Editorial - Rainer Hampp Verlag

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Editorial - Rainer Hampp Verlag
Industrielle Beziehungen, 3. Jg., Heft 3, 1996
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Editorial
Die bipolare Entwicklung zur Globalisierung und gleichzeitigen Dezentralisierung der
Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen war im Editorial zum ersten Heft dieser Zeitschrift als
eine der zentralen Herausforderungen für die bisherigen Arrangements und Modi der Arbeitsregulierung herausgestellt worden. Sie ist dies auch geblieben. Es waren vornehmlich
die Dezentralisierungstendenzen, sei’s im deutschen oder in anderen nationalstaatlichen Systemen industrieller Beziehungen, die wir in den ersten Jahrgängen der Zeitschrift dokumentierten und analysierten. Das vorliegende Heft ist nun der anderen, der Globalisierungstendenz gewidmet. Mit der Zunahme multinationaler Unternehmen als global players geht
zweifellos die Relativierung der Rolle des Nationalstaates als einer historisch privilegierten
Regulierungsdomäne zugunsten der Regionen und transnationalen Wirtschaftsräumen einher. Unter den transnationalen Wirtschaftsräumen nimmt Europa eine besondere Stellung
ein. Wegen der - über die bloße wirtschaftliche Vereinigung hinaus - angestrebten politischen Einheit Europas verfügt es bislang als einziger transnationaler Wirtschaftsraum auch
über das Potential für ein neues und supranationales Gravitationszentrums der kollektiven
Regulierung der Arbeit. Mit dem Fortgang der wirtschaftlichen und politischen Einigung
wächst auch der Regelungsbedarf für die Arbeitsbeziehungen.
Die industriellen Beziehungen im europäischen Wirtschaftsraum zu einem Schwerpunktthema dieser Zeitschrift zu machen, kann zweierlei bedeuten: zum einen die Deskription und Analyse des allmählich sich herausbildenden Systems transnationaler Akteure, Institutionen und Verfahren der Arbeitsregulierung; und zum anderen die vergleichende Darstellung institutioneller Arrangements in einzelnen Ländern der Europäischen Union unter
den Gesichtspunkten ihrer Konvergenz oder Divergenz. In den Beiträgen zu diesem Heft
kommen beide Perpektiven zu ihrem Recht.
Die Aufsätze von Berndt Keller einerseits und von Paul Marginson und Keith Sisson
andererseits befassen sich mit zwei zentralen Instrumenten bzw. Institutionen zur transnationalen Regulierung der Arbeitsbeziehungen. Der auf eine Inititative des damaligen Kommissionspräsidenten Delors zurückgehende und schließlich im Sozialprotokoll zum Vertrag
von Maastricht verankerte Soziale Dialog steht im Mittelpunkt des Beitrags von Keller. Er
beschreibt die beiden Verfahrensvarianten zentral und sektoral organisierter sozialer Dialoge, welche den transnationalen Verbänden eine Selbstregulierungskompetenz zur Ausgestaltung des sozialen Raums der EU einräumt, die - getreu dem Subsidiaritätsprinzip - einen
Vorrang vor Richtlinien und Verordnungen der Kommission genießt. Allerdings bewertet
der Autor, aufgrund der gegenwärtigen sozialpolitischen Pattsituation zwischen den europäischen Verbandsföderationen, den Sozialdialog für die tagesaktuelle Politik eher pessimistisch. Für die Zukunft vermag er in diesem Instrument einer europäischen Arbeits- und Sozialpolitik günstigenfalls den Vorläufer eines überbetrieblichen Kollektivverhandlungssystems zu erkennen.
Zu einer wesentlich positiveren Einschätzung der vor zwei Jahren durch eine EURichtlinie geschaffenen Institution der Europäischen Betriebsräte kommen Marginson und
Sisson in ihrem Beitrag. Sie zeigen einmal auf, daß der Euro-Betriebsrat als eine unternehmenszentrierte Institution mit dem von Unternehmerseite ausgehenden Druck zur Dezentralisierung der Arbeitsbeziehungen durchaus konform geht; und sie argumentieren des weiteren gegen die - je nach Standpunkt - geäußerte „Befürchtung“ oder „Erwartung“, bei dieser
Einrichtung könnte es sich um den Nukleus eines zukünftigen europäischen Systems des
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Müller-Jentsch: Editorial
collective bargaining handeln. Gleichwohl identifizieren sie eine immanente Dynamik:
Durch Vergleich, Selektion („regime shopping“) und schließlich Koordination wird das
Management multinationaler Konzerne zunehmend die Entlohnungs- und Arbeitspraktiken
in den einzelnen Niederlassungen zu integrieren suchen und damit nolens volens auch die
nationalen Gewerkschaften stimulieren, ihre Bemühungen zu einer die nationalen Grenzen
überschreitenden koordinierten Interessenpolitik zu verstärken.
