Kunst und Arbeiterbildung am Beispiel Frans Masereels

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Kunst und Arbeiterbildung am Beispiel Frans Masereels
Kunst und Arbeiterbildung am Beispiel Frans Masereels
Zum 80. Geburtstag des Künstlers
Frans Masereel muss unseren Lesern nicht vorgestellt werden. Aeltere und Junge, die in der Arbeiterbildung
tätig sind, wurden ihr ganzes politisch und sozial bewusstes Leben vom unübersehbaren, mit der
Arbeiterbewegung so eng verbundenen Werk des Holzschneiders und Malers begleitet. Wie viele Einladungen
zu Bildungsveranstaltungen in der Arbeiterpresse wurden durch einen Holzschnitt Frans Masereels wirkungsvoll
unterstrichen! Wie oft wurde die Sprache der Aufrufe und Parolen auf Flugblättern durch sein bildnerisches
Wirken verstärkt. Als der junge belgische Künstler aus seiner Kriegsgegnerschaft die Konsequenzen zog und
sich nach Genf begab, um im Kreise Romain Rollands, Heinrich Gilbaux' und anderer Kriegsgegner und
Pazifisten mit seiner Kunst ihren Kampf zu unterstützen, kam es auch schon zu den ersten Kontakten mit der
sozialistischen und Gewerkschaftsbewegung. Es waren junge Arbeiter, die in Genf in den Jahren des Ersten
Weltkrieges die Zeitung „La Feuille“ verkauften, die täglich ein den imperialistischen Krieg anprangerndes Bild
von Masereel enthielt. Es waren die russischen Revolutionäre und Sozialisten, die mit Romain Rolland und
seinem Kreis in Verbindung standen. So war es kein Zufall, dass noch in Genf 1918 die 25 Holzschnitte der
„Passion eines Menschen“ entstanden. In diesen 25 Bildern hielt Masereel das exemplarische Leben eines
revolutionären Arbeiters vom Beginn bis zum heroischen Tode für die Sache der Revolution fest.
Die Schweizerische Arbeiterbildungsbewegung hat seine Bedeutung erkannt. Die Einzelholzschnitte, vor allem
der „lesende Arbeiter“, wurden geradezu zum Symbol der proletarischen Bildungsbestrebungen. 20 Jahre nach
Erscheinen der „Passion“ wurde sie in Zürich, am 10. März 1938, mitten in der durch den Spanischen
Bürgerkrieg und die Naziherrschaft aufgewühlten Welt, als riesiges Chorwerk im Limmat-Haus aufgeführt. Diese
Aufführung stellt in der Geschichte der schweizerischen Arbeiterbildungsbestrebungen einen Höhepunkt dar,
wie er wohl nicht mehr erreicht worden ist. 20 Zürcher Arbeiterchöre, ein Arbeiterorchester der Eisenbahner,
Pöstler, Typographen und Strassenbahner haben ein halbes Jahr lang geprobt, um mit einer grossartigen
Inszenierung den Text des Schriftstellers Hans Sahl mit den projizierten Holzschnitten als „Geschichte von
Jemand“ aufzuführen. Ein junger Komponist, unter dem Pseudonym Victor Halder, schuf die Musik, angeregt
von den Arbeiterchorälen Hans Eislers. Der Schauspieler Heinrich Gretler vermittelte die Spruchtexte und die
Solistin Ilonka Röderer die Songs. Das einzigartige Gemeinschaftswerk, zu dem Frans Masereel mit seiner
„Passion eines Menschen“ die Anregung gegeben hatte, machte tiefen Eindruck und war ein Ansporn für alle,
die in der Arbeiterkulturbewegung tätig waren. Nirgends und nie mehr ist es zu einer solchen Demonstration der
Verbundenheit eines Künstlers mit der Arbeiterbildungsbewegung gekommen, an der Tausende teilgenommen
haben.
