Psychische Gewalt am Kind

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Psychische Gewalt am Kind
Psychische Gewalt am Kind
Dokumentation der Enqueten
„Wehe, wehe, wenn
ich an das Ende sehe“, Nov. 1999
„Es irrt der Mensch,
solang’ er strebt“, Okt. 2000
BUNDESMINISTERIUM
F Ü R S O Z I A L E S I C H E R H E I T U N D G E N E R AT I O N E N
Impressum
Wir danken allen Referentinnen und Referenten für die Durchsicht der redigierten Texte ihrer Referate.
Redaktion: Barbara Urban, Medizinjournalistin, ORF, e-mail: [email protected]
Lithographie und Gestaltung: Druckerei BMSG
Lektorat: Media Verlagsservice
Druck: Druckerei BMSG
Medieninhaber und Herausgeber: Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen
1. Auflage
Erhältlich in der Abteilung VI/2
Tel.: 711 00-3244 oder e-mail: [email protected]
Werte Leserinnen und Leser!
Die Broschüre, die Sie in Händen halten, stellt das zusammengefasste Ergebnis
zweier Enqueten zum Thema „Psychische Gewalt an Kindern“ dar.
Während körperliche Gewalt in den letzten Jahren in Fachgremien, in den
Medien und der Öffentlichkeit verstärkt diskutiert wurde, war die leisere, unauffälligere und in ihrer Grausamkeit und ihren Folgen scheinbar harmlosere Form
der Gewalt an Kindern, nämlich die psychische Gewalt, einfach viel zu wenig
Thema.
Der Grund dafür mag nicht nur in den zumeist weniger augenfälligen Auswirkungen dieser Gewaltform liegen,
sondern auch darin, dass diese Form der Gewalt so schwer fassbar ist, so schwer einzugrenzen und zu definieren.
Vielschichtigkeit und Schwierigkeit des Themas „psychische Gewalt“ werden beim Studium der vorliegenden
Broschüre so richtig offenkundig. Während in der ersten Enquete der Schwerpunkt bei jenen Formen der psychischen Gewalt an Kindern lag, die in den Familien bzw. durch die Familien ausgeübt wird, befasste sich die
zweite Enquete mit den Auswirkungen psychischer Gewalt, die aus Institutionen kommt, wie zum Beispiel der
Schule oder Einrichtungen der Jugendwohlfahrt.
Diese Broschüre soll als Nachschlagwerk dienen, als Nachlese die Erinnerung auffrischen und die Vertiefung
mit dem Thema ermöglichen. Sie soll Gelegenheit bieten, sich mit diesem komplexen Thema auseinanderzusetzen.
An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass es sich bei den Beiträgen der vorliegenden Dokumentation
um keine wissenschaftliche Publikationen handelt. Deshalb wurde bewusst der Charakter des gesprochenen
Wortes auch in der vorliegenden schriftlichen Form beibehalten.
Die Beschäftigung mit diesem Thema kann keine rein akademische sein; das zeigten auch die Reaktionen unmittelbar während der Enqueten. Selbst Expertinnen und Experten mussten immer wieder mit tiefer Betroffenheit
erkennen, dass auch sie selbst nicht gegen die Ausübung der einen oder anderen Form psychischer Gewalt
gefeit sind. Die Erkenntnis, dass selbst das gut gemeinte „Handeln in bester Absicht“ mitunter psychische Gewalt
hervorrufen und somit das Gegenteil von „gut“ sein kann, ist erschreckend.
Daher ersuche ich Sie, dem Thema „psychische Gewalt“ nicht nur in Ihrem Arbeitsumfeld, sondern auch in Ihrem
privaten Leben vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken und Ihren höchstpersönlichen Beitrag dafür leisten zu
wollen, dass Gewalt – in welcher Form auch immer – zurückgedrängt wird und dadurch ein höherer Grad der
Bewusstmachung erreicht werden kann.
Ihr
Mag. Herbert Haupt
Familienminister
Was ist psychische Gewalt?
Versuch einer Definition
Psychische Gewalt ist ...
l wenn Kindern mutwillig Angst gemacht wird.
l wenn Kinder eingeschüchtert, ausgegrenzt, isoliert werden.
l wenn Kinder verspottet werden oder der Verspottung Preis gegeben werden.
l wenn Kinder missachtet und entwertet werden.
l wenn Kinder klein gemacht, klein gehalten und abgewertet werden.
l wenn Kinder gezielt entmutigt werden.
l wenn Kinder mit Druck und Unterdrückung erzogen werden.
l wenn Kindern keine Grenzen gesetzt werden.
l wenn Eltern ihren Kindern Orientierung verweigern und sich ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kindern
entziehen.
l wenn Strafe zu einem Zeitpunkt vollzogen wird, wo das Kind gar nicht mehr weiß, was es getan hat, und
die Strafe nicht als Konsequenz seiner Handlungen erkennen kann.
l wenn Kinder das tun müssen, was ihre Eltern immer gerne getan hätten, wenn Kindern sozusagen das
Leben der Eltern auferlegt wird.
l wenn Gefühle der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe ausgelöst werden und es zu einer Erschütterung
des Selbst- und Weltverständnisses des Kindes kommt.
l wenn Kinder als Spielball der Interessen des jeweiligen Elternteils z.B. im Zuge einer Scheidung missbraucht
werden, wenn also das Kindeswohl vorsätzlich und bewusst vorgeschützt wird, um eigene Interessen durchzusetzen oder zu fördern.
l wenn Kinder Loyalitätskonflikten zwischen den Eltern ausgesetzt werden.
l wenn den Eltern das Verhalten des Kindes wichtiger als seine Person ist.
l leise. Sie ist nicht laut. Sie ist nicht spektakulär, aber sie ist langhaltig, sie ist ausdauernd, und sie ist
nachwirkend.
Psychische Gewalt ist weiters ...
l immer dort, wo Angst als Erziehungsmittel eingesetzt wird.
l nicht nur Vernachlässigung, es kann auch ein Übermaß an erstickender Liebe sein.
l viel schwieriger zu erkennen als körperliche Gewalt, da sie am Körper keine sichtbaren Narben hinterlässt.
l so schwer fassbar, da sie individuell erlebt wird und ihre Wirkung von außen oft nicht erkennbar und
einschätzbar ist.
l subjektiv zu verstehen und zu betrachten; das subjektive Erleben des Kindes, sein emotionales, existenzielles Empfinden steht im Vordergrund.
l ein „unangenehmes“ Thema, da dieses Phänomen schwer fassbar ist, sich nicht genau definieren lassen
„will“, sich wissenschaftlicher Analyse entzieht und uns zur Auseinandersetzung mit vielen Themen zwingt,
auf die wir gar nicht so gerne hinschauen.