Der Beitrag von Steffen Lehndorff präsentiert die empirischen Befunde einer komparativen Untersuchung über Arbeitszeitflexibilisierung unter dem Just in time-Regime von
Zuliefererbetrieben der Autoindustrie in vier EU-Ländern. Aufgezeigt werden die nationalen Differenzen zwischen den eingesetzten Flexibilisierungsinstrumenten und ihre jeweiligen Grenzen. Die nationalen Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitregimes werden unter Rückbezug auf die unterschiedlichen Traditionen und Milieus der industriellen Beziehungen in den
einzelnen Ländern diskutiert. Im Hinblick auf die Arbeitszeitsouveränität der Beschäftigten
lautet der zentrale Befund, daß nur dort, wo Arbeitszeit wirklich ausgehandelt wird, auch
die unterschiedlichen Arbeitszeitinteressen im Betrieb ihre Anerkennung finden. Lehndorffs
Beitrag schließt mit einer bemerkenswerten Schlußfolgerung: Auch die Zulieferunternehmen werden zu weltweiten Unternehmen, zu „europäischen Firmen“, die der Autor als potentielle, zukünftige Arenen der Aushandlung von Rahmenbedingungen für die betriebliche
Arbeitszeitpolitik identifiziert. Der abschließende Hinweis auf den Euro-Betriebsrat als dem
sich dann anbietenden, zukünftigen Verhandlungspartner des Euro-Managements liest sich
wie eine Paraphrase zu der Konklusion des voranstehenden Beitrags.
Die beiden abgedruckten Praxisberichte liefern Wissenschaftlern wie Praktikern hilfreiche und wertvolle Informationen über die Institution des Europäischen Betriebsrats.
Wolfgang Lecher hebt zu Recht den innovativen Charakter der - nach über dreißigjähriger
Diskussion - im September 1994 verabschiedeten Richtlinie zur Errichtung der ersten originär europäischen Institution der Arbeitsbeziehungen hervor. Nach einer Zusammenfassung
der wichtigsten Kritierien und ihres Anwendungsbereichs sowie einer Erörterung aktueller
und prospektiver Implementionsprobleme im Spannungsfeld zwischen nationalspezifischen
Traditionen und den transnationalen Aufgaben dieser Institution skizziert er drei paradigmatische Beispiele freiwilliger Vereinbarungen über die Errichtung von Euro-Betriebsräten.
Wieland Stützel präsentiert schließlich die Ergebnisse einer Umfrage bei Unternehmen, die
„eurobetriebsratspflichtig“ sind. Auskunft gibt diese Untersuchung über den Verbreitungsgrad von Euro-Betriebsräten auf freiwilliger Basis sowie über deren Strukturen und Kompetenzen.
Insgesamt bieten die einzelnen Beiträge dieses Schwerpunktheftes ein facettenreiches
Bild der sozialen Dimension Europas, die - verglichen mit der wirtschaftlichen - zwar immer noch als unterentwickelte zu bezeichnen ist, aber gleichwohl entwicklungsfähige Ansätze zum Aufbau eines genuin europäischen Systems der industriellen Beziehungen aufweist. Wir wollen in dieser Zeitschrift die weitere Entwicklung analysierend und kommentierend begleiten und laden die potentiellen Autoren zu Beiträgen über alle Aspekte der Regulierung der Arbeit auf europäischer wie auf internationaler Ebene ein.
