Robert Prosser - Meine Seestadt

Transcription

Robert Prosser - Meine Seestadt
Seestadt.Schreiben 2014
Im Laufe des Jahres setzten sich drei AutorInnen im Rahmen des SeestadtSchreibens mit
Entwicklungen in der Seestadt auseinander. Die unterschiedlichen literarischen Zugänge geben dabei
einen facettenreichen Einblick in eine Stadt im Werden. Die monatlichen Blogbeiträge werden hier
gesammelt präsentiert.
Robert Prosser
Die Großbaustelle Aspern-Seestadt erschafft bleibende Lebensräume. Mich, als Teil des diesjährigen
Blog-Trios, interessiert, was in der Gegenwart des Kran- und Zementspektakels, in dessen Abseits zu
entdecken ist. In unregelmäßigen Streifzügen, so mein Vorhaben, soll das Gelände durchkreuzt
werden, um Geschichten, Meinungen, Geschehnisse zu sammeln.
Die Puppenspielerin (Wagensiedlung Gänseblümchen)
Anfang Mai, während erste Bäume um den von Klatschmohn rot beflankten See gesetzt werden,
quere ich die Schuttanlage, auf der anderen Seite der Bahntrasse gelegen, zu den Gleisen, die im
Fabriksareal von General Motors Austria verschwinden. Vorbei an abgestellten Güterwaggons
erreiche ich durch kniehohes Gestrüpp die Wagensiedlung Gänseblümchen. (Es gibt eine einfachere
Möglichkeit, dorthin zu gelangen, nämlich ab der Ubahnstation Aspern Nord der
Ostbahnbegleitstraße Richtung Essling zu folgen, was mir allerdings erst während des Rückweges
klar wird.) Anfangs befand sich die aus verschiedensten mobilen Gefährten bestehende Kolonie
unweit des nördlich der Großbaustelle gelegenen Parkplatzes, ist nun aber, nach Zwischenstation am
Straßenrand, auf einem parallel zu den Gleisen verlaufenden Schotterweg angelangt. Der derzeitige
Standort ist ein neuerliches Provisorium, der Vertrag mit der Stadt Wien nur von begrenzter Dauer.
Dieses forcierte Wandern der mehr oder weniger ersten Bewohner der Seestadt ist zum Teil auf
Meinungsverschiedenheiten mit der “Wien 3420 Aspern Development AG” zurückzuführen, deren
Erwähnung im Gänseblümchen nicht unbedingt zu Sympathiebekundung führt, ist ein Wagenmensch
(Selbsttitulation) doch kein Nomade per se, sondern sucht eine, mit herkömmlichen
Wohungsangeboten zugegeben wenig kompatible, Form selbstbestimmten Lebens.
Als ich mich durchs Gestrüpp am Rand des Ackers kämpfe, werde ich von A. neugierig beobachtet.
Na, wo kommst du denn her? fragt sie mich, auf der Außentreppe eines blaugelb bemalten
Zirkuswagens stehend. Es beginnt leicht zu regnen und sie lädt mich in ihren nebenan stehenden Bus
ein, zu einer Tasse Tee mit frisch gepflückten Hollerblüten. A. ist erst seit kurzem im Gänseblümchen
wohnhaft. Den Wagen hat sie für 800€ vom Circus Belly gekauft, eine verschimmelte, rollende
Baustelle mit undichtem Dach, die sie bis zum nächsten Winter auf Vordermann gebracht haben will.
Seit 8 Jahren, erzählt sie, ist sie im Bus unterwegs, als Zirkuspädagogin Schulen abklappernd, um
den Kindern das Artisten-Dasein vorzustellen. Als Puppenspielerin wirkt sie freischaffend, flexibel wie
der Lebensstandort zeigt sich ihre Kunstfertigkeit: Handpuppen, Schuhschachteltheater und eine
große Klamaukpuppe sind die Darsteller eines Repertoires, das selbstverfasste wie fremde Stoffe
beinhaltet. Eine ihrer eigenen Geschichten erzählt von einer Hexe mit Katzenallergie, was diese in
einer Märchenwelt, in der die Prinzessin ihren Frosch und der König seine Königin hat, zu Monologen
verleitet, die um erzwungene Einsamkeit kreisen.
