Kino

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Kino
DONNERSTAG, 10. OKTOBER 2013
Kino
NUMMER 234
Stummer
Zeuge
Kino kompakt
00 SCHNEIDER
Kommissar im ganz
speziellen Blödel-Kosmos
Forest Whitaker
glänzt in „Der Butler“
Nun macht der Entertainer und
Sänger Helge Schneider („Sommer, Sonne, Kaktus“) als Kommissar 00 Schneider im Ruhrpott Jagd
auf den perfiden, Kette rauchenden
Schwerverbrecher Jean-Claude
Pillemann (Rocko Schamoni). Helge
Schneider ignoriert dabei souverän
die Gesetze von Raum und Zeit, Logik und Plausibilität und entwirft
sich seinen ganz speziellen BlödelKosmos. Der Kommissar will sich
eigentlich zur Ruhe setzen, aber
Erzbösewicht Pillemann, genannt
die „Eidechse“, gibt keine Ruhe. Bis
es zum Showdown kommt, passiert nicht viel: Tante Tyree aus
Amerika kommt zu Besuch, ein
mannsgroßer Affe steht im Café, ein
Staubsaugervertreter läuft Amok,
ein Junge raubt eine Bank aus, ein
Zahnarzt entpuppt sich als sexbesessen. (dpa)
**
Filmstart in Augsburg, Ingolstadt,
Kaufbeuren, Neu-Ulm, Ulm
VON MARTIN SCHWICKERT
O
LEBEN EINES SCHROTTSAMMLERS
Für Arme gibt es
keinen Arzt
Kaum zu glauben, doch was der
bosnische Regisseur Danis Tanovic „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“ zeigt, ist wirklich passiert: Einer Roma-Frau wird nahe
Sarajevo trotz lebensbedrohlichen
Verlaufs ihrer Schwangerschaft die
medizinische Hilfe verweigert.
Denn die in Armut lebende Familie
ist nicht versichert und hat nicht
das notwendige Geld. Was der Vater
durch das Ausschlachten von verschrotteten Autos verdient, reicht
gerade mal zum Überleben. Voller
Verzweiflung muss die Familie gegen das Gesetz handeln, um das
Leben der Frau zu retten. Tanovic
lässt die Betroffenen das eigene Erleben nachspielen. Die Authentizität
der Laien und die schnörkellose
Gestaltung des Films geben dem
Report aus Bosnien eine schockierende Intensität. (dpa)
***
Filmstart in Augsburg
O
SLOW FOOD STORY
Stefano Sardo erzählt vom
geschmackvollen Essen
Fast-Food-Filialen, wohin man nur
schaut. Doch in dem italienischen
Städtchen Bra nimmt man tapfer
den Kampf auf. Vor 25 Jahren begann Carlo Petrini, mit seiner „Slow
Food“-Bewegung der traditionellen Küche wieder zu ihrem Recht zu
verhelfen. Amüsant, spannend
und ein wenig werblich erzählt Regisseur Stefano Sardo die „Slow
Food Story“. Kritikern ist fast zu
viel Business im Spiel, kommt Petrini doch aus der Linken. (AZ) **
Filmstart in Augsburg, Ulm
O
Weiter sehenswert
● Gravity ***** Sandra Bullock und
George Clooney verloren im All
● Liberace **** Michael Douglas als
mondäner, homosexueller Pianist
● Rush **** Daniel Brühl kämpft als
Niki Lauda in der Formel 1
Unsere Wertungen
* sehr schwach
** mäßig
*** ordentlich
**** sehenswert
***** ausgezeichnet
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Er lässt sich nicht aus der Bahn bringen: Didi Hallervorden als Altenheimbewohner Paul Averhoff, der nochmals den Marathon gewinnen möchte.
