Stadt als Forschungsfeld. Qualitative Methoden der Raumanalyse

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Stadt als Forschungsfeld. Qualitative Methoden der Raumanalyse
Europa-Universität Viadrina
Dr. Kathrin Wildner
Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeographie
Große Scharrnstraße 59
15230 Frankfurt (Oder)
Projektbericht
Sozialwissenschaftliche Vertiefung
Stadt als Forschungsfeld.
Qualitative Methoden der Raumanalyse
Das Übertreten der Schwelle.
Die Neue Nationalgalerie in Berlin und der
religiöse Kontext eines Kunsttempels der Moderne.
Michael Krieger
Matrikelnummer 33 8 22
[email protected]
Erklärung über die eigenständige Erstellung der Hausarbeit
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Hausarbeit selbständig verfasst und
keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.
Die Stellen der Hausarbeit, die anderen Quellen im Wortlaut oder dem Sinn nach
entnommen wurden, sind durch Angaben der Herkunft kenntlich gemacht. Dies gilt
auch für Zeichnungen, Skizzen, bildliche Darstellungen sowie für Quellen aus dem
Internet.
Berlin, März 2011
___________________________________________
Michael Krieger, Verfasser.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis....................................................................................................................... 3
Vorwort ...................................................................................................................................... 4
Begriffsdefinitionen ................................................................................................................... 6
Methoden.................................................................................................................................... 9
Assoziative Wahrnehmungsspaziergänge....................................................................... 10
Systematische Beobachtung ........................................................................................... 12
Mental Maps ................................................................................................................... 14
Sound-Walk .................................................................................................................... 16
Fotointerview .................................................................................................................. 18
Situationsanalyse ............................................................................................................ 20
Die Umsetzung im Feld............................................................................................................ 22
VERORTUNG IN DER STADT, UMGEBUNG ............................................................... 23
ARCHITEKTUR VON AUSSEN....................................................................................... 23
ARCHITEKTUR VON INNEN.......................................................................................... 23
GERÄUSCHE ..................................................................................................................... 24
GERÜCHE .......................................................................................................................... 24
LICHT UND SCHATTEN.................................................................................................. 25
MENSCHEN ....................................................................................................................... 26
WEGE.................................................................................................................................. 28
Fazit .......................................................................................................................................... 30
Literaturverzeichnis.................................................................................................................. 31
Bildverzeichnis, Abbildungsverzeichnis .................................................................................. 33
3
Vorwort
Religiosität im Stadtraum. Gerade für mich als jemanden, der seit Jahren nichts mehr mit
Religion und Glaube anfangen kann stellt das Thema zunächst eine große Herausforderung dar, da ich
nicht wusste, wie ich auf religiöse Menschen reagieren werde und ob eine wissenschaftliche
Neutralität für mich überhaupt möglich ist. Das sich das Thema aber immer mehr zu einem konkreten
Ort entwickeln sollte, war für mich klar, dass ich nicht offensichtliche Religiosität in einem KirchenRaum untersuchen wollte, sondern ein metaphorischer Kontext viel mehr meiner eigenen
Raumwirkung zuträglich wurde.
Das Forschungsfeld beschränkte sich dabei relativ schnell auf Berlin, eine sehr atheistische
Städte, die man finden kann. Aber betrachtet man Religion oder Religiosität nicht als den erkennbaren
ersten Punkt einer gewissen Gläubigkeit oder Anbetung zu einem oder mehreren omnipotenten
Wesen, so ergibt sich ein weites Feld möglicher Auslegungen eines in dieser Arbeit nicht weiter
umrissenen Begriffs. Vielmehr beschäftigten mich Fragen zu Orten, die in gewisser Weise Tempel an
und für sich sind und die Aktionen, die man dort als Besucher, Teilnehmer oder Beobachter macht
oder zu denen man unfreiwillig verleitet wird, zu einem religiösen Kontext führen:
- Führt die Konformität eines Ortes zu einer Gemeinschaft?
- Verändert sich das Verhalten eines Besuchers, wenn er den Raum wahrnimmt?
- Gibt es ein ritualisiertes Verhalten im Raum?
- Welche nachhaltigen Wirkungen werden vom Ort und vom Raum ausgestrahlt?
- Welche Wahrnehmung hat der Raum auf einen selbst und damit im Zusammenschluss mit
anderen?
Diesen Fragenkatalog könnte man beliebig fortsetzen. Der unzweifelhafte Metatext einer
Religiosität lässt sich kaum wegdiskutieren.
Auf der Suche nach einem Ort, der diese pseudo-religiösen Fragen zu beantworten gerade zu
geeignet ist, stieß ich zunächst auf das Berghain, einem der wohl bekanntesten Klubs der Stadt Berlin.
Und jeder, ganz subjektiv, der dort war berichtet von einer gewissen Aura, die man auch gut in einem
religiösen Kontext betrachten kann. Allerdings stellte sich schon nach wenigen methodischen
4
Anwendungen ein Problem dar: Die architektonischen Gegebenheiten und die stark kontrollierte
Außenwirkung der Inhaber des Berghain. Weitere Untersuchungen stießen auch aufgrund der eigenen
Kapazitäten daher an eine unüberwindbare Hürde. Auf der Suche nach einem weiteren, den eigenen
und den wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Räume kam das Kulturforum, und innerhalb
dieses die Philharmonie oder die Neue Nationalgalerie in Betracht. Der letztliche Ausschlag für die
Neue Nationalgalerie war der, dass dieses Gebäude, dieser Ort, dieser Raum nicht von einem
Veranstaltung abhängig ist, sondern konsequent über Stunden hinweg die Möglichkeit des Besuchs
bietet und daher keinen Kontext generieren muss, sondern diesen permanent anbietet und so auch
jedem einzelnen spontanen Passanten die Option eröffnet den Kontext anzunehmen. Zudem ist die
Neue Nationalgalerie als Museum einem offensichtlicher weniger wirtschaftlich starken Publikum
ebenso zugänglich, im Gegensatz zur Philharmonie. Der letzte Punkt, warum die Entscheidung für die
Neue Nationalgalerie und gegen die Philharmonie viel, war die Kontrolle der vorab erstellten Fragen:
Auf welchen Raum lassen sich möglichst viele Fragen modifiziert übernehmen? Die Philharmonie
konnte hierbei einfach damit nicht punkten, dass die Besucher sitzen und beobachten, während ihnen
in der Neuen Nationalgalerie auch eine notwendigerweise offerierte Bewegungsmöglichkeit zur
Verfügung steht und so auch ein ritualisiertes Verhalten beobachtet werden kann, während dies in der
Philharmonie bereits vorgegeben wäre, wie man sich verhalten muss.
Als Schlussbemerkung des Vorwortes sei noch erwähnt, dass es in dem Seminar „Stadt als
Forschungsfeld. Qualitative Methoden der Raumanalyse“ darum ging Methoden im Raum
anzuwenden. Der Mangel an Fußnoten und die oftmals sehr subjektiven Beschreibungen sind der
Forschung geschuldet und der sporadischen Beschäftigung mit der Theorie im Rahmen der
vorliegenden Arbeit. Im Literaturverzeichnis sind deshalb alle Quellen genannt, die herangezogen
wurden, um die Forschung zu ermöglichen. Zu Beginn jedes Blocks wird es immer eine kurze
Einführung in die Methode geben, die dann bei den entsprechen Quellen genauer der Theorie nach
studiert werden kann.
Michael Krieger, Berlin im Februar 2011.
5
Begriffsdefinitionen
Bevor ich mit der Untersuchung beginne möchte ich die Begriffe Religion, Religiosität, Tempel
und Kontext näher beleuchten und im weiteren Verlauf immer wieder auf diese hier gemachte
Definitionen Bezug nehmen, wenn ich die jeweiligen Begriffe zur Verdeutlichung des
Untersuchungsgegenstandes heranziehe. Es mag sein, dass nicht jeder Leser dieser Arbeit die gleiche
Definition für den jeweiligen Begriff heranzuziehen vermag, um aber das abstrakte Verständnis von
Religion, Religiosität, Tempel und Kontext mit dem Handeln der Personen in und um der Neuen
Nationalgalerie zu verstehen, halte ich es für nötig eine gemeinsame Diskussionsgrundlage zu
schaffen.
Dabei geht es mir hierbei nicht um eine Definition des Begriffs in Zusammenlegung mit dem
Untersuchungsgegenstand Neue Nationalgalerie, da dies erst mit den entsprechenden Methoden, die
ich im nächsten Abschnitt einleiten werde, veranschaulichen werde, sondern um eine Beschreibung
des Begriffs in seinem ureigenen Wortsinn.
Religion
„Als Religion […] bezeichnet man eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Phänomene, die
menschliches Verhalten, Handeln, Denken und Fühlen prägen und Wertvorstellungen normativ
beeinflussen. Es gibt keine wissenschaftlich allgemein anerkannte Definition des Begriffs Religion.
Religiöse Weltanschauungen und Sinngebungssysteme stehen oft in langen Traditionen und beziehen
sich zumeist auf übernatürliche Vorstellungen. So gehen viele, aber nicht alle Religionen von der
Existenz eines oder mehrerer persönlicher oder unpersönlicher über-weltlicher Wesen (z. B. einer oder
mehrerer Gottheiten oder von Geistern) oder Prinzipien (z. B. Dao, Dhamma) aus und machen
Aussagen über die Herkunft und Zukunft des Menschen, etwa über das Nirvana [sic!] oder Jenseits.
Sehr viele Religionen weisen gemeinsame Elemente auf, wie die Kommunikation mit transzendenten
Wesen im Rahmen von Heilslehren, Symbolsystemen, Kulten und Ritualen oder bauen aufeinander
auf […].
Einige Religionen beruhen auf philosophischen Systemen im weitesten Sinne oder haben solche
rezipiert. Einige sind stärker politisch, teils sogar theokratisch orientiert. Einige legen starken Wert auf
spirituelle Aspekte, andere weniger. Eine klare Abgrenzung ist nicht möglich, Überschneidungen
finden sich in nahezu allen Religionen und insbesondere bei deren Rezeption und Ausübung durch
einzelne Menschen.“1
1
http://de.wikipedia.org/wiki/Religion
6
Religiosität
„Religiosität
bezeichnet
die
unterschiedlichen
Arten
von
Glaubenshaltungen
und
deren
Ausdrucksweisen (Riten, Werte, moralische Handlungen), mit denen Menschen sich auf eine
welttranszendente Letzt-Wirklichkeit (unpersonal oder personal Göttliches) oder auf überweltliche
Mächte (Geister, Engel) beziehen.“2
Tempel
„Tempel […] ist die deutsche Bezeichnung von Gebäuden, die seit dem Neolithikum in vielen
Religionen als Heiligtum dienten. […].
