Stadt als Forschungsfeld. Qualitative Methoden der Raumanalyse
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Stadt als Forschungsfeld. Qualitative Methoden der Raumanalyse
Europa-Universität Viadrina Dr. Kathrin Wildner Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeographie Große Scharrnstraße 59 15230 Frankfurt (Oder) Projektbericht Sozialwissenschaftliche Vertiefung Stadt als Forschungsfeld. Qualitative Methoden der Raumanalyse Das Übertreten der Schwelle. Die Neue Nationalgalerie in Berlin und der religiöse Kontext eines Kunsttempels der Moderne. Michael Krieger Matrikelnummer 33 8 22 [email protected] Erklärung über die eigenständige Erstellung der Hausarbeit Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Hausarbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen der Hausarbeit, die anderen Quellen im Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen wurden, sind durch Angaben der Herkunft kenntlich gemacht. Dies gilt auch für Zeichnungen, Skizzen, bildliche Darstellungen sowie für Quellen aus dem Internet. Berlin, März 2011 ___________________________________________ Michael Krieger, Verfasser. Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis....................................................................................................................... 3 Vorwort ...................................................................................................................................... 4 Begriffsdefinitionen ................................................................................................................... 6 Methoden.................................................................................................................................... 9 Assoziative Wahrnehmungsspaziergänge....................................................................... 10 Systematische Beobachtung ........................................................................................... 12 Mental Maps ................................................................................................................... 14 Sound-Walk .................................................................................................................... 16 Fotointerview .................................................................................................................. 18 Situationsanalyse ............................................................................................................ 20 Die Umsetzung im Feld............................................................................................................ 22 VERORTUNG IN DER STADT, UMGEBUNG ............................................................... 23 ARCHITEKTUR VON AUSSEN....................................................................................... 23 ARCHITEKTUR VON INNEN.......................................................................................... 23 GERÄUSCHE ..................................................................................................................... 24 GERÜCHE .......................................................................................................................... 24 LICHT UND SCHATTEN.................................................................................................. 25 MENSCHEN ....................................................................................................................... 26 WEGE.................................................................................................................................. 28 Fazit .......................................................................................................................................... 30 Literaturverzeichnis.................................................................................................................. 31 Bildverzeichnis, Abbildungsverzeichnis .................................................................................. 33 3 Vorwort Religiosität im Stadtraum. Gerade für mich als jemanden, der seit Jahren nichts mehr mit Religion und Glaube anfangen kann stellt das Thema zunächst eine große Herausforderung dar, da ich nicht wusste, wie ich auf religiöse Menschen reagieren werde und ob eine wissenschaftliche Neutralität für mich überhaupt möglich ist. Das sich das Thema aber immer mehr zu einem konkreten Ort entwickeln sollte, war für mich klar, dass ich nicht offensichtliche Religiosität in einem KirchenRaum untersuchen wollte, sondern ein metaphorischer Kontext viel mehr meiner eigenen Raumwirkung zuträglich wurde. Das Forschungsfeld beschränkte sich dabei relativ schnell auf Berlin, eine sehr atheistische Städte, die man finden kann. Aber betrachtet man Religion oder Religiosität nicht als den erkennbaren ersten Punkt einer gewissen Gläubigkeit oder Anbetung zu einem oder mehreren omnipotenten Wesen, so ergibt sich ein weites Feld möglicher Auslegungen eines in dieser Arbeit nicht weiter umrissenen Begriffs. Vielmehr beschäftigten mich Fragen zu Orten, die in gewisser Weise Tempel an und für sich sind und die Aktionen, die man dort als Besucher, Teilnehmer oder Beobachter macht oder zu denen man unfreiwillig verleitet wird, zu einem religiösen Kontext führen: - Führt die Konformität eines Ortes zu einer Gemeinschaft? - Verändert sich das Verhalten eines Besuchers, wenn er den Raum wahrnimmt? - Gibt es ein ritualisiertes Verhalten im Raum? - Welche nachhaltigen Wirkungen werden vom Ort und vom Raum ausgestrahlt? - Welche Wahrnehmung hat der Raum auf einen selbst und damit im Zusammenschluss mit anderen? Diesen Fragenkatalog könnte man beliebig fortsetzen. Der unzweifelhafte Metatext einer Religiosität lässt sich kaum wegdiskutieren. Auf der Suche nach einem Ort, der diese pseudo-religiösen Fragen zu beantworten gerade zu geeignet ist, stieß ich zunächst auf das Berghain, einem der wohl bekanntesten Klubs der Stadt Berlin. Und jeder, ganz subjektiv, der dort war berichtet von einer gewissen Aura, die man auch gut in einem religiösen Kontext betrachten kann. Allerdings stellte sich schon nach wenigen methodischen 4 Anwendungen ein Problem dar: Die architektonischen Gegebenheiten und die stark kontrollierte Außenwirkung der Inhaber des Berghain. Weitere Untersuchungen stießen auch aufgrund der eigenen Kapazitäten daher an eine unüberwindbare Hürde. Auf der Suche nach einem weiteren, den eigenen und den wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Räume kam das Kulturforum, und innerhalb dieses die Philharmonie oder die Neue Nationalgalerie in Betracht. Der letztliche Ausschlag für die Neue Nationalgalerie war der, dass dieses Gebäude, dieser Ort, dieser Raum nicht von einem Veranstaltung abhängig ist, sondern konsequent über Stunden hinweg die Möglichkeit des Besuchs bietet und daher keinen Kontext generieren muss, sondern diesen permanent anbietet und so auch jedem einzelnen spontanen Passanten die Option eröffnet den Kontext anzunehmen. Zudem ist die Neue Nationalgalerie als Museum einem offensichtlicher weniger wirtschaftlich starken Publikum ebenso zugänglich, im Gegensatz zur Philharmonie. Der letzte Punkt, warum die Entscheidung für die Neue Nationalgalerie und gegen die Philharmonie viel, war die Kontrolle der vorab erstellten Fragen: Auf welchen Raum lassen sich möglichst viele Fragen modifiziert übernehmen? Die Philharmonie konnte hierbei einfach damit nicht punkten, dass die Besucher sitzen und beobachten, während ihnen in der Neuen Nationalgalerie auch eine notwendigerweise offerierte Bewegungsmöglichkeit zur Verfügung steht und so auch ein ritualisiertes Verhalten beobachtet werden kann, während dies in der Philharmonie bereits vorgegeben wäre, wie man sich verhalten muss. Als Schlussbemerkung des Vorwortes sei noch erwähnt, dass es in dem Seminar „Stadt als Forschungsfeld. Qualitative Methoden der Raumanalyse“ darum ging Methoden im Raum anzuwenden. Der Mangel an Fußnoten und die oftmals sehr subjektiven Beschreibungen sind der Forschung geschuldet und der sporadischen Beschäftigung mit der Theorie im Rahmen der vorliegenden Arbeit. Im Literaturverzeichnis sind deshalb alle Quellen genannt, die herangezogen wurden, um die Forschung zu ermöglichen. Zu Beginn jedes Blocks wird es immer eine kurze Einführung in die Methode geben, die dann bei den entsprechen Quellen genauer der Theorie nach studiert werden kann. Michael Krieger, Berlin im Februar 2011. 5 Begriffsdefinitionen Bevor ich mit der Untersuchung beginne möchte ich die Begriffe Religion, Religiosität, Tempel und Kontext näher beleuchten und im weiteren Verlauf immer wieder auf diese hier gemachte Definitionen Bezug nehmen, wenn ich die jeweiligen Begriffe zur Verdeutlichung des Untersuchungsgegenstandes heranziehe. Es mag sein, dass nicht jeder Leser dieser Arbeit die gleiche Definition für den jeweiligen Begriff heranzuziehen vermag, um aber das abstrakte Verständnis von Religion, Religiosität, Tempel und Kontext mit dem Handeln der Personen in und um der Neuen Nationalgalerie zu verstehen, halte ich es für nötig eine gemeinsame Diskussionsgrundlage zu schaffen. Dabei geht es mir hierbei nicht um eine Definition des Begriffs in Zusammenlegung mit dem Untersuchungsgegenstand Neue Nationalgalerie, da dies erst mit den entsprechenden Methoden, die ich im nächsten Abschnitt einleiten werde, veranschaulichen werde, sondern um eine Beschreibung des Begriffs in seinem ureigenen Wortsinn. Religion „Als Religion […] bezeichnet man eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Phänomene, die menschliches Verhalten, Handeln, Denken und Fühlen prägen und Wertvorstellungen normativ beeinflussen. Es gibt keine wissenschaftlich allgemein anerkannte Definition des Begriffs Religion. Religiöse Weltanschauungen und Sinngebungssysteme stehen oft in langen Traditionen und beziehen sich zumeist auf übernatürliche Vorstellungen. So gehen viele, aber nicht alle Religionen von der Existenz eines oder mehrerer persönlicher oder unpersönlicher über-weltlicher Wesen (z. B. einer oder mehrerer Gottheiten oder von Geistern) oder Prinzipien (z. B. Dao, Dhamma) aus und machen Aussagen über die Herkunft und Zukunft des Menschen, etwa über das Nirvana [sic!] oder Jenseits. Sehr viele Religionen weisen gemeinsame Elemente auf, wie die Kommunikation mit transzendenten Wesen im Rahmen von Heilslehren, Symbolsystemen, Kulten und Ritualen oder bauen aufeinander auf […]. Einige Religionen beruhen auf philosophischen Systemen im weitesten Sinne oder haben solche rezipiert. Einige sind stärker politisch, teils sogar theokratisch orientiert. Einige legen starken Wert auf spirituelle Aspekte, andere weniger. Eine klare Abgrenzung ist nicht möglich, Überschneidungen finden sich in nahezu allen Religionen und insbesondere bei deren Rezeption und Ausübung durch einzelne Menschen.