Psychische Gewalt ...
l wird durch alle Handlungen und Unterlassungen von Eltern und Bezugspersonen hervorgerufen, die Kinder
ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit übermitteln und sie in ihrer psychischen
und/oder körperlichen Entwicklung beeinträchtigen können.
l „passiert“ oftmals eigentlich ohne böse Absicht.
l wird unterschiedlich aufgefasst; was dem einen noch Spaß macht, kann für den oder die andere schon
Verletzung, Abwertung, Verwundung bedeuten.
l kann dadurch entstehen, dass die Eltern den Druck, dem sie in der Gesellschaft, Arbeit etc. ausgesetzt sind,
an ihre Kinder weitergeben.
l kann auch durch gut gemeinte Hilfsangebote ausgeübt werden.
l entsteht und besteht dort, wo Kinder und Jugendliche einer Dynamik von „zu viel“ oder „zu wenig“ ausgesetzt sind und die existenziellen Bedürfnisse der Kinder keinen Platz haben.
l manifestiert sich dort, wo Kinder bei für sie schwierigen Erfahrungen/Erlebnissen keine Sprache bzw. keine
Ausdrucksform finden können oder dürfen.
l tritt nicht nur alleine auf, sondern zumeist auch als „stille Schwester“ aller anderen Gewaltformen.
1. Enquete
WEHE, WEHE,
WENN ICH AN
DAS ENDE SEHE
Psychische
Gewalt am Kind
Moderation:
Dr. Barbara Rett, ORF
25. November 1999, 9.30 Uhr
Palais Palffy
1010 Wien, Josefsplatz 6
Psychische Gewalt an Kindern
wird bis heute zwar nicht gerichtlich geahndet, doch durch das seit 1989 in Österreich bestehende allgemeine
Züchtigungsverbot gilt auch psychische Gewalt als nicht tolerierbares Erziehungsmittel; Erziehung muss
gewaltfrei sein, also auch frei von psychischer Gewalt.
Doch was bedeutet gewaltfreie Erziehung? Welche Erziehungsmittel ergreifen Eltern, bzw. welches
Erziehungsmittel ersetzt die „g’sunde Watsch’n“?
Starke mediale Präsenz und dramatische Berichterstattungen über die in letzter Zeit auftretenden Fälle körperlicher und im Speziellen sexueller Gewalt haben zwar eine größere Sensibilisierung der Bevölkerung für
diese zweifellos äußerst wichtige Thematik erreicht, das Interesse jedoch an der Diskussion über psychische
Gewalt an den Rand gedrängt.
Ziel der Enquete war es, der Problematik im Zuge der Gewaltdiskussion ihren Stellenwert zu geben, aber auch
klar zu machen, dass Prävention ein unverzichtbarer Bestandteil einer gewaltfreien Erziehung darstellt.
Titel und Überschriften in Anlehnung an:
Wilhelm Busch: Max und Moritz
Dr. Heinrich Hoffmann: Der Struwwelpeter
Inhaltsverzeichnis Enquete 1
„Vater ist in großer Not, und die Mutter blicket
stumm auf dem ganzen Tisch herum“
„Was ist psychische Gewalt?“
Dr. Werner Leixnering
Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie
an der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz
Seite 08
„Paulinchen war allein zu Haus,
die Eltern waren beide aus“
„Was ist psychische Vernachlässigung?“
Dr. Eva Traindl
Niedergelassene Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde, Wien
Seite 12
„Sei hübsch ordentlich und fromm,
bis nach Haus ich wieder komm“
„Elternbildung – Wie wollen Kinder erzogen werden?“
Dr. Luitgard Derschmidt
Forum Beziehung, Ehe und Familie der Katholischen Aktion Österreich, Salzburg
Seite 17
„Also sprach in ernstem Ton der Papa zu seinem Sohn“
„Väter im Erziehungsalltag“
Dr. Harald Werneck
Institut für Entwicklungspsychologie, Universität Wien
Seite 23
„Niemand hört ihn, wenn er schreit“
„Stadt-Land-Problematik“
Dr. Reinhard Neumayer
Niederösterreichische Landesregierung, Abteilung Jugendwohlfahrt
Seite 30
„Der Vater hat’s verboten!“
„Ohnmacht der Helfer“
Dr. Stefan Allgäuer
Institut für Sozialdienste, Vorarlberg
Seite 36
„Die Buben aber folgten nicht“
„Sorgerechtsproblematik/Strafrechtsproblematik“
Dr. Beate Matschnig
Jugendgerichtshof Wien
Seite 45
„Zu Hilf’, ihr Leut’, zu Hilf’, ihr Leut’!“
„Extrembelastungen im Kindesalter“
Dr. Gertrude Bogyi
Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters, Wien
Seite 50
„Vater ist in großer Not, und die Mutter
blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“
„Was ist psychische Gewalt?“
Referent: Dr. Werner Leixnering
Psychische Gewalt
ist ein „unangenehmes“ Thema, da
dieses Phänomen
schwer fassbar ist,
sich nicht genau definieren lassen
„will“, sich wissenschaftlicher Analyse
entzieht und uns zur
Auseinandersetzung
mit vielen Themen
zwingt, auf die wir
gar nicht so gerne
hinschauen.
Die Titel der Referate sind alle dem „Struwwelpeter“ entnommen. Und das hat mehrere
Gründe: Der „Struwwelpeter“ hat, kinderpsychiatrisch gesehen, eine ganz doppelbödige
Botschaft: Auf der einen Seite beschrieb er bereits vor 150 Jahren sehr genau seelische
Bilder, und zwar so eindringlich, dass wir sie heute noch immer verstehen und als aktuell empfinden.
Auf der anderen Seite bietet er Methoden des Umgangs damit an, die uns heute befremden.
Die Pädagogik, die in diesem Struwwelpeter angeboten wird, wird vielfach als „schwarze“
Pädagogik bezeichnet. Tatsache ist, dass uns der Struwwelpeter auf jeder Buchseite mit
Gewalt konfrontiert. Sei es, dass Situationen so dramatisiert werden, dass sie eskalieren und Gewalt nach sich ziehen, sei es, dass Gewalt als pädagogische Konsequenz
angedroht wird.
Und wenn wir uns mit dem Thema psychische Gewalt beschäftigen, sind wir sehr schnell
mit sehr heiklen Fragen des Erziehens und der Pädagogik konfrontiert.