Der Tempel ist auf vielfältige Weise in das Religionssystem eingebunden. Der visuelle Aspekt steht
anfangs noch nicht im Vordergrund. Der Tempel ist der Ort, an dem rituelle Handlungen für oder
durch die Gläubigen […] ausgeführt werden. In manchen Kulturen repräsentiert der Tempel den
Kosmos schlechthin. Tempel werden oftmals als Aufenthaltsort der Götter aufgefasst. Stellt man sich
den Berg als Sitz der Götter vor […], so ist u. U. auch der Tempel als Berg […] konzipiert. Es kommt
schließlich zur Vorstellung eines häuslichen Lebens der Götter, das dem der Menschen entspricht;
z. B. Tagesabläufe mit Weckung, Toilette, Speisung. Der sakrale Bezirk ist immer vom profanen
Raum getrennt (Temenoi); der Tempel kann bestimmten Göttern vorbehalten sein oder in
verschiedene Bereiche aufgeteilt sein.
In vielen Stadtkulturen ist der Tempel das zentrale Bauwerk und prägt die Siedlung. Neben der
religiösen Bedeutung des Tempels ist, besonders in Hochkulturen, auch die wirtschaftliche nicht zu
unterschätzen. Auch die Bildungseinrichtungen sind häufig an den Tempel gebunden.“3
Kontext
Ein Kontext ist als Zusammenhang zwischen miteinander verbundenen Teilen zu verstehen, die
dadurch durch die stärke ihrer Beziehungen zueinander und miteinander eine abstrakte Eben bilden, in
der die Teile ein Wechselverhältnis mit dieser Eben eingehen. „Diese Teile können sein:
1. materielle Gegenstände – z. B. Körper, Teilchen, Objekte und auch physische Prozesse, oder
2. gedankliche Gegenstände – etwa Begriffe, Aussagen, Theorien oder Normen, und
3. Eigenschaften dieser beiden Arten von Gegenständen.
Jeder Zusammenhang bedeutet, dass eine Veränderung des einen Gegenstands von einer Veränderung
des anderen begleitet wird.
Körperlich, gedanklich und dazwischen
Der ursprünglichen Wortbedeutung […] kommt der physische Zusammenhang am nächsten. Davon
abstrahiert sind gedankliche Zusammenhänge oder ein allgemeiner […]. Im Bereich "dazwischen"
2
3
http://de.wikipedia.org/wiki/Religiosität
http://de.wikipedia.org/wiki/Tempel
7
liegen emotionale Zusammenhänge, Prägungen oder Reaktionen, Zusammenhänge von Gruppen oder
im sprachlichen Bereich, Sinneseindrücke oder Erinnerungen, [usw.]
Objektiv, logisch und kausal
Physische Zusammenhänge werden auch objektive genannt, während man jene des gedanklichsprachlichen Bereichs als Kohärenzen oder logische Zusammenhänge bezeichnet. Kausale
Zusammenhänge gibt es hingegen in beiden.
In der Religion, aber auch in der Intuition der meisten Menschen wird die Welt als
zusammenhängendes Ganzes betrachtet. In dieser Hinsicht spricht die Philosophie von einer
Korrespondenztheorie der Wahrheit: Zusammenhänge zwischen Gegenständen, Eigenschaften und
Prozessen seien die Grundlage für die Kohärenz von Begriffen, Denkprozessen oder Aussagen. Dies
ermöglicht uns die Erklärung von Gegenständen, die der Erkenntnis nicht unmittelbar zugänglich sind,
mit Hilfe anderer, zu denen ein "objektiver Zusammenhang" besteht.“4
4
http://de.wikipedia.org/wiki/Zusammenhang
8
Methoden
Im Rahmen des Seminars wurden sechs Methoden der qualitativen Raumforschung vorgestellt
und sollten im weiteren Verlauf der Feldforschung auf das jeweilige Objekt angewandt werden. Dabei
handelt es sich um folgende Methoden:
Assoziative Wahrnehmungsspaziergänge
Systematische Beobachtungen
Mental Maps
Sound-Walk
Fotointerview
Situationsanalyse
Alle Methoden wurden im Kontext der Religiosität auf das Untersuchungsfeld angewandt und
dementsprechend modifiziert, wenn dies nötig war. Eine genaue Beschreibung, wie die Methode
angepasst wurde, findet sich bei der Beschreibung der jeweiligen.
Während des Aufenthaltes im Feld stellte sich relativ schnell heraus, dass die Methode der
Systematischen Beobachtung besonders geeignet ist
1) den Kontext zur Religiosität zu betrachten und
2) das Verhalten der Menschen, welches man als ritualisiert betrachten kann, genau zu studieren
und zu notieren.
Hingehen stellen andere Methoden, wie die Mental Maps, auch bei Modifizierung keine
ausreichende, weiter wissenschaftlich untersuchbare Quelle für die Konstellation aus Religiosität und
Neuer Nationalgalerie her.
Die ethnographische Anwendung der Methode der systematischen Beobachtung wird sich im
Laufe der Arbeit als zweckdienlich erweisen und dazu führen, dass die Methode einer genaueren
Betrachtung und die Ergebnisse dieser kritischer hinterfragt werden, was nochmals analytischer unter
dem Punkt DIE UMSETZUNG IM FELD erfolgen wird.
Des Weiteren werde ich bei der Beschreibung der Methoden ausführen, wie diese jeweils
umgesetzt wurden (z. B. mit wem das Fotointerview geführt wurde, und wie es zu dieser Auswahl
kam). Zum Abschluss des Projektberichtes, im Fazit, wird es eine kritische Bewertung der Methoden
geben und wie diese für ähnliche Projekte angewandt werden könnten. Dabei soll auch die allgemeine
Erforschung des Themas mit qualitativen Kriterien hinterfragt werden.
9
Assoziative Wahrnehmungsspaziergänge5
Unter einem assoziativen Wahrnehmungsspaziergang versteht man das aufmerksame Begehen
eines Ortes, Raumes mit allen Sinnen. Sowohl das Gesehene, das Gehörte wie auch das Gefühlte und
Gerochene spielen eine Rolle. Geht man Aufmerksam durchs Leben, erfährt man auch die Dinge, die
links und rechts von einem liegen. Natürlich muss die Frage erlaubt sein, was an dieser
Forschungsmethode wissenschaftlich sei. Die volle Objektivität gegen die maximale Subjektivität. So
mutet ein assoziativer Wahrnehmungsspaziergang an. Der Frage nach Wissenschaftlichkeit soll an
dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden, da sich hier viele Schulen, Auffassungen und
Forscher untereinander uneins sind, ob Subjektivität wissenschaftlich ist oder ob es nicht gerade am
wissenschaftlichsten ist. Dennoch soll der kleine Einstieg auch Kritik an der Methode sein, ob man
nicht zu sehr vom „Zauber“ eines Ortes gefangen wird und zu wenig den Blick für das Wesentliche
oder gerade Auffallende hat?
Mit dem Bus M85 fährt man aus Richtung Schönebergs kommend auf der Potsdamer Straße bis
man an der Haltestelle am Seitenkanal hält. Die Neue Nationalgalerie, der Ort des Forschens, mein
Feld, befindet sich nur schleierhaft sichtbar hinter einer Reihe von Bäumen. Auf der Straßenseite, auf
der man aussteigt befindet sich auch die weithin bekannte Hauptstelle der staatlichen Bibliothek.
Schweift man mit dem Blick über die Gegend, so sticht vor allem die golden-glänzende Philharmonie
am Ende des Kulturforums auch bei schlechtem Wetter hervor. Leichter Niesel fällt vom Himmel, was
schon an dieser, bisher kaum betrachteten Stelle, eher den Wunsch nach einer Forschung in der Neuen
Nationalgalerie als davor wünschenswert macht.
Bei der Annäherung an das Gebäude fällt besonders die große Freifläche vorm in der Fassade
verschwindenden Haupteingang auf. Das Plateau ist aber nicht ebenerdig mit der Straße, sondern
durch vier Stufen erhöht. Es ist nicht betoniert, sondern mit riesigen Steinfliesen bedeckt. Ein paar
Bäume stehen auf der linken Seite des Plateaus. Die gleichen, die auch den Blick vom Süden her
verdeckten. Auf der rechten Seite sind ebenfalls Bäume und ein Kunstwerk angebracht. Sonst befindet
sich auf dem Plateau nichts außer Besuchern und Passanten. Vor der wenig-stufigen Treppe zum
Plateau steht ein Würstchenstand rechtsseitig, dessen Geruch penetrant vom Wind über das ganze
Plateau verteilt wird. Auf der Rückseite der Nationalgalerie führen zwei Treppenabgänge am
Säulengarten, wie sich später feststellen lassen wird, vorbei auf eine Hinterstraße, die kaum befahren
ist. Passanten sind hier nur sehr wenige zu sehen.
Beim Umrunden des Gebäudes fallen die Überwachungskameras nicht wirklich auf, erst
nachdem man aktiv anfängt danach zu suchen, sind doch die ein oder andere sichtbar. Offenbar wird
auch nur der Raum direkt unter der überstehenden Decke beobachtet und nicht das ganze Plateau.
Zumindest ließ dies keine Kamera vermuten. Ansonsten ist das Gebäude komplett aus Glas gebaut.
5
vgl. de Certeau, Michael: Gehen in der Stadt, In Kunst des Handelns 1992, S. 179-182 und 188-192
sowie Debord, Guy: Theorie des Umherschweifens, In R. Ohrt: Das große Spiel. Die Situationsisten zwischen
Kunst und Politik, Hamburg 2000
10
Diese Scheiben sind aber wiederum, wie sich von Innen zeigen wird, mit schwarzen von innen her
durchsichtigen Vorhängen verhangen. Von Außen ist es vollkommen unmöglich einen Blick ins
Innere zu werfen, auch wenn man versucht sich die Nase an der Scheibe platt zu drücken. Nachdem
die Galerie zweimal umrundet wurde, entschied ich mich in das Gebäude zu gehen.
Obwohl ich schon mehrmals dort war und weiß, wo die Eingänge sind, ist es doch sehr
erstaunlich, dass sich die Drehtüren so gut in die Fassade einpassen, dass es leicht den Eindruck
erweckt als habe die Neue Nationalgalerie gar keinen Eingang bzw. sei immer geschlossen. Sobald
man dann im Gebäude ist peitscht einen sofort die über warme Museumsluft entgegen. Jetzt wird auch
klar, warum die schwarzen Vorhänge angebracht wurden: Auf der Oberetage, auf der man sich beim
Betreten befindet, ist eine Ausstellung angebracht, die nur dem zahlenden Publikum zugänglich sein
soll. Drei Wärter weisen den Betretenden den Weg über die zwei Treppenabgänge nach unten, dort
befinden sich die Kassen, Toiletten, Garderobe, Ausstellung, Buchgeschäft und ein kleines Café.