Im engeren Kreise, aber mit grossen Auswirkungen, trug Frans Masereel nicht nur mit den in der ganzen Welt
verbreiteten Reproduktionen seiner Holzschnitte, sondern durch direkte Lehrtätigkeit zur Arbeiterbildung bei. Er
leitete Freizeitkurse für Malerei und Zeichnen der Pariser Gewerkschaften. Anlässlich der Uebergabe des ersten
Kulturpreises der deutschen Gewerkschaften, am 30. Oktober 1964 in Düsseldorf, an den Philosophen Ernst
Bloch und an Frans Masereel, erinnerte dieser in seiner Dankrede an diese Tätigkeit und äusserte dabei unter
anderem folgende Gedanken über die Arbeiterbildung:
„Blicken wir zurück, dann stellen wir fest: Vor nicht allzu langer Zeit trennte eine fast unüberwindliche Grenze die
Arbeiterklasse von jeder wahren Kultur und vielleicht noch mehr von jeder echten Kunst. Auch da wurde der
Arbeiter von der Gesellschaft zur Rolle eines Hinterwäldlers verdammt. Zum Proletarierdasein gehörte es, dass
man auch an dem goldenen Ueberfluss der Welt nicht teilhatte. Ausgeschlossen, schon aus dem einfachen
Grunde, dass Bildung Musse voraussetzt. Wer acht, zehn und sogar zwölf Stunden am Tag schwer gearbeitet,
geschuftet hat und ausgelaugt nach Hause kommt, von dem kann wohl nicht verlangt werden, dass er dann
frisch und kraftvoll eine geistige Anstrengung auf sich nimmt. Damit ist ein wesentliches Wort gefallen, das
besonders von den Gewerkschaften wache Aufmerksamkeit verdient: Freizeit. In dem Masse, in dem die
technischen Hilfsmittel der Produktion verbessert werden, wird der Mensch über eine immer grössere Freiheit
verfügen, deren Gestaltung entscheidend die kulturelle und geistige Entwicklung der Arbeiterschaft bedingen
wird. .. Das bedeutet für mich, dass der Arbeiter nicht allein mit dem grossen Kunstwerk in der Menschheit
vertraut gemacht wird, sondern auch, dass die Kunst als eine nicht mehr fremde Tätigkeit ihm offen steht. Das
wird wohl das Entscheidende sein.“ Masereel erinnerte dann an seine Tätigkeit als Leiter von Malerei- und
Zeichen-Freizeitkursen bei den Pariser Gewerkschaften. „Wieviel künstlerische Möglichkeiten liegen in der
Arbeiterschaft brach, ungenützt… Fragen wir uns aber: Wenn alle zur Arbeiterklasse gehörigen Menschen sich
frei entfalten, am Kulturleben teilnehmen und an den Schöpfungen des Geistes mitwirken könnten, wäre die
Menschheit, es ist meine feste Ueberzeugung, mit Gaben beschenkt und bereichert worden, Kunstwerken
gewiss, und vor allem mit einem früher erwachten und volleren Bewusstsein der unteilbaren Würde des
Menschendaseins.“
Die gemeinsame Ehrung des Philosophen Ernst Bloch und des Künstlers Masereel berührte die Fundamente,
auf denen die Arbeiterbildung aufgebaut ist. Masereels Kunst und die Blochsche Philosophie: Im Geiste von
Marx und Engels aktiv die Welt zu verändern, um aus dem Reich der Notwendigkeiten in das Reich der
Freiheiten schreiten zu können. Ernst Bloch wies damals auf Masereels Blatt „Prometheus“ hin: „Der stets mit
gefurchter Stirn nach oben blickend, hat das von dort heruntergebrachte Feuer in der Hand, nahe an sich hält er
einen soeben von ihm erschaffenen Menschen.“ Diese Menschwerdung, von der auch Herman Greulich sprach,
und die heute ihren aktuellen Sinn im Kampf gegen alle Formen der Entfremdung wiedergefunden hat.
Entfremdung durch die Abrichtung und Uniformierung auf rein zweckbestimmte industrielle Arbeit, durch die
manipulierte Freizeit und die Konformierung der Wünsche und Lebensziele für den Absatz von Konsumwaren.
Frans Masereel wendet sich mit der Aussage seiner Holzschnitte und Gemälde immer direkt an den Arbeiter.