Psychische Gewalt ist ein sehr vielschichtiges, sehr komplexes Thema, wo eine
Schwarz-weiß-Sicht der Dinge keinesfalls angebracht ist.
Psychische Gewalt ist ein „unangenehmes“ Thema, da dieses Phänomen schwer fassbar ist, sich nicht genau definieren lassen „will“, sich wissenschaftlicher Analyse entzieht
und uns zur Auseinandersetzung mit vielen Themen zwingt, auf die wir gar nicht so gerne
hinschauen.
Doch: Psychische Gewalt ist ein Thema, dem wir uns zu stellen haben.
Denn: Psychische Gewalt kommt sehr häufig vor. Wahrscheinlich in einem wesentlich
größerem Ausmaß, als wir alle, inklusive meiner Person, das vermuten.
Und: Psychische Gewalt tritt nicht nur alleine auf, sie tritt zumeist auch als „stille
Schwester“ aller anderen Gewaltformen auf.
Auf der schwierigen Suche nach „Markern“
„Vater ist in großer Not, und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum.“ Um
der Frage „Was ist psychische Gewalt?“ nachzugehen, möchte ich zunächst den Begriff
„stumm“ aus dem Untertitel meines Referates herausgreifen.
Psychische Gewalt
ist leise. Psychische
Gewalt ist nicht
spektakulär. Aber sie
ist langhaltig, sie ist
ausdauernd, und sie
ist nachwirkend.
Stumm. Psychische Gewalt ist leise. Sie ist nicht laut. Sie ist nicht spektakulär. Sie erzeugt auch nicht gleich lautes Schreien, aber sie ist langhaltig, sie ist ausdauernd, und
sie ist nachwirkend.
Und genau hier liegt auch das Problem, psychische Gewalt wissenschaftlich methodisch
erfassen zu können. Wo ist die Grenze? Ab wann kann/muss man von psychischer
Gewalt sprechen? Wo sind die „Marker“ für psychische Gewalt?
Es ist tatsächlich so, dass die Grenzen zwischen Erziehungspraktiken, die sich des
Prinzips der Strafe bedienen, und psychischer Gewalt oftmals fließend sind.
Gerade weil die Grenzen oft so schwimmend sind, gerade weil psychische Gewalt oft so
leise von statten geht, haben wir ein großes Problem, sie frühzeitig zu erfassen, sie
präventiv zu erfassen.
Trotz dieser Schwierigkeiten müssen wir uns dem Problem stellen!
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Die Crux der Definition
Wie kann man also tatsächliche psychische Gewalt bewerten, beurteilen?
Nun, man muss einmal die beiden involvierten Pole betrachten: den Menschen, an dem
psychische Gewalt ausgeübt wird, und denjenigen, der sie ausübt. Also gleichsam Opfer
und Täter. Genauso wie bei körperlicher und sexueller Gewalt.
Es geht also immer um zwei oder mehrere Personen, die miteinander interagieren.
Worum geht es bei der Ausübung psychischer Gewalt denn de facto? Es geht – um das
vielleicht phänomenologisch ein bisschen zu beschreiben – um die Bedrohung von
Kindern im Umgang mit ihnen. Es geht vor allem um die mutwillige Erzeugung von Angst
– die Betonung liegt auf mutwillig. Es geht um Einschüchterung. Es geht um Zynismus
in der Erziehung. Es geht um Ausgrenzung, um Isolation von Kindern. Es geht – um es
wienerisch zu formulieren – ums „ins Eck stellen“ von Kindern, und das nicht nur wörtlich, sondern auch im übertragenen Sinn. Es geht um die Tatsache, dass man Kinder verspottet und der Verspottung preisgibt. Es geht zum Beispiel auch darum, was die moderne Psychologie unter dem Phänomen des „Bullying“ beschreibt. (ð Bullying – siehe
auch Seite 59) Und da geht es nicht nur um Erwachsene, da geht es auch um ältere
Jugendliche, die psychische Gewalt auf annähernd Gleichaltrige ausüben, nach dem
Motto „Gib’s den Schwachen“. Es geht letztlich um Missachtung, es geht um Entwertung.
Und als Individualpsychologe möchte ich hinzufügen, es geht um die gezielte
Entmutigung von Kindern. Das, so glaube ich, können wir beispielsweise unter psychischer Gewalt verstehen.
Bei psychischer
Gewalt geht es um
die mutwillige
Erzeugung von
Angst, um
Einschüchterung,
Zynismus,
Ausgrenzung und
Verspottung.
Anzeichen psychischer Gewalt
Im Gegensatz zu körperlicher Gewalt hinterlässt psychische keine offensichtlichen
Spuren. Also woran können wir denn erkennen, dass psychische Gewalt an Kindern ausgeübt wurde oder wird?
An deren Rückzug zum Beispiel, an deren mehr oder weniger verdeckter oder verdrängter Aggressivität. Ich möchte ganz besonders darauf hinweisen, dass gerade
Aggressivität auch Ausdruck von eigener Bedrohung ist. Zu oft wird Aggression nur als
impulsives Element, das quasi aus dem Nichts kommt, gesehen.
Weitere wichtige Anzeichen erlebter psychischer Gewalt können psychosomatische und
kinderpsychiatrische Symptome wie Einkoten, Schlafstörungen und zwanghaftes
Verhalten sein.
Ich kann es auch anders ausdrücken: Psychische Gewalt an Kindern äußert sich nicht
selten in so genannten „introversiven“ Symptomen, also Symptomen, die sich nach innen wenden und die natürlich dann sehr oft auch autoaggressive Komponenten beinhalten. Man könnte sehr vereinfacht sagen: „Was kränkt, macht krank“; und bei psychischer Gewalt geht es vielfach um Kränkung.
Rückzug,
Aggressivität und
verschiedene psychosomatische und
kinderpsychiatrische
Symptome können
Anzeichen dafür
sein, dass das Kind
psychischer Gewalt
ausgesetzt war/ist.
Entstehung von psychischer Gewalt
Hier scheint es wichtig, drei Komponenten zu beobachten oder zu beachten:
Der Täter
Betrachten wir zum einen die Persönlichkeit und psychische Verfassung dessen, der die
Gewalt ausübt. Es ist zu einfach zu sagen, Täter sind Menschen, die einfach so sind, die
nicht anders können. Und wir können ihnen auch nicht helfen, und damit ist die Sache
erledigt. Nein. Ich glaube, gerade mit diesen Menschen müssen wir uns befassen. Wir
müssen ihnen Angebote machen. Wir müssen sie zu verstehen versuchen, bei aller
Emotion, die sich bei uns ihnen gegenüber zeigt.