“1 1 http://de.wikipedia.org/wiki/Religion 6 Religiosität „Religiosität bezeichnet die unterschiedlichen Arten von Glaubenshaltungen und deren Ausdrucksweisen (Riten, Werte, moralische Handlungen), mit denen Menschen sich auf eine welttranszendente Letzt-Wirklichkeit (unpersonal oder personal Göttliches) oder auf überweltliche Mächte (Geister, Engel) beziehen.“2 Tempel „Tempel […] ist die deutsche Bezeichnung von Gebäuden, die seit dem Neolithikum in vielen Religionen als Heiligtum dienten. […]. Der Tempel ist auf vielfältige Weise in das Religionssystem eingebunden. Der visuelle Aspekt steht anfangs noch nicht im Vordergrund. Der Tempel ist der Ort, an dem rituelle Handlungen für oder durch die Gläubigen […] ausgeführt werden. In manchen Kulturen repräsentiert der Tempel den Kosmos schlechthin. Tempel werden oftmals als Aufenthaltsort der Götter aufgefasst. Stellt man sich den Berg als Sitz der Götter vor […], so ist u. U. auch der Tempel als Berg […] konzipiert. Es kommt schließlich zur Vorstellung eines häuslichen Lebens der Götter, das dem der Menschen entspricht; z. B. Tagesabläufe mit Weckung, Toilette, Speisung. Der sakrale Bezirk ist immer vom profanen Raum getrennt (Temenoi); der Tempel kann bestimmten Göttern vorbehalten sein oder in verschiedene Bereiche aufgeteilt sein. In vielen Stadtkulturen ist der Tempel das zentrale Bauwerk und prägt die Siedlung. Neben der religiösen Bedeutung des Tempels ist, besonders in Hochkulturen, auch die wirtschaftliche nicht zu unterschätzen. Auch die Bildungseinrichtungen sind häufig an den Tempel gebunden.“3 Kontext Ein Kontext ist als Zusammenhang zwischen miteinander verbundenen Teilen zu verstehen, die dadurch durch die stärke ihrer Beziehungen zueinander und miteinander eine abstrakte Eben bilden, in der die Teile ein Wechselverhältnis mit dieser Eben eingehen. „Diese Teile können sein: 1. materielle Gegenstände – z. B. Körper, Teilchen, Objekte und auch physische Prozesse, oder 2. gedankliche Gegenstände – etwa Begriffe, Aussagen, Theorien oder Normen, und 3. Eigenschaften dieser beiden Arten von Gegenständen. Jeder Zusammenhang bedeutet, dass eine Veränderung des einen Gegenstands von einer Veränderung des anderen begleitet wird. Körperlich, gedanklich und dazwischen Der ursprünglichen Wortbedeutung […] kommt der physische Zusammenhang am nächsten. Davon abstrahiert sind gedankliche Zusammenhänge oder ein allgemeiner […]. Im Bereich "dazwischen" 2 3 http://de.wikipedia.org/wiki/Religiosität http://de.wikipedia.org/wiki/Tempel 7 liegen emotionale Zusammenhänge, Prägungen oder Reaktionen, Zusammenhänge von Gruppen oder im sprachlichen Bereich, Sinneseindrücke oder Erinnerungen, [usw.] Objektiv, logisch und kausal Physische Zusammenhänge werden auch objektive genannt, während man jene des gedanklichsprachlichen Bereichs als Kohärenzen oder logische Zusammenhänge bezeichnet. Kausale Zusammenhänge gibt es hingegen in beiden. In der Religion, aber auch in der Intuition der meisten Menschen wird die Welt als zusammenhängendes Ganzes betrachtet. In dieser Hinsicht spricht die Philosophie von einer Korrespondenztheorie der Wahrheit: Zusammenhänge zwischen Gegenständen, Eigenschaften und Prozessen seien die Grundlage für die Kohärenz von Begriffen, Denkprozessen oder Aussagen. Dies ermöglicht uns die Erklärung von Gegenständen, die der Erkenntnis nicht unmittelbar zugänglich sind, mit Hilfe anderer, zu denen ein "objektiver Zusammenhang" besteht.“4 4 http://de.wikipedia.org/wiki/Zusammenhang 8 Methoden Im Rahmen des Seminars wurden sechs Methoden der qualitativen Raumforschung vorgestellt und sollten im weiteren Verlauf der Feldforschung auf das jeweilige Objekt angewandt werden. Dabei handelt es sich um folgende Methoden: Assoziative Wahrnehmungsspaziergänge Systematische Beobachtungen Mental Maps Sound-Walk Fotointerview Situationsanalyse Alle Methoden wurden im Kontext der Religiosität auf das Untersuchungsfeld angewandt und dementsprechend modifiziert, wenn dies nötig war. Eine genaue Beschreibung, wie die Methode angepasst wurde, findet sich bei der Beschreibung der jeweiligen. Während des Aufenthaltes im Feld stellte sich relativ schnell heraus, dass die Methode der Systematischen Beobachtung besonders geeignet ist 1) den Kontext zur Religiosität zu betrachten und 2) das Verhalten der Menschen, welches man als ritualisiert betrachten kann, genau zu studieren und zu notieren. Hingehen stellen andere Methoden, wie die Mental Maps, auch bei Modifizierung keine ausreichende, weiter wissenschaftlich untersuchbare Quelle für die Konstellation aus Religiosität und Neuer Nationalgalerie her. Die ethnographische Anwendung der Methode der systematischen Beobachtung wird sich im Laufe der Arbeit als zweckdienlich erweisen und dazu führen, dass die Methode einer genaueren Betrachtung und die Ergebnisse dieser kritischer hinterfragt werden, was nochmals analytischer unter dem Punkt DIE UMSETZUNG IM FELD erfolgen wird. Des Weiteren werde ich bei der Beschreibung der Methoden ausführen, wie diese jeweils umgesetzt wurden (z. B. mit wem das Fotointerview geführt wurde, und wie es zu dieser Auswahl kam). Zum Abschluss des Projektberichtes, im Fazit, wird es eine kritische Bewertung der Methoden geben und wie diese für ähnliche Projekte angewandt werden könnten. Dabei soll auch die allgemeine Erforschung des Themas mit qualitativen Kriterien hinterfragt werden. 9 Assoziative Wahrnehmungsspaziergänge5 Unter einem assoziativen Wahrnehmungsspaziergang versteht man das aufmerksame Begehen eines Ortes, Raumes mit allen Sinnen. Sowohl das Gesehene, das Gehörte wie auch das Gefühlte und Gerochene spielen eine Rolle. Geht man Aufmerksam durchs Leben, erfährt man auch die Dinge, die links und rechts von einem liegen. Natürlich muss die Frage erlaubt sein, was an dieser Forschungsmethode wissenschaftlich sei. Die volle Objektivität gegen die maximale Subjektivität. So mutet ein assoziativer Wahrnehmungsspaziergang an. Der Frage nach Wissenschaftlichkeit soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden, da sich hier viele Schulen, Auffassungen und Forscher untereinander uneins sind, ob Subjektivität wissenschaftlich ist oder ob es nicht gerade am wissenschaftlichsten ist. Dennoch soll der kleine Einstieg auch Kritik an der Methode sein, ob man nicht zu sehr vom „Zauber“ eines Ortes gefangen wird und zu wenig den Blick für das Wesentliche oder gerade Auffallende hat? Mit dem Bus M85 fährt man aus Richtung Schönebergs kommend auf der Potsdamer Straße bis man an der Haltestelle am Seitenkanal hält. Die Neue Nationalgalerie, der Ort des Forschens, mein Feld, befindet sich nur schleierhaft sichtbar hinter einer Reihe von Bäumen. Auf der Straßenseite, auf der man aussteigt befindet sich auch die weithin bekannte Hauptstelle der staatlichen Bibliothek. Schweift man mit dem Blick über die Gegend, so sticht vor allem die golden-glänzende Philharmonie am Ende des Kulturforums auch bei schlechtem Wetter hervor. Leichter Niesel fällt vom Himmel, was schon an dieser, bisher kaum betrachteten Stelle, eher den Wunsch nach einer Forschung in der Neuen Nationalgalerie als davor wünschenswert macht. Bei der Annäherung an das Gebäude fällt besonders die große Freifläche vorm in der Fassade verschwindenden Haupteingang auf. Das Plateau ist aber nicht ebenerdig mit der Straße, sondern durch vier Stufen erhöht. Es ist nicht betoniert, sondern mit riesigen Steinfliesen bedeckt. Ein paar Bäume stehen auf der linken Seite des Plateaus. Die gleichen, die auch den Blick vom Süden her verdeckten. Auf der rechten Seite sind ebenfalls Bäume und ein Kunstwerk angebracht. Sonst befindet sich auf dem Plateau nichts außer Besuchern und Passanten. Vor der wenig-stufigen Treppe zum Plateau steht ein Würstchenstand rechtsseitig, dessen Geruch penetrant vom Wind über das ganze Plateau verteilt wird. Auf der Rückseite der Nationalgalerie führen zwei Treppenabgänge am Säulengarten, wie sich später feststellen lassen wird, vorbei auf eine Hinterstraße, die kaum befahren ist. Passanten sind hier nur sehr wenige zu sehen. Beim Umrunden des Gebäudes fallen die Überwachungskameras nicht wirklich auf, erst nachdem man aktiv anfängt danach zu suchen, sind doch die ein oder andere sichtbar. Offenbar wird auch nur der Raum direkt unter der überstehenden Decke beobachtet und nicht das ganze Plateau. Zumindest ließ dies keine Kamera vermuten. Ansonsten ist das Gebäude komplett aus Glas gebaut. 