Tagungsdokumentation Mädchen schlagen zu!

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Tagungsdokumentation Mädchen schlagen zu!
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Tagungsdokumentation
Mädchen
schlagen zu!
Aggression als Ausdruck neuer weiblicher Adoleszenz
oder psychischer Not?
Fachtag der Evangelischen Gesellschaft am
18. Oktober 2006 im Forum 3 in Stuttgart
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Mädchen schlagen zu!
Aggression als Ausdruck neuer weiblicher
Adoleszenz oder psychischer Not?
9.30 Uhr
Eröffnung des Fachtags durch Friedhelm Buckert – Mitglied des
Vorstands der Evangelischen Gesellschaft
9.45 Uhr
Opfer, Gewinnerinnen oder Gestalterinnen ihrer Lebenswelt?
Über die Auswirkungen weiblicher Sozialisation auf Mädchen und
junge Frauen
Dr. Claudia Wallner, Dozentin und Autorin, Mitbegründerin der BAG
Mädchenpolitik e. V.
10.45 Uhr
Selbstbestimmt leben lernen
Wege aus der Aggression in der Arbeit mit Mädchen
Martina Fritz, Pädagogische Leiterin der Sozialpädagogischen
Einrichtung Niefernburg
Ulrike Eipperle, Bereichsleiterin, Überregionale Hilfen für Mädchen,
Margaretenheim der Evangelischen Gesellschaft
11.45 –
12.45 Uhr
Mittagessen
12.45 –
15.15 Uhr
AG 1: Wohin mit meiner Wut?
Dagmar Preiß, Dipl. Pädagogin, Systemische Familientherapeutin, Mädchengesundheitsladen Stuttgart
AG 2: „Wie du mir, so ich dir?“
Henning Ide-Schwarz, Kinder- und Jugendpsychiatrie des
Olgahospitals Stuttgart
AG 3: Wird die Jugendsachbearbeitung zur Mädchensachbearbeitung?
Katja Irmler, Kriminaloberkommisarin, Dezernat 1.4 Jugenddelinquenz, Polizeipräsidium Stuttgart
15.15 Uhr
Einschätzung aus Sicht des Jugendamtes der Landeshauptstadt
Stuttgart
15.45 Uhr
Schlusswort
Sonja Hauser, Geschäftsführerin der AG Mädchenarbeit der
Evangelischen Gesellschaft
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Eröffnungsrede von Friedhelm Buckert,
Mitglied des Vorstands der Evangelischen Gesellschaft
Verehrte Gäste,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
herzlich willkommen zu unserem Fachtag „Mädchen schlagen zu!“
Wir waren uns in der Vorbereitung des Fachtags sicher: Aggression bei Mädchen ist ein
hochaktuelles Thema. Doch die Ausschreibung zum Fachtag hat enorm großen
Zuspruch gefunden. Die zahlreichen Anmeldungen überwältigten uns. Wir hätten diesen
Saal mit der doppelten Zahl an Fachpublikum füllen können. Was macht dieses Thema
so brisant und drängend?
Die Berichterstattung in den Medien erweckt oft einen bildhaften Eindruck: eine neue
Generation junger, aggressiver Frauen wachse heran. Anfang dieses Jahres kam es zu
einem Unglücksfall in Stuttgart zwischen der 16-jährigen Kaya und einem 17-jährigen
Mädchen. Kaya stürzt unglücklich und stirbt zwei Tage später an den Folgen einer
Hirnblutung. In den Stuttgarter Nachrichten ist daraufhin die Schlagzeile zu lesen:
„Mädchen-Streit endet tödlich.“ In der Bild-Zeitung ist 5 Tage nach dem Vorfall die
Überschrift zu lesen: „Wurde sie Opfer eines Banden-Kriegs?“Für die Polizei ist der Tod
ein Unfall, keine Straftat. Trotzdem unterstellt die Bildzeitung in ihrer Überschrift
Vorsätzlichkeit.
Bei einem Vorfall im Juni 2006 in Karlsruhe sieht die Justiz einen Fall von Mord. Bei
einem Streit zwischen zwei Mädchen sticht die eine mit dem Klappmesser zu. Zwei
Tage später stirbt das 17-Jährige Opfer im Krankenhaus.
Dies sind nur zwei extreme Schlaglichter zum Thema Mädchengewalt. Die Liste ließe
sich fortführen mit Presseberichten von Mädchen, die schlagen, treten, handgreiflich
werden, prügeln, verletzen. Warnungen vor „brutalen Mädchen“ und „einer Welle
weiblicher Gewalt“werden durch die Medien verbreitet.
Hat die Aggressivität und Gewaltbereitschaft bei Mädchen also wirklich zugenommen?
Momentan liegt wenig empirische Wissensbasis zum Thema Mädchengewalt vor. Laut
der aktuellen Statistik des Bundeskriminalamtes ist Mädchengewalt gegenüber
Jungengewalt immer noch in der Minderheit. 79,95 aller Tatverdächtigen unter 21
Jahren sind Jungen, 20,1% Mädchen. Wenn wir jedoch im Rückblick auf die Entwicklung
der Mädchengewalt schauen, entsteht ein anderes Bild: Heute sind mehr junge Frauen
tatverdächtig als noch vor 10 Jahren (Anstieg 20%).
Praktikerinnen und Praktikern fällt dieser veränderte Umgang von Mädchen mit
Aggressionen schon länger auf. Und es ist nicht nur die nach außen gerichtete
Aggression. Auch die autoaggressiven Verhaltensweisen scheinen zuzunehmen:
Mädchen schließen sich in Gruppen zusammen und ritzen sich gemeinsam die Arme
auf. Mädchen schlagen ihren Kopf an die Wand. Mädchen betrinken sich bis zur
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Bewusstlosigkeit. Mädchen beschimpfen sich und setzen sich gegenseitig verbal unter
Druck.
Welche Beweggründe führen zu aggressivem Verhalten in den unterschiedlichsten
Formen? Warum fällt uns gerade jetzt auf, dass Mädchen vermehrt auf ihrem Weg zum
Frausein zuschlagen? Wen wollen sie treffen mit ihren Schlägen und dem Ritzen der
eigenen Haut? Sicher nicht nur sich selbst oder Gleichgesinnte. Eine solche Sichtweise
greift zu kurz.
Um ein objektiveres Bild zu bekommen, müssen wir breiter schauen. Was erleben junge
Frauen heute auf dem Weg vom kleinen Mädchen zur erwachsenen Frau?
In Zeitschriften und im Fernsehen lächeln schöne, starke junge Frauen. Frauen, die
scheinbar problemlos durchs Leben schreiten. Alles wirkt perfekt: das Äußere, die
berufliche Karriere, das Zusammenleben mit dem Traumpartner und das Leben mit den
süßen Kindern. Die moderne Frau meistert selbstbewusst und mit Leichtigkeit ihr Leben.
Ulla Stöffler beschreibt in ihrem Artikel „Gewalttätige Mädchen, das gibt’
s doch nicht. Das
Phänomen Mädchengewalt“ (in: „Vom Puppenhaus in die Welt hinaus“, Hrsg. Lu
Decurtins, Zürich 2006): „Kein Wunder, dass junge Mädchen sich sagen: Wie werde ich
diesen ganzen Anforderungen gerecht werden? Schaffe ich das überhaupt?“
Zwischen Körperwachstum, Hormonschüben und Rollenvorbildern müssen die jungen
Mädchen ein Selbstbewusstsein entwickeln. Sie müssen mit all ihren Zukunftsfragen
ihren eigenen Stand in der Gesellschaft suchen. Das ist eine Aufgabe, die nicht selten
überfordert. Dies kann Frust, Verlorenheit und Wut schaffen.
Wenn zu all diesen Gefühlsebenen noch schwierige soziale Lebenslagen dazukommen
oder Traumata erlebt wurden, kann Aggression als Lösung der Spannungen dienen,
egal in welcher Form.
Hierzu möchte ich noch einmal auf den Tod von Kaya zu sprechen kommen. Kaya ist
nach ihrem Sturz auf den Hinterkopf nach Hause gegangen. Als sie über Kopfweh
klagte, sich übergab und dann irgendwann bewusstlos im Bett lag, dachte ihre Mutter,
ihre Tochter wäre mal wieder betrunken. Sie kam nicht auf die Idee, dass das Verhalten
von Kaya eine andere Ursache hat, nämlich ein Blutgerinnsel.
Es ist zwingend notwendig, bei dem Phänomen Aggression von Mädchen und jungen
Frauen den Blickwinkel weiter zu vergrößern.
Der heutige Fachtag bietet hierzu Gelegenheit:
•
•
Wir möchten eine Auseinandersetzung mit dem Thema Aggression bei Mädchen
zwischen Dramatisierung und Bagatellisierung suchen. Und
wir möchten Sie dazu ermutigen, Lösungsansätze vernetzt anzugehen und
umzusetzen.
Die Vernetzung des Themas Mädchen schlagen zu! hat schon in der Vorbereitung zum
Fachtag innerhalb der Evangelischen Gesellschaft stattgefunden. Der Fachtag wurde vor
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
allem von unserer AG Mädchenarbeit organisiert und gestaltet. Die Mitglieder der AG
sind in den unterschiedlichsten Bereichen der Evangelischen Gesellschaft tätig: Im
Hortangebot der Internationalen Kindergruppen, in den Hilfen zur Erziehung in Stuttgart
Mitte, in der Zentralen Beratungsstelle für junge Erwachsene, in den Überregionale Hilfen
für Mädchen Margaretenheim, im Projekt Rosa (Wohnprojekt für junge Frauen
nichtdeutscher Herkunft) und bei der Mobilen Jugendarbeit. So verschieden die
Tätigkeitsfelder sind, haben sie alle etwas gemeinsam: die intensive Arbeit mit Mädchen
und jungen Frauen. Die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Fachrichtungen
ermöglichte schon in den Vorarbeiten zum Fachtag die Chance, mannigfache
Blickwinkel auf das Thema Aggressionen bei Mädchen einzunehmen. Diese
Vorgehensweise spiegelt sich auch in der heutigen Vielfalt der Referentinnen und
Referenten wieder. Sie vertreten die unterschiedlichsten Fachgruppen:
-
Dr. Claudia Wallner, freiberufliche Referentin, Dozentin und Autorin, und
Mitbegründerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Mädchenpolitik
Martina Fritz, Pädagogische Leiterin der Sozialpädagogischen Einrichtung NiefernÖschelbronn
Ulrike Eipperle, Bereichsleiterin der Überregionalen Hilfen für Mädchen der
Evangelischen Gesellschaft
Dagmar Preiß, Pädagogin und systemische Familientherapeutin des
Mädchengesundheitsladen in Stuttgart sowie
Henning Ide-Schwarz von der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Olgahospitals
Stuttgart
Katja Irmler, Kriminaloberkommissarin der Jugenddelinquenz vom Polizeipräsidium Stuttgart
die öffentliche Jugendhilfe, vertreten durch Andrea Bruhn von der Jugendgerichtshilfe des Jugendamts (nicht, wie im Programm angekündigt, durch
Marlies Hinterkopf).
Bereits an dieser Stelle Ihnen ein herzliches Dankeschön für Ihre Bereitschaft, diesen
Fachtag offensiv mitzugestalten.
Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen und möchte in diesem Zusammenhang
noch besonders
Frau Kircher, Frau Lutz, Frau Steimer, Frau Wildner, Frau Dr. Stiefel, Frau Rödl, Frau Beck,
Frau Thile, Frau Sawade und Frau Ernst
begrüßen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit, Danke für ihre Neugier und die Bereitschaft
mitzudiskutieren.
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Opfer, Gewinnerinnen oder Gestalterinnen ihrer Lebenswelt?
Über die Auswirkungen weiblicher Sozialisation auf Mädchen
und junge Frauen
Referentin:
Claudia Wallner
Hätten wir diese Frage nach Opfer, Gewinnerinnen oder Gestalterinnen Anfang der
sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gestellt, hätte sie kaum Jemand
verstanden: Was ein Mädchen ist und was von ihm verlangt wird, war eindeutig und vor
allem unausweichlich. Mädchen wurden dazu erzogen, Hausfrau, Ehefrau und Mutter zu
werden, und das schien damals das Natürlichste von der Welt. Niemand stellte diese
Orientierung in Frage, denn die Geschlechtsrollen - Frauen übernehmen die Reproduktionsarbeit, Männer die finanzielle Versorgung der Familie durch Erwerbsarbeit galten als fest stehend und damit unveränderbar. Wenn wir uns fragen, woran das lag,
dann sind wir mitten im Thema, nämlich bei der Frage: Wie entstehen Geschlechtsrollen?
Forschung und Politik haben in historisch rasanter Abfolge in den vergangenen 40
Jahren höchst unterschiedliche Antworten auf diese Frage gefunden. Und bevor wir uns
mit den Auswirkungen weiblicher Sozialisation heute beschäftigen, sollten wir zunächst
einen Blick werfen darauf,
wie Geschlechterrollen im Laufe der vergangenen vier bis fünf Jahrzehnte erklärt
wurden
wie sich die Sozialisationsforschung gewandelt hat und
wie die Forschung um neue Ansätze der Konstruktion von Geschlecht erweitert
wurde.
Wie entstehen Geschlechterrollen? Erklärungsmodelle im Laufe der Zeit
Geschlechterrollen wurden in historischer Abfolge erklärt als
biologisch bedingt
sozialisiert
konstruiert.
Bis weit in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein ging man davon
aus, dass die unterschiedlichen Rollenzuweisungen an Mädchen und Jungen, Frauen
und Männer, biologisch begründet und damit unveränderbar sind. Eine Unterscheidung
wie heute in biologische und kulturell gestaltete Anteile von Geschlecht kannte man
damals nicht. Geschlecht war Biologie und Psychologie.
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Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern wurden auch in der Sozialisationsforschung durchaus erkannt aber mit biologisch begründeten psychologischen
Zuschreibungen erklärt: „Männer sind sachlich und rational, Frauen sind emotional und
intuitiv“.
Geschlechtsunterschiede galten als naturgegeben und wurden deshalb auch nicht
problematisiert - weder politisch noch im Rahmen der damaligen Sozialisationsforschung. Insofern gab es auch kein Verständnis von Geschlechterrollen als angeeignet,
und insofern erklärt sich auch, warum die Gesetzgebung in den sechziger Jahren trotz
des bereits 1949 im Grundgesetz (Artikel 3 Abs.2 „Männer und Frauen sind
gleichberechtigt“) manifestierten Gleichberechtigungsgrundsatzes der Geschlechter
deutliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern machte1:
Leichtlohngruppen erlaubten, Frauen 20-30 % Lohnabschlag gegenüber
Männern zu machen
verheiratete Frauen wurden bis 1976 gesetzlich zur Hausarbeit verpflichtet
sie brauchten die Genehmigung des Ehemannes zur Erwerbsarbeit
und waren zusätzlich zur Hausarbeit zur Erwerbsarbeit verpflichtet, wenn das
Einkommen des Ehemannes nicht ausreichte
unverheiratete Mütter erhielten das Sorgerecht grundsätzlich nicht, weil sie an
einer unsittlichen Handlung beteiligt waren (bis 1970)
und ebenso lange erhielten verlobte Frauen, deren Partner sie nach vollzogenem
Beischlaf verließen, eine finanzielle Entschädigung.
Ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre gab es für das Verständnis gab es für das
Verständnis von Geschlechterrollen und -verhältnissen dramatische Veränderungen:
In der englischen Psychoanalyse und Soziologie wurde erkannt, dass
Geschlechterrollen biologische und kulturell - soziale Anteile haben, dass sie also
nicht nur körperlich und angeboren sind, sondern auch durch Sozialisation
gesellschaftlich gestaltete Anteile besitzen. Eingeführt wurde die Unterteilung in
Sex (biologisches Geschlecht) und Gender (soziales Geschlecht) und damit die
Erkenntnis, dass geschlechtsspezifische Ausprägungen keine Persönlichkeitseigenschaften, sondern durch Sozialisation geprägte Geschlechterrollen und
damit veränderbar sind.
Ähnliche Erkenntnisse setzten sich - insbesondere initiiert durch die 2. Frauenbewegung - auch in der geschlechtsspezifischen Sozialisationsforschung durch.
Aus dem psychologischen Blick „wie Frauen und Männer sind“ wurde ein
soziologischer Blick „wie Frauen und Männer durch gesellschaftliche Einflüsse Sozialisation - zu dem werden, was sie sind“.
Mit diesen neuen Erkenntnissen aus der Forschung wurde es erst möglich, den
Kampf gegen einseitige Rollenzuschreibungen aufzunehmen, denn nun war erst
klar, dass - wie Simone de Beauvoir schon zwanzig Jahre früher erkannt hatte wir nicht als Frauen geboren, sondern dazu gemacht werden.