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Das Opfer
Wir müssen zweitens die Persönlichkeit des Kindes zu erfassen versuchen. Wir müssen
versuchen zu verstehen: „Was war denn aus der Sicht des Kindes vielleicht die
Voraussetzung dafür, dass es zur Anwendung psychischer Gewalt gekommen ist?“ – und
das meine ich jetzt absolut nicht wertend!
Das heißt, auch hier ist die differenzierte Befassung mit dem Kind und mit der Situation,
in der das Kind lebt, notwendig.
Die Interaktion
Die Rahmenbedingungen dürfen niemals außer Acht gelassen werden. Um
psychische Gewalt
besser zu verstehen,
müssen wir uns die
Rahmenbedingungen,
unter denen Erziehende und Kinder
miteinander leben,
genau anschauen.
Und drittens ist die Interaktion wesentlich.
Wir verstehen oft Phänomene der psychischen Gewalt besser, wenn wir das Miteinander
und die Rahmenbedingungen, unter denen Erziehende und Kinder miteinander leben
oder miteinander auskommen müssen, besser erfassen können. Diese Rahmenbedingungen dürfen niemals außer Acht gelassen werden.
Als wichtiger Hinweis für Interventionsansätze: Meist sind beide in irgendeiner Form in
Not – das Kind und die Person, die psychische Gewalt verursacht. Nur können sehr oft
die Nöte der beiden nicht mitgeteilt werden, und damit kommt es zur Eskalation und zur
Problematisierung. Natürlich ist das schwächere Glied in der Kette das Kind, und unsere
Gesellschaft tut gut daran, zunächst einmal zu den Schwächeren hinzusehen und diese
eben auch entsprechend zu schützen.
Der Umgang mit psychischer Gewalt
Zur Frage des Umgangs ein paar Worte zur Einleitung.
Ich glaube, man müsste sich dabei drei Bereiche näher anschauen:
Erziehungsalltag
Psychische Gewalt
ist oftmals keinesfalls beabsichtigt.
Sie etabliert sich oft
schleichend in
Situationen, und man
merkt leider erst
nachher, was da geschehen ist.
Erstens den Umgang mit psychischer Gewalt im Erziehungsalltag, denn sie kommt in irgendeiner Form sehr oft vor, mehr oder weniger intendiert – das ist ja das Problem.
Psychische Gewalt ist oftmals keinesfalls beabsichtigt, sie etabliert sich oft schleichend
in Situationen, und man merkt leider erst nachher, was da geschehen ist, dass es sich
um eine Form von psychischer Gewalt gehandelt hat.
Wir alle begegnen tagtäglich Kindern, ob es in der U-Bahn ist, in einer Schulsituation oder
zu Hause. Wir begegnen Kindern, und wir begegnen Situationen. Und wichtig ist, dass
wir aus Situationen etwas machen. Das hat manchmal auch etwas mit Zivilcourage zu
tun, das heißt nämlich, in Situationen Stellung zu beziehen. Ich glaube, dass das immer
noch ein ganz entscheidender Punkt ist. Das gilt übrigens für alle Formen der Gewalt.
Also zum Beispiel: Wenn Sie im Bus fahren und Zeuge werden, wie ein Jugendlicher auf
ein kleineres Kind „hindrischt“, nur weil es ihm im Weg ist: Da gilt es einzugreifen, sich
zu äußern – nicht wegzusehen!
Gezielte Prävention
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Zweitens die gezielte Prävention. Hier geht es darum, von vornherein schwierige
Erziehungssituationen aufzuzeigen. Es stellt eine große Problematik in der Präventionsarbeit dar, dass oft von der „heilen Welt“ ausgegangen wird, dass also „nicht sein kann,
was nicht sein darf“ und dass die Existenz solcher schwierigen Situationen oft von vornherein geleugnet wird. Bei der Präventionsarbeit ist es deshalb sehr wichtig, genau darauf hinzuweisen, dass es in der Erziehung zum Auftreten von Problemen kommen wird
und dass man mit diesen zu rechnen hat, aber auch dass es Lösungsmöglichkeiten für
solche Probleme gibt!
Therapie
Bei der Therapie müssen wir sicherstellen, dass nicht nur den Kindern, sondern dort, wo
erforderlich – und das wird in den meisten Fällen so sein – auch den Erwachsenen zumindest Therapieangebote gemacht werden.
Der Schlüssel zur Verhinderung psychischer Gewalt.
Ich möchte mit ein paar Thesen schließen.
Erstens: Haltung statt Technik
Ich glaube, dass der Schlüssel zur Verhinderung psychischer Gewalt nicht nur in
Erziehungstechniken liegt, die wir Erwachsenen vermitteln, sondern in Haltungen, in
Einstellungen zu Kindern. Wir sind in unserer Zeit durch die Vorstellung geleitet, dass wir
alles mit bestimmten Techniken, Methoden, Trainings oder ähnlichem lösen können.
Doch das ersetzt nicht Haltungen. Und die sind gefragt.
Gefährlich wird psychische Gewalt im Übrigen besonders dann, wenn sie aus einer
völlig falsch verstandenen „vorbeugenden Haltung“ („Damit du nicht auf dumme Ideen
kommst ...“) heraus eingesetzt wird.
Zweitens: Not produziert Gewalt
Einfühlsames Verstehen psychischer Gewaltphänomene orientiert sich an Nöten von
Kindern und Erwachsenen und nicht an einer verkürzten Täter-Opfer-Ideologie.
Drittens: „Was kränkt, macht krankt“
Psychische Gewalt kann, psychiatrisch betrachtet, nicht nur zur Erlebnisreaktionen, also
zu einfachen Reaktionen, sondern auch zu schweren neurotischen und psychosomatischen Störungen bis hin zur chronischen Deformation kindlicher Persönlichkeiten führen,
also zu schweren psychischen Störungen. Das soll hier nicht unerwähnt bleiben.
Viertens: Reflexionsmöglichkeit für Täter
Erwachsene, die psychische Gewalt an Kindern anwenden, sollten die Möglichkeit bekommen, ihre Verhaltensweisen zu reflektieren. Prävention ist nur möglich, wenn so etwas wie ein Nachvollziehen oder ein Einsehen zumindest angestrebt wird. Auch wenn
dies nicht immer erreichbar sein wird.
