Schiller Friedrich - Kabale und Liebe

Transcription

Schiller Friedrich - Kabale und Liebe
Friedrich Schiller
Kabale und Liebe
Ich begrüsse Sie herzlich zum heutigen Abend, ich begrüsse Sie ebenso zur Eröffnung der Theatersaison 2002/2003. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass
es in unserer Stadt ein Theater gibt, das alle Jahre mit einem Spielplan dieses
hohen Niveaus aufwartet. Langenthal kann sich glücklich schätzen, dass es dieses schöne Haus gibt, dass es Leute gibt, die sich alle Jahre engagieren, diesen
Spielplan zusammenzustellen und dass es Behörden gibt, die alle Jahre auch bereit sind, namhafte Beträge dieser Unternehmung zu widmen. Und unsere Schule
– das Gymnasium Oberaargau – rechnet es sich zur Ehre an, diese Saison in
meiner Person eröffnen zu dürfen. Dass es mit einem Stück geschieht, das seit
jeher zum Kanon der Schullektüre gehört, freut mich als Deutschlehrer besonders.
Es ist eine ganz wichtige Unternehmung unser Theater, Theater ist überhaupt
wichtig, und es wird Theater gespielt, seit es Menschen gibt.
Warum eigentlich? Vielleicht ist es nicht überflüssig, zu Beginn der Saison zwei
Worte zu dieser Frage zu verlieren.
Theater macht sichtbar, Theater macht das sichtbar, was für uns alle wichtig ist.
Es zeigt Grundlagen und Grundtatsachen des menschlichen Zusammenlebens auf
und macht sichtbar, wie wir Menschen uns in den existentiellen Grundsituationen
handelnd verhalten. Theater macht aber vor allem jene inneren Vorgänge und
Gefühle sichtbar, die uns dabei bewegen und bestimmen.
Das ist auch heute Abend so. Schillers „Kabale und Liebe“ ist eben eine Schullektüre, weil hier der soeben aufgestellte Grundsatz vorbildlich verwirklicht ist.
Schiller ist nicht von ungefähr der wohl bedeutendste Dramatiker der deutschen
Sprache. In seinen Stücken ist das Menschliche immer wieder unmittelbar sichtbar.
Ich möchte versuchen, Ihnen zuerst an einer ausführlichen kommentierten Inhaltsangabe zu zeigen versuchen, wieso „Kabale und Liebe“ eben ein Stück ist,
das uns alle angeht.
Zwei Welten begegnen uns in diesem Stück: Die Welt des Adels und die Welt des
Bürgertums. Auch das ist bereits wieder eine Grundkonstellation im Theater – es
gibt kein Theaterstück, in welchem sich nicht zwei Welten, zwei Parteien rivalisierend gegenüberstehen. Es liegen die beiden Welten im Widerspruch, und die
Handlung eines Theaterstücks ist immer die glückliche oder katastrophale Lösung
dieses Widerspruchs.
Graf Ferdinand von Walter, der Sohn des Ministerpräsidenten eines kleinen deutschen Fürstenhofes, liebt die Tochter des Hofmusikanten Miller, Luisa. Das, was
die Handlung in Bewegung bringt, ist also gleichsam die Reibung der Stände Adel
und Bürgertum aneinander. Und Handlung entsteht, weil diese Stände mit dem
menschlichsten aller Gefühle, der Liebe, die Kluft überwinden müssten. Kann Liebe die Standesschranken überwinden, kann sie es nicht, und welche Gefühle,
Meinungen und Grenzen bestimmen die liebenden Menschen? Was sie hier haben, ist eine Grundkonstellation des Theaters überhaupt: Denken Sie an „Romeo
und Julia“, an Goethes „Iphigenie“, an Verdis „Aida“ – immer sind es zwei Parteien im Konflikt und dieser Konflikt wird ausgelöst durch die Liebe zweier Menschen, die sich in ihrer Liebe um die Parteien nicht mehr kümmern wollen. Vor
allem auch die Oper gestaltet diesen Konflikt immer wieder. Nicht von ungefähr
Friedrich Schiller: Kabale und Liebe
hat Verdi Schillers „Kabale und Liebe“ zum Stoff seiner Oper „Luisa Miller“ gemacht.