5 vgl. de Certeau, Michael: Gehen in der Stadt, In Kunst des Handelns 1992, S. 179-182 und 188-192 sowie Debord, Guy: Theorie des Umherschweifens, In R. Ohrt: Das große Spiel. Die Situationsisten zwischen Kunst und Politik, Hamburg 2000 10 Diese Scheiben sind aber wiederum, wie sich von Innen zeigen wird, mit schwarzen von innen her durchsichtigen Vorhängen verhangen. Von Außen ist es vollkommen unmöglich einen Blick ins Innere zu werfen, auch wenn man versucht sich die Nase an der Scheibe platt zu drücken. Nachdem die Galerie zweimal umrundet wurde, entschied ich mich in das Gebäude zu gehen. Obwohl ich schon mehrmals dort war und weiß, wo die Eingänge sind, ist es doch sehr erstaunlich, dass sich die Drehtüren so gut in die Fassade einpassen, dass es leicht den Eindruck erweckt als habe die Neue Nationalgalerie gar keinen Eingang bzw. sei immer geschlossen. Sobald man dann im Gebäude ist peitscht einen sofort die über warme Museumsluft entgegen. Jetzt wird auch klar, warum die schwarzen Vorhänge angebracht wurden: Auf der Oberetage, auf der man sich beim Betreten befindet, ist eine Ausstellung angebracht, die nur dem zahlenden Publikum zugänglich sein soll. Drei Wärter weisen den Betretenden den Weg über die zwei Treppenabgänge nach unten, dort befinden sich die Kassen, Toiletten, Garderobe, Ausstellung, Buchgeschäft und ein kleines Café. Ich entschied mich zuerst die Ausstellung im oberen Teil des Gebäudes zu besuchen. Die Ausstellung an und für sich werde ich an dieser Stelle nicht weiter erwähnen, nur den Aufbau: Eine große circa vier Meter hohe Mittelwand war in der sonst komplett leeren Halle angebracht. Vorderund Rückseite waren mit Bildern behangen, die mit Spots von der Decke herab beschienen sind. Nähert man sich den Bildern wird die Lichtintensität der Spots so unangenehm, dass man wieder ein paar Schritte zurücktreten will. Der Effekt, der dadurch auf den Besucher ausgeübt wird ist bemerkenswert. Mehrere Besucher, die ich beobachten konnte, traten so mindestens drei bis fünf Meter von der Wand zurück. Trotz der Leere der Halle hatte man das Gefühl man könnte sich hier unbemerkt verstecken. Besonders geeignet erscheinen dafür die beiden Säulen, die die Decke halten und aus massivem Material sein dürften. Als ich hinter den Vorhang treten wollte, wurde ich von Wärtern bemerkt und zurückbeordert. Ich leistete mit Widerwillen Folge. Dennoch versuchte ich später noch einmal hinter den Vorhang zu gelangen, als ich aber die Wärter sah, wollte ich kein Hausverbot riskieren, um noch öfters das Forschungsfeld aufzusuchen, unterließ ich meinen erneuten Versuch. Besucht man die zweite Ausstellung im Untergeschoss, die auch weitaus größer ist als die im Obergeschoss fällt schon mal sofort ins Auge, dass hier weit mehr Menschen unterwegs sind als oben. Auch mehr Kinder, überhaupt Kinder. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich kein einziges Kind gesehen. Überwiegend Erwachsene sind zwar trotzdem da, aber auch eben die ersten Kinder. Es war keine Schulklasse, Kunstmuseen sind wohl dann doch eher was für den Familienausflug der „gutbürgerlichen“ Klasse. Die Menschen bewegen sich hier auch ganz anders. Die Bilder sind indirekt beleuchtet, man tritt nah an sie heran. Manche Räume sind so voll, dass ich sie auslassen musste, da die Sinnesflut bei so vielen Menschen einfach zu extrem war. Besonders prägend blieb der Geruch nach Farbe in Erinnerung. Am Ende frug ich einen Wärter, warum es hier so nach Farbe rieche und er antwortete, dass alle Wände im Zuge der Ausstellung neu gestrichen worden seien und die hohe Temperatur nun Ausdünstungen verursacht. So endete mein Besuch in der Neuen Nationalgalerie. 11 Systematische Beobachtung6 Die größte Kritik an einem assoziativen Wahrnehmungsspaziergang ist wohl die systematische Beobachtung selbst. Während man beim assoziativen Wahrnehmungsspaziergang einer Überforderung durch die vielen Sinneseindrücke anheim fallen kann und so eine wirkliche Erfassung aller möglichen Geschehnisse, Zusammenhänge und Optionen nicht bewerkstelligen kann, gibt die systematische Beobachtung die Möglichkeit die Abbildung 1: Die Neue Nationalgalerie in Berlin Sinneseindrücke und Beobachtungen in ein anpassbares Schema zu gießen um so auch Herr der Lage zu bleiben und die Beobachtungen gezielt durchführen zu können. Da sich während der Forschung im Feld schnell herausstellte, dass die systematische Beobachtung wohl die Untersuchungsform ist, die sich am besten auf die Neue Nationalgalerie anwenden lässt. Deshalb will ich an dieser Stelle nur die Vorüberlegungen darlegen. Eine genaue Ausführung können Sie unter DIE UMSETZUNG IM FELD finden. Die systematische Beobachtung beschäftigt sich vor allem mit der Position, den Wegen und den Verweildauern von Menschen an einem bestimmten Ort oder in einem Raum. So rücken vor allem soziale Strukturen in den Fokus. Wo gehen die meisten Besucher entlang? Gibt es einen definierten Weg? Ist dieser Weg von Räumlichkeiten oder Raum zu trennen oder gerade mit diesem zu verbinden? Gibt es Grenzen, Barriere oder Aneignungsspuren? Wie ist die Inszenierung auf das Verhalten zu übertragen? Gliedert man diese Fragen auf und versucht diese auf das Forschungsfeld zu übertragen, so rückt gerade bei der Neuen Nationalgalerie die Barriere des Eingangs in den Fokus. Sowohl in der assoziativen Betrachtung als auch in den folgenden Methodendarstellungen ließ sich das „Defizit“ der vollkommen in der Fassade integrierten Eingangstür immer wieder als Problem beschreiben. Einerseits sind gerade Eingangsbereiche zu öffentlichen Gebäuden oder zu Gebäuden mit großen Besucheranstrum besonders gut gekennzeichnet. Man denke dabei nur an die Empfangshalle und den Eingangsbereich zu Hotels oder auch in Konzerthäuser und Museen. Die Neue Nationalgalerie fällt dabei in gewisser Weise aus dem Konzept, weswegen sich DAS ÜBERSCHREITEN DER SCHWELLE besonders auf die Besucher auswirkt. Die spannende Frage an dieser Stelle ist, ob es dabei auch eine Veränderung des Verhaltens gibt? Und tatsächlich lässt sich diese Abweichung zu den sonstigen Passanten, die keine Besucher sind, sehr eindeutig beobachten und auch beschreiben, wie ich weiter unten zeigen werde. 6 vgl. Auge, Marc: Eine Ethnologe in der Metro. Frankfurt am Main, 1988, Seite 75-92 sowie Hauser-Schäublin, Brigitta: Teilnehmende Beobachtung, In: Beer, B. Methoden der ethnologischen Feldforschung, 2008, Seite 37-59 12 Nun zur Beschreibung meiner systematischen Beobachtung: Zunächst, nach dem assoziativen Wahrnehmungsspaziergang nahm ich die Erkenntnisse aus diesem und versuchte eine Art Sortierung der einzelnen Punkte vorzunehmen, was dazu führte, dass folgende Überpunkte gebildet werden konnten: Verortung in der Stadt Licht und Schatten Architektur von außen und von innen Umgebung Geräusche Menschen Gerüche Wege Um der Sinnesflut des assoziativen Spaziergangs zu entgehen, beschloss ich zwei Übergruppen zu bilden, die sich in bewegte Strukturen und unbewegte Strukturen zuordnen ließen: bewegte Strukturen: Menschen und Wege unbewegte Strukturen: Verortung, Architektur, Geräusche, Gerüche, Licht und Schatten, Umgebung Natürlich kann man die bewegten Strukturen nicht ohne die unbewegten Strukturen beschreiben, da Bewegung immer vom Bezugssystem abhängig ist. Nimmt man nun in diesem Fall die Neue Nationalgalerie als die Unbewegte Struktur, so erscheint es zunächst unlogisch, warum man Geräusche und Gerüche zur unbewegten Struktur rechnet, da diese meist durch menschliches Tun verursacht werden. Die Zuordnung passierte dadurch, dass die Gerüche, die schon in der assoziativen Wahrnehmung beschrieben wurden durch das Gebäude selbst verursacht werden (ausgenommen der Würstchenstand vor der Neuen Nationalgalerie, der in der weiteren Betrachtung noch eine Rolle spielen wird) sowie die Geräusche, die besonders durch die Beschaffenheit des Gebäudes in den Fokus der Wahrnehmung gerückt sind. Um die Wege zu den bewegten Strukturen zu zählen ist die Kenntnis der Grundrisse der Neuen Nationalgalerie von Nöten, da diese einen sehr offenen Grundriss besitzen, bleibt es dem Besucher überlassen seinen Weg zu finden. Lediglich sehr geringe Schwellen (Türen) führen zu einem gesteuerten Besucherstrom. Die Grundrisse finden Sie ebenfalls unter dem Punkt DIE UMSETZUNG IM FELD, auf den ich an dieser Stelle erneut verweisen möchte. Als Kritik an der systematischen Beobachtung kann man die geringe interpretative Kraft ins Feld führen, da man sehr stark daran angehalten ist die systematischen Untersuchungspunkte mit Inhalt zu füllen, was dazu führt, dass man sehr stark an das Blatt und die Aufzeichnungen gebunden ist. Um diesem Fehler nicht zu erliegen, hatte ich die Neue Nationalgalerie mehrmals binnen eines kurzen Zeitraums aufgesucht und so die einzelnen Punkte über einen längeren Zeitraum immer wieder einer Prüfung zu unterziehen und nötigenfalls zu modifizieren. 