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„Paulinchen war allein zu Haus, die Eltern
waren beide aus“
„Was ist psychische Vernachlässigung?“
Referentin: Dr. Eva Traindl
„Die Pflege des minderjährigen Kindes umfasst besonders die Wahrung des körperlichen
Wohles und der Gesundheit sowie die unmittelbare Aufsicht, die Erziehung, die
Entfaltung der körperlichen, geistigen, seelischen und sittlichen Kräfte ... .“
(§ 146 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch)
Ich glaube, dass diejenigen, die für diesen Paragrafen verantwortlich zeichnen, ganz
Recht gehabt haben, wenn sie körperliche, geistige, seelische und sittliche Kräfte zusammengenommen haben. Man kann gerade im Kindesalter „körperliche, seelische
Gesundheit, Wahrung der sittlichen Kräfte“ nicht voneinander trennen. In keinem anderen Lebensabschnitt besteht ein so enger Zusammenhang zwischen körperlicher, seelischer und geistiger Entwicklung wie im Kindes- und Jugendalter. In keinem anderen
Lebensabschnitt können Versäumnisse so negative Auswirkungen haben.
Ein Bild, das Kinderärzte in der Praxis häufig sehen, ist die körperliche Vernachlässigung,
die leicht zu erkennen ist, weil die Zeichen der Verwahrlosung sichtbar sind.
Psychische
Vernachlässigung ist
von außen nur
schwer zu erkennen.
„Unverdächtige“
Symptome wie
Bauchschmerzen,
Appetitlosigkeit,
Erbrechen und
Schlafstörungen
können Zeichen
dafür sein.
Viel schwieriger zu erkennen sind Kinder, die seelisch vernachlässigt sind, bei denen
äußerlich keine Verwahrlosungszeichen zu erkennen sind, wo „außen sozusagen alles
in Ordnung ist“.
Die Symptomatik ist zumeist ganz unspezifisch. Symptome, die jedes Kind einmal
hat, können Anzeichen für psychische Vernachlässigung sein. Zum Beispiel:
Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Erbrechen und Schlafstörungen. Das kann aber auch
bis hin zu schweren psychosomatischen Krankheitsbildern gehen: von bestimmten
Asthmaformen über Einnässen und Einkoten bis hin zu Suchterkrankungen bei
Jugendlichen.
Wir beobachten ein Zunehmen von Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess-BrechSucht) sowie zunehmende Abhängigkeit von Suchtmitteln schon bei sehr jungen
Kindern. Das muss man immer wieder sehen und mitverfolgen – leider manchmal auch
ohne dass man den Kindern wirklich helfen kann.
Drei Fallbeispiele
Viele Kinder drücken sich über ihren Körper aus, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Sie sind zu klein, um auszusprechen, was sie bedrückt, es wurde ihnen verboten,
auszusprechen, was sie bedrückt, oder sie werden nicht gehört.
Ich möchte Ihnen jetzt drei Fallbeispiele vorstellen, und ich habe das Symptom der
Enuresis (Einnässen; Enuresis nocturna, nächtliches Einnässen) herausgegriffen, das
in der Psychosomatik auch als „das Weinen mit der Blase“ bezeichnet wird.
Fallbeispiel 1: „Paulinchen war allein zu Haus, die Eltern waren
beide aus.“ (Struwwelpeter)
Das Kind heißt nicht Paulinchen, es heißt Sefkie. Es ist ein türkisches Mädchen.
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Die Eltern haben die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen. Sefkie ist hier
geboren. Sie ist 9 Jahre alt, als ich die Familie kennen lerne. Sie hat zwei jüngere Brüder.
Eigentlich sind die es, die hauptsächlich zu mir in die Ordination kommen. Die
Familiensituation ist nach außen hin „ordentlich und gut“. Der Vater geht einer geregel-
ten Arbeit nach, die Mutter ist Hausfrau. Sefkie ist eine sehr gute Schülerin. Die Eltern
sind sehr stolz auf sie. Sie wird ins Gymnasium kommen. Bei dieser Gelegenheit, bei
dieser Erstanamnese, erzählt mir die Mutter nicht, dass das Mädchen noch einnässt und
mit ihren 9 Jahren in der Nacht noch eine Windel braucht. Tagsüber ist sie seit ihrem dritten Lebensjahr sauber.
Ich sehe Sefkie in meiner Ordination dann zwei Jahre lang nur in Begleitung ihrer Brüder.
Doch eines Tages kam die Mutter mit ihr allein zu mir in die Ordination. Sefkie hat
Probleme. Sie will nicht mehr in die Schule gehen. Ihre Schulleistungen werden schlecht.
Sie war im Vorjahr doch eine der Klassenbesten.
Daraufhin biete ich den Eltern einen Termin für ein ausführliches Gespräch an.
Es kommt nur die Mutter. Sie erzählt mir, dass von der Schule aus in einigen Monaten
eine Exkursion geplant ist. Da muss das Mädchen natürlich einige Tage außer Haus übernachten. Bis jetzt weiß niemand, dass sie in der Nacht einnässt, aber dann werden alle
anderen Kinder von ihrem Problem wissen. Sie werden wissen, dass sie in der Nacht
eine Windel braucht. Sie wird dort mit niemandem in einem Zimmer schlafen können.
Die Mutter bittet mich, doch eine Krankschreibung auszustellen, damit Sefkie nicht auf
diese Exkursion mitfahren muss.
Sie hat schon mit der Lehrerin gesprochen und gesagt, dass Sefkie nicht mitfahren
möchte. Aber die Schule hat darauf bestanden, dass alle Kinder mitfahren, auch die türkischen Mädchen.
Bei diesem Gespräch zwischen Lehrerin und Mutter dürfte herausgekommen sein, dass
die Eltern einfach nicht wollen, dass das Kind das elterliche Zuhause verlässt und einige
Tage auswärts übernachtet.
Da die Lehrerin nun aber nichts von Sefkies zusätzlichem Problem gewusst hat, hat sie
darauf bestanden, dass sie mitfährt.
Das hat das Mädchen in einen so großen Konflikt gebracht, dass es einfach nicht mehr
in die Schule gehen wollte und dass ihre Schulleistungen nach und nach schlechter geworden sind.
Für die Eltern hatte
das Einnässen keinen Krankheitswert.
Außerdem gab ihnen
dieses Problem ihrer
Tochter die
Möglichkeit, sie
„im Haus zu halten“
und ihr so
Selbstständigkeit
zu verwehren.
Bei meinem Gespräch mit der Mutter ist herausgekommen, dass sie für das Problem ihrer Tochter nur wenig Verständnis hat.