Aufgewachsen in Rheinland-Pfalz kaufte sie sich nach dem Studium den Bus, in welchen wir sitzen,
um drauflos zu fahren mit dem Ziel, ihren Platz im Leben zu entdecken. Das Resultat nach acht
Jahren: sie hat viel Leben gefunden und ebenso viele Plätze, jedoch keinen fixen Standort. Als
Konstante, egal ob in England, Spanien oder Israel, ob sommers im Norden oder winters im Süden,
blieb der Bus. Den vor kurzem gefassten Entschluss, sesshaft zu werden, möchte sie mithilfe des
eigenhändig reparierten Zirkuswagens umsetzen, der Ideale und der in Wien begegneten Liebe
wegen.
Es gibt, sagt A. und man spürt die Überzeugung, die in ihren Worten steckt, nichts schöneres, als im
Wagen zu leben, es ist ehrlich und aufrichtig, weil man die Natur anders, näher wahrnehmen kann.
Kurz darauf bricht das Gewitter los, die von Schwechat kommenden oder dorthin steuernden
Flugzeuge verschwinden in den tiefhängenden Wolken, und sie öffnet die Schiebetür des Busses
einen Spalt weit auf tropfnasse Wiesen und Äcker, die in den nächsten Jahrzehnten zur Seestadt
verbaut werden, noch aber, für ein Unwetter zumindest, die Ansichten A.s glaubhaft bestätigen.
Teil 1
Robert Prosser
Wichtig ist vor allem eins: Zeit. Wenn sie hier ist, sagt A., spürt sie, wie reich sie ist, weil ihr Alltag sich
an natürliche Rhythmen orientieren darf, die das hektische Stadtzentrum verwehrt. Von Mietkosten
befreit, lässt es sich in einer Art leben, die über wenig Besitz und viel Raum zur Selbstentfaltung
verfügt. Das, sagt A., macht einige Menschen neugierig, andere dagegen reagieren ablehnend,
vielleicht, vermutet sie, aufgrund altbekannter, rechtspopulistisch angeheizter Klischees. (Das im
Gänseblümchen anzutreffende soziale Spektrum ist in Wahrheit, scheint mir, ebenso vielfältig wie
jenes, das in der Seestadt zu finden sein wird.) Den Nachbarn der hinter Bahndamm und Wald
gelegenen Häuserreihen ist die Ansammlung der Wägen in erster Linie suspekt. Vor kurzem kam
einer von ihnen vorbei, der erste, der sich ein eigenes Bild machen wollte. Er blieb einige Stunden
und reagierte auf das Gänseblümchen wie Allergiker auf Pollenflug, allerdings im verkehrten, sprich
äußerst positiven Sinne. Früher hingen Puppenspieler, kamen sie in eine neue Stadt, weiße Wäsche
aus ihren Wägen, um zu zeigen, dass man nichts von ihnen zu befürchten habe, erzählt A. – heute
wäre ein Gespräch, der Wille zum gegenseitigen Kennenlernen, nötig.
Teil 1
Robert Prosser
Der Highlander
Auf der Wiese zwischen Flederhaus und See steht Ende Mai ein bärtiger Mann mit nacktem
Oberkörper. Er wuchtet einen Baumstamm hoch, wirft diesen weit von sich. Kurz durchgeatmet, dann
beginnt das Schauspiel von neuem. Auf meine Nachfrage hin stellt sich der junge Mann als
Highlander vor, gebürtig aus Rumänien, der hier mit sieben Gleichgesinnten für die klassischen
Bewerbe dieser Sportart trainiert. In einer mit blauer Plastikfolie bespannten Holztruhe am Feldrand
wird die Ausrüstung verwahrt, größtenteils verschiedenste Gewichte, die ihrerseits übers Gras
geworfen werden. Der Stamm ist fünf Meter lang, wiegt 45 Kilogramm und muss in der Luft eine 360
Grad-Drehung absolvieren, erst dann ist der „Caber Toss“ erfolgreich. Stone put (Steinstoßen),
Scottish Hammer Throw (Hammerwerfen, aber schottisch, d.h. das Eisen wird mit einer
Körperdrehung möglichst weit geworfen, ohne dass sich die Füße vom Boden bewegen), Weight over
the bar (ein Gewicht wird einhändig über eine Latte befördert) und Weight Throw (Gewichtwerfen)
nennen sich die restlichen Bewerbe, die die Highland-Athletik definieren. Sheaf Toss, das Werfen
eines Heu- oder Strohballens über eine in der Höhe angebrachte Latte, ist zwar ein bei der Menge
beliebtes Spektakel, jedoch sind sich Sport-Historiker, bzw. Vertreter der Highland-Tradition