13 Mental Maps7 Mental Maps, oder zu deutsch kognitive Karten, sind mental vereinfachte Repräsentationen von mehrdimensionaler 8 komplexer Realität . Das eigentliche bestimmende Merkmal einer kognitiven Karte ist die Darstellung einer zweidimensionalen Landkarte von oben, die verschiedene Inhalte widerspiegelt, wie zum Beispiel Straßenverläufe, soziale Einrichtungen, die für das zeichnende Individuum von entscheidender Bedeutung sind, während vermeintlich irrelevante Orte nur schemenhaft oder gar nicht dargestellt werden. Bei der Anwendung der Methode wollte ich keine Abbildung 2: Mental Map eines 22-jährigen Studenten in Friedrichshain (Nähe S-Ostkreuz) gezeichnet Darstellung der Neuen Nationalgalerie in einer Karte, da mich vielmehr interessierte, wie das Gebäude mental gespeichert ist und weniger deren Verortung. Die dabei entstandenen, hier sichtbaren kognitiven Karten zeigen zwei völlig verschiedene Darstellungsweisen der Neuen Nationalgalerie. Die erste, links oben, wurde von einem einundzwanzig-jährigen Studenten in Friedrichshain gezeichnet, der mir versicherte, er gehe zu jeder neuen Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie. Deswegen wohl auch die sehr realitätsnahe Darstellung einer schrägen Draufsicht auf das Gebäude. Ganz im Gegensatz dazu malte ein Ende vierzig-jähriger Mann am Brandenburger Tor eine völlige Abstraktion der Neuen Nationalgalerie, wie hier links zu sehen ist. Dabei ist Augenscheinlich eine Verwechslung mit einem kirchenähnlichen Gebäude entstanden (siehe das Kreuz auf dem „Dach“). Der Mann wollte während des Zeichnens immer wieder von mir wissen, ob dass das richtige Gebäude sei, was er versuchte darzustellen. Auf die Frage, die zunächst ignoriert wurde, verwies ich nach mehrmaligem Nachfragen, dass es nicht um eine architektonischgenaue Darstellung gehe, sondern um das Bild, was er im Kopf habe, wenn jemand nach der Neuen Nationalgalerie fragt. An dieser Stelle soll dargelegt werden, warum die Wahl der Zeichner in Friedrichshain bzw. am Brandenburger Tor erfolgte und nicht Abbildung 3: Mental Map eines 48-jährigen Mannes am Brandenburger Tor gezeichnet. in nächster Umgebung der Neuen Nationalgalerie. Aufgrund des auch auf 7 vgl. Wildner, Kathrin: HafenCity Mental Maps: Vorgestellte Karten eines zu besetzenden Raumes. In Tetrapak (Hg) Ready2capture! Hafencity – ein urbaner Raum? Berlin 2002, Seite 102-108 sowie Lynch, Kevin: The Image of the City. 1960, In: Le Gates/Stout. The City Reader 1996, Seite 98102 8 vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Karte, Zugriff am 11. Januar 2010 um 14:15 Uhr 14 dem Formblatt geäußerten Wunsches die Neue Nationalgalerie zu zeichnen und nicht die Umgebung war die Gefahr eines schlichten Abzeichnens des Gebäudes vor der entsprechenden Person zu groß und führt sonst nicht zum kognitiven Bild, welches die Zeichner im Kopf hatten. Die Entscheidung, wer nun eine Mental Map zum Besten geben sollte, fiel völlig willkürlich. Das einzige Kriterium, dass vorab gewählt war, dass sowohl ein junger als auch ein älterer Mensch ein Bild zeichnen sollte, wobei nicht davon ausgegangen werden kann, dass es durch das Kriterium Alter zu einer unterschiedlichen Darstellungsweise gekommen ist. Auf dem kleinen Fragebogen, der sowohl das Alter erfasste, wurde auch die Frage gestellt, ob die betreffende Person bereits die Neue Nationalgalerie aufsuchte und wenn ja, wann zuletzt. Der Unterschied zwischen beiden Darstellungen könnte auch auf die Antwort auf diese jeweils gestellte Frage geben. Während der Zeichner der realistischen ersten Darstellung – wie bereits oben erwähnt – darauf verwies mehrmals die Neue Nationalgalerie aufgesucht zu haben konnte der zweite, ältere Zeichner auch nur darauf verweisen, dass er das Gebäude zwar kenne, aber noch nie dort gewesen sei. Vergleicht man nun das zweite Bild der Neuen Nationalgalerie mit dem tatsächlichen Gebäude fallen in erster Linie die Unterschiede auf: Kreuz auf dem Dach, Fensterreihung, Mehrstöckigkeit. Allerdings sind auch Gemeinsamkeiten durchaus erkennbar: Ein Flachdach, viele nebeneinander liegende Fenster (wenn auch unterbrochen), eine einheitliche Front. Im Vergleich zur ersten Zeichnung ist auch bei dieser zu sehen, dass die Fenster nicht bis unter die Decke reichen (wie beim realen Gebäude) sondern anscheinend ein zweiter Stock vermutet wird. Ebenso sind die Fenster nicht durchgängig eingetragen (Trennung durch nur einen Strich) sondern mit einer Lücke dargestellt. Ein wesentlicher Unterschied in beiden Darstellungen ist vor allem darin zu sehen, dass der erste Zeichner eine Art Eingang darstellte, während eine Tür im zweiten Bild vollkommen fehlt. Es lässt sich allerdings nur mutmaßen, dass dies eventuell eine Verbindung zur geschilderten Besuchsfrequenz sein könnte (mehrmaliges Besuchen, niemals besucht). Ein augenscheinlich religiöser Kontext kann in der ersten Darstellung kaum sichtbar gemacht werden, da weder ritualisierte Wege, noch Handlungen visualisiert sind. Eine mögliche Kontextualisierung ließe sich über die Perspektive deuten, da das Gebäude schräg von oben gezeigt wird. Eine Verifizierung ließe sich an dieser Stelle aber nur über ein Interview herstellen. Beim zweiten Bild dagegen ist ein religiöser Kontext, durch die Darstellung eines Kreuzes, zu erkennen. Als Einwand muss man hier aber ins Feld führen, dass sich der Zeichner nicht klar war, ob er das richtige Gebäude mit den Namen verbindet. Zur Verteidigung erwähne ich hier, dass sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Neuen Nationalgalerie die Matthäus-Kirche befindet, die allerdings nicht mehr für Glaubenszwecke benutzt wird, sondern als Museum und Konzertsaal dient. Die Methode der kognitiven Karten ist für die Herstellung und Bewertung eines religiösen Kontextes im Zusammenhang mit der Neuen Nationalgalerie nicht hinreichend bewertbar, da sowohl die soziale Komponente als auch ritualisiertes Verhalten nicht gezeigt wurden. Eine Möglichkeit um 15 weitere Untersuchungen durchzuführen, wäre der Vergleich zwischen diesen Darstellungen und tatsächlichen kognitiven Karten und der Rolle der Neuen Nationalgalerie darin. 16 Sound-Walk9 Hinhören, Zuhören, Aufhören, Weghören oder Abhören. Wir leben in einer Welt, die von visuellen Reizen überflutet ist. Ob Werbung, Fernsehen, Theater oder die Lichtanlage im Klub. Oftmals geht dabei das Audielle im Wahn der Farben, Formen und Darstellungen unter. Doch was wären wir ohne unser Gehör. Viele können es sich vorstellen blind zu sein, aber taub, das bringt manchen Menschen schon an die Grenze des Vorstellbaren. Gerade das Audielle ist viel unterbewusster und umso tiefgehender. Daher ist es nicht sonderlich verwunderlich, dass Warn- und Aufmerksamkeitsaktionen in Geräuschen münden: Hupen im Straßenverkehr, Sirenengeheul, Kindergeschrei. Unsere Sinne sind zwar so unterschiedlich, doch gerade der Zusammenhang macht den Mix um sich im Leben zurecht zu finden. Beim Sound-Walk konzentriert man sich ausschließlich auf das Gehöre. Nur der Sinn wird in den Fokus der Untersuchung gerückt. Plätze, Orte und Gebäude werden durch das Gehörte erst visuell erfassbar. Die Größe eines Raumes lässt sich durch das Gehör optimal erfassen. Wer hatte nicht schon einmal große innere Lust dazu in einer großen Kirche einen leichten Schrei loszulassen um ein mögliches Echo auszutesten? Doch nicht nur das geräuschmäßige Hören ist steht beim Sound-Walk im Vordergrund, sondern eben auch gerade das schwach laute wie Schritte, Teppich, Zustände und vor allem auch Stille spielen eine entscheidende Rolle. Je stiller ein Ort, desto leiser die Gespräche, obwohl es keinerlei Veranlassung dazu gäbe. Vor allem im Museum, einem in aller Regel sehr stillen Ort sollte man sich doch gerade gut unterhalten können um die Objekte, die man nicht anfassen darf und so nur das visuelle bleibt zumindest mit der Begleitung zu besprechen. Was sehe ich, was sieht der andere? Dennoch unterhält man sich gerade zu schweigend. Lauteres Getuschel wird durch scharfe Blicke von anderen Besuchern oder gar von der Aufforderung eines Wärters geahndet. Ist das aber der Grund der „Würde des Hauses“ oder ist es vielmehr von der sonstigen Geräuschkulisse abhängig, wie wir uns sozial zu verhalten haben? Diese Fragen können an dieser Stelle leider nicht ausführlicher besprochen werden. Die Untersuchung in der Neuen Nationalgalerie soll aber einen Einblick in genau diese Fragestellungen erlauben. Bevor ich allerdings mit meinen Ausführungen beginnen möchte ich am Sound-Walk auch Kritik üben. Beschränkt man sich auf das spannende Thema der Geräusche und Stille vergisst man allerdings, wie ich schon weiter oben sagte, dass es auch andere Sinne gibt. Warum man diese beim Sound-Walk außen vor lässt sagt schon der Name. Dennoch denke ich, sollte man bei einer soziologischen Untersuchung durch Sinneserfahrung zumindest die anderen Sinne ebenfalls andiskutieren und mit in die Beschreibung und Bewertung einfließen lassen. Wenn es zum Beispiel in einem Raum sehr still ist, dann liegt das nicht nur an der Menge der Besucher, sondern auch an der Beschaffenheit des Raumes. Warme, stickige Luft erstickt Geräusche direkt. Teppiche, die man fühlen 9 vgl. Blesser, Barry und Salter, Linda Ruth: Aurale Architecture. In Kleilein, D. u.a. Tuned City. Zwischen Klang- und Raumspekulation, Berlin 2008, Seite 14-24 sowie Röhm, Jens: Soundscape, In: Möntmann, Nina (Hg.) 04131 Town Projects. Performance, Sound, Symposium, Berlin 2002 17 kann bei jedem Schritt vermindern Trittgeräusche. Ausdünstende Wandfarbe (wie beim assoziativen Wahrnehmungsspaziergang beschrieben) riecht man, man kann sie aber nicht hören. Gerade die nichtvisuellen Sinne (Geruch, Gefühl, Gehör) sind für eine ausgewogene sinnliche Untersuchung unerlässlich. Da man in einem Museum, wie es die Neue Nationalgalerie ist allerdings die Ausstellungsobjekte nicht anfassen darf, fällt das Gefühl zum Großteil weg, auch ist außer der Wandfarbe nicht viel mehr Geruch (außer vom Würstchenstand davor) wahrzunehmen, weswegen eine Konzentration auf das Gehörte an dieser Stelle durchaus legitim ist. Geht man nun auf die Neue Nationalgalerie zu, so vernimmt man sehr stark den Straßenverkehr der Potsdamer Straße. Durch die große Freifläche kommt auch noch ein ungeheuer lautes Windgeheule dazu, vor allem an Tagen mit schlechtem Wetter – wahrscheinlich der räumlichen Aufteilung geschuldet, bildet sich vor der Neuen Nationalgalerie eine Art Windschleuse. Der bereits weiter oben beschriebene Würstchenstand ist dagegen sehr still. Den