Das Kind ist einmal durchuntersucht worden, doch die urologische Durchuntersuchung
wurde abgebrochen. Die Eltern haben einer weiteren Untersuchung im Urogenitalbereich
nicht zugestimmt.
Für die Nichtmediziner unter Ihnen: Es gibt manchmal über ein gewisses Alter hinaus
ein nächtliches Einnässen. Das ist durch eine Problematik im hormonellen System bedingt. Sefkies Eltern litten beide bis hin zur Pubertät an dieser Form der Enuresis. Daher
haben sie dem Einnässen ihrer Tochter auch keinen Krankheitswert beigemessen. Und
außerdem – und da sehe ich die eigentliche seelische Vernachlässigung – haben die
Eltern dieses Problem des Mädchens benutzt, um sie „im Haus zu halten“, um ihr
Selbstständigkeit zu verwehren. Sie haben ihrer Tochter noch zusätzlich gedroht: „Wenn
du wirklich hinfahren willst, dann werden alle davon erfahren, und es wird eine Schande
sein für die ganze Familie.“
Nur der Leistungsabfall in der Schule und dass sie zweimal versucht hat, Schule zu
schwänzen, hat die Mutter zu mir gebracht.
Wir konnten dann in einem Gespräch doch noch einen Kompromiss finden. Ich habe der
Mutter einen Brief an die Lehrerin mitgegeben, in dem ich das Problem genau beschrieben habe. Die Mutter hat mir versprochen, mit der Lehrerin Kontakt aufzunehmen,
ihr den Brief zu geben und das Problem mit ihr zu besprechen.
Im Endeffekt konnte das Mädchen dann auf diese Schulexkursion mitfahren.
Dieser Fall ist noch relativ „gut ausgegangen“ – vielleicht auch deshalb, weil die Eltern
doch nicht mehr allzu weit davon entfernt waren, selbst Maßnahmen zu setzen.
Im nächsten Fall ist es so, dass die Eltern zwar wollen, aber nicht mehr können. Denn
auch Eltern können ein Burn-out-Syndrom bekommen, also ausbrennen. Und mit ihnen
die Kinder – unter gewissen Voraussetzungen.
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Fallbeispiel 2: „Es brennt die Haut, es brennt das Haar, es brennt
das ganze Kind sogar.“ (Struwwelpeter)
Bernhard ist 10 Jahre alt. Er ist von Geburt an ein leicht behindertes Kind. Er besucht die
Sonderschule. Seine Mutter ist ebenfalls behindert, aber nur motorisch. Sie hat eine
Gangstörung. Der Vater kümmert sich sehr liebevoll um beide. Er verbringt viel Zeit mit
der Familie.
Als Bernhard 9 Jahre alt ist, kommt ein Nachzügler. Bernhard bekommt einen kleinen
Bruder. Er reagiert sehr eifersüchtig auf das Baby. Er will wieder aus der Flasche trinken
und Windeln tragen. Er spricht das auch einmal in der Ordination aus und sagt: „Ich will
wieder eine Windelhose anziehen.“ Er beginnt nachts vermehrt einzunässen.
Die Eltern haben vorbildlich reagiert. Sie haben das von sich aus als Eifersuchtsreaktion
gedeutet. Sie waren mit ihm in der Ordination, haben von den Problemen mit ihm erzählt
und haben gefragt, ob sie etwas machen sollen, und was geschehen soll.
Ich war auch der Ansicht, dass es sich um eine Eifersuchtsreaktion handelt. Wir haben
uns daher geeinigt, einmal abzuwarten.
Der Vater hat sich vermehrt Bernhard zugewendet, hat mit ihm viele Ausflüge gemacht,
hat mit ihm viel gemeinsam unternommen, und nach ein paar Wochen ist das Symptom
„Einnässen“ wieder verschwunden.
Der Vater hat überhaupt sehr viel in dieser und für diese Familie gemacht und war immer für die Familie da.
Bernhards kleiner
Bruder bekam eine
schwere akute
Erkrankung und
musste ins
Krankenhaus.
Bernhard wurde
während dieser Zeit
zu einer älteren
Verwandten gegeben, die sehr rigide
Erziehungsvorstellun
gen gehabt haben
dürfte. Bernhard begann wieder einzunässen.
Ein Jahr später hat Bernhards kleiner Bruder eine schwere akute Erkrankung bekommen. Er musste sofort ins Krankenhaus, war einige Tage sogar auf der Intensivstation,
und man hat am Anfang überhaupt nicht gewusst, ob er überleben wird. In dieser
Situation wurde die Mutter mit dem Kind gemeinsam im Krankenhaus aufgenommen.
Auch der Vater war sehr oft im Krankenhaus beim kleinen Bruder und bei der Mutter.
Bernhard wurde unter diesen Umständen auf unbestimmte Zeit zu einer älteren
Verwandten gegeben.
Diese Frau dürfte sehr rigide Erziehungsvorstellungen gehabt haben. Und Bernhard begann wieder einzunässen. Die Verwandte hat ihn daraufhin in der Nacht aufgeweckt. Sie
hat ihn das Bett abziehen lassen. Sie hat ihn in die Ecke gestellt. Aber das haben wir erst
nachher erfahren.
Als Bernhard dann wieder zu Hause war und sich die Situation mit dem Bruder weitgehend beruhigt hat, hat Bernhard aber nicht nur eingenässt, sondern auch begonnen einzukoten. Und er hat seine schmutzigen Unterhosen in den Schultaschen der anderen
Kinder versteckt.
Die Mutter ist zu mir gekommen und hat gesagt „Bitte, helfen Sie uns. Wir halten das
nicht mehr aus. Das Kind muss ins Krankenhaus. Was sollen wir denn nur tun?“
Es wurde ein Gespräch zwischen Lehrerin, Schulpsychologen und den Eltern geplant.
Der Schulpsychologe hat diese von den Eltern geschilderte Situation als Problem der
ganzen Familie wahrgenommen. Er war auch Psychotherapeut. Er hat mit Bernhard in
der Schule – sodass die Eltern nicht noch zusätzlich zeitlich belastet waren – eine
Spieltherapie begonnen, und nach einem halben Jahr waren das Einkoten und
Einnässen wieder verschwunden.
Ich habe Ihnen das als Beispiel dafür gebracht, dass auch bei einer Familie, die für ihre
Kinder sehr viel tut und auch Symptome richtig erkennen und deuten kann, durch äußere
Umstände eine Situation entstehen kann, in der ein Kind so völlig in den Schatten gestellt wird, so „vernachlässigt“ wird, dass es das nicht verkraftet.