unsicher, ob dieses tatsächlich zu den klassischen Formen gezählt werden darf und sich nicht
vielmehr über Kirmes und Volksfest ins Repertoire geschlichen hat. Ursprünglich dazu gedacht, den
keltischen Königen die stärksten und schnellsten Gefolgsleute zu finden, hat sich daraus, erzählt mir
der rumänische Highlander, längst eine eigenständige Sportart entwickelt, die auch fern von
Schottland zahlreiche Liebhaber findet. Zu den Wettkämpfen in Wien und Umgebung reisen
beispielsweise Konkurrenten aus Ungarn, Tschechien und der Slowakei an – zu solchen Anlässen
wird Kilt getragen. Von LKWs aufgewirbelter Staub zieht über die Wiese und der Highlander erzählt
weiter, vor einem Jahr den Entschluss gefasst zu haben, in dieser Sportart mehr als nur ein Hobby zu
sehen. Die erste Station, um die Professionalität zu erreichen, nimmt er diesen September in Angriff,
wenn die in Aspern trainierenden Sportler zu den bekanntesten Bewerben reisen, den „Scottisch
Highland Games“ in Braemar, wo, ob der Nähe zur royalen Sommerresidenz, die Anwesenheit von
Königin Elisabeth II. zu erwarten ist.
Teil 2
Robert Prosser
Der Gärtner
Nördlich der Baustelle, zwischen Zufahrtsstraße und Acker, liegt das Sprungbrett, ein auf
ehrenamtlicher Mitarbeit basierendes Experimentierfeld für alternative Wohn- und Lebensformen. Ein
auf dem Gelände angetroffener Mann, der hauptberuflich als Gärtner arbeitet und seine Expertise in
verschiedensten Beeten und Pflanzungen zur Anwendung bringt, ist sich des historischen
Hintergrundes von Aspern bewusst. Gerade hier, an einem von Napoleon oder den
Nationalsozialisten geprägten Ort kriegerischer Auseinandersetzungen und Besitznahmen, drängen
sich, so der Gärtner, Fragen nach einem friedlichen Zusammenleben auf. Wie kann der Einzelne in
naher Zukunft trotz knapper Ressourcen ein qualitativ hochwertiges Leben führen?
Die Vielfalt der Ansätze und Fragestellungen spiegelt sich in jener der Baumarten: Pappeln, Weide,
Rubinien, Schlehe, Holler, Weißdorn, Kirschen, Ahorn, Walnuss, Marillen, Wildrosen, Haselnuss
bilden eine von Weitem sichtbare Insel im Gräsermeer. Es ist ein temporär existierender Ort, der der
expandierenden Baustelle wird weichen müssen. Der Gärtner sieht im Sprungbrett einen Beitrag zur
Stadtentwicklung, ein Labor für zukunftsfähige Lebensstile. Hier treffen sich Architekten,
Weltreisende, Bobos. Ein bürgerliches, auf Nachhaltigkeit fokussiertes Bewusstsein vermischt sich
mit der DIY-Mentalität von Aussteigern. Der Open-Source-Gedanke zählt: Projekte und Ideen sind
von allen Seiten willkommen, deren Ergebnisse wiederum stehen der Gemeinschaft zur Verfügung.
Eine durch Europa tingelnde Delegation des US-amerikanischen, popkulturell ikonisch verehrten
Burning Man Festivals feierte hier das Erntedank-Fest, kurz quartierte sich ein aus der Stadt
geflohener Obdachlose ein. Hopi-Rituale finden, wie auch der monatlich einmal abgehaltene
Feuertanz, rege Anhängerschaft. In den Beeten wachsen Melonen, Artischocken, Erdmandeln oder
Raritäten wie alte Tomatensorten. Der Biomeiler wärmt die verschiedensten, zum Teil aus Hanflehm
erbauten Behausungen. Ist die Energie des Biomeilers nach zwei Jahren aufgebracht, kann er als
Hochbeet für Kürbis, Paprika und Gurken verwendet werden. In den Augen des Gärtners ist das
Sprungbrett eine Oase zwischen Beton und Äcker-Monokultur. Seine Vision ist es, dass diese Oase
sich in einen Park für die Seestadt transformiert. Einer der abgestellten Wohnwägen dient als Atelier
der Regisseurin Steffi Franz, deren jüngste filmische Arbeit die Wohnwagensiedlung Gänseblümchen
(s. Blogbeitrag # 1) samt nachbarschaftlicher Großbaustelle zum Inhalt hatte. Die Dokumentation
trägt einen Titel, der auch zum Sprungbrett und dem dortigen Experimentieren und Staubaufwerfen
passt wie kaum ein anderes Motto: Dreck ist Freiheit.