Gesprächen bzw. Ordern der Käufer an den Verkäufer kann man kaum folgen. Das überlappende Dach bildet einen optimalen Schallschutz für die Umgebung, obwohl man sich sehr lautstark unterhalten muss, aufgrund des Straßenlärms, der keine fünf Meter an dieser Stelle entfernt ist. Die Drehtüren, mit ihren Borsten streichen über die Fließen und die Gummilappen schnalzen bei jeder Drehbewegung mindestens zweimal. Sobald man die Tür durchtreten hat, ist es still. Die Schritte sind sehr leise, Stöckelschuhe klappern sehr laut auf dem Fliesenboden. Als vor einigen Monate noch ein gigantisches Teppichmuster im oberen Stockwerk angebracht war, waren die Schritte fast stumm. Man konnte sich komplett unbemerkt an jemanden heranschleichen. Im Kassenfoyer ist es für ein Museum, auch am Kassenbereich, sehr laut. Neben Kassengeklapper hört man die Türen zu den Toiletten, die Garderobenmarken, die auf dem glasierten Holztisch hin und her geschoben werden. Bücher, die im Büchergeschäft aufgeklappt und wieder abgelegt werden. Im Café klimpern Tassen, Geschirr und Besteck in Abwechslung mit Geldmünzen um die Wette. Betritt man die Ausstellung ist es sofort museumsstill. Vor allem unangenehme Geräusche treten in den Vordergrund: Husten, Schniefen, Flüstern, Schritte. Schließt man die Augen komplett und bleibt in einem kleinen Nebenraum stehen, wie ich es tat, und hört eine Art Regelmäßigkeit im Schniefen, Husten und Schlurfen von ein oder zwei Personen, kann man schon den Gedanken hegen, dass Menschen sehr stark bei subtilen Geräuschen aufeinander reagieren. Vor allem das Räuspern ist ansteckend wie Gähnen. Im größten Raum sollte der Versuch stattfinden und ich griff aktiv in die Geräuschkulisse ein, indem ich mit deutlich, aber nicht aufgesetzt räusperte. Es dauerte keine Minute, bis mir vier Besucher folgten und sich ebenfalls räusperten. Erstaunlicherweise – und hier kurz der Einwurf zum Visuellen – mit vorgehaltener Faust, obwohl man den Mund beim Räuspern nie öffnet. Neben den Menschen hört man auch hin und wieder das Rattern des Raumbarometers, welches dauerhaft Temperatur und Luftfeuchtigkeit misst. Sehr versteckt, aber einmal das Geräusch erfasst, findet man es in aller Regel in Ecken und hinter Vorhängen. Einprägsam bleibt auch die Erkenntnis, dass man sich bei größer 18 werdender Stille auch immer besser selbst hört. Selbst Schluckgeräusche, die kaum jemand vernimmt, versucht man „leise“ zu sein. Die Konzentration verschwand mit der Dauer, das Geräusch blieb. 19 Fotointerview10 Ein klassisches Interview ist wohl die Methode, die einem sofort in den Sinn kommt, wenn man an qualitative Sozialforschung denkt. Auch das Fotointerview ist nicht groß verschieden zu einem „klassischen“ Interview. Der Unterschied liegt darin, dass man über Fotos Dinge erfahren kann, die man in einem normalen Gespräch wohl nie erfahren würde. Frei nach dem Motto: Bilder sagen mehr als tausend Worte. Mit Bildern können auch Emotionen hervorgerufen werden, die man nur mit Sprache nicht herauslocken könnte. Das Foto beim Interview ist somit unterstützender Faktor. Im religiösen Kontext, der hier nach wie vor untersucht werden soll, können vor allem Ikonenmalereien ein wertvolles Bild sein. Was aber soll man bei der Neue Nationalgalerie als Fotomotiv wählen? Ein Detail, das Gebäude, eine Ausstellung mit Menschen oder ganz was anderes? Nachdem ich mehrere Motive gesucht hatte und die Ausstellung „Moderne Zeiten“ mehrmals besucht hatte viel mir immer wieder das ein oder andere Werk von Max Beckmann ins Auge, die seit dem zweiten Weltkrieg als verschollen gelten und deswegen in Originalgröße als schwarz-weiß Kunstdruck mitten in der Ausstellung angebracht sind. Auch ein bisschen Skandal, neben Otto Dix' Kartenspieler, der mehrere Millionen Wert sein dürfte, einen Kunstdruck für wenige Euro anzubringen. Auf jeden Fall! Ein solches Bild ist wie gemacht für ein Fotointerview, da für Kunstliebhaber auf jeden Fall Emotionen damit verbunden sein dürften. Nachdem nun das Foto gewählt wurde die große Frage, wen man interviewen könnte. Der Freundeskreis der Neue Nationalgalerie hat sich leider nicht auf die Anfrage zurückgemeldet, deswegen entschied ich mich, einen Freund, der oft die Neue Nationalgalerie besucht, zu interviewen und das Foto ins Spiel zu bringen. Leider kannte er weder das Bild, noch den Künstler und daher wohl auch nicht die Geschichte, die dazu gehört. Nach mehreren Anläufen sollte sich herausstellen, dass die Neue Nationalgalerie für eine Untersuchung mittels Fotointerview ungeeignet ist. Deswegen möchte ich, der Übung wegen, an dieser Stelle lediglich das transkribierte Interview wiedergeben und hake die Untersuchungsmethode hiermit ab. F = Forscher, B = Beforschter F: Kennst du die Neue Nationalgalerie? B: Ja, das ist doch die am Potsdamer Platz da, oder? F: Ja, die. Warst du in letzter Zeit dort? B: Letztes Jahr. F: Weißt du noch, welche Ausstellung du besucht hast? B: Die mit den surrealistischen Bildern. F: Surreale Welten? 10 vgl. Wildner, Kathrin: Fotointerview, In: ethnoscripts 2003 sowie Lippard, Lucy: Doubletake. The Diary of a Relation with an Image, In: Third Text 16/17 1996 20 B: Ja, so glaube ich hieß die. F: Hat sie dir gefallen? B: Schon. F: Blieb dir ein Bild besonders in Erinnerung? B: Das mit der Frau mit den Kerzen in den Haaren. F: Das war auch auf einem Plakat abgedruckt zur Bewerbung der Ausstellung. B: Weiß ich nicht mehr. F: Hast du dich spontan entschieden, die Ausstellung zu besuchen? B: Nein, ich hab ein Plakat gesehen mit 'nem Schlüsselloch drauf. F: Und dann wolltest du das gucken? B: Nicht gleich, erst als ich ein paar Mal das Ding gesehen habe. F: Wo hast du das Plakat gesehen? B: Am Bahnhof. F: Wann bist du zur Neue Nationalgalerie dann hin? B: Am Wochenende. F: Ja, Student. B: Ja. F: Wie bist du durch die Ausstellung durch, also wie bist du gegangen, wenn du dich daran noch erinnern kannst? B: Ich glaube so, wie man eben in einem Museum läuft. F: Wie lange warst du drin? B: Vielleicht eine Stunde, vielleicht auch eineinhalb. F: Also ziemlich schnell durch die Ausstellung? B: Nein, aber ich hab auch nicht alle Bilder angesehen, nur die, die mir aufgefallen sind. F: Und welche waren das? B: Das mit der Frau und das mit dem Schlüsselloch. F: Hatte der Besuch dort was Religiöses für dich? B: Nein, wie kommst du da drauf? F: Na, hatte dein Verhalten was Religiöses an sich? B: Gute Frage. Nicht so wirklich. F: Anders gefragt: Fühltest du dich ein einer heiteren Stimmung als du durch bist? B: Ja, doch. F: Und hielt das nach dem Besuch an? B: Auf jeden Fall! F: Woher glaubst du, kam diese Stimmung? B: (lacht) Die Bilder waren doch manchmal ganz lustig. F: Also haben dich die Bilder belustigt? 21 B: Hört sich jetzt nicht so professionell an, aber ja, haben sie schon. Waren ja auch surreal. 22 Situationsanalyse11 Gerade die Situationsanalyse wirft die immer wieder in den Vordergrund dringende Frage auf, was eigentlich Wissenschaftlichkeit ist. Betrachtet man Gluckmanns Text, in dem er über einen Festakt einer Brückeneröffnung berichten möchte, aber eigentlich ständig abseits der Erbauer sich bei den Zulu aufhält, obwohl er kaum was versteht und nur wenig mitnehmen kann. Dennoch würde man Gluckmann keine Unwissenschaftlichkeit unterstellen. Die ewige Frage, ob maximale Objektivität oder Subjektivität nun am wissenschaftlichsten ist. Der Trend geht derzeit von der Objektivität weg, hin zur Subjektivität. In diesem Seminar darf man davon ausgehen, dass ich als ein junger Wissenschaftler im wissenschaftlichen Feld mit der Fragestellung mehr als überfordert war. Dennoch glaube ich, habe ich eine gute Lösung für eine Situationsanalyse gefunden. Anstatt sich selbst ins Feld zu begeben und einem neudeutschen „Happening“ beizuwohnen, entschloss ich mich eine Diskursanalyse als Situationsanalyse zu benutzen. Dabei habe ich mir die 72-stündige Ausstellung von Marcel Duchamps einziges erhaltenes Readymade, dem Parfüm-Flakon „Belle Haleine. Eau de Violette“ herausgepickt. Das Kunstmagazin Monopol (siehe Fußnote) berichtet in einem sehr kurzen Statement auf deren Internetseite über die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie. Alleine der Duktus des Textes lässt den Feuereifer der Autorin für diese Kunstaktion, im wahrsten Sinne des Wortes, aufblühen und man kann sich wahrlich vorstellen, wenn man die Räumlichkeiten der Neue Nationalgalerie vor Augen hat, wie die Inszenierung dieses keine zwanzig Zentimeter großen Objektes ausgefallen sein mag. Obwohl man nicht dabei war, wird durch diesen Text ein Einfallen in die Situation möglich. Man kann sich gut vorstellen, wie hunderte Menschen im sonst leeren Erdgeschoss um ein kleines, eigentlich leicht zu übersehendes Podest, welches womöglich sehr gut ausgeleuchtet ist, herum strömen und hin und wieder wird ein Lichtblitz eines Fotoapparates zu sehen sein. Alleine wenn man sich mitten in der Nacht an den hell erleuchteten Komplex der Neue Nationalgalerie annähert mag diese Ausstrahlung eines wahrlichen Ereignisses auf einen hernieder prasseln. An dieser Stelle, kurz bevor ich den Text aus Monopol präsentiere, darf man wohl fragen, ob es wirklich an Duchamps Flakon lag, oder doch vielmehr an der Tatsache, dass ein weithin bekanntes Museum den ganzen Tag geöffnet hatte, für komplette drei Tage, um lediglich ein einziges Kunstwerk zu zeigen. Wahrscheinlich wären die Pilgerströme, und dieses Wort ist wohl mehr als angebracht, ebenso stark ausgefallen, wenn ein Gartenzwerg ebenso in Szene gesetzt worden wäre. Die Inszenierung spielt eine entscheidende, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle, wenn es um die Präsentation von Kunst geht. Wie auch bei der