Juni 1996
Editorial
Walther Müller-Jentsch
Industrielle Beziehungen, 3. Jg., Heft 3, 1996
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The editorial of the first issue of this journal characterised the simultaneous developments of globalisation and decentralisation of economic activities and labour relations as
one of the central challenges facing existing arrangements and methods for regulating labour-management issues. And it still is. In the first issues of the journal, we were mainly
concerned with documenting and analysing the tendencies towards decentralisation in German and in other national industrial relations systems. The current issue is now devoted to
the other tendency, namely, globalisation. The increasing number of multinational companies as "global players" is undoubtedly connected with the decline of the nation state as a
historically privileged focus for regulation in favour of regions and transnational economic
areas. Europe occupies a special position among the transnational economic areas. With the
envisaged political union, which goes beyond mere economic union, Europe has, as the only
transnational economic area so far, the potential to become a new and supranational centre
of gravity for the collective regulation of labour. With the advance of the economic and political union grows the need for regulating labour relations.
Focusing on industrial relations in the European economic sphere in this journal can
take a double meaning: first the description and analysis of the slowly developing system of
transnational actors, institutions and methods for the regulation of labour; and second, the
comparative presentation of institutional arrangements in individual countries of the European Union with a view to their convergence and divergence. The articles of this issue cover
both perspectives.
The articles by Berndt Keller, on the one hand, and by Paul Marginson and Keith Sisson, on the other, concentrate on two central instruments or institutions for the transnational
regulation of labour relations. The Social Dialogue, which stems from an initiative by the
former President of the European Commission, Jacques Delors, and which was finally embodied in the social protocol of the Maastricht treaty, is the focus of Keller’s contribution.
In this article, he describes the two procedural variations of centrally and sectorally organised social dialogues giving the transnational union and employer associations powers of
joint-regulation to shape the social policy of the EU, which, in accordance with the subsidiarity principle, is given priority over rules and regulations emanating from the Commission.
However, because of the present socio-political stalemate between the European unions and
employer associations, the author is pessimistic about the prospects for social dialogue over
day-to-day policies. For the future he can at best see in this instrument of European labour
and social policy a forerunner of a system of collective bargaining on a supra-company level.
In their article, Marginson and Sisson see a far more positive prospect for European
works councils, which were created by a EU-directive two years ago. First, they show that
the European works council, as a company-centred institution, is consistent with the decentralisation of industrial relations pursued by companies; and they reject the common
‘fear’ or ‘expectation’ (depending on one’s perspective) that this institution could become
the nucleus of a future European collective bargaining system. They identify, however, an
underlying dynamic: by comparison, selection (‘regime shopping’) and finally coordination,
management of transnational enterprises will increasingly try to integrate personnel and pay
practices in individual industries. At the same time, they will encourage national trade unions to increase their efforts to build coordinated representation policies, which will take
them across national borders.
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Müller-Jentsch: Editorial
The contribution by Steffen Lehndorff presents the empirical results of a comparative
survey on increased flexibility of working time under just-in-time production by suppliers
of the automobile industry in four EU countries. The author shows the national differences
between the flexibility policies and their respective limitations. National labour market and
working time regimes are discussed from the perspective of different national industrial relations traditions and contexts. With view to how much autonomy employees can exercise
over their working hours, the author found that the diverging interests are recognised only in
those companies in which working hours are currently subject to negotiation. Lehndorff’s
article concludes with the remarkable statement that supplier companies are also becoming
global enterprises, ‘European companies’, which the author identifies as potential future
arenas for negotiating the framework of working time policy within the companies. When
the author finally points to the European works’ council as a future partner at the negotiating table with European management, one has the impression that he is paraphrasing the
conclusion of the preceding article.
The two practitioner reports provide both researchers and practitioners with valuable
information on European works councils. Wolfgang Lecher rightly emphasises the innovative character of a regulation for the creation of the first truly European labour relations institution, which had not been passed until September 1994 after more than 30 years of discussion. After summarising the most important criteria and their fields of practice as well as
discussing recent and prospective problems of implementation in the area of tension between nationally specific traditions and transnational tasks of this institution, the author sketches three examples of significant types of voluntary agreements establishing European
works councils. Finally, Wieland Stützel presents the results of a survey carried out in companies that are eligible for a European works’ council. This survey reveals the degree of popularity of European works’ councils on a voluntary basis as well as their structure and powers.
Overall, the articles of this issue display the varied facets of the European social dimension, which, compared with the economic dimension, remains underdeveloped, but
which also promises the beginnings of a genuinely European system of industrial relations.
In this journal we seek to track its further developments, analysing and commenting on
them. Therefore, we invite potential authors to contribute articles on all aspects of the regulation of labour on the European as well as on the international level.
June 1996
Walther Müller-Jentsch