Teil 3
Robert Prosser
Der Gärtner (Teil 2)
Die Materialien, die im Sprungbrett weiterverarbeitet werden, stammen mitunter von Arbeitern, die,
vom Erfindergeist angetan, vorbeibringen, was auf dem Seestadt-Baugelände sonst am Müll landet:
zerdellte Rohre, gesplitterte Latten, verbogene Eisengitter. Vor zwei Jahren, erzählt der Gärtner, war
er bei einer Frühlingsfeier erstmalig am Gelände. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine UbahnStation, der Weg nach Aspern war mit entsprechendem Aufwand verbunden. Zwischen Bäumen und
Strauchwerk stand einzig eine auf einer Holzplattform errichtete Jurte, worin man sich traf, um
Kontakte zu knüpfen, Pläne auszuhecken. Viele, die ähnlich ihm selbst durchs Hörensagen das
Sprungbrett mit Begeisterung entdeckt hatten, fehlte es am Knowhow, ihre Ideen alternativer
Lebensart umzusetzen. Etliche planten mit Eifer zukünftige Projekte, nach demotivierenden Stunden
im Feld samt regendurchnässter Kleidung und im Schlamm steckenden Stiefeln, verließ sie jedoch
das Durchhaltevermögen. Seither fand nicht nur die U2 hierher, sondern auch, ohne dass es auf der
nur wenigen Meter entfernten Großbaustelle bemerkt worden wäre, eine Riege illustrer Gäste, die von
allfälligen Widrigkeiten nicht unterzukriegen ist: Von einer Reisegemeinschaft namens Duna-Vision,
die sechs Monaten lang dem Lauf der Donau folgte, vom Ursprung bis zur Mündung ins Schwarze
Meer, über eine Gruppe, die von Stockholm bis nach Athen zu Fuß ging, bis hin zur weltweit tätigen
Rainbow-Community, die ein naturnahes, zivilisationsfernes Dasein propagiert – diese und einige
mehr, wie Pilger beispielsweise, die von heiligen Stätten Asiens gekommen einen Ort zum
Durchatmen suchten, bevor sie endgültig in die vor langem verlassene Heimat zurückkehrten,
machten auf den Asperner Äckern Halt. Im Windschatten der Baustelle geschah und geschieht ein
Kulturaustausch, den man in dieser Vielfalt an anderen Orten Wiens erst finden müsste. Der Gärtner
fragt sich, ob es möglich sein wird, trotz der Wohnblocks die vielfältige Tierwelt Asperns zu
bewahren. Ums Sprungbrett, von den Ubahnstationen über die Baustelle bis zu den
Siedlungsstraßen, teilen sich Fasane, Feldhamster, Eidechsen, Kröten, Weinbergschnecken und
verschiedenste Greifvögel ihre Reviere. Die Seestadt, betont er, ist ein Stadtentwicklungsprojekt, das
auf einem Areal mit enormen Artenreichtum umgesetzt wird. Und das, gibt der Gärtner zu bedenken,
obwohl die Äcker vom Herbst bis ins Frühjahr einer Dreckwüste gleichen. In dieser Hälfte des Jahres,
wenn kein Getreide wächst, sich keine Halmspitzen im Wind wiegen, zeigt sich die in Aspern
gepflegte, agraische Monokultur in all ihrer Hässlichkeit. Was der Gärtner dagegen schätzt, ist die
Dynamik, die das Sprungbrett erlaubt. Knapp war er davor, aus Wien fortzuziehen, doch als sich die
Möglichkeit ergab, hier mitzuwirken, änderte er seine Entscheidung. In der Randzone handelt und
denkt man anders als im historisch überfrachteten, unterm Habsburger-Erbe erstickendem Zentrum
Wiens, ein Schaffensdrang, sagt der Gärtner, der höchstens unterbrochen wird, wenn der
Entminungsdienst durch die Felder kurvt, auf der Suche nach Altlasten des Zweiten Weltkrieges.