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Umfassende Informationen zum Sozialisationsverständnis und zur rechtlichen und sozialen Situation
von Frauen in den sechziger und siebziger Jahren siehe: Claudia Wallner 2006
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Frauenbewegung und Frauenforschung trugen ab den siebziger Jahren erheblich dazu
bei zu erforschen und zu erkennen, wie Mädchen durch Sozialisation unterdrückt, in
ihrer Entwicklung beschnitten, eingeengt und diskriminiert wurden. Dabei ging man in
den siebziger Jahren noch davon aus, dass Sozialisation ein einseitiger Prozess (der
Mensch als passiver Trichter) sei, der mit Eintritt ins Erwachsenenalter abgeschlossen
würde.
In den achtziger Jahren erkannte die Sozialisationsforschung, dass Sozialisation ein
Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individueller Gestaltung ist
und als lebenslanger Prozess verstanden werden muss.
Weibliche Sozialisation wurde als zentraler Hemmschuh für Gleichberechtigung im
Sinne von Chancengleichheit erkannt:
Wenn Mädchen zur Unterordnung, zum Stillsein und zur Aufopferung für Andere
erzogen werden, können sie nicht für sich einstehen und eigene Interessen
erspüren und verfolgen
wenn ihnen technische und naturwissenschaftliche Interessen als männlich
definiert werden, sind sie mit der weiblichen Identität nicht vereinbar und damit
nicht akzeptabel oder erstrebenswert.
Die feministische Sozialisationsforschung erforschte und veröffentlichte, wie ab der
Geburt Mädchen zu Mädchen gemacht werden und wie dies zur gesellschaftlichen
Benachteiligung und zur Unterdrückung von Mädchen und Frauen führt.
Gesucht wurde nach Theorien und politischen Konzepten, wie diese Benachteiligungen
beseitigt und damit gesellschaftliche Gleichberechtigung der Geschlechter erreicht
werden könnte und entwickelt wurden dazu Theorien von Gleichheit und Differenz.
Gleichheitstheoretischer Ansatz:
Mädchen und Frauen sollen alle Zuschreibungen, Bereiche und Möglichkeiten
eröffnet werden, die Jungen und Männern bislang (mehrheitlich) vorbehalten
sind. Bsp. Politischer Umsetzung sind die Einführung von Quoten, Programme für
Mädchen in Männerberufen oder für Frauen in Führungspositionen oder
Mädchen in IT-Bereichen.
Differenztheoretischer Ansatz:
Frauen und Männer sind grundverschieden und das soll auch so sein und
bleiben. Verändert werden soll die unterschiedliche Bewertung (Abwertung des
Weiblichen, Überhöhung des Männlichen) insofern, als dass das Weibliche als
das Höherwertige angesehen werden sollte. Bsp. Politischer Umsetzung sind
Projekte einer eigenen Frauenkultur wie Frauenbuchläden, Frauenberatungsstellen etc oder die Forderung nach Hausfrauenlohn.
Wurden im historischen Verlauf Geschlechterrollen also zunächst biologisch und dann
als sozialisiert erklärt und mit gleichheits- und differenzpolitischen Maßnahmen den an
die Geschlechtsrollen geknüpften Benachteiligungen von Mädchen und Frauen entgegengewirkt, so haben wir es seit einigen Jahren zusätzlich mit Theorien zur Konstruktion von Geschlecht zu tun. Sie verweisen deutlicher als Sozialisationstheorien auf den
Eigenanteil von Menschen an Geschlechterrollen. Mädchen und Jungen, Frauen und
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Männer - so die Theorie - inszenieren sich auf der Folie gesellschaftlicher Vorgaben und
Erwartungen permanent selbst als weiblich oder männlich und sind damit von der
Wiege bis ins Grab an der Gestaltung von Geschlechterverhältnissen maßgeblich
beteiligt. „Wir haben kein Geschlecht, wir tun es“, ist eine zentrale These des
Konstruktivismus: Doing Gender ist das dazu gehörige Schlagwort und die These: We
can never ever do not gender“.
Heute gehen wir in der Forschung davon aus, dass die unterschiedlichen
Erklärungsansätze von Geschlechterrollen als biologisch, sozialisiert, konstruiert nicht
alternativ richtig oder falsch sind, sondern zusammen gedacht werden müssen. Es gibt
biologische Unterschiede, die auch Auswirkungen auf Fähigkeiten und Interessen
haben. Die Sozialisation ist das zentrale Element, das Chancen und Benachteiligungen
der Geschlechter befördert, und die Menschen tragen durch die aktive Ausgestaltung
von Geschlechterrollen zum Fortbestehen derselben bei.
Die weibliche Sozialisation ist also auch nach aktuellem Forschungsstand zentral für
Chancen und Grenzen weiblicher Lebenslagen und die Frage, ob Mädchen heute Opfer,
Gewinnerinnen oder Gestalterinnen ihrer Lebenswelt sind, was uns direkt zur nächsten
Frage führt, welche Auswirkungen die weibliche Sozialisation heute auf Mädchen und
Frauen hat.
Weibliche Sozialisation heute
Werfen wir zur Beantwortung dieser Frage zunächst einen kurzen Blick auf
brandaktuelle Forschungen zu diesem Thema: die 15. Shell Jugendstudie und der 3.
Jugendsurvey des Deutschen Jugendinstituts. Beide wissenschaftlichen Untersuchungen
haben Einstellungen, Werte, Rollenbilder und Lebensentwürfe von Jugendlichen und
jungen Erwachsenen untersucht. Einhelliges Ergebnis beider Studien:
Die Geschlechtszugehörigkeit ist immer noch sehr bedeutsam, vor allem für die
Herausbildung der sozialen Werte. „Dieser Befund“- so das DJI zu den Ergebnissen des
Jugendsurveys - „spricht dafür, dass nach wie vor geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesse stattfinden, die Mädchen und jungen Frauen stärker eine helfende, unterstützende und eine für Personen verantwortliche Rolle in der Gesellschaft zuschreiben.“2
Weibliche Werte sind
soziales Engagement
Hilfsbereitschaft
Emotionalität
Religiosität.
Für die männlichen Befragten stehen
viel Geld verdienen
Macht und Einfluss
Dagegen weit vorne.
2
Interview mit Martina Gilles, DJI auf der Homepage des DJI
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Mädchen und junge Frauen sind im Vergleich zu Jungen und jungen Männern:
familienorientierter
wünschen sich häufiger Kinder
kommen besser mit ihren Eltern klar
werden früher selbständig
ziehen früher von zu Hause aus
befinden sich früher in Partnerschaften und
haben mehr Schwierigkeiten bei der Familiengründung, weil Ausbildung,
berufliche Integration und Familiengründung in einem sehr kleinen Zeitfenster
(Rush hour des Lebens) komprimiert sind (Shell Jugendstudie 2006, S.17).
Mädchen prügeln sich deutlich weniger als Jungen (14% zu 29%). Sie sind insgesamt
wertebewusster als Jungen und unterschieden sich zudem in der Werteorientierung:
Fleiß
Ehrgeiz
Umwelterhaltung/-schutz
Sorge für die eigene Gesundheit
soziales Engagement
das Achten auf die eigenen Gefühle
Ordnung
Sicherheit
Sind mehrheitlich weibliche Werte. Jungen setzen dieser weiblichen Werteorientierung
ein konkurrenz- und wettstreitorientiertes Konzept entgegen, und dieser Kontrast hat
sich im Vergleich zur Shell-Jugendstudie von 2002 noch verstärkt. „Männliche und
weibliche Jugend gehen somit weiterhin mit verschiedenen Akzentuierungen an die
Lebensgestaltung heran.“resümiert die Shell-Studie. Mädchen sind idealistisch, Jungen
materialistisch.
Toll aussehen und Markenkleidung tragen sowie Karriere machen ist heute für Mädchen
und Jungen gleich wichtig, Technik bleibt Jungensache.
Shell resümiert 2006: „Typische Werteunterschiede der Geschlechter haben sich sogar
verstärkt, weil weibliche Jugendliche ihre Durchsetzungsfähigkeit nicht mehr so deutlich
betonen wie noch 2002.“(Shell 2006, S. 183)
Mädchen setzen auf soziale Werte und die Entwicklung ihrer Individualität, Jungen auf
Macht und Durchsetzung.
Die beiden aktuellen Jugendstudien zeigen weiterhin klassisch geschlechtsspezifische
Orientierungen, die als Folge geschlechtsspezifischer Sozialisation beschrieben werden.
Das verwundert, denn das öffentliche Bild von Mädchen heute sieht deutlich anders aus.
Demnach sind Mädchen heute:
stark, selbstbewusst, schlau, schlank, sexy, sexuell aktiv und aufgeklärt, gut gebildet,
familien- und berufsorientiert, heterosexuell, weiblich aber auch cool, selbständig aber
auch
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anschmiegsam, es kann alles bewältigen und kennt keine Probleme, keinen Schmerz –
all dies in Summe, nicht wahlweise.
Mehrere Dinge werden hier deutlich:
- gesellschaftliche Rollenbilder sind deutlich weiter und vielfältiger geworden
- sie sind aber auch in sich widersprüchlich, und sie sind deutlich überfordernd
weil überfrachtet mit Anforderungen
- sie stellen so viele Optionen bereit, Mädchen zu sein, das es wenig Orientierung
gibt – wenn alles möglich ist, was ist dann das Richtige?
- sie lassen keine Ängste, Unsicherheiten und kein Scheitern zu (hier zeigt sich
besonders deutlich eine Annäherung des weiblichen Rollenbildes an das
Männliche)
Gleichzeitig wirken alte Rollenbilder weiter: Je nach Schicht, Ethnie, Wohnort, Religion
etc. werden Mädchen weiterhin auch mit konservativen Rollenvorstellungen und -bildern
konfrontiert. Und während das öffentliche Bild des Mädchens von heute uns das
selbstbewusste, hippe Mädchen als scheinbar einzige Variante von Mädchensein
vorspiegelt, hält die Realität so viele Unterschiedlichkeiten, Widersprüche, Überforderungen und Gegensätze neben neuen Freiheiten vor, dass Mädchen je nach
Lebenslagenkontext deutlich verschiedene Rollenanforderungen zu bewältigen haben
unter dem gleichen Mädchenlabel. Rollenanforderungen sind in sich widersprüchlich
und damit nicht zu erfüllen, und sie gelten u. U. nur für einzelne Lebensorte oder
Lebensabschnitte, wenn z.B. die familiären Vorstellungen andere sind als die der Clique
oder in der Peer-group. Da diese Vieldeutigkeit durch das neue Mädchenbild verdeckt
wird, verbleibt die Orientierung in der individuellen Bewältigung.
Im Vorfeld prekärer Lebenslagen gibt es also bereits massive Identitätsprobleme, die
dazu beitragen können, Mädchen und junge Frauen aus der Bahn zu werfen.
Ein ähnliches Problem entsteht durch die öffentliche Botschaft, dass Mädchen heute
gleichberechtigt seien und ihnen alle Wege offen stehen, zumal sie inzwischen deutlich
besser gebildet seien als Jungen. Auch hier gilt es, die in der Realität erheblichen
Unterschiede zwischen Mädchen und ihren Chancen zu realisieren, die sich aus ihren
Lebenslagen insgesamt ergeben: Je nach Familie, Bildungsstand, Nationalität, ethnischer
Zugehörigkeit, materiellen Verhältnissen, persönlichen Handicaps oder Kompetenzen
haben Mädchen und junge Frauen erheblich unterschiedliche Chancen und
Lebensoptionen, die ihnen bereit stehen.
Gleichzeitig verschweigt dieser Gleichberechtigungsdiskurs, dass selbst gute
Schulbildung auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt weniger Wert ist als männlichen
Geschlechts zu sein. Die Folge: Das Scheitern wird zwangsläufig individualisiert und
entsprechende Konsequenzen gezogen. Das gesellschaftliche Versprechen der
erreichten Gleichberechtigung und der offenen Türen für die persönliche
Lebensgestaltung wird in der Realität nicht gehalten, die Botschaft aber weiterhin
Aufrecht erhalten. So müssen Mädchen und junge Frauen es als persönliches Versagen
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interpretieren, wenn sie nicht in den Ausbildungsmarkt einmünden können, keinen
Arbeitsplatz finden oder Kind und Familie nicht in Einklang bringen können.
Auch jenseits prekärer Aspekte bieten Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen
heute genügend Anlass für Scheitern, Selbstzweifel, Orientierungsschwierigkeiten. Dabei
wirken strukturelle Bedingungen, sämtliche die Lebenslagen bestimmende Kategorien
inklusive der Geschlechtszugehörigkeit und die je persönlichen Ressourcen.
Nie war eine Mädchengeneration heterogener, nie war unklarer, was Mädchensein ist,
nie war die Kluft zwischengesellschaftlichen Versprechen und realen Möglichkeiten
größer und die Perspektivlosigkeit für Mädchen/junge Frauen unter bestimmten
Lebenslagen größer, während für Mädchen/junge Frauen auf der anderen Seite ein
deutlicher Optionszuwachs zu verzeichnen ist.
Der Faktor Frausein führt nach wie vor grundsätzlich zu strukturellen Benachteiligungen,
die aber nicht jedes Mädchen und jede Frau gleichermaßen treffen. Inwieweit sich das
Frausein individuell negativ – d. h. durch Einschränkungen und Benachteiligungen –
niederschlägt, das hängt maßgeblich damit zusammen, inwieweit auch in den anderen
Lebenslagenfaktoren problematische Konstellationen vorliegen.
Also: Es ist sowohl richtig, dass der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt geschlechtsspezifisch
segmentiert ist und Frauen auch bei besseren Bildungsvoraussetzungen im Durchschnitt
stärker ausgrenzt als Jungen. Dieser strukturellen Benachteiligung muss Jugendhilfe und
Mädchenarbeit entgegenwirken.
Gleichzeitig stimmt auch, dass nicht alle jungen Frauen gleichermaßen von dieser
strukturellen Benachteiligung betroffen sind. Benachteiligungserfahrungen haben sich für
viele junge Frauen an die zweite Schwelle verschoben, wenn es um den Übergang von
der Ausbildung in Beschäftigung geht und/oder sich die Vereinbarkeitsfrage konkret
stellt. Und sie sind abhängig davon, ob Mädchen in problematischen
Lebensverhältnissen leben. Je problematischer die Lebenslagen insgesamt, desto stärker
wirken auch geschlechtsspezifische Benachteiligungen.
Sind Mädchen also Opfer oder Gewinnerinnen oder Gestalterinnen ihrer Lebenswelt?
Kehren wir also abschließend zur Ausgangsfrage zurück: Sind Mädchen Opfer oder
Gewinnerinnen oder Gestalterinnen ihrer Lebenswelt? Die Antwort lautet: JA!
Manche sind Opfer: Sie haben nicht oder schlecht gelernt, für sich selbst zu
sorgen, haben eine schlechte Schulbildung, kommen aus bildungsfernen
Schichten, werden traditionell weiblich erzogen oder gehören Ethnien an, die
ausgegrenzt werden oder sie sind direkt Opfer von Gewalt.
Manche sind Gewinnerinnen: Sie wachsen in deutschen, höheren,
bildungsorientierten Schichten auf, sind naturwissenschaftlich oder technisch
interessiert, unabhängig und flexibel.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
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Alle sind Gestalterinnen ihrer Lebenswelt. Aber: Wie eng oder wie weit der
Gestaltungsspielraum ist, hängt von den Sozialisationsbedingungen und der
Summe der Lebenslagenfaktoren ab.
Die Faustregel gilt: Je förderlicher die Lebenslagen insgesamt, umso weniger wirken
geschlechtsspezifische Zuschreibungen negativ. Je schwieriger Lebensverhältnisse sind,
umso stärker greifen geschlechtsspezifische Einschränkungen.
Weibliche Sozialisation unterschiedet sich auch heute noch erheblich von männlicher
und bereitet Mädchen besser auf die Sorge für das Gemeinwohl und schlechter auf die
Anforderungen der modernen Arbeitswelt vor. Das ist nach wie vor ein eklatanter
Benachteiligungsfaktor, den es politisch und gesellschaftlich zu verändern gilt. Das darf
allerdings nicht einseitig geschehen, wollen wir nicht die Totalvermännlichung der
Gesellschaft riskieren.
Innerhalb der weiblichen Sozialisation zeigt sich ein nie gekanntes Spektrum von
Möglichkeiten, das eigene Mädchen- bzw. Frausein auszugestalten - wie, das ist in erster
Linie ethnien- und schichtabhängig.