Ausstellung von Willem de Roij kam es sehr stark auf 11 vgl. Gluckmann, Max: The Bridge: Analysis of a Social Situation in Zululand. Manchester 1958 sowie Alisdair, Rogers: Cinco de Mayo and 15 January: Contrasting Situations in a Mixed Ethnic Neighbourhood. In: Rogers, Alisdair/Vertovec, Steven (Hg.) The Urban Context – Ethnicity, Social Networks and Situational Analysis. Oxford 1995, Seite 117-141 23 die Inszenierung an. Bei der Situation, diesem Kunstereignis, geht es jedenfalls bis zur Grenze des Präsentierens. Hier nun der Text aus Monopol: „Drei Tage schöner Atem. Um Mitternacht geht es los: Für nur 72 Stunden zeigt die Berliner Neue Nationalgalerie den legendären Parfüm-Flakon „Belle Haleine. Eau de Voilette“ von Marcel Duchamp. Der Flakon gilt als das einzig original-erhaltene „Readymade“ des „wichtigsten Künstlers des 20. Jahrhunderts“, so der Direktor der Nationalgalerie Udo Kittelmann. Genau vom 27. Januar, 24 Uhr, bis 30. Januar, 24 Uhr, wird das teure Fläschchen in dem ansonsten leeren Glaskasten der Nationalgalerie zu sehen sein – das Publikum hat rund um die Uhr Zutritt. Das „Belle Haleine“- (zu deutsch „schöner Atem“) Parfüm war das erste Werk, das Duchamp im Frühling 1921 unter der Autorschaft seines weiblichen Alter Egos Rose Sélavy veröffentlichte. Duchamp nutzte dafür einen originalen Flakon des damals populärsten französischen Parfüms „Un Air Embaumé“; Man Ray half ihm bei der Gestaltung des neuen Etiketts. Der „Belle Halaine“-Flakon wurde bei der Versteigerung der Sammlung Yves Saint Laurent und Pierre Bergé im Februar 2009 für 8,9 Millionen Euro an einen Unbekannten verkauft und war seitdem nicht mehr öffentlich zu sehen. Auch gegenüber dem Team der Neuen Nationalgalerie hat der Sammler sein Inkognito gewahrt.“12 Sich auf diesen Diskurs zu stützen fällt sehr leicht, da man, hat man alle bisherigen Untersuchungsergebnisse über die Neue Nationalgalerie gelesen, sofort diese Faszination für Kunst verstehen kann. Während der komplette gläserne Kubus, das Erdgeschoss, frei blieb, wurde Duchamps Flakon in der Mitte aufgestellt und konnte 24 Stunden, drei Tage lang besichtigt werden. Das erinnert stark an den Tanz ums goldene Kalb aus der Bibel. Hunderte Menschen sollen dorthin geströmt sein, um dieses nicht gerade groß auffällige Kunstobjekt zu besichtigen. Ob auch die sonstigen Ausstellung in der Neue Nationalgalerie besichtigt werden konnten, bleibt leider unbeantwortet. Von anderen ähnlichen Ereignissen her kann man aber sagen, dass vermutlich die restlichen Ausstellung nicht zugänglich war. Ein anderes Museum in Berlin, die Berlinische Galerie, veranstaltet ähnliche Ereignisse hin und wieder, dort ist die Ausstellung aber komplett zu besichtigen. Die größte Schwierigkeit bei der Neue Nationalgalerie war auf jeden Fall, dass es keine traditionellen Situationen gibt. Zu Ausstellungseröffnungen kann man nur mit Einladung gehen, es ist nicht publikumsöffentlich zugänglich. Das liegt wohl auch daran, dass man viele Pressevertreter einladen möchte, um gegen die anderen großen Häuser in Berlin entsprechend in der öffentlichen Medienberichterstattung gegen halten zu können und so bevorzugt man die Feuilleton-Redakteure gegen das sonstige Besucherpublikum. 12 Buhr, Elke: Drei Tage schöner Atem, In: Monopol, 2011, Quelle: http://www.monopolmagazin.de/drucken/artikel/2407/ 24 Abschließend kann man sagen, dass die Neue Nationalgalerie sich trotz des Duchamps-Flakons nicht sonderlich für die Untersuchung nach Situationsanalyse eignet. 25 Die Umsetzung im Feld Eine detaillierte Betrachtung der systematischen Beobachtung Bezugnehmend auf die Ausführungen auf Seite neun und zehn der vorliegenden Arbeit will ich hier die genannten Beobachtungspunkte genauer ausführen und auch eine Interpretation anbieten, da sich während der Forschung an der Neuen Nationalgalerie immer klarer wurde, dass gerade die systematischen Beobachtung einen vielfältigen Schatz an Informationen über das Verhältnis von Religiosität und einem Kunsttempel der Moderne bietet. Die bereits genannten VorüberAbbildung 4: Grundriss der Neuen Nationalgalerie Untergeschoß. (Quelle: museum-location.de) legungen über bewegte und unbewegte Strukturen und die Zuordnung zu den einzelnen Beobachtungen werde ich an dieser Stelle nicht mehr begründen, sondern lediglich wiederholen, um diese dann entsprechend mit Beobachtungen unbewegt: Licht und Schatten Verortung in der Stadt Umgebung Architektur von außen und von innen bewegt: Geräusche Menschen Gerüche Wege Warum Wege nun zu den zu versehen: bewegten Strukturen zählen wird deutlich, wenn man die hier abge-bildeten Grundrisse betrachtet: Sie sind kaum durch Wände, Wege, Absperrungen oder Einrichtungen so angeordnet, dass eine geleitete Wegführung möglich ist. Das komplette Gegenteil zu diesem offenen Grundriss wäre das Jüdische Museum in Berlin-Kreuzberg. Dem Besucher des Museums ist es dort kaum möglich einen individuellen Weg einzuschlagen, er ist durch die Anordnung der Räume und Ausstellungsgegenstände gezwungen einen zwar nicht komplett, aber Abbildung 5: Grundriss der Neuen Nationalgalerie Erdgeschoß (Quelle: museum-location.de) mindest-vorgefertigten Weg zu benutzen. 26 VERORTUNG IN DER STADT, UMGEBUNG Die Neue Nationalgalerie befindet sich am südlichen Ende des Kulturforums in Berlin an der Potsdamer Straße. Das Gebäude steht als Solitär als einziges Gebäude des Kulturforums direkt an der Potsdamer Straße. Lediglich die Philharmonie genießt eine ähnlich straßennahe Position, befindet sich aber am nördlichen Ende des Kulturforums. Die beiden Bauten schließen so das Kulturforum ein eine Art Klammer ein. Vom Norden kommend ist die Neue Nationalgalerie durch den Freiplatz zu den restlichen Museen weithin sichtbar. Vom Süden kommend verdecken Bäume, die sich wie bereits weiter oben beschrieben, auf dem Plateau der Neuen Nationalgalerie befinden, die Sicht auf diese. Auf der Rückseite der Neue Nationalgalerie befindet sich eine kleine, kaum genutzte Nebenstraße. Aus dieser Richtung kommen einige Passanten, die aber – soweit die Beobachtung – die Neue Nationalgalerie nie als Besucher betraten. ARCHITEKTUR VON AUSSEN Von außen ist nur das Erdgeschoss der Neue Nationalgalerie zu sehen. Dieses bildet eine quadratische Grundfläche. Die Wände bestehen aus Glas, das Dach ist dagegen wahrscheinlich aus Metall. Getragen wird die Deckenkonstruktion, die mehrere Meter über die Außenwände hinausragt durch zwei große Säulen, die sich im Inneren des Erdgeschosses befinden. Links und rechts vor der Neue Nationalgalerie befindet sich eine Gruppe von Bäumen, die jeweils das Ende des Plateaus anzeigen, auf dem sich die Neue Nationalgalerie befindet und dieses über drei Treppen zugänglich ist. Der Hauptzugang befindet sich auf Seite der Potsdamer Straße und ist über zwei kleinere Stufensätze zu erreichen. Am rechte Ende des Treppenaufgangs zum Plateau befindet sich der bereits mehrmals erwähnte Würstchenstand. Die Glasfassade kann wahlweise durch innen angebrachte Vorhänge undurchsichtig gemacht werden, ist dies nicht der Fall, so kann man durch das Gebäude komplett hindurch blicken. Links bei der Baumgruppe befindet sich noch ein dauerhaft angebrachtes Kunstwerk. Vor der Neue Nationalgalerie wechseln die ausgestellten Kunstwerke in regelmäßigen Abständen passend zur Ausstellung im Gebäude. Sicherheitskameras sind zwar in der überhängenden Dachkonstruktion angebracht, fallen aber nicht weiter auf. Die Treppenabgänge auf der Rückseite schließen den Skulpturengarten ein, der nicht betretbar ist. ARCHITEKTUR VON INNEN Von außen ist nur das Erdgeschoss zu sehen. Das Untergeschoss und damit die Hauptausstellungsfläche befindet sich unter dem Plateau der Neue Nationalgalerie und ist damit von Außen nicht einsehbar. Allgemein ist die innere Raumstruktur nach einem offenen Grundriss angeordnet, was sich auch schon auf den Grundrissen auf Seite 17 sehen ließ. Schreitet man durch die 27 kaum sichtbare Tür in das Innere der Neue Nationalgalerie so fällt der puristische Einrichtungsstil auf. Zwei Treppenabgänge – auf die die Wärter sofort verweisen, sollte man sich auch nur einen Augenblick lang irritiert zeigen – führen in die Kassenhalle (vgl. Abbildung 4, Seite 17). Nebst Kassenbereich findet sich dort auch ein kleines Buchgeschäft, ein Caférestaurant, Toiletten und eine Garderobe an der man die Kleidung kostenlos hinterlegen kann, da größere Taschen im Ausstellungsbereich nicht gestattet sind. Der von außen durch die Treppenabgänge auf der Rückseite befindliche Skulpturengarten ist auch von Innen her nicht zu betreten. Lediglich die große Glasfläche erlaubt den Einblick. Außer den Türen am Eingang und Ausgang des Ausstellungsbereich befinden sich keine Türen in der Neue Nationalgalerie, wodurch es dem Besucher überlassen bleibt, welchen Weg er durch die Ausstellung nehmen möchte. GERÄUSCHE Sehr stark vom Soundwalk (vgl. Seite 13) beeinflusst fallen natürlich auch bei der systematischen Beobachtung Geräusche nicht einfach hinten runter. Um allerdings hier eine Eingrenzung zu schaffen habe ich die gehörten Geräusche nach AUSSEN und INNEN unterteilt, da – wie bereits im Soundwald beschrieben – gravierende Unterschiede auftreten können zwischen einem Geräusch, welches man draußen wahrnimmt und einem, welches drinnen passierte. Um hier auch nicht den Soundwalk schlicht zu wiederholen, werde ich den Abschnitt kurz halten. Vor allem „natürliche“ Geräusche, wie Straßenverkehr, Wind, Gespräche, Stadttreiben und der Würstchenstand mit allen dazugehören Geklapper und Gerassel kommen vor und um die Neue Nationalgalerie vor. Ganz im Gegenteil dazu sind die Geräusche in der Neue Nationalgalerie. Hier sind vor allem Schritte, Husten, Schnäuzen, Drehtürengedrehe, Wärtergetuschel und sehr leise Gespräche zu vernehmen. Auffällig war allerdings auch die Anwesenheit von Kindergeräusche, da sich in der Umgebung und vor der Neue Nationalgalerie keine Kinder beobachten ließen, dennoch aber welche in der Kassenhalle unterwegs waren. Zu den Ausstellungsgeräuschen, wie ich die im im Inneren genannte bezeichnen möchte kommen noch Garderoben- und Kassengeräusche hinzu. In der Ausstellung selbst, allerdings erst bei sehr genauem Hinhören, konnte man auch das Klackern der Barometerschreiber hören, die sich gerne hinter Vorhängen oder unauffällig in den Ecken der Räume befanden, die die Raumtemperatur und -luftfeuchtigkeit mit zeichnen und so Rückschlüsse für die Temperatur- und Belüftungsregelung zulassen. Am Auffälligsten ist vor allem der Unterschied zwischen der Lärmkulisse draußen und drinnen. Sobald man durch die Tür hindurch schreitet, befindet man sich in einem Museum, und in diesem hat man sich entsprechend auch den Geräuschen nach zu verhalten. Dieser Eindruck wird unweigerlich bewusst gemacht. 