Ich entschied mich zuerst die Ausstellung im oberen Teil des Gebäudes zu besuchen. Die
Ausstellung an und für sich werde ich an dieser Stelle nicht weiter erwähnen, nur den Aufbau: Eine
große circa vier Meter hohe Mittelwand war in der sonst komplett leeren Halle angebracht. Vorderund Rückseite waren mit Bildern behangen, die mit Spots von der Decke herab beschienen sind.
Nähert man sich den Bildern wird die Lichtintensität der Spots so unangenehm, dass man wieder ein
paar Schritte zurücktreten will. Der Effekt, der dadurch auf den Besucher ausgeübt wird ist
bemerkenswert. Mehrere Besucher, die ich beobachten konnte, traten so mindestens drei bis fünf
Meter von der Wand zurück.
Trotz der Leere der Halle hatte man das Gefühl man könnte sich hier unbemerkt verstecken.
Besonders geeignet erscheinen dafür die beiden Säulen, die die Decke halten und aus massivem
Material sein dürften. Als ich hinter den Vorhang treten wollte, wurde ich von Wärtern bemerkt und
zurückbeordert. Ich leistete mit Widerwillen Folge. Dennoch versuchte ich später noch einmal hinter
den Vorhang zu gelangen, als ich aber die Wärter sah, wollte ich kein Hausverbot riskieren, um noch
öfters das Forschungsfeld aufzusuchen, unterließ ich meinen erneuten Versuch.
Besucht man die zweite Ausstellung im Untergeschoss, die auch weitaus größer ist als die im
Obergeschoss fällt schon mal sofort ins Auge, dass hier weit mehr Menschen unterwegs sind als oben.
Auch mehr Kinder, überhaupt Kinder. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich kein einziges Kind gesehen.
Überwiegend Erwachsene sind zwar trotzdem da, aber auch eben die ersten Kinder. Es war keine
Schulklasse, Kunstmuseen sind wohl dann doch eher was für den Familienausflug der „gutbürgerlichen“ Klasse. Die Menschen bewegen sich hier auch ganz anders. Die Bilder sind indirekt
beleuchtet, man tritt nah an sie heran. Manche Räume sind so voll, dass ich sie auslassen musste, da
die Sinnesflut bei so vielen Menschen einfach zu extrem war. Besonders prägend blieb der Geruch
nach Farbe in Erinnerung. Am Ende frug ich einen Wärter, warum es hier so nach Farbe rieche und er
antwortete, dass alle Wände im Zuge der Ausstellung neu gestrichen worden seien und die hohe
Temperatur nun Ausdünstungen verursacht. So endete mein Besuch in der Neuen Nationalgalerie.
11
Systematische Beobachtung6
Die größte Kritik an einem assoziativen
Wahrnehmungsspaziergang
ist
wohl
die
systematische Beobachtung selbst. Während man
beim assoziativen Wahrnehmungsspaziergang einer
Überforderung durch die vielen Sinneseindrücke
anheim fallen kann und so eine wirkliche Erfassung
aller möglichen Geschehnisse, Zusammenhänge
und Optionen nicht bewerkstelligen kann, gibt die
systematische Beobachtung die Möglichkeit die
Abbildung 1: Die Neue Nationalgalerie in Berlin
Sinneseindrücke und Beobachtungen in ein anpassbares Schema zu gießen um so auch Herr der Lage
zu bleiben und die Beobachtungen gezielt durchführen zu können.
Da sich während der Forschung im Feld schnell herausstellte, dass die systematische
Beobachtung wohl die Untersuchungsform ist, die sich am besten auf die Neue Nationalgalerie
anwenden lässt. Deshalb will ich an dieser Stelle nur die Vorüberlegungen darlegen. Eine genaue
Ausführung können Sie unter DIE UMSETZUNG IM FELD finden.
Die systematische Beobachtung beschäftigt sich vor allem mit der Position, den Wegen und den
Verweildauern von Menschen an einem bestimmten Ort oder in einem Raum. So rücken vor allem
soziale Strukturen in den Fokus. Wo gehen die meisten Besucher entlang? Gibt es einen definierten
Weg? Ist dieser Weg von Räumlichkeiten oder Raum zu trennen oder gerade mit diesem zu
verbinden? Gibt es Grenzen, Barriere oder Aneignungsspuren? Wie ist die Inszenierung auf das
Verhalten zu übertragen?
Gliedert man diese Fragen auf und versucht diese auf das Forschungsfeld zu übertragen, so
rückt gerade bei der Neuen Nationalgalerie die Barriere des Eingangs in den Fokus. Sowohl in der
assoziativen Betrachtung als auch in den folgenden Methodendarstellungen ließ sich das „Defizit“ der
vollkommen in der Fassade integrierten Eingangstür immer wieder als Problem beschreiben.
Einerseits sind gerade Eingangsbereiche zu öffentlichen Gebäuden oder zu Gebäuden mit großen
Besucheranstrum besonders gut gekennzeichnet. Man denke dabei nur an die Empfangshalle und den
Eingangsbereich zu Hotels oder auch in Konzerthäuser und Museen. Die Neue Nationalgalerie fällt
dabei in gewisser Weise aus dem Konzept, weswegen sich DAS ÜBERSCHREITEN DER
SCHWELLE besonders auf die Besucher auswirkt. Die spannende Frage an dieser Stelle ist, ob es
dabei auch eine Veränderung des Verhaltens gibt? Und tatsächlich lässt sich diese Abweichung zu den
sonstigen Passanten, die keine Besucher sind, sehr eindeutig beobachten und auch beschreiben, wie
ich weiter unten zeigen werde.
6
vgl. Auge, Marc: Eine Ethnologe in der Metro. Frankfurt am Main, 1988, Seite 75-92 sowie
Hauser-Schäublin, Brigitta: Teilnehmende Beobachtung, In: Beer, B. Methoden der ethnologischen
Feldforschung, 2008, Seite 37-59
12
Nun zur Beschreibung meiner systematischen Beobachtung: Zunächst, nach dem assoziativen
Wahrnehmungsspaziergang nahm ich die Erkenntnisse aus diesem und versuchte eine Art Sortierung
der einzelnen Punkte vorzunehmen, was dazu führte, dass folgende Überpunkte gebildet werden
konnten:
 Verortung in der Stadt
 Licht und Schatten
 Architektur von außen und von innen
 Umgebung
 Geräusche
 Menschen
 Gerüche
 Wege
Um der Sinnesflut des assoziativen Spaziergangs zu entgehen, beschloss ich zwei Übergruppen
zu bilden, die sich in bewegte Strukturen und unbewegte Strukturen zuordnen ließen:
 bewegte Strukturen:
Menschen und Wege
 unbewegte Strukturen: Verortung, Architektur, Geräusche, Gerüche, Licht und Schatten,
Umgebung
Natürlich kann man die bewegten Strukturen nicht ohne die unbewegten Strukturen beschreiben, da
Bewegung immer vom Bezugssystem abhängig ist. Nimmt man nun in diesem Fall die Neue
Nationalgalerie als die Unbewegte Struktur, so erscheint es zunächst unlogisch, warum man
Geräusche und Gerüche zur unbewegten Struktur rechnet, da diese meist durch menschliches Tun
verursacht werden. Die Zuordnung passierte dadurch, dass die Gerüche, die schon in der assoziativen
Wahrnehmung beschrieben wurden durch das Gebäude selbst verursacht werden (ausgenommen der
Würstchenstand vor der Neuen Nationalgalerie, der in der weiteren Betrachtung noch eine Rolle
spielen wird) sowie die Geräusche, die besonders durch die Beschaffenheit des Gebäudes in den Fokus
der Wahrnehmung gerückt sind.
Um die Wege zu den bewegten Strukturen zu zählen ist die Kenntnis der Grundrisse der
Neuen Nationalgalerie von Nöten, da diese einen sehr offenen Grundriss besitzen, bleibt es dem
Besucher überlassen seinen Weg zu finden. Lediglich sehr geringe Schwellen (Türen) führen zu einem
gesteuerten Besucherstrom. Die Grundrisse finden Sie ebenfalls unter dem Punkt DIE UMSETZUNG
IM FELD, auf den ich an dieser Stelle erneut verweisen möchte.
Als Kritik an der systematischen Beobachtung kann man die geringe interpretative Kraft ins
Feld führen, da man sehr stark daran angehalten ist die systematischen Untersuchungspunkte mit
Inhalt zu füllen, was dazu führt, dass man sehr stark an das Blatt und die Aufzeichnungen gebunden
ist. Um diesem Fehler nicht zu erliegen, hatte ich die Neue Nationalgalerie mehrmals binnen eines
kurzen Zeitraums aufgesucht und so die einzelnen Punkte über einen längeren Zeitraum immer wieder
einer Prüfung zu unterziehen und nötigenfalls zu modifizieren.
13
Mental Maps7
Mental Maps, oder zu deutsch kognitive Karten, sind mental
vereinfachte
Repräsentationen
von
mehrdimensionaler
8
komplexer Realität . Das eigentliche bestimmende Merkmal
einer
kognitiven
Karte
ist
die
Darstellung
einer
zweidimensionalen Landkarte von oben, die verschiedene
Inhalte widerspiegelt, wie zum Beispiel Straßenverläufe,
soziale Einrichtungen, die für das zeichnende Individuum von
entscheidender
Bedeutung
sind,
während
vermeintlich
irrelevante Orte nur schemenhaft oder gar nicht dargestellt
werden.
Bei der Anwendung der Methode wollte ich keine
Abbildung 2: Mental Map eines 22-jährigen Studenten in
Friedrichshain (Nähe S-Ostkreuz) gezeichnet
Darstellung der Neuen Nationalgalerie in einer Karte, da mich
vielmehr interessierte, wie das Gebäude mental gespeichert ist
und weniger deren Verortung. Die dabei entstandenen, hier sichtbaren kognitiven Karten zeigen zwei
völlig verschiedene Darstellungsweisen der Neuen Nationalgalerie. Die erste, links oben, wurde von
einem einundzwanzig-jährigen Studenten in Friedrichshain gezeichnet, der mir versicherte, er gehe zu
jeder neuen Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie. Deswegen wohl auch die sehr realitätsnahe
Darstellung einer schrägen Draufsicht auf das Gebäude.
Ganz im Gegensatz dazu malte ein Ende vierzig-jähriger Mann am
Brandenburger Tor eine völlige Abstraktion der Neuen Nationalgalerie,
wie hier links zu sehen ist. Dabei ist Augenscheinlich eine Verwechslung
mit einem kirchenähnlichen Gebäude entstanden (siehe das Kreuz auf
dem „Dach“). Der Mann wollte während des Zeichnens immer wieder
von mir wissen, ob dass das richtige Gebäude sei, was er versuchte
darzustellen. Auf die Frage, die zunächst ignoriert wurde, verwies ich
nach mehrmaligem Nachfragen, dass es nicht um eine architektonischgenaue Darstellung gehe, sondern um das Bild, was er im Kopf habe,
wenn jemand nach der Neuen Nationalgalerie fragt.