Das politisch und medial gestaltete Bild weiblicher Sozialisation beschönigt und
vereinfacht: Es negiert Einschränkungen und Unterdrückungsmechanismen und malt ein
einheitliches bild gut gebildeter, gleichberechtigter Macherinnen. Wenn wir die
Auswirkungen weiblicher Sozialisation auf Mädchen und junge Frauen erkennen wollen,
dann müssen wir dieses gesamte differenzierte Spektrum in den Blick nehmen. Es gibt
keine einfachen Wahrheiten (mehr). Weibliche Sozialisation ist global betrachtet immer
noch deutlich anders als männliche, aber weibliche Sozialisation ist auch - je nach
Lebenslagenkontext von Mädchen - in sich höchst unterschiedlich. Und so ist sie immer
noch eine Hinführung zum „anderen“ Geschlecht, zur zweiten Reihe und ermöglicht
manchen Mädchen trotzdem den Aufstieg in die erste Reihe, je nach sonstigem
Lebenslagenkontext und eigenen Fähigkeiten.
Für die pädagogische Arbeit mit Mädchen bedeutet dies:
die Benachteiligung weiblicher Sozialisation trotz aller Augenwischerei moderner
Gleichberechtigungsdiskurse nicht aus den Augen zu verlieren, öffentlich zu
machen und dagegen anzugehen und gleichzeitig
bei den Mädchen und jungen Frauen genau auf die gesamten
Lebenslagenkontexte zu schauen um beurteilen zu können, wie sich die
Botschaften weiblicher Sozialisation individuell auswirken,
denn nicht alle Mädchen sind Opfer, nicht alle Mädchen sind Gewinnerinnen, aber alle
Mädchen sind Gestalterinnen - und dabei brauchen sie unsere Unterstützung.
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Literatur:
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Gille, Martina / Sardei-Biermann, Sabine / Gaiser, Wolfgang / Rijke, Johann de:
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12bis
29-Jähriger
Aus der Reihe: DJI - Jugendsurvey Bd. 3 Wiesbaden 2006
Mogge-Grotjahn, Hildegard: Gender, Sex und Gender Studies. Eine Einführung. Freiburg
2004
Prengel, Annedore: Geschlechterdifferenzen: „natürlich“, „sozialisiert“oder „konstruiert“?
In: Glaser, Edith u. a. (Hg.): Warum sich Mann und Frau so schlecht vertragen. Halle 2001,
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Rose, Lotte/Schmauch, Ulrike (Hg.): Jungen - die neuen Verlierer? Auf den Spuren eines
öffentlichen Stimmungswechsels. Königstein 2005
Stauber, Barbara: Starke Mädchen – kein Problem? In: beiträge zur feministischen theorie
und praxis 51/99, S.53-64
Wallner, Claudia: Feministische Mädchenarbeit: Vom Mythos der Selbstschöpfung und
seinen Folgen. Münster 2006
Wallner, Claudia: Zwischen den Systemen - junge Frauen in prekären Lebenslagen
zwischen Jugendhilfe und Wohnungslosenhilfe oder: Was passiert, wenn sich Niemand
zuständig fühlt? In: Wohnungslos Nr. 3/2005, S.97-101
Kontakt:
Dr. Claudia Wallner
Scheibenstr.102
48153 Münster
0251 - 86 33 73
[email protected]
www.claudia-wallner.de
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Überregionale Hilfen für Mädchen – Margaretenheim
Evangelische Gesellschaft
Martina Fritz, Pädagogische Leiterin
Sozialpädagogische Einrichtung Niefernburg
Frau Eipperle beginnt:
Bedeutet ein selbstbestimmtes Leben zu führen heute für Mädchen und junge Frauen
sich mit Fäusten Recht, Aufmerksamkeit und Respekt zu verschaffen?
Wie können die Wege aussehen Selbstbestimmt zu leben, wenn Aggressionen gegen
sich selbst oder andere das Leben schwer machen?
Woher kommen diese Aggressionen, die nach außen oder gegen sich selbst gerichtet
sind? Sind eine zunehmende Perspektivlosigkeit, fehlende Ausbildungsplätze für junge
Menschen, fast tägliche Meldungen in den Nachrichten über Stellenabbau oder
drohenden Stellenabbau, die die Erwachsenen betreffen, Familien, die sich mit mehreren
Arbeitsstellen über Wasser halten, wo für Werte und Rituale wie gemeinsame Mahlzeiten, Familienbesprechungen etc. kaum noch Zeit bleibt, Gründe hierfür?
Viele offene Fragen und nur wenig bisher befriedigende Antworten.
Was sind Aggressionen?
Das Wort Aggression leitet sich von dem lateinischen Verb „adgredi“ab, was so viel
bedeutet wie „herangehen“, „zuwenden“. Somit ist der ursprüngliche Begriff durchaus
prosozial zu sehen, während der Begriff heute eindeutig negativ besetzt ist.
Interessant fand ich bei meiner Recherche, dass es in der wissenschaftlichen
Aggressionsforschung keine einheitliche Definition des Begriffes Aggression gibt.
Der Brockhaus aus dem Jahr 2003 gibt für Aggression 3 verschiedene Definitionen an:
eine allgemeine, eine psychologische und eine völkerrechtliche Definition.
Ich möchte an dieser Stelle nur die allgemeine Definition zitieren:
„Unter Aggression versteht man ein Angriffsverhalten (körperlich oder sprachlich)
gegenüber Sachen oder Lebewesen. Es gibt versch. Erklärungsansätze, warum es zu
Aggressionen kommt. So existiert die Theorie, dass Aggression ein angeborener Trieb
jedes Menschen ist, jedoch mehr oder weniger stark ausgeprägt sein kann.
15
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Andere Theorien gehen davon aus, dass Aggressionen die Folge von negativen
Erlebnissen (also Frustrationen) sind.
Seit langem kursiert zudem die Theorie, dass ein Mensch umso aggressiver werde, je
mehr Kontakt er mit anderen aggressiven Personen habe. Jeder lerne anhand von
Vorbildern, welche Reaktion in bestimmten Situationen angemessen ist (also Lernen am
Modell /milieubedingte Verhaltensprägung)."
Auch die Medien würden mit ihren Gewalt verherrlichenden Darstellungen die Aggressionen schüren.
Noch ist nicht völlig klar, auf welche Weise Aggressionen am besten abgebaut werden
– (Gespräche können hilfreich sein).“
Soweit zum Brockhaus.
Es werden ja schon in dieser Definition verschiedene Faktoren benannt, die auch in den
Medienberichten immer wieder zitiert werden.
Einigkeit besteht wohl darüber, dass nicht ein Faktor allein Gültigkeit besitzt, sondern
diese Faktoren in vielfältiger Art und Weise zusammenhängen und zusammenwirken.
Drei Faktoren werden hierbei immer wieder benannt:
1. Gewalt in den Medien
2. Perspektivlosigkeit der Jugend und
3. problematische Lebenssituationen
Zu 1. Thema Gewalt in den Medien
Der Kriminologe Christian Pfeiffer warnt vor zu viel Medienkonsum. Die Wissenschaftler
des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen sehen einen engen
Zusammenhang zwischen intensivem Medienkonsum und hoher Gewaltneigung. Sie
warnen jedoch davor, die Gewaltbereitschaft auf eine einzige Ursache zurückzuführen.
Von einer Verrohung junger Mädchen könne jedoch nicht die Rede sein, sagt Christian
Pfeiffer.
Der Anstieg von Mädchengewalt in den Statistiken bedeute lediglich, dass von Mädchen
begangene Konflikte häufiger angezeigt werden. Die Statistik des Landeskriminalamtes
besagt, dass im Jahr 1996 232 Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren sich einer
schweren Körperverletzung verdächtig gemacht hatten, im Jahre 2005 waren es bereits
571, der Anteil der 14-17 Jährigen an der Gesamtbevölkerung stieg im selben Zeitraum
jedoch nur gering. (Ebenso dokumentieren Kriminalstatistiken eine erhebliche Zunahme
der Gewaltdelinquenz bei Mädchen, auch wenn deren Anteil nach wie vor deutlich
unter dem Anteil der männlichen Jugendlichen liegt.)
Noch sind es Einzelfälle aber auch Mädchen versuchen immer öfter mit Gewalt auf sich
aufmerksam zu machen.
Gewalt in den Medien: Anton Gramlich, Polizeisprecher in Karlsruhe nach der Tat
Anfang des Jahres, sieht Ursachen unter anderem bei der Gewalt in den Medien.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Jugendliche konsumieren das, was Erwachsene ihnen anbieten und womit Erwachsene
viel Geld ver- dienen. (Bericht in der Stuttgarter Zeitung am 06.06.2006)
Stuttgarter Schüler filmen Misshandlungen mit Handy, vor wenigen Tagen in der
Stuttgarter Zeitung zu lesen. Als Erklärung der Jugendlichen entweder gar keine Antwort
oder „so halt“!
Erschreckend!
Zu 2. Thema Perspektivlosigkeit
Perspektivlosigkeit führt oft zu Cliquenbildung und Gewalt.
Es geht heute schneller zur Sache, die Auseinandersetzungen sind heftiger. Kritisch wird
es
bei
vielen,
wenn
Beziehungsclinch,
Gruppendynamik
und
Alkohol
zusammenkommen. Das sei oft am Wochenende der Fall, wenn eine riesige Zahl von
Jungs und Mädels in die Discos in der Innenstadt strömen. So Aussagen der Mobilen
Jugendarbeit
Es hat den Anschein, dass gerade am Wochenende ein Kampftrinken, bis zur Bewusstlosigkeit angesagt sei.
Auch Mädchen schlagen zu, sagt der Stuttgarter Polizeisprecher Klaus-Peter Arand, aber
nach unseren Erfahrungen sind das nur Einzelfälle. (Interview der Stuttgarter Nachrichten,
nach dem tragischen Tod von Kaya)
Ursache der Streitigkeiten ist oft schlicht Langeweile, vor allem jedoch angestauter Frust.
Viele der Jugendlichen wissen, dass sie bei der heutigen Wirtschaftslage kaum eine
Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie gewinnen in Schule und Praktikum den nicht
ganz unberechtigten Eindruck, dass sie machen können, was sie wollen – Zukunft
haben sie keine.
Zu 3. Thema problematische Lebenssituation
„Mädchen und junge Frauen schreiten erst dann zur Tat, wenn Konflikte schon lange
angestanden haben“, berichtet Frau Engler, Sozialpädagogin der Distel im Evangelischen
Gemeindeblatt. Mädchen und junge Frauen bereden alles untereinander Gleichzeitig
wollen sie aber ihr Gesicht wahren. Werden dann vertrauliche Dinge weitergetragen,
vielleicht sogar verfälscht, entstehen Konflikte, die dann auch in Gewalt enden können.
Im Wesentlichen liegen die Motive für Gewalt unter Mädchen auf der Beziehungsebene,
so die Autorinnen Kirsten Bruhns und Svendy Wittmann in ihrem gemeinsamen Buch
„Ich meine, mit Gewalt kannst Du Dir Respekt verschaffen“, eine soziologische Studie
zum Thema Mädchen und junge Frauen in gewaltbereiten Jugendgruppen. (Ein Projekt
des DJI Deutsches Jugendinstitut.)
Es geht um Respekt in einer Gruppe, in der Gewalt bejaht und als Merkmal ihrer
Mitglieder anerkannt ist. Hinzu kommt oft eine problematische Lebenssituation. Die
Unterstützung der Eltern fehlt, es gibt Gewalt in der Familie und in der Schule Probleme.
Wer ausgegrenzt und abgewertet wird, wünscht sich Anerkennung, egal welche Mittel
dazu nötig seien. So die beiden Soziologinnen.
17
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Diese Sozialwissenschaftlichen Untersuchungen belegen, dass Mädchen in Gruppenzusammenhängen gewaltverstärkend und in Einzelfällen auch selbst offen gewalttätig
agieren
Zum tragischen Tod des 16 jährigen Mädchens in Karlsruhe Anfang dieses Jahres, sagt
der Züricher Jugendpsychologe Allan Guggenbühl, „der eigentliche Grund, vor allem bei
Gewalt von Mädchen ist ein tiefer liegender, der oft in der Beziehung der Mädchen
untereinander begründet liegt. Wenn Mädchen gewalttätig werden äußert sich dies viel
mehr gegenüber Bezugspersonen, als die Gewalt unter Knaben“, so der Psychologe.
Und er hat weiter beobachtet, dass die Mädchen dann in der Ausübung von Gewalt oft
brutaler seien als Knaben. Bei den Mädchen habe die Gewalt eine Vorgeschichte, die
eine entscheidende Rolle spielt. Meistens ist bei Mädchengewalt eine ganz spezifische
Beziehungsdynamik der Grund für die Tat.
Und da Mädchen vor allem in engen Beziehungen gewalttätig werden, muss man
damit auch anders umgehen.
Für ihn gilt eine klare Einbindung in ein soziales Netz, wo eine Kultur des Konfliktes
gepflegt wird und eine mögliche Eskalation frühzeitig erkannt wird, um dann dagegen
zu steuern. Es fehle an einer Streitkultur in den Familien und das Elternhaus müsse
wieder mehr Grenzen setzen und Werte vermitteln, wie soziales Empfinden und
Mitgefühl. (Stuttgarter Zeitung 08.06.2006)
Provokant gefragt:
wie soll ein Kind, das von Anfang an gelernt hat, dass es mit Generve, Gewalt oder
Rücksichtslosigkeit alles erreichen kann, lernen, dass dies auf Kosten anderer geht? Und
weshalb sollte es nach solchen Erfahrungen überhaupt Rücksichtnahme und faires
Verhalten als Wert an sich erkennen?
Dies war nun bisher mehr der Aspekt der Fremdaggression, aber „auch immer mehr
Jugendliche verletzen sich selbst. Die Gewaltbereitschaft gegen den eigenen Körper
nehme zu“, so Professor Dr. du Bois, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des
Olgahospitals in Stuttgart in einem Interview mit dem Evangelischen Gemeindeblatt für
Württemberg vom 9. Oktober 2006. Er plädiert z.B. dafür, dass Eltern wieder verstärkt
Grenzen setzen. „Man darf sich dem Kind nicht in einer ohnmächtigen hilflosen
Verfassung darbieten, sondern muss entscheidungsfähig bleiben. Wenn Eltern mit ihren
Kindern nicht mehr alleine fertig werden, sollten sie sich an die entsprechenden
zahlreichen Hilfsangebote wenden.
Professor Dr. Franz Resch, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Heidelberg, dessen Arbeitsgruppe hat gerade über 5000 Fragebögen von
15jährigen ausgewertet (DIE ZEIT, 12.10.2006), dabei ist den Forschern aufgefallen, dass
etwa 1/3 der normalgewichtigen Mädchen sich als zu dick empfindet. Und fast jedes 5.
Mädchen ritzt sich mit Klingen – meist in die Unterarme – um durch den selbst
zugefügten Schmerz den Körper intensiver zu spüren.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Selbstbestimmt leben lernen
Wege aus der Aggression in der Arbeit mit Mädchen
Wie können wir nun in der Pädagogik angesichts dieser komplexen Ursachen und
Zusammenhänge die Mädchen auf einen Weg in ein selbstbestimmtes Leben führen?
An dieser Stelle möchte ich Ihnen in aller Kürze einen groben Überblick bzw. einen
kurzen Einblick, in die Arbeit des Margaretenheims geben.
1. Wir im Margaretenheim versuchen als oberstes Gebot einen Rahmen zu bieten,
der geprägt ist durch klare Regeln und Strukturen und somit einen Halt und eine
Orientierung im Leben vermittelt.
2. Daneben gilt es in der Pädagogik aber auch darum Werte zu vermitteln, eine
Streitkultur zu erlernen – Streiten gehört zum Leben dazu – und die Fähigkeit
Kompromisse zu schließen zu erwerben.
3. In der Einzelarbeit mit den Mädchen geht es darum, die Gründe für dieses
Verhalten herauszufinden und sich auf die gemeinsame Suche nach Alternativen
zu begeben und diese auszuprobieren.
Sie als Erwachsene, ich nehme es zumindest einmal an, haben gelernt mit
Spannungen, Frustrationen, Ärger umzugehen, in dem sie evtl. nach einem harten
Arbeitstag ein entspannendes Bad nehmen, Musik hören oder mehr im aktiven
Bereich sich beim Sport austoben. Wobei das ja auch bei Ihnen nicht immer
gleich ist, mal überwiegt der Wunsch nach Entspannung, mal der nach Aktivität.
Und so ist es auch bei den Mädchen, es gilt verschiedene Möglichkeiten an die
Hand zu geben und immer wieder auszuprobieren, bis etwas davon greift.
Unsere Angebote sind u.a., mit den Mädchen
• Um den Block zu rennen
• Sich am Sportgerät auszutoben
• Ganz laut Musik hören
• Oder unseren Boxsack zu benutzen
• Oder unseren Geschirr-Zerschmeiß-Raum
Daneben gibt es auch entsprechende Möglichkeiten der Entspannung.
Welche Verhaltensweisen die Mädchen auch nutzen, um Aggressionen/Spannungen
abzubauen: diese sind immer sehr individuell und es benötigt viel Zeit, sie einzuüben.
