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When the Photographs you are taking now ...are taken down again (Damon Albarn) Ursprünglich wolle ich mein Projekt als Beitrag für die Wallis-Triennale in Turtmann für das kleine Militärbarackendorf am Hang oben ausserhalb Turtmanns realisieren. Dieses Areal wird vom Militär nicht mehr benutzt und sollte als Asylzentrum verwendet werden. Dies kam jedoch nie zustande, ob aus politischen (SVP) oder sicherheitstechnischen Gründen (anscheinend Hangrutschgefahr) sei dahingestellt. Auf alle Fälle war die Idee, in einer dieser Baracken meine Figurengruppe zu zeigen. Die Figurengruppe basiert auf der Malerei „Eliezer und Rebekka am Brunnen“ (1648) des französischen Malers Nicolas Poussin (1594-1665). Das Bild zeigt eine biblische Szene, Elizier, der ausgesandte Knecht von Abraham, der für dessen Sohn Isaak die geeignete Frau finden soll. Geeignet heisst kurz gesagt, sie sollte christliche Barmherzigkeit zeigen. Auf jeden Fall lagern die Gesandten vor einer Stadt und als die Frauen an den Brunnen kommen, bietet Rebekka nicht nur dem Gesandten sondern auch allen Kamelen der Reisegruppe Wasser an und stellt sich so als geeignete Frau heraus. In der Rebekka-Erzählung sind die Motive des Aufbruchs in die Ungewissheit, das Verlassen alter Bindungen, das Vertrauen auf die Führung Gottes und der Weg in ein neues Land zentral. Rebekka wird dadurch ebenso wie Abraham zur Identifikationsfigur des israelitischen Volkes in der Exilzeit (Fig1). Das in der Erzählung innewohnende Motiv der Barmherzigkeit hat mich interessiert. Die Aspekte der Barmherzigkeit sind nicht allein ein christliches Thema, sondern in allen grossen Religionen übergreifend eine Gemeinsamkeit. Meine Idee war nun, aufgrund Poussins Malerei diese Figurengruppe zu erstellen. Wieso Figuren? Ein wesentlicher Grund dafür war, dass Nicolas Poussin, bevor er seine Malereien umsetzte, neben schriftlichen Quellenrecherchen Wachsfiguren herstellte und in einer Art Mini-Bühne die Komposition für das Gemälde suchte – bis zu dem Punkt, wo er sicher war, wie das Bild vom Rhythmus und Komposition her aussehen sollte. Nach den Modellen fertigte er Skizzen an um dann anschliessend die Malerei umzusetzen (Fig2). Indem ich also von diesem alten Gemälde wiederum Figuren herstelle, gibt es eine Art Rückführung des künstlerischen Konzeptes. Zudem reizte mich der Gedanke, das auf diese Weise das Gemälde dreidimensional wird, d.h. es möglich macht, das „Bild“ quasi von hinten beziehungweise von allen Seiten her zu sehen. Als Modelle für die 3D-Figuren wollte ich mit „sans-papiers“ arbeiten, dh. Menschen die in einem undefinierten Zustand in der Schweiz leben, sozusagen nicht sichtbar sind, Menschen, die in der Ungewissheit leben und auch alles aufgegeben haben – wie Rebekka – und eigentlich in diesen Miltiärunterkünften hätten einquartiert werden sollen. Eine längere, frustrierende Recherchearbeit und Korrespondenz mit Anlaufstellen, Institutionen und Schulen ergab Null Erfolg, überhaupt mit diesen Menschen in Kontakt treten zu können. Als ich dann zufällig Benj kennenlernte, seit 8 Jahren Sans-Papier in der Schweiz, und er sich bereit erklärte, in meinem Projekt mitzumachen, beschloss ich, das gesamte Unterfangen mit ihm alleine umzusetzen. Dadurch, dass ein und dieselbe Person alle Positionen des Gemäldes einnimmt, wird das Ganze nicht nur absurder, sondern thematisiert auch die grosse Angst die bei den sans-papiers vorherrscht. Schattenwelten werden vermutlich sichtbarer, wenn sie abwesend ist... Benj hat also die Haltungen und Positionen der 14 Hauptfiguren des Gemäldes nach meiner Regie eingenommen und wurde so eingescannt. Von diesen Ganzkörperscans wurden digitale Modelle erstellt, die auf einem 3D-Printer ausgedruckt wurden. Das Unperfekte und die verwaschenen Farben der 3D-Figuren haben wiederum einen sehr malerischen Charakter erzeugt. Ich habe den Figuren gewisse Attribute beigefügt, wie z.b. Eine Wasserflasche, einen Schlüssel, ein Brot oder gewisse Gesichtsausdrücke, die allesamt die Aspekte