An dieser Stelle soll dargelegt werden, warum die Wahl der
Zeichner in Friedrichshain bzw. am Brandenburger Tor erfolgte und nicht
Abbildung 3: Mental Map eines 48-jährigen
Mannes am Brandenburger Tor gezeichnet.
in nächster Umgebung der Neuen Nationalgalerie. Aufgrund des auch auf
7
vgl. Wildner, Kathrin: HafenCity Mental Maps: Vorgestellte Karten eines zu besetzenden Raumes. In
Tetrapak (Hg) Ready2capture! Hafencity – ein urbaner Raum? Berlin 2002, Seite 102-108
sowie Lynch, Kevin: The Image of the City. 1960, In: Le Gates/Stout. The City Reader 1996, Seite 98102
8
vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Karte, Zugriff am 11. Januar 2010 um 14:15 Uhr
14
dem Formblatt geäußerten Wunsches die Neue Nationalgalerie zu zeichnen und nicht die Umgebung
war die Gefahr eines schlichten Abzeichnens des Gebäudes vor der entsprechenden Person zu groß
und führt sonst nicht zum kognitiven Bild, welches die Zeichner im Kopf hatten. Die Entscheidung,
wer nun eine Mental Map zum Besten geben sollte, fiel völlig willkürlich. Das einzige Kriterium, dass
vorab gewählt war, dass sowohl ein junger als auch ein älterer Mensch ein Bild zeichnen sollte, wobei
nicht davon ausgegangen werden kann, dass es durch das Kriterium Alter zu einer unterschiedlichen
Darstellungsweise gekommen ist.
Auf dem kleinen Fragebogen, der sowohl das Alter erfasste, wurde auch die Frage gestellt, ob
die betreffende Person bereits die Neue Nationalgalerie aufsuchte und wenn ja, wann zuletzt. Der
Unterschied zwischen beiden Darstellungen könnte auch auf die Antwort auf diese jeweils gestellte
Frage geben. Während der Zeichner der realistischen ersten Darstellung – wie bereits oben erwähnt –
darauf verwies mehrmals die Neue Nationalgalerie aufgesucht zu haben konnte der zweite, ältere
Zeichner auch nur darauf verweisen, dass er das Gebäude zwar kenne, aber noch nie dort gewesen sei.
Vergleicht man nun das zweite Bild der Neuen Nationalgalerie mit dem tatsächlichen Gebäude
fallen in erster Linie die Unterschiede auf: Kreuz auf dem Dach, Fensterreihung, Mehrstöckigkeit.
Allerdings sind auch Gemeinsamkeiten durchaus erkennbar: Ein Flachdach, viele nebeneinander
liegende Fenster (wenn auch unterbrochen), eine einheitliche Front. Im Vergleich zur ersten
Zeichnung ist auch bei dieser zu sehen, dass die Fenster nicht bis unter die Decke reichen (wie beim
realen Gebäude) sondern anscheinend ein zweiter Stock vermutet wird. Ebenso sind die Fenster nicht
durchgängig eingetragen (Trennung durch nur einen Strich) sondern mit einer Lücke dargestellt. Ein
wesentlicher Unterschied in beiden Darstellungen ist vor allem darin zu sehen, dass der erste Zeichner
eine Art Eingang darstellte, während eine Tür im zweiten Bild vollkommen fehlt. Es lässt sich
allerdings nur mutmaßen, dass dies eventuell eine Verbindung zur geschilderten Besuchsfrequenz sein
könnte (mehrmaliges Besuchen, niemals besucht).
Ein augenscheinlich religiöser Kontext kann in der ersten Darstellung kaum sichtbar gemacht
werden, da weder ritualisierte Wege, noch Handlungen visualisiert sind. Eine mögliche
Kontextualisierung ließe sich über die Perspektive deuten, da das Gebäude schräg von oben gezeigt
wird. Eine Verifizierung ließe sich an dieser Stelle aber nur über ein Interview herstellen.
Beim zweiten Bild dagegen ist ein religiöser Kontext, durch die Darstellung eines Kreuzes, zu
erkennen. Als Einwand muss man hier aber ins Feld führen, dass sich der Zeichner nicht klar war, ob
er das richtige Gebäude mit den Namen verbindet. Zur Verteidigung erwähne ich hier, dass sich in
unmittelbarer Nachbarschaft zur Neuen Nationalgalerie die Matthäus-Kirche befindet, die allerdings
nicht mehr für Glaubenszwecke benutzt wird, sondern als Museum und Konzertsaal dient.
Die Methode der kognitiven Karten ist für die Herstellung und Bewertung eines religiösen
Kontextes im Zusammenhang mit der Neuen Nationalgalerie nicht hinreichend bewertbar, da sowohl
die soziale Komponente als auch ritualisiertes Verhalten nicht gezeigt wurden. Eine Möglichkeit um
15
weitere Untersuchungen durchzuführen, wäre der Vergleich zwischen diesen Darstellungen und
tatsächlichen kognitiven Karten und der Rolle der Neuen Nationalgalerie darin.
16
Sound-Walk9
Hinhören, Zuhören, Aufhören, Weghören oder Abhören. Wir leben in einer Welt, die von
visuellen Reizen überflutet ist. Ob Werbung, Fernsehen, Theater oder die Lichtanlage im Klub.
Oftmals geht dabei das Audielle im Wahn der Farben, Formen und Darstellungen unter. Doch was
wären wir ohne unser Gehör. Viele können es sich vorstellen blind zu sein, aber taub, das bringt
manchen Menschen schon an die Grenze des Vorstellbaren. Gerade das Audielle ist viel
unterbewusster und umso tiefgehender. Daher ist es nicht sonderlich verwunderlich, dass Warn- und
Aufmerksamkeitsaktionen in Geräuschen münden: Hupen im Straßenverkehr, Sirenengeheul,
Kindergeschrei. Unsere Sinne sind zwar so unterschiedlich, doch gerade der Zusammenhang macht
den Mix um sich im Leben zurecht zu finden. Beim Sound-Walk konzentriert man sich ausschließlich
auf das Gehöre. Nur der Sinn wird in den Fokus der Untersuchung gerückt. Plätze, Orte und Gebäude
werden durch das Gehörte erst visuell erfassbar. Die Größe eines Raumes lässt sich durch das Gehör
optimal erfassen. Wer hatte nicht schon einmal große innere Lust dazu in einer großen Kirche einen
leichten Schrei loszulassen um ein mögliches Echo auszutesten? Doch nicht nur das geräuschmäßige
Hören ist steht beim Sound-Walk im Vordergrund, sondern eben auch gerade das schwach laute wie
Schritte, Teppich, Zustände und vor allem auch Stille spielen eine entscheidende Rolle. Je stiller ein
Ort, desto leiser die Gespräche, obwohl es keinerlei Veranlassung dazu gäbe. Vor allem im Museum,
einem in aller Regel sehr stillen Ort sollte man sich doch gerade gut unterhalten können um die
Objekte, die man nicht anfassen darf und so nur das visuelle bleibt zumindest mit der Begleitung zu
besprechen. Was sehe ich, was sieht der andere? Dennoch unterhält man sich gerade zu schweigend.
Lauteres Getuschel wird durch scharfe Blicke von anderen Besuchern oder gar von der Aufforderung
eines Wärters geahndet. Ist das aber der Grund der „Würde des Hauses“ oder ist es vielmehr von der
sonstigen Geräuschkulisse abhängig, wie wir uns sozial zu verhalten haben? Diese Fragen können an
dieser Stelle leider nicht ausführlicher besprochen werden. Die Untersuchung in der Neuen
Nationalgalerie soll aber einen Einblick in genau diese Fragestellungen erlauben.
Bevor ich allerdings mit meinen Ausführungen beginnen möchte ich am Sound-Walk auch
Kritik üben. Beschränkt man sich auf das spannende Thema der Geräusche und Stille vergisst man
allerdings, wie ich schon weiter oben sagte, dass es auch andere Sinne gibt. Warum man diese beim
Sound-Walk außen vor lässt sagt schon der Name. Dennoch denke ich, sollte man bei einer
soziologischen Untersuchung durch Sinneserfahrung zumindest die anderen Sinne ebenfalls
andiskutieren und mit in die Beschreibung und Bewertung einfließen lassen. Wenn es zum Beispiel in
einem Raum sehr still ist, dann liegt das nicht nur an der Menge der Besucher, sondern auch an der
Beschaffenheit des Raumes. Warme, stickige Luft erstickt Geräusche direkt. Teppiche, die man fühlen
9
vgl. Blesser, Barry und Salter, Linda Ruth: Aurale Architecture. In Kleilein, D. u.a. Tuned City.
Zwischen Klang- und Raumspekulation, Berlin 2008, Seite 14-24
sowie Röhm, Jens: Soundscape, In: Möntmann, Nina (Hg.) 04131 Town Projects. Performance, Sound,
Symposium, Berlin 2002
17
kann bei jedem Schritt vermindern Trittgeräusche. Ausdünstende Wandfarbe (wie beim assoziativen
Wahrnehmungsspaziergang beschrieben) riecht man, man kann sie aber nicht hören. Gerade die nichtvisuellen Sinne (Geruch, Gefühl, Gehör) sind für eine ausgewogene sinnliche Untersuchung
unerlässlich. Da man in einem Museum, wie es die Neue Nationalgalerie ist allerdings die
Ausstellungsobjekte nicht anfassen darf, fällt das Gefühl zum Großteil weg, auch ist außer der
Wandfarbe nicht viel mehr Geruch (außer vom Würstchenstand davor) wahrzunehmen, weswegen
eine Konzentration auf das Gehörte an dieser Stelle durchaus legitim ist.