Es geht darum, frühzeitig bei sich zu erspüren, wann die Wut oder die Spannung im
Bauch anfängt zu kribbeln und dann dagegen zu steuern. Kontrolle zurückgeben,
Autonomie anstreben.
Wir verwenden Instrumente aus der Verhaltenstherapie
Als Pendant zu dieser intensiven Arbeit an sich selbst bekommen die Mädchen, viel Lob
und Anerkennung für Dinge die gut funktionieren. Damit wird positives Verhalten
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
verstärkt und das Selbstwertgefühl aufgebaut. Lob und Anerkennung wirkt motivierend,
das kennen Sie sicherlich von sich selbst.
(Aspekte aus der Verhaltenstherapie/Lerntheorie).
Denn hinter Eigen- und Fremdaggression stehen häufig Angst und Unsicherheit, teilweise traumatisierend Erfahrungen aus frühester Kindheit sowie Frustration darüber
möglicherweise keine adäquate Zukunft zu haben.
Parallel zu unserer pädagogischen Arbeit werden die Mädchen therapeutisch begleitet.
Ziel ist es mit allen Beteiligten (Jugendamt, Schule, Ausbildung, Therapie, Vereine,
Wohngruppe) ein soziales tragfähiges Netz aufzubauen, in der Hoffnung, dass es dann
auch in kritischen Zeiten trägt, denn, und das ist mir sehr wichtig, zum Abschluss zu
sagen:
Das sind ganz tolle Mädchen, hoch kreativ, kraftvoll und energiegeladen. Hinter so
einem Verhalten steckt ja auch viel Energie, wenn man es einmal wertfrei betrachtet.
Aufgabe und Ziel in unserer pädagogischen Arbeit ist es, mit den Mädchen intensiv
daran zu arbeiten, diese Energien in andere Bahnen zu lenken, damit sie wirklich in
unserer Gesellschaft selbstbestimmt leben können!
Frau Fritz berichtet von der Arbeit der Niefernburg: Ihre Präsentation sehen Sie in einem
eigenen PDF unter
Umgang mit Aggression in der Arbeit mit Mädchen in der Niefernburg
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Diskussion zu „Selbstbestimmt leben lernen“
(Frau Fritz, Frau Eipperle)
Protokollantin: Astrid Burkard, Projekt Rosa, Evangelische Gesellschaft Stuttgart
- Die Niefernburg beschäftigt sowohl weibliches wie auch männliches Personal, da es
wichtig ist sowohl weibliche wie auch männliche Identifikationspersonen mit entsprechenden Rollenbildern zu bieten.
- Im Schnitt waren im Jahr 2005 die Mädchen 5 Monate in der geschlossenen Gruppe,
die Bandbreite reicht jedoch von wenigen Tagen bis zu mehreren Monaten.
- Für eskalierende Situationen gibt es in der Niefernburg unter anderem auch einen
Time-out-Raum; der in Krisen, begleitet von Erziehern, genutzt werden kann.
In der Krise werden die Mädchen von einer pädagogischen Mitarbeiterin begleitet, um
direkt in die Konfrontation gehen zu können.
Niefernburg und Margaretenheim reagieren flexibel in krisenhaften Situationen, je nach
den Bedürfnissen der Mädchen: Boxraum, an die frische Luft gehen etc.
Die Niefernburg hat allerdings keinen Boxraum bzw. Boxsack und arbeitet auch nicht mit
diesem Modell, da die Gefahr besteht, dass der Boxsack stellvertretend für Personen
eintritt!
- Aufgrund schlechter Erfahrungen arbeitet die Niefernburg nicht nach dem
Bezugsbetreuersystem; es gibt zwar formale Zuständigkeiten, aber im Alltag sind alle
zuständig, um zu vermeiden, dass sich die Mädchen nur von der Bezugsbetreuerin
etwas sagen lassen. Diese Diskussion wird auch im Margaretenheim geführt, auch unter
dem Aspekt, dass es Mädchen ohne positive, stabile Bindungserfahrung überfordern
könnte, zu einer Person eine enge Bindung aufbauen zu müssen.
- Das Konzept der Niefernburg erreicht ca. 70% der Mädchen; d.h. auch, das das
Angebot für diese Mädchen richtig und passend war.
- Ein Anti-Gewalt-Training für Mädchen in Freiburg hat hauptsächlich Mädchen mit
Migrationshintergrund. Gibt es eine Zunahme von Gewalt bei diesen Mädchen? Und
das obwohl sie in ihren Herkunftsfamilien klare Grenzen gesetzt bekommen?
Margaretenheim: kaum Mädchen aus klassischen intakten Kleinfamilien.
Niefernburg: Mädchen mit „Verwöhnungsverwahrlosung“, die in Familien keine Grenzerfahrungen machen; dabei ist kein Unterschied zwischen Migrations- und anderen
Familien feststellbar.
- In beiden Einrichtungen ist Sucht(verhalten) ein Thema, sowohl bei den Mädchen
selbst wie auch in den Herkunftsfamilien. Die Mädchen probieren sich auf vielen Ebenen
aus.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
- Medikation:
In der Niefernburg werden Mädchen, die z.B. aus der Psychiatrie mit Medikation
kommen entsprechend weiterbehandelt. Der Kinder- und Jugendpsychiater, der 14tägig
ins Haus kommt begleitet die Medikamenteneinnahme, arbeitet aber auch mit
Homöopathie.
Im Margaretenheim wird eine aus Psychiatrie bestehende Medikation ebenso
weitergeführt, in Zusammenarbeit mit derselben.
Beide Einrichtungen bestätigen eine Zunahme von Medikation.
- Die Niefernburg erhält 1-2 Aufnahmeanfragen pro Tag. Dabei ist, nach persönlicher
Einschätzung, zu bedenken, dass ja nur noch die „Spitze des Eisbergs“ überhaupt
Jugendhilfe erhält.
Um herauszufinden, für welche Mädchen dieses Angebot überhaupt passt, läuft sowohl
eine interne als es auch eine externe Evaluation, die durch das DJI (deutsches
Jugendinstitut) durchgeführt wird.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
AG 1:
Wohin mit meiner Wut?
Aggressives und autoaggressives Verhalten von Mädchen
Zwei Seiten einer Medaille?
Inputreferat:
Dagmar Preiß
MädchenGesundheitsLaden e.V.
1. Einleitung
2. Autoaggressives Verhalten
3. Offen aggressive Mädchen und junge Frauen
4. Gemeinsame Erklärungsansätze: Gesellschaftliche Aspekte
Familie und Erziehungsstile
Umgang mit Wut und Aggression
5. Prävention
1. Einleitung
Mädchen und Mädchenbilder haben sich in den letzten 10 Jahren verändert. Moderne
Mädchen sind selbstbewusste, starke, zielstrebige und in jeglicher Hinsicht kompetente
Mädchen. Mit diesen kraftvollen Idealen und veränderten Weiblichkeitsbildern kann sich
jede ihr eigenes „Ich“zusammenstellen, denn Vielfältigkeit ist nicht nur erlaubt, sondern
erwünscht.
Diese Mädchen sind auch kompetenter im Umgang mit Gewalt geworden, und
trotzdem oder gerade deshalb sind die Auseinandersetzung mit Gewalt und Selbstbehauptung wichtige Bezugspunkte ihrer Entwicklung.
Eine neuere Facette dieser Entwicklung ist, dass Mädchen selbst zunehmend gewaltbereit sind; dies beinhaltet sowohl Gewalt gegen andere als auch Formen autoaggressiven Verhaltens.
2. Autoaggressives Verhalten
Selbstschädigendes Verhalten ist in allen Kulturen ein bekanntes Phänomen, es kommt
jedoch kulturspezifisch in ganz unterschiedlichen Formen zum Vorschein. Meist handelt
es sich um gesellschaftlich akzeptierte Formen der Selbstschädigung, die auffallend
häufig im Kontext von kulturellen und religiösen Ritualen stehen oder aber Selbstschädigungen, die vorgenommen werden, um den herrschenden Schönheitsnormen zu
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
entsprechen. Autoaggressives Verhalten umfasst eine große Bandbreite, die ich im
Folgenden kurz vorstellen werde.
Wenig auffällige Formen bzw. gesellschaftlich akzeptierte Formen:
• Desorganisation des Tagesablaufs (zu wenig Schlaf)/ Schönheitsoperationen/
Strenges Diäthalten/ übermäßiges Body-building/ risikoreiche Sportarten
• Piercen/ Haare zupfen/
• Essstörungen / starker Gebrauch von legalen und illegalen Drogen / Suchterkrankungen
Selbstverletzendes und selbstzerstörerisches Verhalten (SVV) umfasst eine Fülle
unterschiedlicher Auffälligkeiten, deren Gemeinsamkeit die Beschädigung des eigenen
Körpers ist.
Wie viele Menschen sich selbst verletzen, ist nicht eindeutig geklärt. Je nach
Untersuchung schwanken die Angaben zwischen 0,75% und 2%, wobei alle
Untersuchungen von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. (Tendenz steigend). Der
Großteil davon sind Mädchen und junge Frauen unter 30 Jahren (bis zur Vorpubertät
sind allerdings mehr Jungen betroffen).
Kleinkindalter: Kopfwiegen oder Kopfschlagen/nach dem 3. Lebensjahr sehr selten/
Jungen überwiegen.
Kindesalter:
Zwanghaftes Haare ausreißen (Trichtillomanie)/ Schmerz zu spüren ist wichtig/
Mädchen hier häufiger als Jungen
Nägelknabbern/ Nagelbettbeissen: ab dem 4. Lebensjahr/ Anteil der Mädchen
überwiegt/
Lässt mit Beginn der Pubertät stark nach.
Selbstverletzung als psychische Störung (Verhaltensauffälligkeit)
Heimliche Selbstverletzung
•
Artifizielle Erkrankungen
•
Münchhausen-Syndrom
•
erweitertes Münchhausen-S.
Offene Selbstverletzung
1. Heimliche Selbstverletzung
a) Artifizielle oder Selbstmanipulierte Krankheit
Bei dieser Form der Selbstverletzung produziert oder täuscht der/die Betroffene
wiederholt und beständig Symptome vor, obwohl kein gesicherter Befund für eine
körperliche oder psychische Erkrankung, Krankheit oder Behinderung vorliegt mit dem
Ziel, eine PatientInnenrolle einnehmen zu können. Bei körperlichen Symptomen kann
dies sogar weit gehen, dass die betreffende Person sich selbst schwere Verletzungen
zufügt, um Blutungen zu erzeugen oder sich selbst toxische Substanzen injiziert (Blut
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
schlucken/ Blut in den Urin mischen/ Fieberthermometer fälschen etc.). Die
Nachahmung von Schmerzen und das Bestehen auf dem Vorhandensein von Blutungen
können so überzeugend sein, dass wiederholt Untersuchungen und sogar Operationen
durchgeführt werden. Die Betroffenen überlegen zwar bewusst, wie sie Symptome
vortäuschen können, dennoch können sie ihr Verhalten nicht wirklich kontrollieren und
glauben schließlich selbst an einer komplizierten Krankheit zu leiden.
b) Münchhausen-Syndrom (männerspezifisch)
Hierbei handelt es sich um Menschen, die fälschlicherweise angeben an körperlichen
Krankheiten zu leiden, und die ÄrztInnen zu vielfältigen medizinischen Eingriffe zu
verführen. Meist erzählen sie zusätzlich phantastischen Geschichten über ihr Leben, ihre
Herkunft, ihren Beruf, die teils wahr und teils erfunden sind. Sie reisen von Stadt zu Stadt
und von Land zu Land, um sich in Krankenhäuser aufnehmen zu lassen, aber auch, um
immer auf Wanderschaft zu sein. Die Krankenhäuser verlassen sie in den meisten Fällen
plötzlich selbst, ohne dass die Behandlung beendet ist.
c) Erweitertes Münchhausen-Syndrom (frauenspezifisch)
Hierbei handelt es sich meist um Mütter, die an ihren Kindern Krankheitssymptome
vortäuschen, künstlich erzeugen oder bestehende Symptome verstärken. Ihr Ziel ist es
die Krankenhausaufnahme ihres Kindes zu erreichen und in der Folge komplizierte
medizinische Eingriffe, Operationen eingeschlossen, herbeizuführen. (Väter unterstützen
dieses Verhalten passiv durch ein auffallendes „Nicht-Merken“). Eine gute und
fürsorgliche Mutter zu sein, ist für sie enorm wichtig; häufig sind sie selbst traumatisiert.
Eine weitere Form des erweiterten Münchhausensyndroms kann sein, dass diese Mütter
ihre Töchter mit unterschiedlichsten Symptomen (ADSH/ Essstörungen/ Mobbing etc.)
in verschiedenen Beratungsstellen vorstellen mit der Idee, dass ihre Kinder permanent
psychische Betreuung benötigen.
2. Offene Selbstverletzung
Hierunter versteht man das wiederholte Verletzen des eigenen Körpers, ohne die
bewusste Absicht des Selbstmordes. Die Betroffenen verheimlichen die Selbstverletzung
in der Regel nicht.
In der überwiegenden Zahl der Fälle handelt es um Mädchen und junge Frauen (70%)
bis 30 Jahren. Die erste Selbstverletzung erfolgt durchschnittlich mit 14 Jahren und fällt
auffallend häufig mit der ersten Menstruation zusammen.
Die häufigsten Selbstverletzungen sind Schnittwunden in die Haut, Selbst brennen,
Selbst-Schlagen, Verhinderung der Wundheilung bzw. Säuren und Laugen auf die Haut
auftragen, schweres Selbst-Kratzen, Haare ausreißen, sich willentlich die Knochen
brechen.
Leichte Form: oberflächliche Wunden, die nicht ärztlich versorgt werden müssen. Meist
besteht ein deutlicher Situationszusammenhang (Überforderung/ Enttäuschung). Wenn
Selbstverletzungen in Gruppen durchgeführt werden, handelt es sich meist um diese
Form.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Mittlere Form: intensiver, regelmäßiger, z. T. bereits automatisiert; führt zu sichtbaren
Verletzungen und Narben
Schwere Form: ohne erkennbaren Situationsbezug und in massiver Form; stark automatisiert bzw. ohne Selbstkontrolle; kann zu lebensbedrohlichen Verletzungen führen.
Die Selbstverletzung erfolgt meist in einem Zustand der starken inneren Anspannung,
die unterschiedliche Ursachen haben kann. Meist wird die Selbstverletzung nicht
geplant. Wenn der Impuls oder der Gedanke an die Selbstverletzung aufkommt, muss
diesem Impuls in Kürze (Innerhalb der ersten Stunde) nachgegeben werden. Diesen
Spannungszustand erleben viele als eine Art Rauschzustand, bei dem sie Kontrolle
teilweise verlieren, jedoch nicht so weit, dass es zu lebensgefährlichen Verletzungen
kommt („Ich stehe neben mir und schaue mir zu.“). Während der Selbstverletzung wird
von den meisten eine verminderte Schmerzwahrnehmung beschrieben, die auch noch
1-2 Stunden nach der Selbstverletzung anhalten kann. Sie hat meist eine sehr effektiv
lindernde Wirkung auf erhöht Spannungszustände, Zustände von Missbehagen, innere
Leere und Depression. Sie führt bei den meisten Betroffenen zunächst zu einem guten,
entspannten und angenehmen Gefühl.
In den meisten Fällen erfolgen die Selbstverletzungen wiederholt und gehen in ein
chronisches Verhalten über, das in Konfliktsituationen und Spannungszuständen zum
Ausbruch kommt und oftmals als suchtartig beschrieben wird.
Dynamik und Funktion von SVV
Man kann davon ausgehen, dass das gezeigte Verhalten sinnvoll ist; es geht also darum,
gemeinsam mit den Betroffenen den Sinn zu entschlüsseln. Insofern handelt es sich um
einen Bewältigungsversuch und kann als Selbstfürsorge und Ressource angesehen
werden.
Verschiedene Funktionen können unterschieden werden:
Intrapsychische Aspekte
1. Bewältigung von Gefühlen
• sich selbst zu spüren
• Selbstbestrafung,
• den inneren Schmerz lindern/ nicht spüren
• Druck abbauen
• sich einzigartig zu fühlen (narzisstischer Gewinn)
2. Stressbewältigung
• Spannungen abzubauen,
• Ordnung in das Chaos bringen
• Sicherheit und Selbstkontrolle erlangen ("Ich bestimme, was geschieht"),
Interpersonelle Aspekte
meinen die beziehungsgestaltende Wirkung des SVV. Es dient dazu, Gefühle mitzuteilen,
Nähe und Distanz zu regulieren, evtl. auch, um sich mit einer Gruppe zu identifizieren
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
oder um Zuwendungen des Betreuungsteams zu erkämpfen. Es kann als Appell und
Hilferuf verstanden werden. (vgl. Wolz 2004).