Foto: Universum
Der Fisch will schwimmen
Sein letztes Rennen Didi Hallervorden weckt im Altenheim nochmals seinen sportlichen Ehrgeiz
VON GÜNTER H. JEKUBZIK
Paul und Margot Averhoff (Dieter
Hallervorden, Tatja Seibt) sind
schon lange ein Paar, als ihre
Schwindelanfälle beide in ein Altersheim bringen, das sich als reale Horrorvorstellung erweist. Scheinbar
stumpfsinnige und unkontrollierte
Mitbewohner wurden hier „abgestellt“. Am schlimmsten ist für Paul
Averhoff allerdings die verordnete
hirnlose Routine, die KindergartenMentalität in diesem „Totenheim“.
Beim Singen und beim Basteln von
Kastanienmännchen hat nur der
Blockwart der Gruppe Spaß.
Aber Paul ist nicht irgendwer, er
gewann 1956 in Sydney trotz eines
scheinbar uneinholbaren Rückstandes die Goldmedaille im Marathon.
Und in dieser ausweglosen Situation, an diesem Ort des Lebensendes
fängt er noch mal von vorne an. Er
läuft nicht weg, er bleibt und beginnt wieder zu laufen. Rennt Runde um Runde um das Seniorenheim.
Ignoriert Blutblasen und Kreislaufzusammenbrüche. Findet Hoffnung
im neuen Ziel. Dabei will er nicht
nur den Berlin-Marathon schaffen,
er will ihn gar gewinnen.
„Sein letztes Rennen“, Hallervordens aktueller Film, macht Spaß,
ist aber kein Schenkelklopfer wie
seine populärsten Kinohits. Wie
vieles andere gelangen Regisseur
Kilian Riedhof („Tatort“, „Bloch“)
witzige Szenen, wenn er als Erscheinung vor dem Fenster vorbeirennt.
Alte Turnschuhe mit nur zwei Streifen, Franzbranntwein für die Beine
statt stilloser Kompressionskniestrümpfe, eine mechanische Stoppuhr von Hanhart statt iPod: Paul
Averhoff kommt altmodisch daher.
Der Film erzählt flott und routiniert – auch die berührende Geschichte einer liebevollen Ehe, die
jetzt wieder eine Trainingsgemein-
schaft wird: Ihre Warnung „Aber
das wird fürchterlich!“ beantwortet
er selig mit „So war es immer!“ Mit
seinem Laufen belebt Paul bald das
ganze Altersheim, was der Leiterin
nicht geheuer ist. Ein Duell beginnt:
Sie will ihn mit ihrer Küchenpsychologie einfangen, er steckt sie
mit guter Laune und Sportlerweisheiten („Das ganze Leben ist ein
Marathon“) in die Tasche. Als die
Heimleiterin Rita (klasse: Katrin
Sass) ihm das Laufen im Anstaltspark verbieten will, sagt er: „Du
kannst dem Fisch doch nicht das
Schwimmen verbieten.“
Der Hauptdarsteller
● Dieter Jürgen „Didi“ Hallervorden (*5. September 1935 in Dessau) ist einer der bekanntesten deutschen Komiker, Kabarettist, Schauspieler, Sprecher und Sänger. 1960
gründete er in Berlin die Kabarettbühne „Die Wühlmäuse“, die er bis
heute leitet. Als zweites Haus kam
2008 das Schlossparktheater hinzu.
Den Durchbruch als Komiker erzielte er
1975 mit der Slapstick-Serie „Nonstop Nonsens“. Im Kino entwickelte er
den Tollpatsch Didi mit Filmen wie
„Didi – Der Doppelgänger“ (1984) und
„Didi auf vollen Touren“ (1986). Als
Kabarettist profilierte er die „Spottschau“ und bis 2003 „Hallervordens
Spott-Light“. Hallervorden parodierte
auch Schlager („Super-Dudler“) und
war häufig als Synchronsprecher zu hören, etwa von Marty Feldman.