Geht man nun auf die Neue Nationalgalerie zu, so vernimmt man sehr stark den Straßenverkehr
der Potsdamer Straße. Durch die große Freifläche kommt auch noch ein ungeheuer lautes
Windgeheule dazu, vor allem an Tagen mit schlechtem Wetter – wahrscheinlich der räumlichen
Aufteilung geschuldet, bildet sich vor der Neuen Nationalgalerie eine Art Windschleuse. Der bereits
weiter oben beschriebene Würstchenstand ist dagegen sehr still. Den Gesprächen bzw. Ordern der
Käufer an den Verkäufer kann man kaum folgen. Das überlappende Dach bildet einen optimalen
Schallschutz für die Umgebung, obwohl man sich sehr lautstark unterhalten muss, aufgrund des
Straßenlärms, der keine fünf Meter an dieser Stelle entfernt ist. Die Drehtüren, mit ihren Borsten
streichen über die Fließen und die Gummilappen schnalzen bei jeder Drehbewegung mindestens
zweimal. Sobald man die Tür durchtreten hat, ist es still. Die Schritte sind sehr leise, Stöckelschuhe
klappern sehr laut auf dem Fliesenboden. Als vor einigen Monate noch ein gigantisches
Teppichmuster im oberen Stockwerk angebracht war, waren die Schritte fast stumm. Man konnte sich
komplett unbemerkt an jemanden heranschleichen. Im Kassenfoyer ist es für ein Museum, auch am
Kassenbereich, sehr laut. Neben Kassengeklapper hört man die Türen zu den Toiletten, die
Garderobenmarken, die auf dem glasierten Holztisch hin und her geschoben werden. Bücher, die im
Büchergeschäft aufgeklappt und wieder abgelegt werden. Im Café klimpern Tassen, Geschirr und
Besteck in Abwechslung mit Geldmünzen um die Wette. Betritt man die Ausstellung ist es sofort
museumsstill. Vor allem unangenehme Geräusche treten in den Vordergrund: Husten, Schniefen,
Flüstern, Schritte. Schließt man die Augen komplett und bleibt in einem kleinen Nebenraum stehen,
wie ich es tat, und hört eine Art Regelmäßigkeit im Schniefen, Husten und Schlurfen von ein oder
zwei Personen, kann man schon den Gedanken hegen, dass Menschen sehr stark bei subtilen
Geräuschen aufeinander reagieren. Vor allem das Räuspern ist ansteckend wie Gähnen. Im größten
Raum sollte der Versuch stattfinden und ich griff aktiv in die Geräuschkulisse ein, indem ich mit
deutlich, aber nicht aufgesetzt räusperte. Es dauerte keine Minute, bis mir vier Besucher folgten und
sich ebenfalls räusperten. Erstaunlicherweise – und hier kurz der Einwurf zum Visuellen – mit
vorgehaltener Faust, obwohl man den Mund beim Räuspern nie öffnet. Neben den Menschen hört man
auch hin und wieder das Rattern des Raumbarometers, welches dauerhaft Temperatur und
Luftfeuchtigkeit misst. Sehr versteckt, aber einmal das Geräusch erfasst, findet man es in aller Regel
in Ecken und hinter Vorhängen. Einprägsam bleibt auch die Erkenntnis, dass man sich bei größer
18
werdender Stille auch immer besser selbst hört. Selbst Schluckgeräusche, die kaum jemand vernimmt,
versucht man „leise“ zu sein. Die Konzentration verschwand mit der Dauer, das Geräusch blieb.
19
Fotointerview10
Ein klassisches Interview ist wohl die Methode, die einem sofort in den Sinn kommt, wenn man
an qualitative Sozialforschung denkt. Auch das Fotointerview ist nicht groß verschieden zu einem
„klassischen“ Interview. Der Unterschied liegt darin, dass man über Fotos Dinge erfahren kann, die
man in einem normalen Gespräch wohl nie erfahren würde. Frei nach dem Motto: Bilder sagen mehr
als tausend Worte. Mit Bildern können auch Emotionen hervorgerufen werden, die man nur mit
Sprache nicht herauslocken könnte. Das Foto beim Interview ist somit unterstützender Faktor. Im
religiösen Kontext, der hier nach wie vor untersucht werden soll, können vor allem Ikonenmalereien
ein wertvolles Bild sein. Was aber soll man bei der Neue Nationalgalerie als Fotomotiv wählen? Ein
Detail, das Gebäude, eine Ausstellung mit Menschen oder ganz was anderes?
Nachdem ich mehrere Motive gesucht hatte und die Ausstellung „Moderne Zeiten“ mehrmals
besucht hatte viel mir immer wieder das ein oder andere Werk von Max Beckmann ins Auge, die seit
dem zweiten Weltkrieg als verschollen gelten und deswegen in Originalgröße als schwarz-weiß
Kunstdruck mitten in der Ausstellung angebracht sind. Auch ein bisschen Skandal, neben Otto Dix'
Kartenspieler, der mehrere Millionen Wert sein dürfte, einen Kunstdruck für wenige Euro
anzubringen. Auf jeden Fall! Ein solches Bild ist wie gemacht für ein Fotointerview, da für
Kunstliebhaber auf jeden Fall Emotionen damit verbunden sein dürften.
Nachdem nun das Foto gewählt wurde die große Frage, wen man interviewen könnte. Der
Freundeskreis der Neue Nationalgalerie hat sich leider nicht auf die Anfrage zurückgemeldet,
deswegen entschied ich mich, einen Freund, der oft die Neue Nationalgalerie besucht, zu interviewen
und das Foto ins Spiel zu bringen. Leider kannte er weder das Bild, noch den Künstler und daher wohl
auch nicht die Geschichte, die dazu gehört.
Nach mehreren Anläufen sollte sich herausstellen, dass die Neue Nationalgalerie für eine
Untersuchung mittels Fotointerview ungeeignet ist. Deswegen möchte ich, der Übung wegen, an
dieser Stelle lediglich das transkribierte Interview wiedergeben und hake die Untersuchungsmethode
hiermit ab.
F = Forscher, B = Beforschter
F: Kennst du die Neue Nationalgalerie?
B: Ja, das ist doch die am Potsdamer Platz da, oder?
F: Ja, die. Warst du in letzter Zeit dort?
B: Letztes Jahr.
F: Weißt du noch, welche Ausstellung du besucht hast?
B: Die mit den surrealistischen Bildern.
F: Surreale Welten?
10
vgl. Wildner, Kathrin: Fotointerview, In: ethnoscripts 2003
sowie Lippard, Lucy: Doubletake. The Diary of a Relation with an Image, In: Third Text 16/17 1996
20
B: Ja, so glaube ich hieß die.
F: Hat sie dir gefallen?
B: Schon.
F: Blieb dir ein Bild besonders in Erinnerung?
B: Das mit der Frau mit den Kerzen in den Haaren.
F: Das war auch auf einem Plakat abgedruckt zur Bewerbung der Ausstellung.
B: Weiß ich nicht mehr.
F: Hast du dich spontan entschieden, die Ausstellung zu besuchen?
B: Nein, ich hab ein Plakat gesehen mit 'nem Schlüsselloch drauf.
F: Und dann wolltest du das gucken?
B: Nicht gleich, erst als ich ein paar Mal das Ding gesehen habe.
F: Wo hast du das Plakat gesehen?
B: Am Bahnhof.
F: Wann bist du zur Neue Nationalgalerie dann hin?
B: Am Wochenende.
F: Ja, Student.
B: Ja.
F: Wie bist du durch die Ausstellung durch, also wie bist du gegangen, wenn du dich daran noch
erinnern kannst?
B: Ich glaube so, wie man eben in einem Museum läuft.
F: Wie lange warst du drin?
B: Vielleicht eine Stunde, vielleicht auch eineinhalb.
F: Also ziemlich schnell durch die Ausstellung?
B: Nein, aber ich hab auch nicht alle Bilder angesehen, nur die, die mir aufgefallen sind.
F: Und welche waren das?
B: Das mit der Frau und das mit dem Schlüsselloch.
F: Hatte der Besuch dort was Religiöses für dich?
B: Nein, wie kommst du da drauf?
F: Na, hatte dein Verhalten was Religiöses an sich?
B: Gute Frage. Nicht so wirklich.
F: Anders gefragt: Fühltest du dich ein einer heiteren Stimmung als du durch bist?
B: Ja, doch.
F: Und hielt das nach dem Besuch an?
B: Auf jeden Fall!
F: Woher glaubst du, kam diese Stimmung?
B: (lacht) Die Bilder waren doch manchmal ganz lustig.
F: Also haben dich die Bilder belustigt?
21
B: Hört sich jetzt nicht so professionell an, aber ja, haben sie schon. Waren ja auch surreal.
22
Situationsanalyse11
Gerade die Situationsanalyse wirft die immer wieder in den Vordergrund dringende Frage auf,
was eigentlich Wissenschaftlichkeit ist. Betrachtet man Gluckmanns Text, in dem er über einen
Festakt einer Brückeneröffnung berichten möchte, aber eigentlich ständig abseits der Erbauer sich bei
den Zulu aufhält, obwohl er kaum was versteht und nur wenig mitnehmen kann. Dennoch würde man
Gluckmann keine Unwissenschaftlichkeit unterstellen. Die ewige Frage, ob maximale Objektivität
oder Subjektivität nun am wissenschaftlichsten ist. Der Trend geht derzeit von der Objektivität weg,
hin zur Subjektivität. In diesem Seminar darf man davon ausgehen, dass ich als ein junger
Wissenschaftler im wissenschaftlichen Feld mit der Fragestellung mehr als überfordert war. Dennoch
glaube ich, habe ich eine gute Lösung für eine Situationsanalyse gefunden. Anstatt sich selbst ins Feld
zu begeben und einem neudeutschen „Happening“ beizuwohnen, entschloss ich mich eine
Diskursanalyse als Situationsanalyse zu benutzen. Dabei habe ich mir die 72-stündige Ausstellung von
Marcel Duchamps einziges erhaltenes Readymade, dem Parfüm-Flakon „Belle Haleine. Eau de
Violette“ herausgepickt. Das Kunstmagazin Monopol (siehe Fußnote) berichtet in einem sehr kurzen
Statement auf deren Internetseite über die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie. Alleine der
Duktus des Textes lässt den Feuereifer der Autorin für diese Kunstaktion, im wahrsten Sinne des
Wortes, aufblühen und man kann sich wahrlich vorstellen, wenn man die Räumlichkeiten der Neue
Nationalgalerie vor Augen hat, wie die Inszenierung dieses keine zwanzig Zentimeter großen
Objektes ausgefallen sein mag.
Obwohl man nicht dabei war, wird durch diesen Text ein Einfallen in die Situation möglich.
Man kann sich gut vorstellen, wie hunderte Menschen im sonst leeren Erdgeschoss um ein kleines,
eigentlich leicht zu übersehendes Podest, welches womöglich sehr gut ausgeleuchtet ist, herum
strömen und hin und wieder wird ein Lichtblitz eines Fotoapparates zu sehen sein. Alleine wenn man
sich mitten in der Nacht an den hell erleuchteten Komplex der Neue Nationalgalerie annähert mag
diese Ausstrahlung eines wahrlichen Ereignisses auf einen hernieder prasseln.