3. Offen aggressive Mädchen und junge Frauen
1. Offen aggressive Mädchen
Kriminalstatistiken, Erfahrungen von Pädagoginnen und Mädcheneinrichtungen
belegen, dass es Gewalt bereite Mädchen gibt und dass es in den letzten Jahren
einen Zuwachs gegeben hat (z.B. Wagenblass/ Kriminalstatistik BadenWürttemberg). Sieht man jedoch genauer hin, fällt auf, dass
- sich dieser Anstieg auf sehr niedrigem Niveau bewegt
- 85% der jugendtypischen Gewaltdelikte (vorsätzliche leichte Körperverletzung/
schwere Körperverletzung und Raubdelikte) immer noch von männlichen
Jugendlichen begangen werden und in absoluten Zahlen gesehen der Anstieg
der Tatverdächtigen bei Jungen höher ausfällt als bei Mädchen.
- Mädchen aggressive Ausdrucksformen weitaus häufiger gegen sich selbst als
gegen andere richten.
- Mädchen selbst die miterlebte und erfahrene Gewalt und Missachtung durch meist männliche - Erwachsene weitaus mehr beschäftigt als gewalttätiges Verhalten durch andere Mädchen.
Schlagende Mädchen treten selten einzeln auf und sind sowohl in reinen Mädchengruppen meist jedoch in gemischtgeschlechtlichen Cliquen anzutreffen. In diesen
Gruppen hat Gewalt meist eine wichtige gruppenstabilisierende Funktion. Im Gegensatz zu früher (10 Jahren), als die Mädchen in solchen Gruppen eher kämpfen ließen
(Anheizerinnen/Anstifterinnen) und die Kämpfer emotional unterstützten, agieren
weibliche Jugendliche meist körperlich offensiv.
Die körperlichen Angriffe weiblicher Jugendlicher richten sich vorwiegend gegen
andere Mädchen/ Mädchengruppen und selten gegen Jungen. Bei
Gruppenauseinandersetzungen sind die Mädchen also vorwiegend für die Mädchen
der gegnerischen Gruppe zuständig. Die Mädchen selbst begründen dies damit,
dass Mädchen „schlecht über andere reden würden“, was übrigens häufig als Grund
für Gewaltausübungen genannt wird. Nicht vergessen werden darf aber auch, dass
Mädchen gegenüber Jungen aufgrund einer angenommenen oder tatsächlichen
körperlichen Überlegenheit vorsichtiger sind und das Risiko in der Auseinandersetzung zu unterliegen größer ist oder scheint.
Trotz des Risikos von außen sanktioniert, abgewertet oder ausgegrenzt zu werden,
„lohnt“sich für die Mädchen die Gewalt und zwar insbesondere dann wenn sich in
ein Netz von gewalttätigen und gewaltbereiten Freundesgruppen eingebunden sind.
Mädchen erhalten in diesem Klima Anerkennung und Bestätigung für ihre
Gewaltbereitschaft und zwar vorwiegend von Mädchen, wobei ein hoher Status
innerhalb der Gruppen nur in Verknüpfung mit anderen gruppenstabilisierenden
Fähigkeiten erreicht werden kann.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
2. Einzelne aggressive Mädchen
Daneben gibt es Mädchen, die einzeln aggressiv agieren. Pädagoginnen und auch die
betroffenen Mädchen und jungen Frauen erleben diese Aggressionen als stark
impulshaft, d.h. es ist nicht einschätzbar , ob und wie es zu diesem Verhalten in den
jeweiligen Situationen kommt.
Die Aggressionen richten sich sowohl gegen Dinge als auch bzw. gegen Personen (MGL
war es immer eine Kombination), und zwar in massiver Form (Möbel und Zimmer
werden zerlegt, Pädagoginnen mit Messer angegriffen aber auch herum schreien). Die
Mädchen beschreiben, dass sie in den Situationen einen Kontrollverlust erleben, der
entweder durch körperliche Erschöpfung erlahmt oder aber durch massive
Einwirkungen von anderen Personen unterbrochen werden kann.
Es fällt auf, dass sich die Aggressionen meist gegen weibl. Personen richten, selbst wenn
der Anlass mit einer männl. Person in Verbindung steht. Die Aggressionen werden nicht
dort platziert, wo sie eigentlich hingehören (Frust über den Freund beim Freund),
sondern dort, wo sie ehesten möglich scheint.
Folgen:
Kein Statusgewinn
Mädchen werden nicht in die bestehenden Gruppen integriert (Angst), bzw. wenn sie in
Gruppen sind eher isoliert bzw. auch ausgegrenzt.
Für Pädagoginnen wichtig:
Schnell Grenzen setzen -. Auch körperliche Grenzen setzen
Aggressionsrituale mit Mädchen erproben
Wut- und Ärgerübungen machen (Konfliktlösungsstrategien)
3. Mobbing
Mobbing kommt an vielen Orten und in den unterschiedlichsten Lebenslagen vor.
Mobbing unter Mädchen ist jedoch eng verknüpft mit dem Schulalltag und kann
besonders häufig bei Mädchen zwischen der 5. und 9. Klasse beobachtet werden.
Mobbing ist eine Aggressionsform, die vorwiegend von Mädchen ausgeht, indem sie
indirekte, jedoch höchst wirkungsvolle Strategien einsetzen, andere Mädchen psychisch
zu schädigen.
Es handelt sich also nicht um bestehende Konflikte, die Mädchen untereinander haben
und die sie nicht offen lösen.
Beim Mobbing schließen sich Mädchen mehr oder weniger bewusst zusammen mit
dem Ziel, andere Mädchen auszuschließen und bewusst „fertig zu machen“.Hierzu zählt
auch, dass Falschinformationen gestreut werden oder Gerüchte verbreitet werden, um
Konflikte zu provozieren und zu Gewalthandlungen anzustiften. Typisch für Mobbing ist,
dass die Handlungen relativ undurchschaubar und z. T. sehr subtil sind, das heißt von
Pädagoginnen meist nicht bemerkt werden bzw. bemerkt werden können.
Hinzu kommt, dass die Konflikte zwischen den Mädchen/ verfeindeten Mädchengruppen sich über Wochen und Monate hinziehen, d.h. die Langfristigkeit und der
undurchschaubare Charakter dieser Handlungen scheint typisch für diese Aggressionsform zu sein, und endet oft erst mit dem Schulwechsel bzw. Gruppenwechsel der
betroffenen Mädchen.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Die besondere Beziehungsfähigkeit, die Mädchen immer wieder bescheinigt wird
verkehrt sich hier in eine besondere Manipulationsfähigkeit
4. Erklärungsansätze und Entstehungszusammenhänge
Es gibt keinesfalls nur einen Erklärungsansatz für aggressives und autoaggressives
Verhalten, vielmehr wird von einem multikausalen Ursachenzusammenhang
ausgegangen, der gesellschaftliche, soziokulturelle, familiäre und innerpsychische
Faktoren beinhaltet.
Im Folgenden beschreibe ich Erklärungsansätze, die sowohl bei aggressivem als auch
autoaggressivem Verhalten zum Tragen kommen, d.h. diejenigen, die tatsächlich auf 2
Seiten einer Medaille verweisen (Trauma, posttraumatische Belastungsstörung bes.
Aneignung des Körpers entfällt an dieser Stelle).
1. Familie und Erziehungsstile
Eltern haben Anteil an der Ausbildung aggressiver und autoaggressiver Verhaltensweisen ihrer Kinder. Insbesondere die folgenden Faktoren tragen dazu bei:
• Regeln wurden in der Familie nicht ausgesprochen und befolgt
• Regelübertretungen oder Nicht-Einhalten von Regeln blieben ohne Konsequenz
• Regeln werden ständig verändert
• Eltern agieren bzgl. Regeln nicht gemeinschaftlich
• Unfähigkeit, Probleme in der Familie darzustellen oder zu lösen.
Die psychische Ausgangslage von vielen betroffenen Mädchen/jungen Frauen ist durch
eine zu starke emotionale Entbehrung und Mangelsituation einerseits und/oder durch
eine ausgeprägte Verwöhnung andererseits gekennzeichnet, wobei meist die
Gleichzeitigkeit beider Erziehungsstile das eigentlich Schwierige ist, da es für die
Mädchen sehr wenig Orientierung bietet.
Der sog. paradoxe Erziehungsstil - es werden Forderungen ohne emotionalen Rückhalt
gestellt - und der gleichgültige Erziehungsstil – keine Forderungen und kein emotionaler
Rückhalt durch die Eltern - haben starker Einfluss bei der Entstehung (auto-) aggressiven
Verhaltens. Je eher die Eltern in der Lage sind, ihren Kindern emotionalen Rückhalt zu
geben und dabei gleichzeitig altersadäquate Forderungen zu stellen, desto weniger
kommt autoaggressives Verhalten zum Tragen.
2. Umgang mit Wut und Aggression
Mädchen streben nach selbstbewussten Kommunikationsformen in Konflikten, denn
Konflikte gehören zum Leben und zu Beziehungen dazu. Sie lassen Beziehungen
lebendig werden, wenn die Bereitschaft zu einer konstruktiven Auseinandersetzung bei
den Beteiligten vorhanden ist. Die Fähigkeit mit Konflikten konstruktiv umzugehen, sie
konstruktiv zu lösen kann und sollte erlernt werden. Mädchen brauchen hier die
Unterstützung, eigene Zielvorstellungen zu entwickeln und diese nach Außen zu tragen,
um dann in der Auseinandersetzung mit dem Gegenüber eine für sie akzeptable
Lösung zu finden.
29
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Wichtig in diesem Zusammenhang ist ein produktiver Umgang mit Wut und Aggression.
Wut und Aggression zählen genauso wie Hoffnung, Freude etc. zum Gefühlsrepertoire
eines jeden Menschen. Wut und Aggression haben in unserer Gesellschaft einen
negativen Stellenwert und werden schnell mit Destruktivität und Unkontrolliertheit in
Verbindung gesetzt. Einen positiven Umgang gibt es weder gesellschaftlich noch
individuell, was Mädchen in einem besonderen Maße trifft, da ihnen der Ausdruck
dieser Gefühle gemäß einer immer noch greifenden geschlechtsspezifischen
Sozialisation kaum zugestanden werden. Mädchen, die solche Gefühlsausbrüche zeigen,
gelten schnell als auffällig und werden entsprechend sanktioniert.
Die Folge hiervon ist, dass Mädchen ihre eigenen aggressiven Gefühle unterdrücken
und wenig kompetent mit ihren Gefühlsfacetten in diesem Bereich umgehen können.
Sie haben Defizite im Umgang mit der eigenen Wut und Aggression und Defizite im
Umgang mit der Wut und Aggression anderer.
(Viele Mädchen/junge Frauen, die sich selbst verletzen, geben an, dass sie keinerlei
Wut- oder Ärgergefühle kennen. Sie scheinen für die Betroffenen so bedrohlich zu sein,
dass sie nicht gespürt werden oder gar auf direktem Weg geäußert werden dürfen.
Erklären kann man sich dies damit, dass diese Mädchen in ihrer Kindheit diese Gefühle
als existentiell bedrohlich erlebe haben, weil sie häufig mit direkter und indirekter
Gewalt verbunden waren.)
Aggressive Mädchen beschreiben die Situation häufig genau gegenteilig; sie spüren die
Wut ständig, sind permanent unter Druck („Dampfkessel“), ohne für sie hinreichende
Situationszusammenhänge herstellen zu können.
Mädchen brauchen Räume, in denen sie ihre Wut unzensiert zum Ausdruck bringen
können, in denen eine produktive Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen stattfinden
kann und in denen ihre Kompetenz im Umgang mit der eigenen Wut und Aggression
gefördert wird.
Zudem ist es wichtig, Mädchen ein Forum zu bieten, um sich über Gewalterlebnisse in
einer für sie befriedigenden und ausreichenden Form auszutauschen. Insbesondere bei
jüngeren Mädchen erleben wir, dass das Bedürfnis, über Gewalterfahrungen und den
damit verbundenen Gefühlen von Wut, Beschämung, Empörung und Ohnmacht zu
berichten enorm groß ist. Hierbei geht es nicht nur um den Austausch, genauso wichtig
sind Rückmeldungen, Erfahrungen und Lösungsvorschlägen von anderen Mädchen und
Erwachsenen.
2.
Gesellschaftliche und soziokulturelle Faktoren
Psychische Erkrankungen von jungen Frauen treten in Wellen auf und sagen etwas über
den Stand der Gesellschaft aus (Sachsse 2001). Mädchen und junge Frauen neigen
dazu, gesellschaftliche Widersprüche am und mit dem eigenen Körper auszutragen.
(Ende der 70er Jahre Magersucht/ Ende der 80er Jahre Bulimie/ Ende der 90er Jahre
SVV).
Die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse schreiten unaufhaltsam voran. Gefordert
sind dafür Leistung, Disziplin, Mobilität, eine dynamische Persönlichkeit, veränderte
Lebenslaufmuster und eine straffe Jugendlichkeit. Der mit dieser Entwicklung einher
gehende Verlust traditioneller Werte und Ordnungsschemata eröffnet besonders für
30
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Frauen aber auch neue Frei- und Gestaltungsräume. Das bedeutet zugleich, dass es
keine allgemeingültigen biographischen Leitlinien mehr gibt. Die Individualisierung
schafft zwar neue Optionen und Chancen, trägt aber sozusagen auf der Rückseite auch
die individuelle Verantwortung für Gelingen oder Scheitern. Wir haben es also auch mit
individualisierten Risiken im Modernisierungsprozess zu tun.
Mädchen haben aufgeholt – das meint, dass die Mädchen die Jungen im Bildungsbereich „überholt“haben. Mit dieser Entwicklung einhergegangen ist eine Angleichung
des jugendspezifischen Risikoverhaltens. Z.B. rauchen mehr Mädchen als Jungen
Zigaretten (Hurrelmann 2003), Mädchen trinken immer früher und auch mehr Alkohol
und nach der neusten Gesundheitsstudie der Stadt Stuttgart trinken bei den über 16jährigen mehr Mädchen als Jungen regelmäßig Alkohol (JUGS 2006). Eine These hierzu
ist, dass Mädchen auf den zunehmenden gesellschaftlichen Leistungs- und
Erwartungsdruck ähnlich reagieren wie Jungen, nämlich mit verstärktem Risikoverhalten
(Klein, Referat im JHA 9.10.2006). Auch für den Bereich Aggression wäre dies eine
mögliche Erklärung.
Weitere belastende gesellschaftliche Faktoren:
- Auflösung sozialer und kultureller Strukturen (Herausfallen aus einem sozialen Netz/
frühzeitiges Zerbrechen von Familienbindungen)
- Zunahme der Gewalt innerhalb der Gesellschaft führt auch zur Zunahme von
Autoaggressionen
- Identitätskrisen Erwachsener („Entwurzelungssyndrom“/ Werte- und Gewissenskrise/
Sinnsuche) wirken sich negativ auf Identitätskrisen Jugendlicher aus. Vorbildfunktion
Erwachsener fällt ein Stück weit weg.
- Für die Jugend mangelt es z.Z. an hoffnungsvollen Aufgaben. Sie sollen zum einen
Aufgaben erledigen, die die jetzige Generation nicht hingekriegt hat (mehr
Solidarität/ mehr Achtung für die Umwelt), andererseits wird ihnen nicht vermittelt,
gebraucht zu werden und nützlich sein zu können.
- in Deutschland gibt es bisher noch keine Untersuchungen darüber, ob sich junge
Frauen aus Migrationsfamilien häufiger selbst verletzen als deutsche junge Frauen.
Untersuchungen aus den USA und Großbritannien legen allerdings nahe, dass eine
stark
entwertende
Umgebung
(Rassismus/
Fremdenfeindlichkeit)
und
Selbstverletzungen miteinander verknüpft sind, d.h. dass Selbstverletzungen bei
jungen Frauen aus ethnischen Minderheiten weitaus häufiger sind als bei Frauen die
der dominierenden Kultur zugehörig sind. Man geht davon aus, dass die
Anstrengung gleichzeitig in zwei unterschiedlichen Kulturkreisen zu leben, zur
Belastung dieser Mädchen beiträgt.
31
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Literaturverzeichnis:
Ackermann, Stefanie: Selbstverletzung als Bewältigungshandeln junger Frauen. Frankfurt am
Main 2002.
Eckhardt, Annegret: Im Krieg mit dem Körper. Autoaggression als Krankheit. Reinbek bei
Hamburg 1994.
Hirsch, Mathias (Hg.): Der eigene Körper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven
Körperagierens. Berlin u.a. 1989.
Innenministerium Baden-Württemberg(Hrsg.): Polizeiliche Kriminalstatistik 2004
ISA (Hrsg.): Betrifft Mädchen 2/2001: Zornröschen – wenn Mädchen gewalttätig werden.