der Barmherzigkeit aufgreifen. Im Christentum wird die Barmherzigkeit in 7 leibliche und 7 geistige Werke aufgeteilt (siehe Fig4). In meiner Figurengruppe habe ich aber nur Bezug zu einzelnen dieser Aspekte gemacht, sonst wäre mir das ganze zu didaktisch geworden. Dieses Barmerzigkeitsmotiv hat mich insofern auch interessiert, da das Wallis sehr katholisch ist und die ganzen Figuren auch an das weihnächtliche Krippenspiel erinnert (Fig4+5). Die Themenkreise von Emigration, Barmherzigkeit, Modell, Malerei, Schaustellerei, Digitalisierung und wieder Rückführung ins Modell am geeigneten Ort hat sich für mich als ein geschlossener Kreislauf herausgestellt. Da die Militärbaracken jedoch nicht mehr zur Verfügung standen, musste ich einen neuen Ort finden. Glücklicherweise bin ich auf das Haus „Jäger“ gestossen, das seit 5 Jahren leer stand. Das ganze Interieur ist mehr oder weniger unberührt und liegt zerwühlt und dennoch sehr intim in den Räumen. Es sieht aus, als ob jemand fluchtartig das Gebäude hätte verlassen müssen. Die vorgefundene Stimmung dort passt zur Geschichte von Benj, der von einem Tag auf den anderen seine Heimat verlassen und sich auf eine ungewisse Reise begeben hat. Gleichzeitig erinnert die vorgefundene Situation auch an Orte, wo sich sans-papiers verstecken und ihr heimliches Leben führen. Das Haus war also ein Idealfall für meine Arbeit. Eine Abfolge von „anderen Welten“ war möglich. Bei meiner Begehung des Hauses hat sich dann die Arbeit noch etwas weiterentwickelt: ich habe von allen 3D-Figuren „Porträtfotos“ gemacht und diese schwarz-weiss Bilder in den gesamten Räumen des Hauses verteilt (Benj (be aware of the Photographs you are taking now...)). Die Fotos sollen nicht sofort als Eingriff erkennbar sein, sondern erst in der Repetition auffallen. Die ursprüngliche Vorlage (Wachsfiguren) der Malerei wird dann also zum Ende hin wieder in eine 2-dimensionale Realtität überführt. Und obschon die Porträts auf digital erzeugten Figuren basieren, erhalten sie eine extrem individuelle Ausprägung und etwas nicht ganz Begreifbares schwingt in ihnen mit (Fig6). Ergänzt wird die gesamte Arbeit noch durch eine Videoarbeit, ein Kurz-Porträt über Benj, von der ich zufällig erfahren habe und die von Fabienne Andreoli und Martin Arpagaus als Bachelor-Arbeit an der ZHdK erstellt wurde. Ich freue mich sehr, dass ich diesen Film von den beiden für die Präsentation zur Verfügung gestellt bekommen habe. Ein schöner Nebenaspekt: im Verlauf der Zusammenarbeit mit Benj hat er nun einen offiziellen Aufenthaltsstatus in der Schweiz bekommen und darf endlich auch ganz legal arbeiten! Für das grosse Interesse und die Leidenschaft, mit der sich alle für das Projekt eingesetzt haben, möchte ich dem ganzen Team von my3Dworld (www.my3dworld.ch) in Zürich, insbesondere Stevens Senn, meinen herzlichen Dank aussprechen. Pascal Danz, Juni 2014 Fig1 Fig2 Fig3 Die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit Die Hungrigen speisen. Den Dürstenden zu trinken geben. Die Nackten bekleiden. Die Fremden aufnehmen. Die Kranken besuchen. Die Gefangenen besuchen. Die Toten begraben. Die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit Die Unwissenden lehren. Den Zweifelnden recht raten. Die Betrübten trösten. Die Sünder zurechtweisen. Die Lästigen geduldig ertragen. Denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen. Für die Lebenden und die Toten beten. Fig4 Fig5 Fig6 Titel für das ganze Haus: When the Photographs you are taking now ...are taken down again (Damon Albarn) Werktitel: Eliezer und Rebekka am Brunnen (nach Poussin), 1648 Jahr: 2014 Materialien: 3D-Print, Gipskeramik Grösse: 100 x 170 x 30 cm (variabel) Ermöglicht durch: Benjamin Jafari my3Dworld (www.my3dworld.ch), Zürich (Stevens Senn) Werktitel: Benj (be aware of the Photographs you are taking now...) Jahr: 2014 Materialien: Fotografien (nach 3D-Prints) Grösse: je 24 x 18 cm Werktitel: Zwischenwelt – Die Geschichte von Benj Ein Film von Fabienne Andreoli und Martin Arpagaus Jahr: 2013 Materialien: Video Dauer: 10 Minuten