An dieser Stelle, kurz bevor ich den Text aus Monopol präsentiere, darf man wohl fragen, ob es
wirklich an Duchamps Flakon lag, oder doch vielmehr an der Tatsache, dass ein weithin bekanntes
Museum den ganzen Tag geöffnet hatte, für komplette drei Tage, um lediglich ein einziges Kunstwerk
zu zeigen. Wahrscheinlich wären die Pilgerströme, und dieses Wort ist wohl mehr als angebracht,
ebenso stark ausgefallen, wenn ein Gartenzwerg ebenso in Szene gesetzt worden wäre. Die
Inszenierung spielt eine entscheidende, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle, wenn es um die
Präsentation von Kunst geht. Wie auch bei der Ausstellung von Willem de Roij kam es sehr stark auf
11
vgl. Gluckmann, Max: The Bridge: Analysis of a Social Situation in Zululand. Manchester 1958
sowie Alisdair, Rogers: Cinco de Mayo and 15 January: Contrasting Situations in a Mixed Ethnic
Neighbourhood. In: Rogers, Alisdair/Vertovec, Steven (Hg.) The Urban Context – Ethnicity, Social Networks
and Situational Analysis. Oxford 1995, Seite 117-141
23
die Inszenierung an. Bei der Situation, diesem Kunstereignis, geht es jedenfalls bis zur Grenze des
Präsentierens. Hier nun der Text aus Monopol:
„Drei Tage schöner Atem. Um Mitternacht geht es los: Für nur 72 Stunden zeigt die Berliner
Neue Nationalgalerie den legendären Parfüm-Flakon „Belle Haleine. Eau de Voilette“ von Marcel
Duchamp. Der Flakon gilt als das einzig original-erhaltene „Readymade“ des „wichtigsten Künstlers
des 20. Jahrhunderts“, so der Direktor der Nationalgalerie Udo Kittelmann. Genau vom 27. Januar,
24 Uhr, bis 30. Januar, 24 Uhr, wird das teure Fläschchen in dem ansonsten leeren Glaskasten der
Nationalgalerie zu sehen sein – das Publikum hat rund um die Uhr Zutritt.
Das „Belle Haleine“- (zu deutsch „schöner Atem“) Parfüm war das erste Werk, das Duchamp
im Frühling 1921 unter der Autorschaft seines weiblichen Alter Egos Rose Sélavy veröffentlichte.
Duchamp nutzte dafür einen originalen Flakon des damals populärsten französischen Parfüms „Un Air
Embaumé“; Man Ray half ihm bei der Gestaltung des neuen Etiketts.
Der „Belle Halaine“-Flakon wurde bei der Versteigerung der Sammlung Yves Saint Laurent
und Pierre Bergé im Februar 2009 für 8,9 Millionen Euro an einen Unbekannten verkauft und war
seitdem nicht mehr öffentlich zu sehen. Auch gegenüber dem Team der Neuen Nationalgalerie hat der
Sammler sein Inkognito gewahrt.“12
Sich auf diesen Diskurs zu stützen fällt sehr leicht, da man, hat man alle bisherigen
Untersuchungsergebnisse über die Neue Nationalgalerie gelesen, sofort diese Faszination für Kunst
verstehen kann. Während der komplette gläserne Kubus, das Erdgeschoss, frei blieb, wurde Duchamps
Flakon in der Mitte aufgestellt und konnte 24 Stunden, drei Tage lang besichtigt werden. Das erinnert
stark an den Tanz ums goldene Kalb aus der Bibel. Hunderte Menschen sollen dorthin geströmt sein,
um dieses nicht gerade groß auffällige Kunstobjekt zu besichtigen.
Ob auch die sonstigen Ausstellung in der Neue Nationalgalerie besichtigt werden konnten,
bleibt leider unbeantwortet. Von anderen ähnlichen Ereignissen her kann man aber sagen, dass
vermutlich die restlichen Ausstellung nicht zugänglich war. Ein anderes Museum in Berlin, die
Berlinische Galerie, veranstaltet ähnliche Ereignisse hin und wieder, dort ist die Ausstellung aber
komplett zu besichtigen.
Die größte Schwierigkeit bei der Neue Nationalgalerie war auf jeden Fall, dass es keine
traditionellen Situationen gibt. Zu Ausstellungseröffnungen kann man nur mit Einladung gehen, es ist
nicht publikumsöffentlich zugänglich. Das liegt wohl auch daran, dass man viele Pressevertreter
einladen möchte, um gegen die anderen großen Häuser in Berlin entsprechend in der öffentlichen
Medienberichterstattung gegen halten zu können und so bevorzugt man die Feuilleton-Redakteure
gegen das sonstige Besucherpublikum.
12
Buhr, Elke: Drei Tage schöner Atem, In: Monopol, 2011, Quelle: http://www.monopolmagazin.de/drucken/artikel/2407/
24
Abschließend kann man sagen, dass die Neue Nationalgalerie sich trotz des Duchamps-Flakons
nicht sonderlich für die Untersuchung nach Situationsanalyse eignet.
25
Die Umsetzung im Feld
Eine detaillierte Betrachtung der systematischen Beobachtung
Bezugnehmend auf die Ausführungen auf Seite neun und zehn der vorliegenden Arbeit will ich
hier die genannten Beobachtungspunkte
genauer
ausführen
und
auch
eine
Interpretation anbieten, da sich während
der
Forschung
an
der
Neuen
Nationalgalerie immer klarer wurde,
dass
gerade
die
systematischen
Beobachtung einen vielfältigen Schatz
an Informationen über das Verhältnis
von Religiosität und einem Kunsttempel
der Moderne bietet.
Die bereits genannten VorüberAbbildung 4: Grundriss der Neuen Nationalgalerie Untergeschoß. (Quelle: museum-location.de)
legungen über bewegte und unbewegte
Strukturen und die Zuordnung zu den
einzelnen Beobachtungen werde ich an dieser Stelle nicht mehr begründen, sondern lediglich
wiederholen,
um
diese
dann
entsprechend
mit
Beobachtungen
unbewegt:
 Licht und Schatten
 Verortung in der Stadt
 Umgebung
 Architektur von außen und von innen
bewegt:
 Geräusche
 Menschen
 Gerüche
 Wege
Warum
Wege
nun
zu
den
zu
versehen:
bewegten
Strukturen zählen wird deutlich, wenn man die hier
abge-bildeten Grundrisse betrachtet: Sie sind kaum
durch
Wände,
Wege,
Absperrungen
oder
Einrichtungen so angeordnet, dass eine geleitete
Wegführung möglich ist. Das komplette Gegenteil
zu diesem offenen Grundriss wäre das Jüdische
Museum in Berlin-Kreuzberg. Dem Besucher des
Museums
ist
es
dort
kaum
möglich
einen
individuellen Weg einzuschlagen, er ist durch die
Anordnung der Räume und Ausstellungsgegenstände gezwungen einen zwar nicht komplett, aber
Abbildung 5: Grundriss der Neuen Nationalgalerie Erdgeschoß
(Quelle: museum-location.de)
mindest-vorgefertigten Weg zu benutzen.
26
VERORTUNG IN DER STADT, UMGEBUNG
Die Neue Nationalgalerie befindet sich am südlichen Ende des Kulturforums in Berlin an der
Potsdamer Straße. Das Gebäude steht als Solitär als einziges Gebäude des Kulturforums direkt an der
Potsdamer Straße. Lediglich die Philharmonie genießt eine ähnlich straßennahe Position, befindet sich
aber am nördlichen Ende des Kulturforums. Die beiden Bauten schließen so das Kulturforum ein eine
Art Klammer ein. Vom Norden kommend ist die Neue Nationalgalerie durch den Freiplatz zu den
restlichen Museen weithin sichtbar. Vom Süden kommend verdecken Bäume, die sich wie bereits
weiter oben beschrieben, auf dem Plateau der Neuen Nationalgalerie befinden, die Sicht auf diese.
Auf der Rückseite der Neue Nationalgalerie befindet sich eine kleine, kaum genutzte Nebenstraße.
Aus dieser Richtung kommen einige Passanten, die aber – soweit die Beobachtung – die Neue
Nationalgalerie nie als Besucher betraten.
ARCHITEKTUR VON AUSSEN
Von außen ist nur das Erdgeschoss der Neue Nationalgalerie zu sehen. Dieses bildet eine
quadratische Grundfläche. Die Wände bestehen aus Glas, das Dach ist dagegen wahrscheinlich aus
Metall. Getragen wird die Deckenkonstruktion, die mehrere Meter über die Außenwände hinausragt
durch zwei große Säulen, die sich im Inneren des Erdgeschosses befinden. Links und rechts vor der
Neue Nationalgalerie befindet sich eine Gruppe von Bäumen, die jeweils das Ende des Plateaus
anzeigen, auf dem sich die Neue Nationalgalerie befindet und dieses über drei Treppen zugänglich ist.
Der Hauptzugang befindet sich auf Seite der Potsdamer Straße und ist über zwei kleinere Stufensätze
zu erreichen. Am rechte Ende des Treppenaufgangs zum Plateau befindet sich der bereits mehrmals
erwähnte Würstchenstand. Die Glasfassade kann wahlweise durch innen angebrachte Vorhänge
undurchsichtig gemacht werden, ist dies nicht der Fall, so kann man durch das Gebäude komplett
hindurch blicken. Links bei der Baumgruppe befindet sich noch ein dauerhaft angebrachtes
Kunstwerk. Vor der Neue Nationalgalerie wechseln die ausgestellten Kunstwerke in regelmäßigen
Abständen passend zur Ausstellung im Gebäude. Sicherheitskameras sind zwar in der überhängenden
Dachkonstruktion angebracht, fallen aber nicht weiter auf. Die Treppenabgänge auf der Rückseite
schließen den Skulpturengarten ein, der nicht betretbar ist.
ARCHITEKTUR VON INNEN
Von außen ist nur das Erdgeschoss zu sehen. Das Untergeschoss und damit die
Hauptausstellungsfläche befindet sich unter dem Plateau der Neue Nationalgalerie und ist damit von
Außen nicht einsehbar. Allgemein ist die innere Raumstruktur nach einem offenen Grundriss
angeordnet, was sich auch schon auf den Grundrissen auf Seite 17 sehen ließ. Schreitet man durch die
27
kaum sichtbare Tür in das Innere der Neue Nationalgalerie so fällt der puristische Einrichtungsstil auf.
Zwei Treppenabgänge – auf die die Wärter sofort verweisen, sollte man sich auch nur einen
Augenblick lang irritiert zeigen – führen in die Kassenhalle (vgl. Abbildung 4, Seite 17). Nebst
Kassenbereich findet sich dort auch ein kleines Buchgeschäft, ein Caférestaurant, Toiletten und eine
Garderobe an der man die Kleidung kostenlos hinterlegen kann, da größere Taschen im Ausstellungsbereich nicht gestattet sind. Der von außen durch die Treppenabgänge auf der Rückseite befindliche
Skulpturengarten ist auch von Innen her nicht zu betreten. Lediglich die große Glasfläche erlaubt den
Einblick. Außer den Türen am Eingang und Ausgang des Ausstellungsbereich befinden sich keine
Türen in der Neue Nationalgalerie, wodurch es dem Besucher überlassen bleibt, welchen Weg er
durch die Ausstellung nehmen möchte.