JUGS (Jugensgesundheitsstudie Stuttgart): 2006
Klein: Jugend und Alkohol, Vortrag im JHA der Stadt Stuttgart 10/2006
Oelhaf-Bollin, Doris: Der dekorierte Körper. In: BzgA (Hrsg.): Forum Sexualaufklärung und
Familienplanung, Jugendkulturen 2002, S.15-18.
Plaßmann, R.: Artifizielle Krankheiten und Münchhausen-Syndrome. In: Hirsch, Mathias (Hg.): Der
eigene Körper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens. Berlin u.a. 1989,
S. 118-154.
Sachsse, Ulrich: „Blut tut gut“. Genese, Psychodynamik und Psychotherapie offener
Selbstbeschädigung der Haut. In: Hirsch, Mathias (Hg.): Der eigene Körper als Objekt. Zur
Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens. Berlin u.a. 1989, S. 94-117.
Sachsse, Ulrich: Selbstverletzendes Verhalten – somatopsychosomatische Schnittstelle der
Borderline-Persönlichkeitsstörung. In: Kernberg, Otto/ Dulz, Birger/ Sachsse, Ulrich (Hg.):
Handbuch der Borderline-Störungen. Stuttgart u.a. 2000, S. 347-370.
Schwabe, Mathias: Eskalation und De-Eskalation in Einrichtungen der Jugendhilfe. Konstruktiver
Umgang mit Aggression und Gewalt in Arbeitsfeldern der Jugendhilfe. IGFH Eigenverlag, 1996.
Smith, Gerrilyn/ Cox, Dee/ Saradjian, Jacqui: Selbstverletzung – „Damit ich den inneren Schmerz
nicht spüre“.Ein Ratgeber für betroffene Frauen und ihre Angehörigen. Zürich 2000.
Wagenblass, Sabine: Mädchengewalt im Spiegel amtlicher Statistik, in: ISA (2001)
Wolz, Yvonne: Subjektive Gesundheitstheorien von Mädchen und jungen Frauen mit
selbstverletzendem Verhalten. Unveröffentl. Manuskript der Diplomarbeit 2004.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Zusammenfassung der Ergebnisse aus Zwischenfragen und Diskussion:
Protokollantin: Annette Gläsle, Internationale Kindergruppe Landhausstraße, Evangelische
Gesellschaft Stuttgart
Früher gab es keine Bulimie, Ritzen u.a.. Warum tritt dies heute auf? Gibt es dafür eine
Erklärung?
ð Es gibt keine eindeutige Erklärung. Eine Erklärung besagt, dass Mädchen dazu
neigen, gesellschaftliche Widersprüche an und mit ihrem Körper auszutragen. Früher
war mehr Kopfweh und In-Ohnmacht-Fallen typisch für Mädchen/junge Frauen.
Phänomene verändern sich immer wieder und können auch wieder abebben.
Gesellschaftliche Widersprüche sind stärker geworden.
Wie behandelt man das Münchhausen-Syndrom?
ð In erster Linie muss man an die Mutter kommen und mit ihr arbeiten. Am besten
dafür wäre die Psychiatrie, man kann aber auch eine ambulante Therapie versuchen.
Warum baut selbstverletzendes Verhalten (SSV) Druck ab? Eigentlich müsste durch den
Schmerz mehr Stress entstehen?
ð Betroffene Mädchen schildern, dass sie in dem Moment keinen Schmerz spüren. Sie
erzählen, dass sie einen inneren Druck oder Spannungszustand anders nicht
abbauen können. Es werden Botenstoffe vom Körper ausgeschüttet, die erst einmal
den Schmerz lindern, was eine angenehme Wirkung hat. Das Schmerzempfinden
wird heruntergesetzt und es entsteht ein angenehmes Gefühl. Der Schmerz kommt
erst nach ca. 2 Stunden. In dem Moment, wo sie sich die Schmerzen zufügen, steht
der Spannungsabbau im Vordergrund.
Gibt es auch Formen des SSV, wo der Schmerz wichtig ist?
ð Ja, dann geht es oft um ein „Sich-Integrieren“ und darum, sich selber wieder zu
spüren.
Kann es sein, dass Mädchen SSV benutzen um anzugeben?
ð Es gibt auch Mädchen, die SSV zum Angeben benutzen. Es handelt sich dann um die
„leichte“ Form (wie im Vortrag beschrieben), ein Ritual, um altersspezifisches
Risikoverhalten.
Gibt es Formen, Druck anders abzubauen?
ð Genau das ist das Therapieziel, dass die Mädchen das lernen. Es ist sehr schwierig.
Gibt es Erkenntnisse darüber, wem Gegenüber sich Mädchen mit SSV offenbaren?
ð Es gibt keine eindeutigen Erkenntnisse aber eine Tendenz: Mütter wissen häufig
mehr Bescheid als Väter. Mädchen legen es oft darauf an, „entdeckt“zu werden. In
vielen Fällen sind es Mädchen, die sich sehr schämen und die zuhause niemandem
zur Last fallen wollen, z.B. wenn eine schwere Erkrankung eines Familienmitgliedes
vorliegt. Warum sie zu einer bestimmten Person gehen, hat immer eine bestimmte
Funktion.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Was ist zu tun, wenn einem in der Schule auffällt, dass ein Mädchen SSV zeigt?
ð Der erste Weg wäre, zu einem Vertrauenslehrer zu gehen. Dort ist es wichtig, ein
strukturiertes Angebot zu machen, das heißt etwas zu versprechen, was man als
Helfender auch einhalten kann. (Beispiel: nicht sagen, dass das Mädchen jederzeit
kommen kann, wenn sich das nicht einhalten lässt, sondern klarstellen, dass man 2-3
Gespräche führen kann und dabei nach einer geeigneten Hilfe für das Mädchen
schaut.)
ð Wichtig ist auch immer, die Informationspflicht zu prüfen, ob die Eltern – auch gegen
den Willen des Mädchens, aber mit ihrem Wissen – zu informieren sind.
ð „Schule“ist ein schwieriger Bereich, was die Reaktion/Umgangsmöglichkeiten mit
SSV angeht.
ð Ein Vorschlag aus dem Plenum ist, dass es gute Erfahrungen mit „Schüler-helfenSchüler-Gruppen“ gibt, wo andere Schüler „Druck“ auf Betroffene ausübten, Hilfe
anzunehmen.
Es gibt sehr viele Mädchen, die im Kindesalter Nägel kauen. Sind diese alle gefährdet,
sich später SSV zuzufügen?
ð Nein: es geht bei Mädchen, die sich selbstverletzendes Verhalten zufügen darum, sie
zu fragen, ob sie das schon kennen, dass sie schon einmal Spannungen über gegen
den Körper gerichtete Handlungen abgebaut haben. Meistens fällt ihnen dazu etwas
ein. Es gibt keinen Umkehrschluss, dass alle Nägelkauenden Kinder/Mädchen später
zu SSV neigen. Oft verwächst sich das Nägelkauen in der Pubertät.
Zum Thema „Mobbing“:
ð Mädchen, die mobben, haben in der Regel ein schlechtes Selbstwertgefühl und ein
hohes Selbstbewusstsein. Das Mobbing dient dazu, die eigene Position zu stärken,
indem sie andere ausgrenzen. Der Anteil unter Mädchen ist höher als unter Jungen.
ð Oft trauen sich Eltern betroffener Mädchen nicht, den Schulen die Vorkommnisse zu
melden, weil sie Angst habe, dass sie ihr Kind damit zum Opfer machen. Meistens ist
dann die Konsequenz, dass das Mädchen, das gemobbt wird, die Schule wechselt.
Die Betroffenen ziehen eine Beratung außerhalb der Schule vor.
ð Es gibt Schulen mit guten Konzepten, mit denen sie gute Erfahrungen gemacht
haben, im Umgang mit Mobbing. Z.B. gibt es Schulen, wo sofort alle Eltern
zusammen eingeladen werden und gemeinsam geschaut wird, wie man die
Situation ändern kann. Entgegen einem Telefongespräch hat dies einen
verpflichtenden Charakter. Ansonsten gibt es Handlungsmöglichkeiten im Bereich
Strafen, Projektarbeit, Präventionsarbeit, Klassenrat. Die härteste Konsequenz ist der
Schulverweis, wobei hier immer ein langer Prozess anderer Handlungen vorausgeht.
ð Wichtig ist auch, dass Schule und Eltern sich auf einer Ebene begegnen.
Zu dem Punkt „Familie und Erziehungsstile“: Wie geht man mit einer angstvollen Mutter
um, die sich nicht traut, ihrem Kind Grenzen zu setzen?
ð Die Eltern brauchen viel Unterstützung. Es braucht viel Motivations- und
Ängstigungsarbeit innerhalb einer Beratung.
ð Ängstigungsarbeit heißt, dass mit den Eltern eine Regel ausgehandelt wird und
mitsamt möglicher Konsequenzen bei Nicht-Einhalten in Anwesenheit der Tochter
34
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
festgelegt wird. Es kann etwas ganz kleines sein, was die Eltern sich zutrauen. Die
Gefahr ist, dass sie sofort alles neu machen wollen oder einen Bereich (z. B.
Alkoholkonsum) wählen, der sich kaum überprüfen lässt. Hier heißt es, die Eltern
wertschätzend zurück zu holen und ihnen zu vermitteln, dass es nicht förderlich
wäre, wenn sie jetzt nur noch strafen.
ð Bei Überforderung der Eltern, wenn sich in der Therapie beim Mädchen etwas
verändert aber zuhause nicht, dann ist vor allem bei jüngeren Mädchen gut, die
Familie an das Jugendamt zu vermitteln. Dort ist auch die Hilfe über einen längeren
Zeitraum möglich als in manchen Beratungsstellen (Bedarf abklären). Die
Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen ist sehr wichtig.
Zu den gesellschaftlichen und soziokulturellen Faktoren: was haben sie für
Auswirkungen auf Mädchen?
ð Mädchen neigen heute mehr zu Risikoverhalten, das durch steigenden Leistungsund Erwartungsdruck größer wird. Sie sind risikobereiter, was ihren Körper angeht
(z.B. Alkoholkonsum) und was Aggression angeht.
Was sollte man diesen Mädchen anbieten, was ist der wichtigste Punkt – wäre das, den
Mädchen Raum anzubieten, wo sie ihre Wut zeigen können?
ð Am aller wichtigsten ist es, an Entspannung zu arbeiten. Das bedeutet, betroffenen
Mädchen einen Ort anzubieten, an dem sie sich entspannen können, an dem sie
sein können, z.B. ohne über etwas ganz Bestimmtes reden zu müssen. Dann ist es
wichtig, ihr Konfliktverhalten und ihr Selbstvertrauen zu stärken. Das sind die ersten
drei wichtigsten Ansatzpunkte. Es geht auch darum, soziale Beziehungen zu üben,
aber weniger um Raum für Wut und Aggression.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
AG 2:
„Wie du mir, so ich dir?“Traumatisierte Mädchen in der
Jugendpsychiatrie
Referent:
Henning Ide-Schwarz,
Kinder- und Jugendpsychiatrie des Olgahospitals Stuttgart
Die Präsentation von Henning Ide-Schwarz sehen Sie in einem eigenen PDF unter
Traumatisierte und gewaltbereite Mädchen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Zusammenfassung der Ergebnisse aus Zwischenfragen und Diskussion:
Protokollantin: Astrid Burkard, Projekt ROSA, Evangelische Gesellschaft e.V.
- Gewalt als Ausdruck neuer weiblicher Adoleszenz: Eine neue feministische Form?. Sich
prügeln und dann vielleicht auch noch siegen kann durchaus eine positive Erfahrung
fürs Selbstbewusstsein sein. Sie stellt aber auch eine Annäherung an die männliche Form
dar, ein Sich-Durchsetzen in der bestehenden Gesellschaftsform.
- Für Jugendliche ist Gewalt oft eine Normalität; sie lernen im Elternhaus keine anderen
Konfliktlösungsstrategien kennen. Gewalt ist aber kein taugliches Mittel, um sich in die
Gesellschaft zu integrieren.
- Gewalt findet oft im Gruppenkontext statt und kann dabei auch Ritual sein.
- Es gibt oft keine klaren Grenzen zwischen Täterin-Sein und Opfer-Sein; die Mädchen
machen oft beide Erfahrungen und wechseln hin und her. Dabei spielt die Entgrenzungserfahrung durch Traumatisierungen eine Rolle.
- Welche Möglichkeiten frühzeitiger Intervention gibt es, z.B. in der Schule?
Wer intervenieren will, sieht sich mit zahlreichen Problemen, auch struktureller Art
konfrontiert: lange Wartezeiten bei den psychiatrischen Kliniken, wenig Notplätze,
Verweigerungshaltung der Eltern, arbeitsteilige Systeme, die von einem Spezialisten zum
anderen verweisen, um sich einer Problematik nicht annehmen zu müssen etc. Dazu
sind Kindergarten und Schule darauf ausgerichtet „Störfälle“auszusortieren. Dies kann zu
frühen Traumatisierungen und Beziehungsabbrüchen bei den Jugendlichen führen.
Dies ist eigentlich eine politische Diskussion, die entsprechend auf dieser Ebene geführt
werden müsste. Wichtig ist es aber, eigene Handlungsmöglichkeiten zu nutzen und
zumindest zu versuchen, damit handlungsfähig zu bleiben.
Möglichkeiten sind:
- Seminare für Schüler zum Themenbereich „Umgang mit der eigenen
Aggressivität“
- Zuständige Institutionen einschalten (Jugendamt, Mobile Jugendarbeit etc.)
- Kooperationen sind wichtig
Wichtig ist es, dabei zu beachten, dass ich den Schülern bzw. Klienten nur Angebote
mache, wenn ich sie erfüllen kann. Es ist besser und ich nehme mein Gegenüber auch
ernster, wenn ich sie/ihn mit einer Ablehnung frustriere als wenn ich falsche
Hoffnungen wecke, die ich dann nicht erfüllen kann.
- Selbstverletzendes Verhalten ist bei Mädchen und jungen Frauen sehr stark verbreitet
(kann auch eine Modeerscheinung sein) und nimmt eher zu. Aggressivität nach außen
verhindert oder vermindert somit nicht die Autoaggressivität. Eine Erklärung wäre, dass
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Körperlichkeiten in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert haben im Sinne von den
eigenen Körper nach eigenen Vorstellungen zu formen (wie z.B. Piercings, Tattoos,
SchönheitsOPs etc.)
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
AG 3:
„Wird die Jugendsachbearbeitung zur Mädchensachbearbeitung?“
Beobachtungen der Entwicklung von Straffälligkeit bei Mädchen
aus sicht der Polizei
Referentin:
Katja Irmler, Kriminalkommissarin,
Dezernat 1.4, Polizeipräsidium Stuttgart
Protokollantin: Regina Stark, HzE Mitte-Nord, Evangelische Gesellschaft e.V.
Zunächst stellte Frau Irmler das Dezernat 1.4 vor und referierte über einige allgemeine
Daten und Erkenntnisse aus ihrem Fachbereich.
Es wurden 3 Arbeitsgruppen zu folgenden Themen gebildet:
1. Gründe für dissoziatives Verhalten
2. Was können Eltern tun?
3. Was können Hilfseinrichtungen tun?
Anschließend wurden die Arbeitsergebnisse der Kleingruppen wurden vorgestellt.
Frau Irmler ergänzte diese durch fachliche Erkenntnisse und Erfahrungen aus ihrem
Arbeitsbereich. Schließlich wurden die Ergebnisse gemeinsam diskutiert
1. Vorstellung des Dezernats 1.4 (Jugenddezernat)
Polizeipräsidium Stuttgart hat ca. 2500 Polizeibeamte, davon 500 Kriminalbeamte.
Das Dezernat 1.4 hat ca. 30 Kriminalbeamte.
Dezernat 1.41 (zuständig für ganz Stuttgart)
• Subkulturen wie Skins, Punks; Hooligans und Rocker in allen Altersklassen (jedoch
nur Gewaltdelikte), Jugendgruppen ab drei Personen unter 21 Jahren (nur
Gewaltdelikte); Jugendliche Intensivtäter (Jugit).
• Kriterien, um Jugit zu werden:
Unter 14 Jahren: mehr als 10 Delikte oder 3 Gewaltdelikte
Über 14 Jahren: mehr als 20 Delikte oder 5 Gewaltdelikte
• Programm läuft seit November 1999. Es gibt zweimal im Jahr ein Treffen mit der
jugendlichen Person und den Eltern, der Staatsanwaltschaft, der Polizei, Jugendgerichtshilfe, Betreuer, Ausländeramt... Gemeinsam mit dem Jugendlichen wird
überlegt, was gemacht werden kann, damit er nicht mehr straffällig wird (Betreutes
Wohnen, Betreuer, Schule usw...)