Kehren wir zur Inhaltsangabe zurück: Ferdinand liebt Luisa. Der Vater, Miller,
kämpft gegen diese Liebe, da er in ihr nur „den Umweg des Fleisches“ sieht. Er
traut Ferdinand also nur sexuelle Motive zu. Er sieht andererseits aber auch den
grundsätzlichen Konflikt Adel - Bürgertum voraus. Seine Frau – sie hat nicht
einmal einen Namen – erscheint bloss als die dumme Kupplerin, die glaubt, ihre
Luisa könne durch Ferdinand ihr Glück machen.
Der Vater von Ferdinand hat andere Pläne mit seinem Sohn. Am Hofe lebt Lady
Milford, die Mätresse des Herzogs. Der Präsident sucht ersten seinen Einfluss
beim Herzog zu sichern und zweitens die Anwesenheit der Lady am Hofe zu legitimieren: Ferdinand soll die Lady Milford heiraten.
Der Präsident erfährt nun von seinem Sekretär – von Wurm - dass sein Sohn den
väterlichen Plänen nicht zur Verfügung steht. Er vernimmt, dass dieser die Bürgerin Luisa Miller liebe und auch zu heiraten gedenke. Um sofort etwas zu unternehmen, lässt er durch den dümmlichen Hofmarschall von Kalb überall die Hochzeit seines Sohnes mit der Lady Milford verkünden, um diesen vor vollendete
Tatsachen zu stellen. Den Sohn schickt er zur Lady.
Damit ist der Konflikt exponiert. Die Parteien sind in eine Handlung verwickelt, es
muss eine Lösung oder eine Katastrophe folgen.
Im zweiten Akt nun erscheint Lady Milford. Schiller fügt hier eine hochpolitische
Szene ein, er zeigt, wie die deutschen Landesfürsten ihre Staatskassen sanieren
und Reichtümer aufhäufen, indem sie die jungen Männer in fremde Kriegsdienste
verkaufen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns in diesem Stück einige wenige Jahre vor der Französischen Revolution befinden.
Es zeigt sich, dass die Lady Ferdinand liebt und ihn ihrerseits gerne heiraten
möchte. Ferdinand ist von dieser Frau tief beeindruckt, der Konflikt vertieft sich.
Unterdessen setzt der Präsident seinen Willen durch: Er erscheint im Hause Miller, um dort die Beziehung Ferdinand – Luisa auf seine Art zu beenden. Ferdinand aber, der dazu kommt, kann sich durchsetzen: wenn sein Vater ihm Luisa
nimmt, dann wird er der Öffentlichkeit erzählen, mit welchen schurkischen Mitteln sein Vater Präsident geworden ist. Der Vater sieht seine Pläne gefährdet.
Trotzdem lässt er den alten Miller und dessen Frau verhaften.
Der Präsident muss nun andere Mittel suchen, um zum Ziel zu gelangen: Der
ebenso schurkische Sekretär Wurm, der an Luise auch interessiert ist, macht ihm
nun den Vorschlag, Ferdinand durch Eifersucht zu zerstören. Er will Luise zwingen, einen Liebesbrief an den Hofmarschall von Kalb zu schreiben, Ferdinand
soll dieser Brief in die Hände gespielt werden. Luise schreibt diesen Brief, weil sie
dadurch ihren Vater und ihre Mutter vor dem Gericht zu retten glaubt. Wohl aber
auch, weil sie erkennt, dass es eine legitime Verbindung über die Stände hinweg
nicht gibt. Wurm will dann später die Ehre der Luisa wieder herstellen, indem er
sie selber heiratet.
Der Brief verfehlt seine Wirkung nicht. Ferdinand sieht sich von Luisa aufs
Schändlichste betrogen. Dass es von einer anderen Seite der Betrogene sein
könnte, darauf kommt er nicht.