GERÄUSCHE
Sehr stark vom Soundwalk (vgl. Seite 13) beeinflusst fallen natürlich auch bei der
systematischen Beobachtung Geräusche nicht einfach hinten runter. Um allerdings hier eine
Eingrenzung zu schaffen habe ich die gehörten Geräusche nach AUSSEN und INNEN unterteilt, da –
wie bereits im Soundwald beschrieben – gravierende Unterschiede auftreten können zwischen einem
Geräusch, welches man draußen wahrnimmt und einem, welches drinnen passierte. Um hier auch nicht
den Soundwalk schlicht zu wiederholen, werde ich den Abschnitt kurz halten.
Vor allem „natürliche“ Geräusche, wie Straßenverkehr, Wind, Gespräche, Stadttreiben und der
Würstchenstand mit allen dazugehören Geklapper und Gerassel kommen vor und um die Neue
Nationalgalerie vor. Ganz im Gegenteil dazu sind die Geräusche in der Neue Nationalgalerie. Hier
sind vor allem Schritte, Husten, Schnäuzen, Drehtürengedrehe, Wärtergetuschel und sehr leise
Gespräche zu vernehmen. Auffällig war allerdings auch die Anwesenheit von Kindergeräusche, da
sich in der Umgebung und vor der Neue Nationalgalerie keine Kinder beobachten ließen, dennoch
aber welche in der Kassenhalle unterwegs waren. Zu den Ausstellungsgeräuschen, wie ich die im im
Inneren genannte bezeichnen möchte kommen noch Garderoben- und Kassengeräusche hinzu. In der
Ausstellung selbst, allerdings erst bei sehr genauem Hinhören, konnte man auch das Klackern der
Barometerschreiber hören, die sich gerne hinter Vorhängen oder unauffällig in den Ecken der Räume
befanden, die die Raumtemperatur und -luftfeuchtigkeit mit zeichnen und so Rückschlüsse für die
Temperatur- und Belüftungsregelung zulassen.
Am Auffälligsten ist vor allem der Unterschied zwischen der Lärmkulisse draußen und drinnen.
Sobald man durch die Tür hindurch schreitet, befindet man sich in einem Museum, und in diesem hat
man sich entsprechend auch den Geräuschen nach zu verhalten. Dieser Eindruck wird unweigerlich
bewusst gemacht.
28
GERÜCHE
Je nach Windlage zieht der Geruch des Würstchenstandes über das ganze Plateau und damit vor
der ganzen Neue Nationalgalerie seinen wahrnehmbaren Duft. Daneben riecht man auch noch die
durch den Straßenverkehr verursachten Abgase, vor allem an der naheliegenden Bushaltestelle. Durch
die Jahreszeit der Beobachtung bedingt (Herbst 2010 und Winter 2010/2011) stiegen auch die Gerüche
von nassem Laub und überhaupt Nässe in die Nase.
Allerdings wechselt diese Geruchskulisse schlagartig, wenn man in die Neue Nationalgalerie
eintritt. Die Gerüche waren und sind durch die enorme Wärme in diesem Museum sehr schwer zu
differenzieren, da sich eine Art Geruchscocktail bildet, der eben etwas typisch museal riecht, wenn
man das so bezeichnen kann. Als typisch museal würde ich bezeichnen: Teppichaufwirbelungen,
Parfüm von Besucher und Wärtern, Schweiß und allgemein Menschliches, Kunststoff und Farbe. Vor
allem letzteres führte, als es mir auffiel, zu starken Verwirrungen, da sofort eine Besorgnis um die
teuren Bilder in den Kopf schoss. Die Auskunft eines Wärters, der gerade in der Nähe war, lautete,
dass die Wände zu jeder Ausstellung neu gestrichen werden (der leichte Kaffeeton fiel mir erst an
dieser Stelle auf) und da die Farbe nicht komplett austrocknet und durch die Wärme in den Räume
diffundieren Geruchsmoleküle aus der Wandfarbe in die Raumatmosphäre. Ob dies Kopfschmerzen
verursachte, war meine Frage, die der Wärter mit „Nein“ beantwortete. Genauer begründen konnte er
es allerdings nicht. Erstaunlich war, dass es trotz Cafés keinen Geruch nach frischem Kaffee oder
anderen Lebensmitteln gab.
LICHT UND SCHATTEN
Natürlich ist einem Museum die Ausgestaltung der Ausstellungsräume mit Licht und
Dunkelbereichen hauptsächlich von der jeweiligen Ausstellung abhängig, dennoch gibt es gerade
durch
die
Architektur
der
Neue
Nationalgalerie
bedingte
Besonderheiten.
Also
zum
Untersuchungszeitpunkt Willem de Roij im Erdgeschoss ausgestellt war, also dem Glaskomplex,
wurden die Scheiben mit dunklen, nur von Innen blick-durchlässigen Vorhängen verhangen. Von
außen wirkte das Gebäude daher wie geschlossen. Ein fester Kubus, der auf seinem Plateau über dem
Kulturforum thront. Gerade die Türen gingen im schwarzen Äußeren noch mehr unter, als sie dies
ohnehin täten. Trotz des Vorhangs waren in der de Roij-Ausstellung nur wenige Bilder des Künstlers
zu sehen, die auf einer freistehenden Wand in der Mitte des Erdgeschosses angebracht waren. Die
Bilder wurden mit Lichtspots so penetrant beleuchtet, dass sich die Besucher ab einer gewissen Nähe
so stark geblendet fühlen, dass sie einige Schritte von der Wand wegmachten. Wie sich herausstellt
sind die Unterschiede in den Bildern nur ab einer gewissen Distanz zu sehen. Außer der Wand mit den
Bildern waren auf dem Erdgeschoss nur noch die zwei Säulen, die das Dach tragen zu sehen. Die
Lichtspots auf die Bilder und die schwarzen Vorhänge vermitteln aber den Eindruck, dass man sich –
obwohl der ganze restliche Raum leer ist – hier gut verstecken könnte. Ähnlich wie man ein derartiges
29
Gefühl in so mancher Kirche hat, die auch sehr offen vom Grundriss ist, dennoch den Eindruck
vermittelt man könnte hier wunderbar einige Stunden verbringen, ohne weiter aufzufallen.
Ganz anders die Lichtstimmung im Untergeschoss. Die Kassenhalle ist indirekt ausgeleuchtet,
ein angenehmes, warmes Licht ähnlich der in der Ausstellung Moderne Zeiten im Untergeschoss. Man
kann sich gut ziemlich nah an die Bilder heranwagen ohne von Lichtquellen gestört zu werden. Dafür
gibt es aber auch keine Bereiche mit weniger Lichteinfall. Verstecke erscheinen schwieriger zu finden,
obwohl es mehrere Räume mit unterschiedlichen Grundrissen gibt. Mal größere, mal kleinere Bilder.
Lediglich bei den ständig gezeigten Picassos und Dalís lässt sich ein gewisser Versteck-Spiel-Faktor
bemerken. Vor allem wenn man Kinder beobachtet, die sich durch die Ausstellung bewegen und sehr
intuitiv reagieren, werden aufgeregter, wenn sie in den dunklen Bereichen oder hinter Vorhängen
Verstecke vermuten. Das ein oder andere Kind war dabei zu beobachten, wie es so manchen
Barometerschreiber hinter einem Vorhang entdeckte, aus Neugier, was sich wohl dahinter befindet.
Durch die große Fensterfront im Untergeschoss in den Skulputrengarten hinein hat man auch hier
ausreichend Tageslicht in der Ausstellung, was eine wohlige Atmosphäre verbreitet.
Bis hierhin habe ich nun alle Beobachtungen der unbewegten Struktur anhand des untersuchten
Feldes der Neue Nationalgalerie dargestellt. In den nun folgenden zwei Abschnitten möchte ich auf
die Wirkung, die die Summe der gemachten Ausführungen auf die Menschen und auf die Wege, die
diese gehen, machen.
MENSCHEN
Betrachtet man die Menschen, die sich um und in der Neue Nationalgalerie bewegen, so muss
man zwischen zwei generellen Gruppen von Menschen unterscheiden: Passanten oder auch Besucher
und Personal vor Ort. Zunächst das Personal betrachtend gibt es wiederum zwei Kategorien, die man
unterschieden sollte: Personal, dass sich frei bewegen kann (Wächter und Aufseher) und Personal,
dass an einen Ort gebunden ist (Kassenbereich, Buchhandlung, Garderobe, Café und Würstchenstand).
In der weiteren Betrachtung werden nur die Angestellten, die sich frei bewegen können eine
interessante Rolle einnehmen, da diese aktiv Einfluss auf die Besucher ausüben können.
Der entscheidende Fokus liegt nun bei den Passanten oder auch Besuchern. Dabei stellte sich
bei der Beobachtung vor der Neue Nationalgalerie relativ bald die Frage, ob man am Verhalten eines
Passanten erkennen kann, ob er auf dem Weg zur Neue Nationalgalerie ist oder ob er diese nur
passiert? Dabei ist es nun entscheidend eine Unterscheidung zwischen Menschen zu machen, die die
Neue Nationalgalerie besuchen und denjenigen, die das nicht tun. Unter den Passanten, die die Neue
Nationalgalerie nicht besuchen lassen sich noch weitere Unterscheidungen machen: Besucher eines
anderen Museums im Kulturforum, ein Kunde des Würstchenstandes oder ein einfacher Passant. Unter
den Besuchern der Neue Nationalgalerie sollen folgende Unterkategorien zur Verhaltensbeobachtung
30
machen: Besucher, die gerade eintreten; Besucher, die im Gebäude sind und Besucher die das
Gebäude verlassen. Zur besseren Anschauung hier nochmal eine Übersicht:
Passanten
Personal
keine Besucher
 Besucher eines anderen Museums
 Würstchenstandkunde
 tatsächlicher (einfacher) Passant
bewegliches Personal
 Wächter
 Aufseher
Besucher
 eintretend
 im Gebäude
 verlassend
unbewegliches Personal
 Kassenbereich
 Buchhandlung
 Garderobe
 Café
 Würstchenstand
Die interessanteste Gruppe innerhalb dieses Spektrums bilden Passanten, die Besucher sind, die
gerade in die Neue Nationalgalerie gehen wollen, da hier der religiöse Kontext eines Museums am
besten zu beobachten war: Während die meisten tatsächlichen Passanten eine schnelle, typisch
berlinerische Schrittgeschwindigkeit und ein eher zielstrebiges Gehen beobachten lassen, legen
Besucher, die sich gerade der Neue Nationalgalerie mit der Absicht nähern diese zu besuchen, eine
langsameres, eher meditativ wirkendes Gehverhalten an den Tag. Dieses Meditative ist wahrscheinlich
auch der Tatsache geschuldet, dass eher selten Gruppen von drei und mehr Personen gesammelt auf
die Neue Nationalgalerie zusteuern. Dies müsste aber durch Interviews mit Menschen, die dieses
Verhalten an den Tag legen verifiziert werden; aus der reinen Beobachtung heraus lässt sich keine
abschließende Bewertung vornehmen.