• Im Gesamtverlauf waren 16 Mädels, davon sind 10 bereits entlassen.
• Aktuell sind 6 Mädels über 14 Jahren im Programm (3 wegen Gewaltdelikten, 3
wegen Menge an Straftaten)
• Kriterien, um aus dem Programm entlassen zu werden:
21. Lebensjahr vollendet oder mehr als 18 Monate ohne strafrechtlich relevante
Auffälligkeit.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Dezernat 1.42 (zuständig für ganz Stuttgart)
• Vermisstenfälle in allen Altersklassen
• Gefährdungen/Suizidversuche unter 18 Jahren
• Häusliche Gewalt (wenn Kinder), unter 18 Jahren
• Verletzung der Fürsorge- und Aufsichtspflicht (unter 16 Jahren)
• Straftaten gegen Kinder unter 18 Jahren (Misshandlungen, Kindsentziehung unter 18
Jahren)
• Seit November 2005 gibt es ein Programm für Spätaussiedler unter 21 Jahren
(Programm gibt es in ganz Baden-Württemberg und hierfür wurden 100
Jugendsachbearbeiter zusätzlich ausgebildet):
Programm ist auf 5 Jahre angelegt. Voraussetzung ist die Deutsche Staatsangehörigkeit
und Geburtsort in einem ehemaligen Ostblockstaat. In Stuttgart leben 35.000
Spätaussiedler. 370 sind registriert in Stuttgart bei der Polizei, davon werden 60 zentral
bei uns bearbeitet. 1/3 davon sind weiblich. Mädchen fallen hauptsächlich mit
Eigentumsdelikten auf. Es ist keine Zunahme zu verzeichnen, es ist eher rückläufig.
(Geburtsländer wie Kasachstan, Russland).
Dezernat 1.43 CamP (zuständig für Bad Cannstatt)
Der Begriff CamP (Haus des Jugendrechts) wurde genauer erklärt: (Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe, Amtsgericht) und die Zuständigkeit der Arbeitsbereiche folgendermaßen dargestellt:
•
•
•
Alle Straftaten/Gefährdungen von Tätern nach dem Wohnortprinzip unter 21 Jahren
Alle Straftaten/Gefährdungen von Tätern nach dem Tatortprinzip von 18 bis 21
Jahren (Jugendsachbearbeiter bearbeiten Fälle ansonsten i.d.R. nur bis einschließlich
17 Jahren)
Bsp.: ein 19jähriger aus Ludwigsburg klaut in Bad Cannstatt in einem Kaufhaus und
wird dann vom CamP bearbeitet.
Verhältnis männlich – weiblich: Jahr 2002, 2003, und 2004:75 % männlich – 25%
weiblich. Jahr 2005: 80% männlich – 20% weiblich.
Des weiteren werden alle Kriminalitätsdelikte wie Raub, Brandstiftung und Vergewaltigung bei Tätern unter 18 Jahren für ganz Stuttgart bearbeitet.
2. Allgemeines zum Thema
Jugenddelinquenz nimmt insgesamt leicht zu.
Aggressivität und Gewaltbereitschaft nehmen bei Mädchen leicht zu. Allerdings
spielen sie gegenüber Jungen immer noch eine untergeordnete Rolle.
- Mädchen begehen ca. ¼ aller Straftaten von jungen Menschen unter 21 Jahren, ¾
werden von Jungen begangen. Das hält sich über die Jahre hinweg so, mit leicht
steigender Tendenz
Bei Gewaltdelikten ist in den letzten Jahren eine leichte Zunahme zu verzeichnen, auch
bei Mädchen.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
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Verlässliche Daten gibt es bisher kaum, weder bei Polizei oder Justiz, die mit
Problemkids zu tun haben.
Delikte liegen im Bereich der einfachen Kriminalität wie Schwarzfahren und,
Ladendiebstahl. Das größte Gewaltpotential bei Mädchen liegt nicht in der
körperlichen Auseinandersetzung, sondern im Bereich der psychischen Gewalt wie
Mobbing (Missachten, Schikanen, Ausgrenzen, psychisches Fertigmachen und
Verbreiten von Gerüchten)
Diese Formen werden von Mädchen eingesetzt, um sich Respekt zu verschaffen,
Ängste zu überspielen und sich innerhalb von Gruppenstrukturen behaupten zu
können.
Die körperliche Gewalt wird als legitimes Mittel zur Konfliktlösung eingesetzt, wenn
Beleidigungen gegen die eigene Person oder Familie ausgesprochen werden, wenn
körperliche Angriffe abgewehrt werden müssen oder wenn die Darstellung der
eigenen Macht gegen Dritte notwendig ist.
Eine Langzeitstudie, welche in Wien durchgeführt wurde hat z. B. gezeigt, dass zu
Beginn des Schuljahres Mädchen weniger aggressiv waren als Jungen. Zum Ende
des Schuljahres waren hier fast keine Unterschiede mehr feststellbar.
Eine andere Studie zeigte, dass Gewalt bei Mädchen vor allem gegenüber anderen
Mädchen ausgeübt wird. Aus Angst vor körperlicher Unterlegenheit greifen
Mädchen Jungen von sich aus nur selten an. Weiter beziehen sich die
Konfliktanlässe häufig auf die Beziehungsebene (üble Nachrede....).
3. Statistiken/Zahlen
•
Von den unter 21-jährigen Tatverdächtigen sind derzeit ca. ¾ männlich und ¼
weiblich. Im Jahr 1993 war das Verhältnis 4/5 zu 1/5.
• In den Jahren 2001 bis 2005 ist bei den weiblichen Tatverdächtigen
- bei den Kindern eine Abnahme von 28%,
- bei den Jugendlichen eine Zunahme von 16%,
- bei den Heranwachsenden eine Zunahme von 20 % zu verzeichnen.
Weil Frauen weniger und leichtere Straftaten begehen als Männer, werden Frauen nur
relativ selten zu Gefängnisstrafen verurteilt. Bedeutsam ist auch, dass straffällig gewordene Frauen ein geringeres Rückfallrisiko und eine günstigere Sozialprognose als Männer
aufweisen. Medienberichte von spektakulären Einzelfällen prägen jedoch das generelle
Bild.
Tatsache ist:
• Der Anteil der weiblichen Jugendlichen an der Gesamtzahl der verurteilten Jugendlichen ist von 1994 bis 2000 von 11% auf 14% gestiegen.
• Eklatant sind die stetigen Zuwächse bei den Verurteiltenziffern der Jugendlichen. Im
Vergleich von 1994 bis 2000 haben die männlichen Jugendlichen ein Plus von 35%,
die weiblichen Jugendlichen ein Plus von 70%. Die Belastung hingegen der männlichen deutschen Jugendlichen ist 2000 trotzdem noch 5 ½ mal so hoch wie die der
Weiblichen.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Nach diesen Daten und Fakten wurde basierend auf mehreren aktuellen Fallbeispielen (u.a. Fall „Kaya“aus
Stuttgart) wurden verschiedene Verläufe im Bereich Gewalteskalation bei Mädchen aufgezeigt. Dabei
zeigte sich u.a., dass die teilweise dramatischen Entwicklungen der dargestellten Einzelfälle sehr oft mit
familiären oder persönlichen Konflikten einhergingen und dabei zunehmend auch Alkoholmissbrauch
eine Rolle spielt. Ein Fallbeispiel aus München zeigte demgegenüber, wie Gewaltkreisläufe unterbrochen
werden können. So profitierte die jugendliche „Intensivstraftäterin“von der engen Kooperation zwischen
Polizei und Jugendhilfe. Sie konnte über das von einer Sozialarbeiterin initiierte Rap – Projekt erreicht
werden und darüber ihre persönlichen Fähigkeiten erkennen bzw. Selbstbewusstsein entwickeln. Daran
schloss sich eine positive Gesamtentwicklung des Mädchens an, welche auch daran erkennbar ist, dass
sie seit einem Jahr nicht mehr straffällig geworden ist und regelmäßig das BVJ besucht.
Die Referentin erläuterte die Wichtigkeit einer gelingenden Jugendkriminalitätsprävention, und nannte als
ein Beispiel welches in Stuttgart bereits erfolgreich praktiziert wird das Projekt „Knast kommt krass“der LPD
Stuttgart II.
Anschließend wurden die drei Arbeitsgruppen eingeteilt.
4. Gründe für dissoziales Verhalten von Mädchen (Gruppe 1)
Die AG 1 entwickelte folgende Ergebnisse:
Angst, Mangelnde Wertevermittlung, mangelnde Grenzsetzung, fehlende Vorbilder, Modelllernen, gesellschaftliche Ausgrenzung, gesellschaftlicher Spiegel, schlechte soziale Rahmenbedingungen/ Wohnbedingungen (z.B. fehlende Küche), fehlende Auseinandersetzung mit Medien/Gewalt, eigene Gewalterfahrungen, Orientierungslosigkeit, mangelndes Urvertrauen, Kulturkonflikte, Rollenkonflikte, Reinszenierung,
eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit, fehlende Struktur, Beschaffungskriminalität, Gruppendruck (peer
groups), Sucht, Hilferuf, Stärke simulieren;
Die Referentin nannte diese Erkenntnisse:
Wichtigster Faktor ist eine nicht intakte Familie, wie z. B. Vernachlässigung durch die
Eltern, mangelnde Beachtung kindlicher Bedürfnisse im Scheidungsprozess,
mangelnde Fürsorge durch die Eltern
- Mädchen erfahren Gewalt am eigenen Leib, Familie ist vielfach durch Gewalterfahrung geprägt.
- Traumatisierung
- Auch sind Armut und soziale Benachteiligung ein Grund
- Migration mit entsprechenden Anpassungsproblemen
- Subkulturen- und Minderheitsgruppenangehörigkeit
- Deutliche Überlappung mit anderen Problemverhaltensweisen sind erkennbar
(Drogenkonsum/Alkoholkonsum)
- Eine früh beginnende Einbindung in gewaltorientierte Cliquen ist zu beobachten.
- Ergebnis aus einer Langzeitstudie, in welcher verschiedene Untersuchungen
durchgeführt wurden zeigte, dass:
o Dissoziale Mädchen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit als Minderjährige
Eltern zu werden und ihr Nachwuchs mit hoher Wahrscheinlichkeit ein höheres
Risiko, später selbst dissoziales Verhalten zu entwickeln.
o Größter Risikofaktor war laut der Studie das Fehlen eines Vaters in der Familie.
o Zweitwichtigster Risikofaktor war mütterliches Rauchen in der Schwangerschaft
Dritter Risikofaktor war die Stellung in der Geschwisterreihe. Erstgeborene Töchter
wiesen ein statistisch signifikant höheres Risiko auf als später geborene Töchter.
-
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
o In den Familien mit anwesendem Vater war mütterliches Rauchen während der
Schwangerschaft der größte Risikofaktor. Dieses Risiko stieg nochmals, wenn es
sich um eine ungewollte Schwangerschaft handelte.
o Das Alter der Mutter bei der Geburt eines Kindes erwies sich ebenfalls als
Risikofaktor für spätere Kriminalität. Das Risiko erhöhte sich jedoch nur, wenn
auch der leibliche Vater in der Familie fehlte.
o Die Studie belegt auch, dass Konflikte zwischen Mutter und Tochter in den
Familien stattfanden, in denen später weibliche Delinquenz stattfand. Dieses
Schema fand sich bei männlichen Delinquenten nicht.
o Nach den Ergebnissen dieser Studie wird davon ausgegangen, dass Gewalt bei
Mädchen restriktiver als bei Jungen gehandhabt wird und dass Mädchen ein
höheres Maß an elterlicher Kontrolle erfahren. Diese Verhaltensweisen reduzieren
die Gelegenheiten junger Mädchen an dissozialen Handlungen teilzunehmen.
o Mädchen in Jugendbanden sind oft gewalttätiger als Mädchen ohne
Bandenanschluss.
o Das Erleben einer Opferrolle und die Entwicklung einer posttraumatischen
Stressstörung haben bei Mädchen eine entscheidende Rolle gespielt bei der
Entwicklung delinquenter Verhaltensweisen.
o Wenn Mädchen versuchen aus ihrer Opferrolle herauszukommen, erfolgt das oft
nicht mit legalen Mitteln und sie kommen mit dem Gesetz in Konflikt.
o Weiterhin hat sich gezeigt, dass die Viktimisierung selbst Kriminalität fördert. Die
Mädchen sind gewalttätiger, skrupelloser und somit auch straffälliger.
o Eine behütete Tochter neigt weniger zu dissozialem Verhalten.
o Weiterer Risikofaktor ist eine frühe intime Beziehung zu älteren dissozialen
Männern.
5. Was können Eltern tun (Gruppe 2)
Die AG 2 entwickelte folgende Ergebnisse:
Unterstützung, Vorbild sein, Grenzen aufzeigen, mehr Gespräche, Interesse am eigenen
Kind, Erziehungsverantwortung übernehmen, Deutsche Sprache beherrschen;
Frau Irmler zeigte diese Möglichkeiten auf:
- Sicherung der Entwicklungsbedingungen des familiären Umfeldes
- Therapeutische Interventionen nach Traumatisierung
- Gespräch zu den Kindern suchen
- Situation gemeinsam analysieren
- Erziehungsberatungsstellen aufsuchen
- Nähe schaffen, kurz: Liebe schenken
- Den „Rücken“stärken, auch in schwierigen Lebenssituationen
- Nicht zu streng sein bei Wünschen, Kleidung, Make-up, Ausgehzeiten
- Frühzeitige Behandlung des ADHS
- Vorsorge bei Schulleistungsstörungen
- Beachtung einer sich entwickelnden Drogenabhängigkeit
44
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
6. Was können Hilfseinrichtungen tun (Gruppe 3)
Die AG 3 entwickelte folgende Ergebnisse:
Präventionsarbeit, Fachlichkeit und Professionalität, Elternarbeit, niedrigschwellige,
aufsuchende Bildungsangebote, nachhaltige Unterstützung der Mädchen ein
selbstbestimmtes Leben zu führen, sozialräumliche Vernetzung und Kooperation z.B. mit
anderen Institutionen, Auseinandersetzung mit den verschiedenen Lebenswelten der
Mädchen der Mädchen, Beziehungsangebote an die Mädchen, Arbeiten an der Grundlage wohlwollender Akzeptanz, Schutz und Sicherheit bieten z.B. als Einrichtung,
berufliche Perspektiven erarbeiten;
Frau Irmler ergänzte:
Die beste Prophylaxe könnte vermutlich durch eine intensive Betreuung der gefährdeten
Familien erreicht werden.
In der abschließenden Diskussion unter den Teilnehmer/-innen lag der Schwerpunkt
des gemeinsamen Fachgespräches insbesondere auf der Kooperation zwischen
Jugendhilfe und Polizei. Hilfreich wären z.B. regelmäßige Austauschrunden, oftmals
wären die Wege zwischen den Institutionen (z.B. Polizei – Jugendamt-Gericht) oder auch
Verwaltungswege zu lang.
Eine gute Kooperation bestehe z.B. zwischen dem Kinderhaus Hallschlag und dem Haus
des Jugendrechts.
Das Kindheitsrecht sollte gestärkt werden. Eine wichtige Rolle spielten in diesem
Zusammenhang die Verfahrenspfleger als Anwälte der Kinder, z.B. bei Sorgerechtsklärungen.
Familien sollten gerade in Zeiten hohen gesellschaftlichen Personal-/ und Finanzdrucks
stärker in das Zentrum gerückt werden, da diese oftmals überfordert sind und nicht
mehr ohne Unterstützung klarkommen.
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Einschätzung aus Sicht der Jugendgerichtshilfe
des Jugendamtes Stuttgart
Referentin:
Andrea Bruhn,
Jugendgerichtshilfe des Jugendamtes Stuttgart
Protokollantin: Annette Gläsle, Internationale Kindergruppe Landhausstraße, Evangelische
Gesellschaft Stuttgart
Die folgende Einschätzung beruht auf den Erfahrungen der insgesamt fünf
MitarbeiterInnen von TOA (Täter-Opfer-Ausgleich) in Stuttgart und vom Projekt „WeiBer“,
einer Weisungsberatung/Einzelfallarbeit für junge Frauen. Auch die folgenden
Schaubilder beziehen sich auf Stuttgart.
Zahlen der JGH
Der Anteil von Körperverletzungsdelikten an allen Delikten liegt seit 2001 zwischen
15%-20%. Während die Zahl der Jungen an den Körperverletzungsdelikten leicht
gestiegen ist, hat sich die Anzahl der gewalttätigen Mädchen etwa verdoppelt. 2004 ist
die Zahl der Jungen aufgrund zahlreicher Gruppendelikte dramatisch angestiegen.