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Fallbeispiel 3: „Ein Häuflein Asche bleibt allein und beide Schuh’,
so hübsch und fein.“ (Struwwelpeter)
Das Thema hier heißt: Wohlstandsverwahrlosung.
Im Gegensatz zu Verwahrlosung, wo alle Ressourcen fehlen, sind bei Wohlstandsverwahrlosung fast alle Ressourcen vorhanden – außer einer: nämlich jener, dass die
Probleme des Kindes richtig erkannt und richtig gedeutet werden.
Das Mädchen Sandrina hat gleich nach ihrer Geburt Harnwegsinfekte gehabt. Es wurde
eine schwere Nierenmissbildung festgestellt. Das Kind ist im Säuglingsalter zweimal operiert worden. Sie bekommt eine Dauertherapie mit Antibiotika.
Die Eltern wohnen mit der Großmutter in einem Haushalt. Es kann immer jemand auf
Sandrina aufpassen. „Es ist immer jemand für Sandrina da.“
Es fällt aber auf, dass in bestimmten Situationen, die von den Erwachsenen als belastend
empfunden werden, das Kind offensichtlich keine oder eine inadäquate Betreuung und
Unterstützung erhält.
So ist es zum Beispiel gewesen, als Sandrina mit 16 Monaten für 10 Tage im
Krankenhaus aufgenommen werden musste. Während dieser Zeit wurde sie von den
Eltern und der Großmutter nur zweimal besucht. Der Vater kam nicht öfter, weil er die
Krankenhausatmosphäre nicht aushält, die Mutter, weil sie verzweifelt ist, wenn das Kind
weint. Wenn sie kommt und wenn sie geht, weint das Kind. Die Großmutter kommt deshalb nicht, weil sie zu dieser Zeit keine Zeit hat und eigentlich auch nicht so gerne ins
Krankenhaus geht. „Das Kind leidet nur, wenn wir kommen“, so sagten sie mir.
Ich habe versucht, die Eltern aufzuklären, dass das Verhalten des Mädchens verständlich ist und Sandrina gerade unter diesen Umständen ihre Bezugspersonen dringend in
ihrer Nähe braucht. Es ist mir nicht gelungen.
Mir ist dann weiters aufgefallen, dass die Eltern sich bei Impfungen geweigert haben,
beim Kind zu bleiben. Normalerweise ist es so, dass die Eltern das Kind während der
Impfung im Arm halten wollen. Diese Eltern wollten den Ordinationsraum verlassen.
Die Großmutter hat das dann übernommen. Sie hielt das Kind im Arm, aber auch sie hat
sich beim Einstich weggedreht. Die Situation war dann oft so, dass sie gesagt hat: „Es
tut überhaupt nicht weh. Du bist das schönste Mäderl von der ganzen Welt. Da kann dir
gar nichts passieren. Wenn du nicht weinst, kauft dir die Oma, was du willst. Oder: Wenn
du weinst, kauft dir die Oma, was du willst. Jetzt hast du so viel geweint, und die Frau
Doktor hat dir so viel wehgetan, da kannst du dir aussuchen, was du willst.“
Auf die Frage, „wie es dem Kind geht“, haben die Eltern immer geantwortet: „Es geht ihr
gut, sie bekommt ja alles, was sie will.“
Mit drei Jahren hat Sandrina Trotzanfälle bekommen – in diesem Alter ein entwicklungsbedingter Vorgang. Ihre Trotzanfälle wurden anfänglich „mit Geschenken abgewürgt“. Trotzdem wurden sie immer häufiger und heftiger, sodass die Eltern dem
Verhalten ihrer Tochter hilflos gegenüber gestanden sind.
Die familiäre Situation war so, dass die Großmutter ganz andere Erziehungsmaßnahmen
gesetzt hat als jeweils Mutter und Vater.
Eines Tages sagte der Vater: „Ich will jetzt, dass das Kind in den Kindergarten kommt,
damit zu Hause endlich Ruhe ist.“ Und „eh nur in den besten Privatkindergarten“. Das
Kind ist dann in den Kindergarten gekommen, obwohl die Großmutter dagegen war („Ein
Kind gehört nach Hause, dort geht es ihm am besten!“).
Und im Kindergarten hat Sandrina wieder begonnen einzunässen.
Zum Einnässen ist zu sagen: Ich habe die Eltern mehrmals darauf hingewiesen, dass
bei einem Kind mit einer schweren Nierenschädigung die Sauberkeitserziehung nicht zu
früh beginnen soll, dass sie Geduld haben sollen.
Die familiäre
Situation war so,
dass die Großmutter
ganz andere Erziehungsmaßnahmen
setzte als Mutter und
Vater. Die Hinweise,
dass möglicherweise
diese unterschiedlichen Ansichten und
Anforderungen ihrer
Sandrina war bei ihrem 2. Geburtstag Tag und Nacht sauber!
Die Oma sagte zu mir: „Meine Tochter war schon mit einem Jahr sauber, und auf so was
muss man Wert legen!“
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Bezugspersonen
für Sandrinas
Symptome verantwortlich sein könnten, wurden ignoriert.
Da Sandrina im Kindergarten also wieder mit dem Einnässen begann, hat die Oma das
Kind zu mir gebracht und gesagt, ich solle doch jetzt endlich den Eltern mitteilen, dass
der Kindergarten das Kind krank macht. Sie würde ja wieder einnässen.
Meine Hinweise, dass möglicherweise die unterschiedlichen Ansichten und
Anforderungen ihrer Bezugspersonen Sandrinas Symptome beeinflusst haben könnten,
wurden ignoriert.
Es wurde dann ein anderer Kindergarten ausgesucht, und nachdem auch dort die
Enuresis aufgetreten ist, habe ich mit den Eltern ein Gespräch geführt und ihnen zu einer Familientherapie geraten. In die Familientherapie sind sie nicht gegangen, obwohl
jedes einzelne Familienmitglied gesagt hat, wie schwierig die familiäre Situation zu
Hause wäre. Mit Sandrinas Problem „hat das aber nichts zu tun, denn sie hat ja alles,
was sich ein Kind nur wünschen kann“.
In Fällen, wo Kinder auf diese Weise vernachlässigt werden, ist es sehr schwierig einzugreifen, auch wenn man als Kinderarzt in der Praxis an erster Stelle für eine Prävention
steht, da diese Eltern meist sehr „symptomorientiert“ sind.