Teil 4
Robert Prosser
Der Cricketspieler
Ein Freitag Abend Mitte Oktober, das Flederhaus grün erleuchtet. Zwischen Baucontainern und See
nützen vierzehn Inder die freie Fläche und spielen Cricket unter provisorisch montierten Laternen. Es
dämmert, die Station Aspern Nord erscheint aus der Entfernung wie ein riesiges, glühendes Nest im
dunkler werdenden Gras, der Wind fegt um die zur Ubahn eilenden Bauarbeiter, in Jacken verpackt
und die Kapuzen hochgezogen, während die Inder aufgehitzt, mitgerissen vom Spiel höchstens in
Tshirt dem Ball nachhetzen oder den breiten Schläger schwingen. Sie schreien, jubeln, fluchen, und
ich muss mir eingestehen, dass Cricket vielleicht doch nicht jener todlangweilige Sport ist, für den ich
ihn bisher gehalten habe. Aus dem Rechteck des Laternenlichts saust der Ball in hohem Bogen in die
Wiese und erzwingt eine Pause, in welcher mir einer der Cricketspieler, ein im 22. Bezirk
aufgewachsener 20jähriger namens Rahul, von Amritsar erzählt, der Heimatstadt seiner Eltern und
Metropole des Punjabs, die er vergangenes Frühjahr erstmals besucht hat. Mich selbst verschlug es
im April 2010 dorthin, und zwischen Rahul und mir entspinnt sich gemeinsames Evozieren der
buntbemalten, Militärmärsche hupenden Trucks, der vor Hitze glänzenden, schwarzen Büffel am
Straßenrand, wie die Vororte sich bündeln zum von Autorikschas verstopften, lärmenden Zentrum,
wo im Innern eines aus weißen Marmor gemeißelten Rechtecks aus Gebäuden, Türmen und
Promenaden ein blitzsauber ins Steinbecken geflößter, mit Schwimmverbot belegter See liegt, in
dessen Mitte wiederum, einzig über einen Steg von der südlichen Seite aus zu erreichen, das
Heiligtum der Sikhs aufragt: Der Goldene Tempel. Aus sämtlichen Weltecken, wohin auch immer die
Emigration führte, reisen die Gläubigen an, paradieren über die Hauptstraße, vorbei an sündteuren
Cafés und Pizzerias; Souvenirshops finden sich selbst innerhalb der Eingangstore und manche Pilger
verbeugen sich bereits hier, legen sich wie in Anbetung der Kaufkraft bäuchlings auf den Boden. Ich
erinnere mich der tausenden Menschen und der tiefen, eigentümlich schläfrigen Einheit, die diese
Tage und Wochen bei freier Kost im Tempel verbringen, in den kleinen Parks und unter Torbögen am
Wasser rasten, Jahreslöhne als freiwillige Spende abgespart im Gepäck, stündlich die Kammern der
Priester und allabendlich die Zeremonie abklappern, wenn das heilige, goldene Buch aus dem
Tempel getragen und am nächsten Morgen unter Fanfaren wieder hinein begleitet wird. Der
Cricketspieler berichtete per Iphone seinen Freunden zuhaus in Wien von den Geschehnissen im
Goldenen Tempel, wie manche mit ihren Neugeborenen auf weißen Steinböden in Innenhöfen oder
nahe der belagerten Reihe von Latrinen schliefen, während die im Marmor gespeicherte Tageshitze
mit Einbruch der Dämmerung auszustrahlen begann und die durcheinander gewürfelten Körper
wärmte. Dreimal täglich liefen Freiwillige im Essenssaal durch die Reihen der am Boden sitzenden
Menschen, schöpften aus Eimern Linsen und Reis in die vor den Wartenden liegenden
Aluminiumtableaus, und er erinnert sich an die in dunkles Blau gewandeten Wächter, die den
Anstand verteidigten, Händchenhalten und jede andere Art der Berührung verboten, fehlende
Kopfbedeckung, sei es ein Turban oder die ausgeteilten orangen Tücher, mit erhobenen
Augenbrauen und Stöcken, mit lauten Stimmen und Rauswurf ahndeten. Unentwegt drangen aus den
Lautsprechern die Gesänge der Priester in Schlaf oder Andacht, ununterbrochen vorgetragener aus
dem Buch Guru Granth Sahib, verfasst in Gurmukhi, einer eigens dafür entwickelten Sprache. Mir
selbst blieb vor allem der Eintritt durchs westliche Tor im Gedächtnis, vorbei an der
Gemeinschaftsküche, an deren Hintereingang jeden Morgen die gespendeten Tonnen von Gemüse
und Reis abgeladen wurden, wo sich der Priestersingsang mit den klappernden Geräuschen des
Abwasches vermischte, da tausend Aluminiumtableaus ins Spülwasser der Bottiche tauchten und
einen trommelnden, hypnotischen Rhythmus bildeten. Ob er sich vorstellen kann, in Aspern zu
wohnen, frage ich ihn, bevor das Cricketspiel ihn wieder mit sich reißt. Rahul zuckt mit der Schulter,
deutet auf die am Abend unkenntlichen Schemen der Wohnblöcke, wenigstens, sagt er, sind jetzt
Fenster drin und wirken die Häuser nicht mehr so trostlos.