28 GERÜCHE Je nach Windlage zieht der Geruch des Würstchenstandes über das ganze Plateau und damit vor der ganzen Neue Nationalgalerie seinen wahrnehmbaren Duft. Daneben riecht man auch noch die durch den Straßenverkehr verursachten Abgase, vor allem an der naheliegenden Bushaltestelle. Durch die Jahreszeit der Beobachtung bedingt (Herbst 2010 und Winter 2010/2011) stiegen auch die Gerüche von nassem Laub und überhaupt Nässe in die Nase. Allerdings wechselt diese Geruchskulisse schlagartig, wenn man in die Neue Nationalgalerie eintritt. Die Gerüche waren und sind durch die enorme Wärme in diesem Museum sehr schwer zu differenzieren, da sich eine Art Geruchscocktail bildet, der eben etwas typisch museal riecht, wenn man das so bezeichnen kann. Als typisch museal würde ich bezeichnen: Teppichaufwirbelungen, Parfüm von Besucher und Wärtern, Schweiß und allgemein Menschliches, Kunststoff und Farbe. Vor allem letzteres führte, als es mir auffiel, zu starken Verwirrungen, da sofort eine Besorgnis um die teuren Bilder in den Kopf schoss. Die Auskunft eines Wärters, der gerade in der Nähe war, lautete, dass die Wände zu jeder Ausstellung neu gestrichen werden (der leichte Kaffeeton fiel mir erst an dieser Stelle auf) und da die Farbe nicht komplett austrocknet und durch die Wärme in den Räume diffundieren Geruchsmoleküle aus der Wandfarbe in die Raumatmosphäre. Ob dies Kopfschmerzen verursachte, war meine Frage, die der Wärter mit „Nein“ beantwortete. Genauer begründen konnte er es allerdings nicht. Erstaunlich war, dass es trotz Cafés keinen Geruch nach frischem Kaffee oder anderen Lebensmitteln gab. LICHT UND SCHATTEN Natürlich ist einem Museum die Ausgestaltung der Ausstellungsräume mit Licht und Dunkelbereichen hauptsächlich von der jeweiligen Ausstellung abhängig, dennoch gibt es gerade durch die Architektur der Neue Nationalgalerie bedingte Besonderheiten. Also zum Untersuchungszeitpunkt Willem de Roij im Erdgeschoss ausgestellt war, also dem Glaskomplex, wurden die Scheiben mit dunklen, nur von Innen blick-durchlässigen Vorhängen verhangen. Von außen wirkte das Gebäude daher wie geschlossen. Ein fester Kubus, der auf seinem Plateau über dem Kulturforum thront. Gerade die Türen gingen im schwarzen Äußeren noch mehr unter, als sie dies ohnehin täten. Trotz des Vorhangs waren in der de Roij-Ausstellung nur wenige Bilder des Künstlers zu sehen, die auf einer freistehenden Wand in der Mitte des Erdgeschosses angebracht waren. Die Bilder wurden mit Lichtspots so penetrant beleuchtet, dass sich die Besucher ab einer gewissen Nähe so stark geblendet fühlen, dass sie einige Schritte von der Wand wegmachten. Wie sich herausstellt sind die Unterschiede in den Bildern nur ab einer gewissen Distanz zu sehen. Außer der Wand mit den Bildern waren auf dem Erdgeschoss nur noch die zwei Säulen, die das Dach tragen zu sehen. Die Lichtspots auf die Bilder und die schwarzen Vorhänge vermitteln aber den Eindruck, dass man sich – obwohl der ganze restliche Raum leer ist – hier gut verstecken könnte. Ähnlich wie man ein derartiges 29 Gefühl in so mancher Kirche hat, die auch sehr offen vom Grundriss ist, dennoch den Eindruck vermittelt man könnte hier wunderbar einige Stunden verbringen, ohne weiter aufzufallen. Ganz anders die Lichtstimmung im Untergeschoss. Die Kassenhalle ist indirekt ausgeleuchtet, ein angenehmes, warmes Licht ähnlich der in der Ausstellung Moderne Zeiten im Untergeschoss. Man kann sich gut ziemlich nah an die Bilder heranwagen ohne von Lichtquellen gestört zu werden. Dafür gibt es aber auch keine Bereiche mit weniger Lichteinfall. Verstecke erscheinen schwieriger zu finden, obwohl es mehrere Räume mit unterschiedlichen Grundrissen gibt. Mal größere, mal kleinere Bilder. Lediglich bei den ständig gezeigten Picassos und Dalís lässt sich ein gewisser Versteck-Spiel-Faktor bemerken. Vor allem wenn man Kinder beobachtet, die sich durch die Ausstellung bewegen und sehr intuitiv reagieren, werden aufgeregter, wenn sie in den dunklen Bereichen oder hinter Vorhängen Verstecke vermuten. Das ein oder andere Kind war dabei zu beobachten, wie es so manchen Barometerschreiber hinter einem Vorhang entdeckte, aus Neugier, was sich wohl dahinter befindet. Durch die große Fensterfront im Untergeschoss in den Skulputrengarten hinein hat man auch hier ausreichend Tageslicht in der Ausstellung, was eine wohlige Atmosphäre verbreitet. Bis hierhin habe ich nun alle Beobachtungen der unbewegten Struktur anhand des untersuchten Feldes der Neue Nationalgalerie dargestellt. In den nun folgenden zwei Abschnitten möchte ich auf die Wirkung, die die Summe der gemachten Ausführungen auf die Menschen und auf die Wege, die diese gehen, machen. MENSCHEN Betrachtet man die Menschen, die sich um und in der Neue Nationalgalerie bewegen, so muss man zwischen zwei generellen Gruppen von Menschen unterscheiden: Passanten oder auch Besucher und Personal vor Ort. Zunächst das Personal betrachtend gibt es wiederum zwei Kategorien, die man unterschieden sollte: Personal, dass sich frei bewegen kann (Wächter und Aufseher) und Personal, dass an einen Ort gebunden ist (Kassenbereich, Buchhandlung, Garderobe, Café und Würstchenstand). In der weiteren Betrachtung werden nur die Angestellten, die sich frei bewegen können eine interessante Rolle einnehmen, da diese aktiv Einfluss auf die Besucher ausüben können. Der entscheidende Fokus liegt nun bei den Passanten oder auch Besuchern. Dabei stellte sich bei der Beobachtung vor der Neue Nationalgalerie relativ bald die Frage, ob man am Verhalten eines Passanten erkennen kann, ob er auf dem Weg zur Neue Nationalgalerie ist oder ob er diese nur passiert? Dabei ist es nun entscheidend eine Unterscheidung zwischen Menschen zu machen, die die Neue Nationalgalerie besuchen und denjenigen, die das nicht tun. Unter den Passanten, die die Neue Nationalgalerie nicht besuchen lassen sich noch weitere Unterscheidungen machen: Besucher eines anderen Museums im Kulturforum, ein Kunde des Würstchenstandes oder ein einfacher Passant. Unter den Besuchern der Neue Nationalgalerie sollen folgende Unterkategorien zur Verhaltensbeobachtung 30 machen: Besucher, die gerade eintreten; Besucher, die im Gebäude sind und Besucher die das Gebäude verlassen. Zur besseren Anschauung hier nochmal eine Übersicht: Passanten Personal keine Besucher Besucher eines anderen Museums Würstchenstandkunde tatsächlicher (einfacher) Passant bewegliches Personal Wächter Aufseher Besucher eintretend im Gebäude verlassend unbewegliches Personal Kassenbereich Buchhandlung Garderobe Café Würstchenstand Die interessanteste Gruppe innerhalb dieses Spektrums bilden Passanten, die Besucher sind, die gerade in die Neue Nationalgalerie gehen wollen, da hier der religiöse Kontext eines Museums am besten zu beobachten war: Während die meisten tatsächlichen Passanten eine schnelle, typisch berlinerische Schrittgeschwindigkeit und ein eher zielstrebiges Gehen beobachten lassen, legen Besucher, die sich gerade der Neue Nationalgalerie mit der Absicht nähern diese zu besuchen, eine langsameres, eher meditativ wirkendes Gehverhalten an den Tag. Dieses Meditative ist wahrscheinlich auch der Tatsache geschuldet, dass eher selten Gruppen von drei und mehr Personen gesammelt auf die Neue Nationalgalerie zusteuern. Dies müsste aber durch Interviews mit Menschen, die dieses Verhalten an den Tag legen verifiziert werden; aus der reinen Beobachtung heraus lässt sich keine abschließende Bewertung vornehmen. Erstaunlicherweise wird dieses meditative Verhalten auch in der Neue Nationalgalerie weiter verstärkt. Das kontemplative Moment, wie ich es nennen möchte, tritt wohl bei Besuchern des Museums bereits vor dessen Eintritt in Kraft. Unklar ist noch, ab wann das Moment in Kraft tritt und ob es von einer spontanen Entscheidung abhängig gemacht werden kann? Hierzu könnten weitere Untersuchungen und der Vergleich mit bereits erhobenen Daten Klarheit schaffen. Sobald der Besucher sich in der Neue Nationalgalerie befindet, vor allem dann, wenn er die Ausstellung betritt wirken alle oben genannten Punkte die im Gebäude zu tragen kommen. Die Bilder werden mit einer Ruhe beobachtet, die so gar nicht zum äußeren Stadttreiben passen mag. Der respektvolle Abstand wird eingehalten, da auch bei mehrstündigen Aufenthalten kein Alarm ausgelöst wurde, der bei zu geringem Abstand zum Kunstwerk startet. Interessant wird das Verhalten von Besuchern, sobald sie die Ausstellung verlassen. Man könnte erwarten, dass sobald die Neue Nationalgalerie verlassen wird das Verhalten sprunghaft zurückfällt ins Stadttreiben. Allerdings