Zu seinem 70. Geburtstag erschien
2005 die Autobiografie „Wer immer
schmunzelnd sich bemüht“. Ruhestand
gibt’s nicht: Er spielt und führt weiterhin mit Leidenschaft Theater. (loi)
Paul ist ein Optimist, ein Kämpfer. Und wenn seine Frau sagt, sie
hätten Schlimmeres erlebt, den
Krieg und die Hungerwinter, dann
glaubt man ihnen das. „Sein letztes
Rennen“ bringt eine sehr passende
Besetzung an den Start, bis hin zum
Pfleger Tobias (Frederick Lau).
Heike Makatsch gibt die besorgte
Tochter, die als Stewardess ohne
Freund nicht viel Zeit für ihre Eltern hat. Hallervorden, der sich zuletzt („Das Kind“) auch mal als dämonischer Päderast zeigte, spielt
jetzt wieder eine „Paraderolle“ als
sympathischer Sonderling. Seine bekannte Stimme, das offene Gesicht,
diesmal mit wehmütigem Blick,
bleiben im leisen Spaß und im nicht
aufdringlichen Ernst überzeugend.
Anleihen von „Einer flog übers
Kuckucksnest“ und der AltersheimEpisode in „Cloud Atlas“ sind unübersehbar. Nur dass gerade die
Laufszenen auf eine nahezu slapstickhafte Weise unrealistisch inszeniert wurden, ist schade. Trotzdem
überzeugt „Sein letztes Rennen“ als
nachdenklicher Wohlfühlfilm für
mehrere Generationen.
****
O
Filmstart in Aichach, Augsburg, Donauwörth, Ingolstadt, Kaufbeuren,
Neu-Ulm, Ulm
„Der Raum muss sich leer anfühlen,
wenn du darin bist“, erklärt der
Vorgesetzte den obersten Leitsatz
des Butler-Berufs. Nichts sehen,
nichts hören, nicht auf die Gespräche reagieren, nur bedienen – die
Regeln totaler Diskretion gelten in
besonderem Maße für die Hausangestellten der Pennsylvania Avenue
Nr. 1600 in Washington D.C. Die
Butler im Weißen Haus sind gleichzeitig Geheimnisträger und Kontinuum. Lee Daniels erzählt in „Der
Butler“ die leicht fiktionalisierte
Lebensgeschichte von Cecil Gaines
(Forest Whitaker), der von 1952 bis
1986 unter acht verschiedenen Präsidenten im Weißen Haus arbeitete.
Nicht nur weltpolitisch mit Kuba-Krise und Vietnam-Krieg, auch
innenpolitisch mit dem Aufkommen
der schwarzen Bürgerbewegung fallen Cecils 34 Dienstjahre in eine bewegte Zeit. Daniels erzählt die kontroverse Zeitgeschichte als Generationskonflikt und hat ein genaues
Auge für den Lebensalltag der
Schwarzen. Während Cecil im Oval
Office stummer Zeuge politischer
Entscheidungen auf oberster Ebene
wird, kämpft sein ältester Sohn
Louis (David Oyelowo) in der Bürgerrechtsbewegung. Forest Whitaker ist hervorragend in der Rolle
des Butlers, der seit seiner Kindheit
als Diener herangezogen wird, lernt
den Weißen ein stets serviles
Dienstleistungsgesicht entgegenzubringen und dahinter trotzdem die
eigene Würde zu bewahren. ****
O Filmstart in Augsburg, Neu-Ulm, Ulm
Forest Whitaker als Butler Cecil Gaines
im Weißen Haus.
Foto: Prokino
Ein Panorama der Verderbtheit Schach mit Menschen
Prisoners Packender Thriller mit Jake Gyllenhaal und Hugh Jackman
VON HARALD WITZ
Zwei entführte Kinder, ein Vater,
der zum Folterer wird, ein wortkarger Ermittler, der nachdenklich
durchs nasskalte Massachusetts
stapft – mit solchen Zutaten weckt
Denis Villeneuves Thriller „Prisoners“ große Erwartungen auf ein
Panorama menschlicher Verderbtheit, wie sie zuletzt bei David Finchers „Sieben“, Clint Eastwoods
„Mystic River“ und Ben Afflecks
„Gone Baby Gone“ zu entdecken
war. Und ohne etwas vorwegzunehmen: Der Kanadier erfüllt bei seinem Hollywood-Debüt diese Erwartungen mühelos.