Schon in seiner frühen „Bild-Autobiographie“, in den 160 Holzschnitten des „Stundenbuchs“ von 1919 kam das
zum Ausdruck. War es hier noch das Individuum, das mit der Welt konfrontiert wurde, so schuf der 75jährige in
den 60 Holzschnitten „Der Weg der Menschen“ (Volksausgabe: Limmat-Verlag Zürich) ein Stundenbuch der
Massen, deren Weg er mitgegangen ist und mit deren Zielen er sich identifiziert. Er ist kein neutraler Chronist; er
kennt keine kühle Distanz zum Dargestellten. Im Gegenteil: Die geradezu wunderbare handwerkliche
Beherrschung des Materials als Holzschneider, verbunden mit der unerschöpflichen künstlerischen Intuition, ist
eine ständige Identifikation. In seinen Bildern aus dem China Ende der fünfziger Jahre, in dem er übrigens die
ihm unbekannten Massenauflagen seiner Bildromane aus den dreissiger Jahren vorfand, und in seinen letzten
Holzschnitten über die Stadt seiner belgischen Heimat, Antwerpen - überall sieht er den arbeitenden Menschen,
dessen Bruder er ist. Diese Haltung macht ihn zum grossartigen Beispiel der Verbindung von Arbeiterbildung
und bildender Kunst. Masereel, jedem verständlich, eröffnet den Weg zum Verständnis auch jener Künstler, die
nicht so unmittelbar wie er vom Inhalt her verstanden werden können.
Es ist kein Zufall, dass sich dieses künstlerische Temperament, verbunden mit seiner sozialistischen Gesinnung,
schon früh dem Holzschnitt zuwandte, der bis heute in den mehr als 60 Jahren seines Schaffens sein
Hauptwerk darstellt und seinen internationalen Ruhm begründete. Der Holzschnitt ist populär. Er findet weiteste
Verbreitung und ist auch in der Reproduktion, ohne Verlust an Wirkung, wie keine andere Kunstform für die
künstlerische Erziehung der Massen geeignet. Nur der Film findet noch weitere Verbreitung. Allerdings fordert
die Kostspieligkeit seiner Produktion Investitionen, die wiederum auf Qualität und Inhalt, von Ausnahmen
abgesehen, für die Arbeiterbildung negativen Einfluss nehmen. Zu den Ausnahmen gehören auch die MasereelFilme. Die „Idee“, nach seiner Holzschnittfolge aus dem Jahre 1920, wurde in den dreissiger Jahren verfilmt und
gehört zum eisernen Filmbestand der Arbeiterbildungszentrale. Ueber Masereel selbst gibt es einige Filme. Erst
vor kurzem wurde vom Fernsehen ein neuer aus den Niederlanden ausgestrahlt. Die Arbeiterbildungszentrale
besitzt den Film über Masereel, den der holländische Regisseur Joop Huisken 1962 in der DDR geschaffen
hatte.
Der 80. Geburtstag des Künstlers in diesem Jahr sollte von den Bildungsausschüssen im Sinne der Verbindung
von Kunst und Arbeiterbildung ausgenützt werden. Nicht nur die Veranstaltungen mit dem Film, mit Lichtbildern
und Vorträgen von Kennern und Freunden des Werks im Rahmen der Bildungsausschüsse, sondern von diesen
ausgehend und angeregt in den Gewerkschaften, Arbeiter-Kultur-Organisationen und Parteien sind ein Dank an
den Künstler. Sie wären aber auch eine Bereicherung unserer Bildungsarbeit durch das vielseitige Werk Frans
Masereels,
Bibliographie der lieferbaren Volksausgaben der Werke Masereels:
„Das Stundenbuch“, 160 Holzschnitte (1919), Taschenbuch des Paul-List-Verlages, Fr. 3.40.;
„Die Stadt“, 100 Holzschnitte (1926), Limmat-Verlag, Ln. Fr. 18.50;
„Meine Heimat“, 100 Holzschnitte, Limmat-Verlag, Zürich, Fr. 18.50;
„Der Weg der Menschen“, 60 Holzschnitte (Buchhandel: Limmat-Verlag, Ln. Fr. 18.50) und Büchergilde
Gutenberg, Fr. 16.80;
„Die Lebensalter“, 33 Holzschnitte, Verlag Herbert Lang, Ppbd. Fr. 12.50; «Das Gesicht Hamburgs», 80
Holzschnitte, Joh.-Asmus-Verlag, Hbg., Fr. 17.30;
„Laster und Leidenschaft“, eine Auswahl von 104 Zeichnungen und Holzschnitten;
„Krieg und Gewalt“, eine Auswahl, Abbildungen mit Texten, 106 S., beide Bände Leinen, Verlag Kar! Schustek,
Hanau, je Fr. 21.95.
Theodor Pinkus.
Bildungsarbeit, Heft 4, Juli 1969.
Personen > Masereel Frans. Werke. Bildungsarbeit, Heft 4, Juli 1969