Erstaunlicherweise wird dieses meditative Verhalten auch in der Neue Nationalgalerie weiter
verstärkt. Das kontemplative Moment, wie ich es nennen möchte, tritt wohl bei Besuchern des
Museums bereits vor dessen Eintritt in Kraft. Unklar ist noch, ab wann das Moment in Kraft tritt und
ob es von einer spontanen Entscheidung abhängig gemacht werden kann? Hierzu könnten weitere
Untersuchungen und der Vergleich mit bereits erhobenen Daten Klarheit schaffen. Sobald der
Besucher sich in der Neue Nationalgalerie befindet, vor allem dann, wenn er die Ausstellung betritt
wirken alle oben genannten Punkte die im Gebäude zu tragen kommen. Die Bilder werden mit einer
Ruhe beobachtet, die so gar nicht zum äußeren Stadttreiben passen mag. Der respektvolle Abstand
wird eingehalten, da auch bei mehrstündigen Aufenthalten kein Alarm ausgelöst wurde, der bei zu
geringem Abstand zum Kunstwerk startet. Interessant wird das Verhalten von Besuchern, sobald sie
die Ausstellung verlassen. Man könnte erwarten, dass sobald die Neue Nationalgalerie verlassen wird
das Verhalten sprunghaft zurückfällt ins Stadttreiben. Allerdings kann das kontemplative Moment
noch ausklingen, da sehr oft sowohl die Toiletten als auch die Garderobe aufgesucht werden, was dazu
führt, dass man nicht am letzten Ausstellungspunkt schier ins Freie geworfen wird, sondern
31
Übergangshandlungen notwendig werden um das Gebäude endgültig zu verlassen. Befindet man sich
nicht im Erdgeschoss sondern im Untergeschoss ist es noch nötig die Treppe nach oben zu steigen, da
das Gebäude nur im Erdgeschoss verlassen werden kann, was durch die körperliche Anstrengung des
Treppensteigens dem etwas narkotisch wirkenden Zustand ein jähes Ende bereitet. Dieses Verhalten
könnte ich nicht nur bei Besuchern machen, sondern auch ich selbst erlag der Atmosphäre des Ortes
und war schnell im kontemplativen Moment versunken und musste deswegen einiges an Anstrengung
aufbringen, mich nicht zu sehr mit treiben zu lassen, um die Beobachtungen auch ordentlich machen
zu können.
Ein interessanter Punkt war die Wirkung der Wärter bzw. Aufseher. Gar nicht so sehr, wie die
Besucher mit den Angestellten interagieren, sondern wie ich wahrgenommen wurde, da ich
anscheinend nicht dem sonstigen normalen Verhalten im Museum entsprach. Bewaffnet mit Notizbuch
und Stift, die Besucher stark beobachtend, wurde ich nicht nur einmal von einem Wärter über mehrere
Räume hinweg verfolgt. Entweder wirkte ich wie ein Kunstdieb, der sich gerade die beste
Einbruchsstelle aussuchte, oder mein Verhalten war so auffällig, dass es ihm so erschien, als ob ich
eben nicht hier bin um Max Beckmann- und Otto Dix-Werke zu sehen. Diese Irritation der Wärter
führte letztlich dazu, dass ich mehrere Anläufe brauchte, um alle Beobachtungen machen zu können,
da diese Szenerie auch dazu führte, dass ich von manchen Besuchern mir einem gewissen Argwohn
angesehen wurde, was keine nicht teilnehmende Beobachtung unmöglich gemacht hätte.
WEGE
Auch bei den Wegen muss man zwei grundsätzliche Unterscheidungen machen: Wege vor und
Wege im Gebäude der Neue Nationalgalerie. Vor dem Gebäude gibt es dann wiederum die
Klassifikation, ob es Besucher sind oder eben Passanten. Dieses Feld möchte ich aber nicht erneut
öffnen. Wie schon weiter oben an mehreren Punkte aufgegriffen bleibt es den Besuchern im Gebäude
mehr oder weniger freigehalten, welcher Weg durch die Ausstellungen genommen wird. Allerdings ist
es nur möglich sich gegen den Uhrzeigersinn durch das Gebäude zu bewegen, wenn man alles sehen
möchte, da man nur am Eingang und nicht am Ausgang der Ausstellung eintreten kann. Dieser
Basisimpuls führt dann zu einer kompletten Strömungsfunktion in eine Richtung. Weitere Räume
werden aber nicht mehr grundsätzlich gegen den Uhrzeigersinn abgegangen, sondern eher willkürlich
einmal im und einmal gegen den Uhrzeigersinn. Ein typisch museales Verhalten (Von
Ausstellungsstück zu Ausstellungsstück) ist auch in der Neue Nationalgalerie zu beobachten.
Die Wege außerhalb des Gebäudes sind dahingehend erstaunlicherweise ähnlich gut
vorhersagbar wie im Gebäude. Der Würstchenstand nimmt, je nach Windrichtung, dabei ein zentrale
Rolle ein, da der Bratgeruch sich entweder über das Plateau verteilt oder eben nicht. Verteilt sich der
Geruch über das Plateau (bei Südwestwind), dann nehmen die Besucher einen größeren Abstand –
egal ob ankommend oder verlassend – zum Stand ein. Wird der Geruch in eine andere Richtung
verteilt, wird ein weniger großer Abstand eingenommen um das Plateau zu verlassen oder zu betreten.
32
Ein entscheidendes Problem in der Wegbeschreibung nimmt die Tür in die Neue
Nationalgalerie ein. Da die Türen in der Fassadenkonstruktion mehr oder weniger verschwinden
werden die Wege vor der Neue Nationalgalerie, die von Besuchern beschritten werden, die sich
gerade in die Neue Nationalgalerie auf den Weg machen langsamer und eher mit Bedacht genommen,
da man anscheinend nicht in den Konflikt kommen möchte, an der Tür zu stehen und diese
verschlossen vor zu finden. Dieser Eindruck konnte von mir auch selbst wahrgenommen werden, da,
wenn nicht gerade jemand anderes aus dem Gebäude kommt oder hineingehen will, so ist der
Zielkonflikt aus einer abwartenden Haltung, dass dies gleich passieren mag und dem Willen das
Gebäude zu betreten geformt.
An dieser Stelle tritt das erste Mal sehr offensichtlich das kontemplative Moment in
Erscheinung, da nicht nur die Kunstwerke im Gebäude betrachtet werden und verarbeitet werden
wollen, sondern auch das Gebäude an und für sich. Die Lösung des Zielkonflikts wird von einigen
Besuchern darin getroffen, nicht gleich in die Neue Nationalgalerie einzutreten, sondern zuerst einen
Blick durch die Scheiben zu wagen. Anscheinend möchte man zuerst erkennen, ob sonst noch jemand
im Gebäude ist und man daraufhin selbst eintritt. Die Frage, die ich nicht klären konnte ist, ob die
Besucher auch eintreten, wenn sie niemanden sehen und noch weiter abwarten. Warum? Weil mir an
dieser Stelle bewusst wurde, dass auch mein eigener Standort eine Rolle bei der Findung einer Lösung
des Zielkonflikts hat. Einerseits, wenn ich vor dem Gebäude stehe, dass mich Passanten schlicht
fragen, ob die Neue Nationalgalerie geöffnet hat oder wenn ich im Gebäude stehe, dass mich die
Passanten sehen können und so davon ausgehen, dass das Museum geöffnet hat.
Der Standort des Forschenden spielt eine relative Rolle zu den Beforschten bei der Beobachtung
eines Verhaltens, und der Verifikation eines beobachteten Verhaltens!
33
Fazit
Natürlich war es schwierig den religiösen Kontext mit jeder Methode aufzudecken. In der einen
mehr, in der anderen weniger. Schließlich stand auch keine Kirche oder ein anderes religiös
konnotiertes Feld als Objekt des Forschens zur Debatte, sondern die Neue Nationalgalerie, also einem
Kunsttempel der Moderne. Dennoch konnte man anhand einiger Methoden – herausgestellt die
Methode der systematischen Beobachtung – eine Verbindung zwischen Kunst und einer Art religiösen
Besetzung in Bezug bringen.
Der zu Anfang gestellte Fragenkatalog musste genau definiert werden. Trotz meiner Definition
im eigentlichen Rahmen von Religion und Religiosität bin ich mir dennoch sicher, dass auch der Neue
Nationalgalerie eine gewisse religiöse Konnotation zugeschrieben werden kann. Die Beobachtungen,
die gemacht wurden, können zwar nicht einwandfrei jede Frage der Religiosität beantworten, gehen
aber eindeutig in die Richtung einer Art Religion, die mit der Kontemplation verbunden werden kann.
Als entscheidende und damit weitestgehende Annäherung an die Religion in Verbindung mit
der Neue Nationalgalerie stellt das kontemplative Moment dar. Die Frage an dieser Stelle, die ich
versuchte zu beantworten, war, ob die Annäherung mit der Absicht des Besuchs an die Neue
Nationalgalerie dazu führt, eine religiös-konnotierte Grundhaltung hervorzurufen? Die leider offen
gebliebene Frage ist, ob der Zeitpunkt, an dem die Entscheidung für den Besuch im Museum getroffen
wird, einen Einfluss auf das kontemplative Moment nimmt und wie sehr Faktoren wie Vorfreude und
wirkliches Zeit haben für einen Besuch im Museum zu diesem Moment gerechnet werden müssen
oder wie diesen befördern.
Verifizierten könnte man die Forschungsergebnisse, indem man sie mit Arbeiten aus direkt
religiösen Forschungsfeldern vergleicht und mit Untersuchungen an einem religiösen Standort (z. B.
dem Berliner Dom in Berlin) in Verbindung bringt. Vor allem interessant wären Objekte, die im
Zwischenraum aus Museum und Kirche gestellt werden können, wie eben der Berliner Dom.
Das Seminar und auch die Forschungsarbeit an und für sich gaben diese Ressourcen leider nicht
her, stellen aber einen Anhaltspunkt für mögliche spätere Publikationen dar, indem man kritisch mit
den
hier
angebrachten
Ergebnissen
34
ins
Gericht
geht.
Literaturverzeichnis
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Ready2capture!
Hafencity
–
36
ein
urbaner
Raum?,
Berlin,
2002
Bildverzeichnis, Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Die Neue Nationalgalerie in Berlin (Quelle: Internetseite der Neuen Nationalgalerie)
Abbildung 2: Mental Map eines 22-jährigen Studenten in Friedrichshain (Nähe Ostkreuz) gezeichnet
Abbildung 3: Mental Map eines 48-jährigen Mannes gezeichnet am Brandenburger Tor
Abbildung 4: Grundriss der Neuen Nationalgalerie Untergeschoß. (Quelle: museum-location.de)
Abbildung 5: Grundriss der Neuen Nationalgalerie Erdgeschoß (Quelle: museum-location.de)
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