Villeneuve und sein Drehbuchautor Aaron Guzikowski führen eine
dramatische Anklage um die Schuld
und Seele Amerikas. Schon der
Prolog verknüpft den immanenten
Themenkreis Krieg und Gewalt mit
der Familie von Kriegsveteran Keller Dover (Hugh Jackman). Die Ungewissheit um den Verbleib seines
Kindes sowie die Vorwürfe der
Mutter (Maria Bello), das Familienoberhaupt habe versagt, verleiten
Dover zu einer Untat. Als der ermittelnde Detective Loki (Jake Gyllenhaal) den Verdächtigen Alex Jones
(Paul Dano) aus Mangel an Beweisen wieder auf freien Fuß setzt, entführt Keller den geistig zurückgebliebenen Mann und versucht durch
Folter ein Geständnis oder zumindest einen Hinweis auf den Verbleib
der Kinder zu erzwingen.
Villeneuve entfaltet mithilfe von
Kameraikone Roger Deakins klare,
fast stilisierte Bilder – eine rote Kinderpfeife, eine Leiche im Keller, ein
Amulett in Form eines Labyrinths,
Koffer voller Kinderkleider und le-
bende Schlangen. Die Spielorte sind
so symbolträchtig wie die Figuren.
Neben der Idealbesetzung Hugh
Jackman glänzt auch Gyllenhaal als
Ermittler mit minimalistischer Mimik. Wo Hollywood sonst den vordergründigen Schock sucht, glänzt
Villeneuve in seinem Thriller durch
Auslassung.
****
O
Filmstart in Aichach, Augsburg, Ingolstadt, Kaufbeuren, Königsbrunn und
Neu-Ulm
Zwei ungleiche Ermittler: hier Detective Loki (Jake Gyllenhaal, links) und dort der
Kriegsveteran Dover (Hugh Jackman).
Foto: Tobis
Spieltrieb Deutsche Literaturverfilmung
VON FRED DURAN
„Wirkliche Liebespaare sollten miteinander spielen“, behauptet Alev
(Jannik Schümann). Der hellwache
Gymnasiast im maßgeschneiderten
Anzug vertritt die Ansicht, dass das
Leben ein Spiel sei und die Menschen Figuren, die auf dem Feld hin
und her bewegt werden. Statt Figur
zu sein, will er Spieler werden und
Ada (Michelle Barthel) soll ihm helfen. Die 15-jährige Schülerin ist
Michelle Barthel und Jannik Schümann
glänzen in „Spieltrieb“.
Foto: Concorde
hochintelligent und lässt sich eigentlich nicht so schnell beeindrucken.
Aber der um drei Jahre ältere Alev,
der schon in sieben verschiedenen
Ländern zur Schule gegangen ist,
schafft es, ihr Interesse zu wecken.
Sie willigt in den diabolischen Plan
ein, den Sportlehrer Smutek (Maximilian Brückner) zu verführen,
während Alev das sexuelle Vergehen des Pädagogen mit der Kamera
dokumentiert. Dabei soll nicht die
Erpressung des Lehrers im Vordergrund stehen, sondern dessen Befreiung von den Fesseln seiner
spießbürgerlichen Existenz.
Mit „Spieltrieb“ verfilmt Gregor
Schnitzler den gleichnamigen Bestseller von Julie Zeh (2004). Er entwickelt ein gutes Gespür für das
emotionale Hinterland seiner Figuren, die mit Macht, Manipulation
und letztlich auch den eigenen Emotionen experimentieren. Hervorragend die beiden jungen Hauptdarsteller Michelle Barthel und Jannik
Schümann, die hinter der scheinbaren Gefühlskälte ihrer Figuren auch
deren Seelensehnsüchte hindurchscheinen lassen.
****
O
Filmstart in Augsburg, Kaufbeuren,
Kempten, Neu-Ulm, Nördlingen, Ulm

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