2
Friedrich Schiller: Kabale und Liebe
Lady Milford verlangt unterdessen, Luisa Miller zu sehen. Luisa tritt ihr gegenüber ebenbürtig, mit allem Selbstbewusstsein einer liebenden Frau auf. Die Lady
Milford wird durch dieses Gespräch veranlasst, den Fürsten zu verlassen.
Im letzten Akt kommt es zur Katastrophe. Luisa will freiwillig aus dem Leben
scheiden, weil sie keinen Ausweg mehr sieht aus dem Dilemma ihrer Liebe, ihrer
Schuld an Ferdinand und ihrer Verpflichtung dem Vater gegenüber. Der Vater
verhindert den Selbstmord.
Ferdinand erscheint und macht seiner Luisa die wildesten Vorwürfe. Luisa hält
sich an ihren Schwur und klärt Ferdinand nicht auf.
Ferdinand vergiftet Luisa mit einer Limonade, nicht ohne vorher noch den alten
Miller zu bezahlen. Dann vergiftet er sich selbst. Im letzten Moment erscheint der
Präsident. Als er sieht, was er verschuldet hat, versucht er, alles auf seinen Sekretär Wurm abzuschieben. Der weist die Vorwürfe jedoch zurück, er will nun aller
Öffentlichkeit sagen, was der Präsident für ein Schurke ist.
Man kann Schillers „Kabale und Liebe“ nun einfach als ein politisches Stück analysieren. Der Grundkonflikt wäre dann der Konflikt zwischen Adel und Bürgertum.
Der Adel wird als verkommen, dekadent und intrigant sichtbar gemacht. Das
Bürgertum steht da, als unterdrückt und ausgenützt. Vieles spricht für eine solche, rein politische Interpretation des Stücks: Drei Jahre vor der grossen Revolution liegt diese Interpretation nahe. Adel und Bürgertum durchziehen als Konfliktparteien in ihrem Machtkampf in wechselnden Formen und Ansprüchen die
ganze Literatur. Schiller selbst fördert diese Interpretation mit den Szenen um
Lady Milford.
Aber diese Interpretation genügt nicht. „Kabale und Liebe“ ist nicht nur ein politisches Stück. Dies käme einer Reduktion auf die Formel „Adel böse – Bürgertum
gut“ gleich. Es gibt viele Romane und Stücke dieses Genres. Aber von Schiller
sind sie nicht.
Es geht hier um mehr. Welche Werte haben Menschen sich in ihrer Liebe, die
keine Schranken kennen will, gegen die Übermacht der Parteien und Stände zu
behaupten, wenn sie selber in den Bedingungen der Parteien gefangen sind?
Welche Werte gibt es, die die unmögliche Liebe über alle Schranken hinweg doch
lebbar macht? Oder was verhindert ein Gelingen dieser Liebe? Was sind die Bedingungen ihres Scheiterns? Wie weit und wie können Menschen in ihrer Liebe
die gesellschaftlichen Schranken überschreiten und autonom und frei werden?
Das tragische Scheitern der Liebe zwischen Ferdinand und Luisa liegt nicht in
erster Linie an den Intrigen Wurms und des Präsidenten. Die Tragik, die Ausweglosigkeit, liegt auch nicht einfach in der Unüberbrückbarkeit der Stände. Das sind
auslösende Momente, gewiss. Die Tragik liegt in Ferdinand und Luisa selber.
Ferdinand ist zu allem bereit in seiner Liebe. Er würde töten, er will fliehen, er
will alle Familienbande zerreissen, er fühlt sich in seiner Liebe zu allem berechtigt, am Schluss sogar zum Mord an seiner Geliebten. Sein Gott ist der Gott der
Liebenden – und wenn ein Gott der Liebenden in diesem Konflikt, in dem Liebe
mit Füssen getreten wird, nicht zu Gunsten der Liebenden eingreift, dann ist alles erlaubt, dann ist Ferdinand eben selber der Gott und handelt wie ein Gott.
„Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter!“
Er handelt in einer ungeheuren Verblendung, in grenzenlosem Egoismus. Seine
Liebe zu Luisa ist reine Ichbezogenheit. Er ist völlig unfähig, Luisa in ihrer Liebe
zu erkennen und zu ehren. Er bleibt unfähig, Luisa als liebenden Menschen zu
3
Friedrich Schiller: Kabale und Liebe
verstehen, als Menschen in ihrem Sein anzuerkennen. Ferdinand ist der Stürmer
und Dränger, der sich nun als nicht lebensfähig erweist.
In seinem absoluten Liebesanspruch wird er absolut unmenschlich. Er zerstört,
was er liebt. Sein Ich ist absolut, er wird zum Unmenschen, zum Mörder an seiner Geliebten. Wenn er verraten ist, soll es Luise auch sein, wenn er verloren ist,
dann sie auch. Das ist am Schluss die Quintessenz seiner Liebe.
Luise ist die grosse tragische Figur. Ihre Liebe und ihre Motive sind rein. Sie will
ihren Ferdinand lieber verlieren, als mit ihm zusammen sein, wenn nur Zerstörung dieses Zusammensein ermöglicht. Sie will auch nicht mit ihm flüchten, weil
der Fluch des Vaters diese Flucht begleiten würde.
Die Situation ist ohne Ausweg: Luise wird durch den Eid an Ferdinand schuldig,
den Eid hat sie geschworen, um den Vater zu schützen. Sie kann ihr Leben nicht
selber beenden, da der Vater sie davon abhält. Mit Ferdinand fliehen will sie
nicht, mit dem Vater fliehen kann sie nicht, da Ferdinand dazwischen tritt. Im
Leben schuldig am Geliebten, im Tode schuldig am Vater. Ihre Situation ist ausweglos tragisch – „Verbrecherin, wohin ich mich neige...“
Doch trotz dieser Reinheit und Grösse ist auch Luise nicht unschuldig an der Situation. Wenn Ferdinand sei Ego, seine Subjektivität absolut setzt, so setzt sie
ihre bürgerliche Moral absolut, die besagt, dass der unterdrückte Bürger dereinst
im Himmel für seine Unterdrückung und für seine Leiden belohnt wird. Glaubt
Ferdinand sich berechtigt, selber ein Gott zu sein, glaubt Luisa sich berechtigt,
das Leiden der Welt zu nehmen als Vorleistung für die Seligkeit. Oder mit anderen Worten: Wenn der Mensch auf Erden leidet, ist Gott verpflichtet, ihn im
Himmel zu belohnen dafür. Auch sie setzt eine subjektive Meinung absolut und
handelt danach. Auch sie will einen Gott für sich verpflichten. Wenn Ferdinand
sich durch seinen abwesenden Gott zu jeder Handlung berechtigt fühlt, glaubt
Luisa jedes leiden erdulden zu müssen, weil ihr Gott ihr dann das Himmelreich
schuldet. Damit handelt auch sie egoistisch.
Egoistisches Handeln führt nicht zu Ziel. Alle Dramenfiguren Schillers, die aus
Egoismus handeln, scheitern: Karl Moor, der Marquis Posa.
Egoistisches Handeln – auch mit den reinsten Absichten, wie bei Luisa – überbrückt die Gegensätze nie. Bei Schiller – in allen Dramen – ist es nur die absolute
Idee, niemals eine egoistische Ideologie, welche die Gegensätze überwinden
kann. Erst ein Don Carlos wird nach einer absoluten Idee der Menschenliebe und
–würde handeln, die nichts Egoistisches mehr hat. Eine Maria Stuart wird dies
tun.
Wilhelm Tell – in Schillers letztem Drama – wird autonom handeln. Keine egoistischen Motive bestimmen ihn mehr.
Das ist letztlich das Ziel aller Dramen Schillers: Dem Zuschauer sichtbar zu machen, wie er trotz aller Umstände, die gegen ihn sind, als autonomer Mensch in
Freiheit handeln soll, auch wenn dies seinen Untergang bedeutet.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
15. Oktober 2002
4