kann das kontemplative Moment noch ausklingen, da sehr oft sowohl die Toiletten als auch die Garderobe aufgesucht werden, was dazu führt, dass man nicht am letzten Ausstellungspunkt schier ins Freie geworfen wird, sondern 31 Übergangshandlungen notwendig werden um das Gebäude endgültig zu verlassen. Befindet man sich nicht im Erdgeschoss sondern im Untergeschoss ist es noch nötig die Treppe nach oben zu steigen, da das Gebäude nur im Erdgeschoss verlassen werden kann, was durch die körperliche Anstrengung des Treppensteigens dem etwas narkotisch wirkenden Zustand ein jähes Ende bereitet. Dieses Verhalten könnte ich nicht nur bei Besuchern machen, sondern auch ich selbst erlag der Atmosphäre des Ortes und war schnell im kontemplativen Moment versunken und musste deswegen einiges an Anstrengung aufbringen, mich nicht zu sehr mit treiben zu lassen, um die Beobachtungen auch ordentlich machen zu können. Ein interessanter Punkt war die Wirkung der Wärter bzw. Aufseher. Gar nicht so sehr, wie die Besucher mit den Angestellten interagieren, sondern wie ich wahrgenommen wurde, da ich anscheinend nicht dem sonstigen normalen Verhalten im Museum entsprach. Bewaffnet mit Notizbuch und Stift, die Besucher stark beobachtend, wurde ich nicht nur einmal von einem Wärter über mehrere Räume hinweg verfolgt. Entweder wirkte ich wie ein Kunstdieb, der sich gerade die beste Einbruchsstelle aussuchte, oder mein Verhalten war so auffällig, dass es ihm so erschien, als ob ich eben nicht hier bin um Max Beckmann- und Otto Dix-Werke zu sehen. Diese Irritation der Wärter führte letztlich dazu, dass ich mehrere Anläufe brauchte, um alle Beobachtungen machen zu können, da diese Szenerie auch dazu führte, dass ich von manchen Besuchern mir einem gewissen Argwohn angesehen wurde, was keine nicht teilnehmende Beobachtung unmöglich gemacht hätte. WEGE Auch bei den Wegen muss man zwei grundsätzliche Unterscheidungen machen: Wege vor und Wege im Gebäude der Neue Nationalgalerie. Vor dem Gebäude gibt es dann wiederum die Klassifikation, ob es Besucher sind oder eben Passanten. Dieses Feld möchte ich aber nicht erneut öffnen. Wie schon weiter oben an mehreren Punkte aufgegriffen bleibt es den Besuchern im Gebäude mehr oder weniger freigehalten, welcher Weg durch die Ausstellungen genommen wird. Allerdings ist es nur möglich sich gegen den Uhrzeigersinn durch das Gebäude zu bewegen, wenn man alles sehen möchte, da man nur am Eingang und nicht am Ausgang der Ausstellung eintreten kann. Dieser Basisimpuls führt dann zu einer kompletten Strömungsfunktion in eine Richtung. Weitere Räume werden aber nicht mehr grundsätzlich gegen den Uhrzeigersinn abgegangen, sondern eher willkürlich einmal im und einmal gegen den Uhrzeigersinn. Ein typisch museales Verhalten (Von Ausstellungsstück zu Ausstellungsstück) ist auch in der Neue Nationalgalerie zu beobachten. Die Wege außerhalb des Gebäudes sind dahingehend erstaunlicherweise ähnlich gut vorhersagbar wie im Gebäude. Der Würstchenstand nimmt, je nach Windrichtung, dabei ein zentrale Rolle ein, da der Bratgeruch sich entweder über das Plateau verteilt oder eben nicht. Verteilt sich der Geruch über das Plateau (bei Südwestwind), dann nehmen die Besucher einen größeren Abstand – egal ob ankommend oder verlassend – zum Stand ein. Wird der Geruch in eine andere Richtung verteilt, wird ein weniger großer Abstand eingenommen um das Plateau zu verlassen oder zu betreten. 32 Ein entscheidendes Problem in der Wegbeschreibung nimmt die Tür in die Neue Nationalgalerie ein. Da die Türen in der Fassadenkonstruktion mehr oder weniger verschwinden werden die Wege vor der Neue Nationalgalerie, die von Besuchern beschritten werden, die sich gerade in die Neue Nationalgalerie auf den Weg machen langsamer und eher mit Bedacht genommen, da man anscheinend nicht in den Konflikt kommen möchte, an der Tür zu stehen und diese verschlossen vor zu finden. Dieser Eindruck konnte von mir auch selbst wahrgenommen werden, da, wenn nicht gerade jemand anderes aus dem Gebäude kommt oder hineingehen will, so ist der Zielkonflikt aus einer abwartenden Haltung, dass dies gleich passieren mag und dem Willen das Gebäude zu betreten geformt. An dieser Stelle tritt das erste Mal sehr offensichtlich das kontemplative Moment in Erscheinung, da nicht nur die Kunstwerke im Gebäude betrachtet werden und verarbeitet werden wollen, sondern auch das Gebäude an und für sich. Die Lösung des Zielkonflikts wird von einigen Besuchern darin getroffen, nicht gleich in die Neue Nationalgalerie einzutreten, sondern zuerst einen Blick durch die Scheiben zu wagen. Anscheinend möchte man zuerst erkennen, ob sonst noch jemand im Gebäude ist und man daraufhin selbst eintritt. Die Frage, die ich nicht klären konnte ist, ob die Besucher auch eintreten, wenn sie niemanden sehen und noch weiter abwarten. Warum? Weil mir an dieser Stelle bewusst wurde, dass auch mein eigener Standort eine Rolle bei der Findung einer Lösung des Zielkonflikts hat. Einerseits, wenn ich vor dem Gebäude stehe, dass mich Passanten schlicht fragen, ob die Neue Nationalgalerie geöffnet hat oder wenn ich im Gebäude stehe, dass mich die Passanten sehen können und so davon ausgehen, dass das Museum geöffnet hat. Der Standort des Forschenden spielt eine relative Rolle zu den Beforschten bei der Beobachtung eines Verhaltens, und der Verifikation eines beobachteten Verhaltens! 33 Fazit Natürlich war es schwierig den religiösen Kontext mit jeder Methode aufzudecken. In der einen mehr, in der anderen weniger. Schließlich stand auch keine Kirche oder ein anderes religiös konnotiertes Feld als Objekt des Forschens zur Debatte, sondern die Neue Nationalgalerie, also einem Kunsttempel der Moderne. Dennoch konnte man anhand einiger Methoden – herausgestellt die Methode der systematischen Beobachtung – eine Verbindung zwischen Kunst und einer Art religiösen Besetzung in Bezug bringen. Der zu Anfang gestellte Fragenkatalog musste genau definiert werden. Trotz meiner Definition im eigentlichen Rahmen von Religion und Religiosität bin ich mir dennoch sicher, dass auch der Neue Nationalgalerie eine gewisse religiöse Konnotation zugeschrieben werden kann. Die Beobachtungen, die gemacht wurden, können zwar nicht einwandfrei jede Frage der Religiosität beantworten, gehen aber eindeutig in die Richtung einer Art Religion, die mit der Kontemplation verbunden werden kann. Als entscheidende und damit weitestgehende Annäherung an die Religion in Verbindung mit der Neue Nationalgalerie stellt das kontemplative Moment dar. Die Frage an dieser Stelle, die ich versuchte zu beantworten, war, ob die Annäherung mit der Absicht des Besuchs an die Neue Nationalgalerie dazu führt, eine religiös-konnotierte Grundhaltung hervorzurufen? Die leider offen gebliebene Frage ist, ob der Zeitpunkt, an dem die Entscheidung für den Besuch im Museum getroffen wird, einen Einfluss auf das kontemplative Moment nimmt und wie sehr Faktoren wie Vorfreude und wirkliches Zeit haben für einen Besuch im Museum zu diesem Moment gerechnet werden müssen oder wie diesen befördern. Verifizierten könnte man die Forschungsergebnisse, indem man sie mit Arbeiten aus direkt religiösen Forschungsfeldern vergleicht und mit Untersuchungen an einem religiösen Standort (z. B. dem Berliner Dom in Berlin) in Verbindung bringt. Vor allem interessant wären Objekte, die im Zwischenraum aus Museum und Kirche gestellt werden können, wie eben der Berliner Dom. Das Seminar und auch die Forschungsarbeit an und für sich gaben diese Ressourcen leider nicht her, stellen aber einen Anhaltspunkt für mögliche spätere Publikationen dar, indem man kritisch mit den hier angebrachten Ergebnissen 34 ins Gericht geht. Literaturverzeichnis Auge, Marc: Ein Ethnologe in der Metro, Frankfurt am Main, 1988 Bippus, Elke und Hesse, Frank: Social Disease. Andy Warhols Gesellschaftsfotographie als Teilnahme und Beobachtung, in: Berliner Blätter, Ausgabe 46, 2008 Blesser, Barry und Salter, Linda Ruth: Aurale Architecture, in: Kleilein, D. u.a.: Tuned City. Zwischen Klang- und Raumspekulation, Berlin, 2008 Bordieu, Pierre: Das Elend der Welt – Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz, 1997 Buhr, Elke: Drei Tage schöner Atem, In: Monopol, 2011, Quelle: http://www.monopolmagazin.de/drucken/artikel/2407/ Cuny, Cecile: Die Fotographie als Forschungsmethode. 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Annual Review of Anthripology, Ausgabe 24, 1995 Rogers, Alisdair: Cinco de Mayo and 15 January: Contrasting Situations in a Mixed Ethnic Neighbourhood, in: Rogers, Alisdair/Vertovec, Steven (Hg.): The Urban Context – Ethnicity, Social Networks and Situational Analysis, Oxford, 1995 Röhm, Jens: Soundscape, in: Möntmann, Nina (Hg): 04131 Town Projects. Performance, Sound, Symposium, Berlin, 2002 Sievert, Boris: Wie man eine Stadt bereisen sollte. Whyte, William: City, Rediscovering the Center, in: Le Gates/Sout: The City Reader, New York 1988 Wildner, Kathrin: Fotointerview, in: ethniscripts, 2003 Wildner, Kathrin: HafenCity Mental Maps: Vorgestellte Karten eines zu besetzenden Raumes, in: Tetrapak (Hg) Ready2capture! Hafencity – 36 ein urbaner Raum?, Berlin, 2002 Bildverzeichnis, Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Die Neue Nationalgalerie in Berlin (Quelle: Internetseite der Neuen Nationalgalerie) Abbildung 2: Mental Map eines 22-jährigen Studenten in Friedrichshain (Nähe Ostkreuz) gezeichnet Abbildung 3: Mental Map eines 48-jährigen Mannes gezeichnet am Brandenburger Tor Abbildung 4: Grundriss der Neuen Nationalgalerie Untergeschoß. (Quelle: museum-location.de) Abbildung 5: Grundriss der Neuen Nationalgalerie Erdgeschoß (Quelle: museum-location.de) 37