Teil 5
Robert Prosser
Der Sprayer
Der Geruch der Flämarbeiten zieht von den Dächern übers Rollfeld. Eine Gruppe Studenten
betrachtet vom Aussichtspunkt am östlichen Seeufer die Baustelle, der Wind macht es unmöglich,
die Ausführungen des Dozenten zu verstehen, der übers Wasser deutet. Das Sprungbrett zeigt sich
verlassen hinter kahlem Gestrüpp, auf dem Parkplatz davor viele Bauwägen, weiße von Strabag und
grüne von Porr, die, denke ich mir, als Behausung in der Wagensiedlung Gänseblümchen sicherlich
heißbegehrt wären. Die Gebäude wirken zunehmend vollendet, erhalten durch die jüngst eingesetzten
Fensterscheiben eine vorstellbare Wohnlichkeit, oder, wie August Staudenmayer einmal anmerkte:
Die Fenster sind wie Augen, Häuser kriegen erst dadurch eine Seele. Gegen Jahresende sollen rund
6000 Menschen hier leben und die seit Mitte der 1990er laufenden Planungen der Seestadt in eine
neue Phase lenken. Es entstehen Technologie-Cluster und Gebetsräume, Anbindungen für sechs
Buslinien und zwei Straßenbahnstationen, 240 Hektar im Gesamten und davon wiederum 70 Hektar
Grünflächen, so künden es zumindest die im Infopoint erhältlichen Prospekte an. Was, frage ich
mich, wünscht und erwartet sich jemand, der in die Seestadt zieht? In der Wochenendausgabe der
Tageszeitung Der Standard (30. / 31. August 2014) beginnt ein Artikel mit der Überschrift „Wie Wien
100.000 neue Wohnungen schaffen will“ wie folgt: Wenn die Seestadt Aspern fertig ist, wird Wien
zwei Millionen Einwohner haben. Ein kausaler Zusammenhang besteht aber nur bedingt: Schließlich
wird die Seestadt nur etwa acht Prozent der dann rund 250.000 neuen Wienerinnen und Wiener
beherbergen können. Der große Rest muss woanders unterkommen. „Eigentlich bräuchten wir zehn
Aspern“, sagte deshalb TU-Stadtforscher Rudolf Giffinger kürzlich zum Standard... usw. usf. Vorm
temporären Sitz des Jugendclubs nahe des Flederhauses treffe ich einen jungen Mann, der auf den
Baucontainer gemalte Graffitis fotografiert. Von dir? frage ich und er verneint, der kleine Bruder eines
Bekannten hätte es gemacht. Ich mal schon ein wenig länger, sagt er und belässt es dann, wie es zu
seinem Metier gehört, bei einem Lächeln und Achselzucken, als ich ihn frage, ob er legal oder illegal
unterwegs sei. Ich seh hier einen Haufen Möglichkeiten, meint er, und zeigt in weitem Bogen über
Baustelle und Ubahntrasse. Allein die Pfeiler dort, sagt er und deutet auf die Betonpfosten, die sich
bis nach Aspern Nord ziehen und auf sich die U2 befördern. Und nächsten Sommer kann man hier
auch schwimmen, setzt er nach und zieht sich die Kapuze ins Gesicht.