450
400
350
300
250
Mädc
Jung
200
150
100
50
0
2001
2002
2003
2004
2005
46
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Zahlen des TOA
Die Zahl der Beschuldigten ist im Täter-Opfer-Ausgleich stetig angestiegen. Der Anteil
von Jungen und Mädchen ist dabei über die Jahre weitgehend konstant geblieben: 16-
400
350
300
250
200
150
100
50
0
2001 2002 2003 2004
Mädchen
2005
Jungen
20% Mädchen. Im Täter-Opfer-Ausgleich gibt es immer persönlich Geschädigte, die vor
allem Anzeige wegen Bedrohung, Beleidigung, oder Körperverletzung gestellt haben.
47
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Allgemeine Einschätzung
Es werden unterschieden:
- die einfache Körperverletzung und die
- schwere bzw. gefährliche Körperverletzung (darunter auch die GruppenKörperverletzung)
Die Schaubilder zeigen auf, dass mehr Jungen als Mädchen schwere Körperverletzung
begehen. Mädchen sind an Gruppenkörperverletzung weniger beteiligt, schauen eher
zu, wenn sich zwei Mädchen schlagen. Jungs beteiligen sich an Schlägereien als
Gruppe.
Wo kommen die Mädchen her?
•
Gewalttätige Mädchen sind meist deutsche Mädchen mit und ohne
Migrationshintergrund aus sozial benachteiligten Familien (beim Projekt „WeiBer“
hatten die betroffenen Mädchen keinen Migrationshintergrund, bei TOA gab es
Mädchen mit und ohne Migrationshintergrund).
• Meistens handelt es sich um Mädchen von der Hauptschule, manchmal von der
Realschule, nie vom Gymnasium
In welcher Lebensphase sind sie?
• Mädchen fallen mit Gewaltdelikten im Alter zwischen 14 und 16 auf, bei Jungen
steigt der Anteil bis 16 und bleibt dann konstant bis 19 und fällt dann wieder ab
(Zahlen aus NRW)
• Gewalttätige Mädchen befinden sich in einer Phase der Orientierungslosigkeit. Vor
allem im Einzelgespräch stellt sich heraus, dass die Mädchen sich alleine
orientierungslos fühlen. In der Gang finden sie Halt; sind sie aus der Gang draußen,
sind sie haltlos
Wie sind sie drauf?
• Gewalttätige Mädchen haben ein geringes Selbstwertgefühl, sie haben mehr um
ihren Platz in der Gesellschaft und ihre Chance im Leben zu kämpfen. Es geht darum,
andere „klein zu machen“,um sich selber Bestätigung zu holen
• Gewalt von Mädchen richtet sich (noch) meistens gegen Mädchen, zu denen ein
konkreter Bezug besteht: Fast nie ist es so, dass die Mädchen sich vorher nicht
kannten.
• Mädchen begehen Beziehungstaten, sind weniger an Gruppenschlägereien beteiligt.
Sie haben meistens einen „Grund“ für die Schlägereien, z.B. dass ein anderes
Mädchen schlecht über sie geredet hat. Jungen prügeln eher, ohne sich zu kennen
Im Folgenden werden vier Tendenzen dargestellt, die aufgefallen sind:
48
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Erfahrungsausschnitte (1)
Die betroffenen Mädchen üben neue Rollen. Sie wollen eine starke Rolle ausüben,
genauso prügeln können wie Jungs. Körperliche Auseinandersetzung dient als Beweis
und Bestätigung und stärkt das Ansehen in der Clique. Die Mädchen lernen, dass die
Gruppe Halt, Orientierung und Schutz gibt. Hier erhalten sie Respekt und Wertschätzung
durch die Cliquenmitglieder.
•„Die ist stark, die ist cool.“
•„Weich sein ist out.“
Hier liegt die Vermutung, dass es sich um ein gelerntes Verhalten handelt:
•
die betroffenen Mädchen lernen von den Jungen, dass der Stärkste hat das Sagen
hat. Sie gleichen sich dem männlichen Modell an
• Gewalttätiges Auftreten ist schick (coole Frauen und Mädchen in den Medien)
• Muster werden ausprobiert und können sich auch wieder verändern. Die Mädchen
sind nicht ein Leben lang gewalttätig, sondern erproben das Verhalten
Hieraus ergibt sich die These:
• die Mädchen spielen mit neuen Rollen und suchen Orientierung
Erfahrungsausschnitte (2)
Einen Teil dieser „starken“Mädchen erlebt man als Gangführerinnen.
•„Die hat Hilfe gebraucht und da sind wir hin.“
•„Das ist eine Bitch, die redet über uns schlechtes Zeug, die lügt.“
Gelerntes Verhalten:
• Der Starke setzt sich durch
• Gruppe macht stärker, gibt Schutz, Halt und Orientierung
• Über Gewalt erhalte ich Respekt und Anerkennung
•
Thesen:
Schichtspezifische Unterschiede:
• Unterschicht: Gangauftreten: körperliche Gewalt nach außen
• Oberschicht: psychische Gewalt (Ausgrenzung, Mobbing) und Gewalt nach Innen,
Autoaggression
Es handelt es sich in der Regel um geschlechtshomogene Mädchen-Gangs.
Erfahrungsausschnitte (3)
Mädchen begründen ihre Gewalt damit, dass
•das Mädchen „erzogen werden muss!“
•oder dass sie „bestraft werden muss!“
Oft haben sie die Erfahrung selber gemacht, dass Erziehung und Bestrafung mit Gewalt
geschieht. Gewalt erleben sie im Umfeld (Familie, Schule, Clique). Wenn es um Erziehung
und Bestrafung geht, greifen Mädchen auch Jungen an.
Hierzu besteht die These:
• Mädchen üben in der Peer-Group ihr Verhalten als Mütter
Erfahrungsausschnitte (4)
Täter-Opfer-Ausgleich mit Mädchen ist schwieriger als mit Jungen:
ð Mädchen, die ihre Rolle schlechter gefunden haben, können weniger zugeben, dass
sie
einen
Fehler
gemacht
haben.
Dann
kommen
Sätze
wie
• „Mit der red ich nie wieder.“ (die Mädchen zögern länger)
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
•„Bei der entschuldige ich mich nie, die hat das verdient.“(sie sind uneinsichtiger)
•„Das verzeih ich ihr nie.“(sie sind nachtragender)
ð Gewalt unter Mädchen passiert erst, wenn die Konflikteskalationsstufe schon sehr
hoch ist. Es muss erst eine Grenze überschritten werden, die höher liegt als bei
Jungen. Der Konflikt, der schon weit eskaliert ist, ist auch schwieriger zu schlichten.
Wir
erleben
dann
zwei
Wege
bzw.
zwei
Extreme
bei
TOA:
•
Begrenzte
Vernichtungsschläge
(Glasl)
und
kein
TOA
•
oder
im
Täter-Opfer-Ausgleich
Versöhnung
mit
Küsschen.
Dazwischen scheint kaum etwas möglich zu sein.
Zu diesem Abschnitt gibt es folgende Thesen:
Gewalt unter Mädchen ist eher Beziehungsgewalt. Sie geben sich intensiv mit Haut und
Haar in eine Beziehung hinein, Ablösung ist schmerzhaft – Rachegedanken aufgrund
erlebter Ablehnung wird körperlich und mit Hetze (Mobbing)ausgetragen.
Fazit
Zu den zwei Thesen aus dem Fachtag:
•Aggression als Ausdruck neuer weiblicher Adoleszenz oder
•Aggression als Ausdruck psychischer Not
... man kann dies pauschal nicht sagen; keine der Definitionen gilt generell:
• Nach wie vor sind die Mädchen, die ihre Aggressionen mit Gewalttaten ausleben, in
der Minderheit mit leichtem Aufwärtstrend (geringer Anteil).
• Es ist gut, dass sie ihre Aggressionen nach außen richten und sich nicht physisch und
psychisch Schaden zufügen. Dadurch sind sie sicht- und behandelbar.
• Diese Mädchen brauchen Anleitung für die Nutzung ihrer Kraft für ihre
Weiterentwicklung. Dafür brauchen sie Begleitung und Halt, wie die anderen auch,
um zu sich und ihrer Rolle zu finden. Diese Mädchen brauchen Vorbilder, wie die
anderen auch, die ihnen Orientierung geben, wie moderne Frauen sich in einer
komplexen Gesellschaft selbstbewusst behaupten.
Die praktische Umsetzung, also der Umgang in unserer Arbeit mit diesen Mädchen
erfolgt bei uns
a) mit dem Projekt „WeiBer“ => Einzelarbeit (die Mädchen kommen zu der
Einzelbetreuung entweder freiwillig oder auf Weisung eines Richters)
b) durch Täter-Opfer-Ausgleich => Erweiterung des Kreises: die Mädchen drehen sich oft
in einem Argumentationskreis, den es zu unterbrechen gilt; Ziel ist es, die Energie in eine
positive Richtung zu lenken, sodass Aggressionen nicht mehr an anderen ausgelassen
werden. Es kann auch jemand anderes aus dem Umfeld in die Hilfe mit hinein
genommen werden, Eltern, ältere Geschwister, jemand aus der Schule, Nachbarn, u.a.,
die eine andere Meinung vermitteln.
50
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Schlusswort:
Sonja Hauser, Geschäftsführerin der AG Mädchenarbeit der Evangelischen Gesellschaft
Am Ende des Fachtags steht die Frage:
Sind Aggressionen von Mädchen Ausdruck neuer weiblicher Adoleszenz oder
psychischer Not?
Die Antwort ist nicht einfach, sondern komplex. Dennoch haben wir heute einiges zum
Thema erarbeiten können:
Aggressionen sind ein Ausdruck neuer weiblicher Adoleszenz:
Frau Wallner beschrieb in ihrem Eingangsvortrag eindrücklich, aus welchen
unterschiedlichen Rollenbildern und Lebensentwürfen Mädchen in ihrer Sozialisation
heute scheinbar wählen können und dabei gleichzeitig strukturellen Zwängen
unterliegen.
Nie war die Kluft zwischen Perspektivlosigkeit und Möglichkeit größer! Scheitern wird
dadurch leicht zum individuellen Versagen, Selbstzweifel und niedriger Selbstwert folgen.
Selbstwert und Selbstbewusstsein sind zentral für den Umgang mit Aggressionen von
Mädchen: wenn ihr Selbst labil ist, können Eigen- und Fremdaggression ein
Mechanismus werden, um sich selbst zu spüren und ihre eigene Macht über andere
oder den eigenen Körper zu zeigen.
Aggressionen können demnach auch Anzeichen psychischer Not sein unter der
Mädchen leiden. In AG 2 sind einige „psychische Krankheitsbilder“thematisiert worden,
in denen Aggressivität geäußert wird. In AG 1 stellte Frau Preiß dar, wie wichtig klare
Regeln sind, um Grenzen zu erleben und sich an ihnen auszutesten.
Als Mädchen gewalttätig zu sein bedeutet auch, sich in der Gesellschaft als cooles und
mächtiges Mädchen zu zeigen, sich eben nichts gefallen zu lassen und sich an
männliche Durchsetzungsstrategien, die „Erfolg“haben, anzugleichen.
Die Frage nach einer Zunahme ist mit ja zu beantworten:
Auch wenn es unterschiedliche Daten und Erhebungsgrundlagen gibt, so sind sich doch
alle einig: die Gewalt gegen sich selbst oder gegen Fremde hat zugenommen.
Gewalt nach außen - und darin sind sich auch alle Erhebungen einig, nimmt jedoch
leicht zu und wird immer noch deutlich häufiger von Jungen angewendet.
Generelle und quantitative Aussagen helfen jedoch wenig bei der Suche nach
Lösungsansätzen:
Frau Eipperle und Frau Fritz zeigten, wie wichtig die individuelle Arbeit mit den Mädchen
ist, um ihnen ein selbstbestimmtes - nicht selbstschädigendes - Leben zu ermöglichen.
Halt und Orientierung durch das setzen von Regeln und Struktur sowie intensive
Gespräche und das ausprobieren und erlernen von neuen Verhaltensweisen, um
51
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Aggressionen und Spannungen abzubauen, gehören zur intensiven pädagogischen
Arbeit.
Welche Strategien ein Mädchen zum Aggressionsabbau wählt, ist unterschiedlich,
wichtig ist die kontinuierliche Arbeit an sich selbst. Wichtig sind auch Räume in denen
Mädchen Wut und Aggressionen spüren dürfen, damit sie lernen damit umzugehen.
Frau Preiß stellte in diesem Zusammenhang vor, daß viele Mädchen zuerst eine
Entspannungsphase brauchen um zur Ruhe zu kommen, damit sie sich das Gefühl der
Aggression zu gestehen können.
Positive Entwicklungen und die harte Arbeit der Mädchen an sich selbst gilt es in der
pädagogischen Arbeit immer wieder zu loben und wertzuschätzen.
Und so nehme ich aus diesem Tag vier wichtige Erkenntnisse mit:
1. Der gesellschaftliche Druck für die Mädchen ist extrem hoch.
2. Wir müssen uns die ausgeübte Gewalt und die jeweiligen Beweggründe des
einzelnen Mädchens genau ansehen.
3. Die Mädchen benötigen Unterstützung durch eine tragfähige Beziehung zu einer
Bezugsperson, die sich mit ihnen auf die Suche nach alternativen
Verhaltensweisen begibt und sie bei der Einübung stärkt.
4. Wir benötigen in unseren Hilfen Strukturen, die den Mädchen Halt und
Orientierung vermitteln und diese Strukturen müssen so unterschiedlich sein, wie
die Mädchen selbst.
Ich bedanke mich bei den Referentinnen und dem Referenten für ihre Vorträge und
Informationen, bei Ihnen allen für Ihr kommen und Ihre engagierten Diskussionsbeiträge
und wünsche uns allen viele Anknüpfungspunkte der Ergebnisse dieses Fachtags in
unserer praktischen Arbeit.
52
Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Die AG Mädchenarbeit der Evangelischen Gesellschaft e.V.
Grundlage der AG Mädchenarbeit der eva ist das Sozialgesetzbuch, Achtes Buch SGB
VIII, § 9, Absatz 3. Dort heißt es: „Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung
der Aufgaben sind… die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu
fördern.“
Die AG Mädchenarbeit der eva ist ein trägerinternes Fachgremium. Eine der zentralen
Aufgaben der AG Mädchenarbeit der eva ist, sich fachlich über mädchenspezifische
Themen und Lebenslagen von Mädchen auszutauschen und dabei die Mädchenarbeit
innerhalb der Evangelischen Gesellschaft zu vernetzen und weiterzuentwickeln. Dazu
gehört z. B. bei der AG Mädchenpolitik Stuttgart mitzuarbeiten. Daneben wurde eine
eva-interne Arbeitshilfe erstellt.
Die AG Mädchenarbeit hat in den vergangenen Monaten immer wieder das Thema
psychisches Leiden sowie Eigen- und Fremdaggressionen von Mädchen diskutiert. Da es
zu diesem Thema viele offene Fragen gibt und die Mitglieder der AG einen hohen
Bedarf an Information zu diesem Thema feststellten, haben sie den hier dokumentierten
Fachtag organisiert.
Die AG besteht aus jeweils 2 Vertreterinnen der drei Abteilungen der Jugendhilfe der
eva, also insgesamt 6 Frauen.
Derzeit arbeiten in der AG Mädchenarbeit der eva:
Abteilung „Dienste für junge Menschen“
Sonja Hauser, derzeit Geschäftsführerin, Mobile Jugendarbeit Stuttgart Ost
Susanne Alex, Zentrale Beratungsstelle für junge Erwachsene
Abteilung „Dienste für Kinder, Jugendliche und Familien in der Region“
Ulrike Eipperle, Bereichsleitung, Überregionale Hilfen für Mädchen, Margaretenheim
Astrid Burkard, ROSA (Wohnprojekt für junge Frauen nichtdeutscher Herkunft)
Abteilung „Dienste für Kinder, Jugendliche und Familien in Stuttgart“
Annette Gläsle, Internationale Kindergruppe Landhausstraße
Regina Stark, Hilfe zur Erziehung Mitte-Nord
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Tagungsdokumentation des Fachtags Mädchen schlagen zu!
Danke
Die AG Mädchenarbeit der Evangelischen Gesellschaft e.V. dankt den Referentinnen und
dem Referenten für ihre engagierte Mitarbeit beim Fachtag am 18. Oktober 2006 und
die Unterstützung bei der Erstellung dieser Dokumentation durch das zur Verfügung
stellen der Vorträge und Inputreferate in schriftlicher Form.
Wir bedanken uns auch bei
Michaela Angerer, Referentin des Vorstands, für ihre Unterstützung und Mitarbeit bei der
Tagungsorganisation und für Tagungsmoderation, sowie
Gerlinde Kamer, Sekretärin im Margaretenheim, für die Abwicklung der Anmeldungen
und die Fertigstellung der Tagungsdokumentation.
54

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