochmals zwanzig Jahren. Trauen müsste man sich halt. Teil 7 Robert Prosser Dieser Beitrag ist Teil des Projekts Stadt.Schreiben, im Rahmen dessen sich drei AutorInnen auf ihre individuelle Art literarisch mit der entstehenden Seestadt auseinandersetzen. Der Inhalt spiegelt die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider und muss nicht der Meinung des Stadtteilmanagements Seestadt aspern entsprechen.