Teil 6
Robert Prosser
Der Glaser
Ich will ungestört leben, wie und wo es mir taugt, sagte die Puppenspielerin im Gänseblümchen. Ich
will nach Schottland und Stämme werfen, sagte der gebürtige Rumäne auf der Wiese zwischen U2Station und Baustelle. Ich will Sortenvielfalt und anpflanzen was möglich ist und der Boden zulässt,
sagte der Gärtner vom Sprungbrett und setzte nach: Ich will, dass viele Leut sich anschauen, was wir
machen und eigene Ideen mitbringen. Ich will reisen, sagte Rahul, der 20jährige Sohn indischer
Einwanderer, und mehr von der Welt sehen als Wien. Was ich will, geht dich nichts an, sagte der
Graffiti-Sprayer. Mitte Dezember geh ich ein letztes Mal die Baustelle ab. Die Kantine „Big Mama“ ist
vom Rand der breiten, die Seestadt durchkreuzenden Straße verschwunden, der RestaurantContainer einem Laternenpfahl gewichen. In der Wagensiedlung wurde, bleibt zu hoffen, genug Holz
herangeschafft, falls wider Erwarten der Winter einbricht. Die Gemüse- und sonstigen Pflanzen des
Sprungbretts sind bestimmt in einem Keller zwischengelagert. Die Highlander trainieren bei jeder
Witterung, und so lange das ehemalige Flugfeld nicht vereist ist, laufen die abendlichen KricketTurniere auf Hochtouren. Vorm Shop, der einige Schritte von der Baustelle entfernt in Richtung
Ubahn liegt, nippt ein Arbeiter an einer Dose RedBull und beobachtet, wie die untergehende Sonne
den bewölken Himmel über der Fabrik rötlich färbt. Nächste Woche endlich Feiertage, sagt er, und
dann mal heim nach Ungarn. Seit einigen Tagen zweifelt er am Sinn des Ganzen. Klingt schön: Arbeit
in Österreich, Haus am Balaton. Letztens sei er aber am Christkindlmarkt im Ersten gewesen, beim
Michaelerplatz. Die Arbeit dieses Tages war erledigt, die nächsten Fenster sollten erst am Tag darauf
geliefert werden, und was böte sich mehr ans, als mit Glühwein und einem Spaziergang durch die
Wiener Altstadt in den frühen Feierabend zu starten. Vorm Marktstand hörte er im Gedränge einen
dumpfen Schlag und dachte sich nichts dabei. Jemand rempelte ihn an, raunte ihm zu, er soll sehen,
dass er weg kommt. Verärgert, weil er Glühwein verschüttet hatte, drehte er sich um und sah den
Security, der bis gerade eben den Juwelier gegenüber bewacht hatte, am Pflasterstein liegen, den
Kopf in einer Blutlache. Im Inneren des Geschäfts ein vermummter Mann mit Pistole, ein zweiter griff
in die Auslage und stopfte sämtliche Rolex-Uhren mit flinken Bewegungen in eine Sporttasche.
Sirenen näherten sich, der eine steckte die Waffe ein, rannte den Kohlmarkt runter, der andere
schulterte die Tasche und floh in die Herrengasse. Das erste Polizeiauto kam vom Heldenplatz, hielt
mit quietschenden Reifen, wie im Film, erzählte er, es bremste und schlitterte einige Meter weiter. Um
den Wachmann kümmerte sich niemand, weitere Polizeieinheiten rasten heran, aber umsonst, die
Täter waren fort, stand am nächsten Tag in der Zeitung. Ich bin nur dagestanden und hab zugesehen,
sagte er. Ich und jeder andere am Christkindlmarkt. War gesteckt voll, aber wie die abgehauen sind,
gingen alle zur Seite, drückten sich an die Hauswände und machten Platz. Ich arbeite seit fast
zwanzig Jahren als Glaser. In Österreich, Deutschland, der Schweiz, wo auch immer. Zwanzig Jahre.
Die zwei haben nicht mal zwei Minuten gebraucht und sicher mehr Geld gemacht wie ich in nochmals
zwanzig Jahren. Trauen müsste man sich halt.
Teil 7
Robert Prosser
Dieser Beitrag ist Teil des Projekts Stadt.Schreiben, im Rahmen dessen sich drei AutorInnen auf ihre
individuelle Art literarisch mit der entstehenden Seestadt auseinandersetzen. Der Inhalt spiegelt die
Meinung der Autorin bzw. des Autors wider und muss nicht der Meinung des Stadtteilmanagements
Seestadt aspern entsprechen.

Documents pareils