Eine Hilfe von außen kann jedoch von den Bezugspersonen nicht angenommen werden,
da sie nicht erkennen, was dem Kind „wirklich fehlt“.
„Es hat ja alles! Es ist ja alles da! Es ist das schönste Mädchen von der ganzen Welt, es
wird ihm alles gegeben! Es hat alles, was es will!“
„Ein Häuflein Asche bleibt allein und beide Schuh’, so hübsch und fein.“
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„Sei hübsch ordentlich und fromm, bis nach
Haus ich wieder komm“
„Elternbildung – wie wollen Kinder erzogen werden?“
Referentin: Dr. Luitgard Derschmidt
Ich bin in der Elternbildung tätig, ich bin aber auch Mutter dreier erwachsener Kinder und
habe auch als Mutter so meine Erfahrungen mit psychischer Gewalt.
Mein heutiges Thema ist die „normale“, die alltägliche psychische Gewalt, die auch heute
noch in der Erziehung immer wieder vorkommt.
Der Begriff „psychische Gewalt“ ist sehr schwer zu definieren.
Bei physischer Gewalt sieht man Wunden, bei psychischer Gewalt sind die Verletzungen
nicht sichtbar. Psychische Gewalt kommt im ganz normalen Erziehungsalltag oft vor, wobei sie vielfach nicht bewusst, meist auch nicht absichtlich angewendet wird.
Was ist psychische Gewalt?
Ich möchte die Liste dessen, was psychische Gewalt ist, noch ergänzen.
Psychische Gewalt ist Vernachlässigung, es kann aber auch ein Übermaß an erstickender Liebe sein.
Psychische Gewalt ist auch das Wechselbad zwischen das Kind einmal an sich ziehen
und übermäßig lieben und es dann wieder zurückweisen.
Psychische Gewalt kommt auch im Zusammenhang mit der Problematik der Strafe
vor. Wenn Strafe zu einem Zeitpunkt vollzogen wird, wo das Kind gar nicht mehr weiß,
was es getan hat, kann das Kind die Strafe nicht als Konsequenz seiner Handlungen
erkennen.
Wenn keine Grenzen
gesetzt werden, leiden Kinder genau so,
wie wenn sie zu sehr
eingeengt werden.
Wenn keine Grenzen gesetzt werden, leiden Kinder genau so, wie wenn sie zu sehr eingeengt werden.
Psychische Gewalt ist auch, wenn Eltern ihren Kindern Orientierung verweigern und sich
ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kindern entziehen.
Psychische Gewalt kann auch sein, wenn Kinder das tun müssen, was die Eltern immer
gerne selbst tun wollten. Wenn sie das werden sollen, lernen sollen, das bekommen sollen, was eigentlich die Eltern haben wollten, wenn sozusagen das Leben der Eltern den
Kindern auferlegt wird.
Psychische Gewalt ist immer dort, wo Angst als Erziehungsmittel eingesetzt wird, wenn
mit Druck, mit Unterdrückung erzogen wird, wenn Kinder klein gemacht, klein gehalten
und abgewertet werden. Sie alle kennen Aussagen, die dafür typisch sind. Ich möchte
nur ein paar erwähnen – Sie können die Liste ja dann beliebig ergänzen: „Ich werd’ dir
schon zeigen, wer der Stärkere ist“, „In meinem Haus wird gemacht, was ich sage“, „So
lange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, tust Du, was ich will.“
Psychische Gewalt
ist auch, wenn Eltern
ihren Kindern
Orientierung verweigern und sich ihrer
Verantwortung gegenüber ihren
Kindern entziehen.
Aber auch: „Ich habe um deinetwillen so viel aufgegeben, die vielen Nächte, die Liebe,
meinen Beruf, mein Leben ...“, „Ich hab’ ja nur dich“, „Ich weiß am besten, was für dich
gut ist.“
Auch in der religiösen Erziehung, das sage ich ganz bewusst als kirchliche Mitarbeiterin,
ist sehr viel mit psychischer Gewalt gearbeitet worden. Leider. „Der Himmelvater ist böse,
wenn Du ...“ – ich glaub’, Sie können diese Liste ergänzen.
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Warum wird geliebten Kindern von liebenden Eltern
Gewalt angetan?
Warum verhalten sich Eltern so? Warum setzen Eltern psychische Gewalt bei der
Erziehung ein?
Eltern lieben ihre
Kinder und wollen
sie gut erziehen.
Ich behaupte einmal, Eltern lieben ihre Kinder und wollen sie gut erziehen.
Ich möchte diese These so in den Raum stellen. Ich behaupte, dass die meisten Eltern
ihre Kinder grundsätzlich lieben und ihnen nichts Böses wollen.
Und etwas Zweites: Ich glaube, dass Eltern elterliche Kompetenzen haben, auch wenn
sie mit diesen oft sehr schlecht umgehen.
Wenn wir, wie gesagt, davon ausgehen, dass Eltern ihre Kinder lieben und das Beste für
sie wollen, dann müssen wir uns schon fragen: Warum wird geliebten Kindern von liebenden Eltern Gewalt angetan?
Ich möchte da dreierlei besonders zu bedenken geben:
Weil Eltern selbst mit psychischer Gewalt erzogen wurden
Eltern üben psychische Gewalt meist unbewusst und unwillentlich aus, und sie erkennen sie oft nicht einmal als solche, weil sie selbst mit psychischer Gewalt erzogen worden sind. Sie haben ihre eigenen Verletzungen vergessen oder verdrängt und übernehmen einfach die Verhaltensweisen ihrer Eltern.
Oder: auch wenn sie sich der psychischen Gewalt in der eigenen Erziehung bewusst sind
und ihren Kindern auf keinen Fall das antun wollen, worunter sie selber gelitten haben,
fallen sie oft automatisch in diese Verhaltensweisen zurück. Es gibt auch so etwas wie
eine Fixierung: Genau das, was ich absolut vermeiden will, mach ich dann gerade selbst.
Aus meiner eigenen Erfahrung als Mutter kann ich, ja muss ich das leider auch bestätigen.
Einengen, Angst machen, Willen brechen, damit etwas Neues,
Gutes wachsen kann
Manche Eltern meinen, ihre Kinder
würden am besten
lernen, wenn mit
besonderem
Nachdruck vorgegangen wird – das
Wort spricht wohl
für sich ...
Manche Eltern jedoch setzen psychische Gewalt bewusst als Erziehungsmittel ein, weil
sie der Meinung sind, man müsse so erziehen. Auch sie wollen für ihre Kinder das Beste,
und sie sind eben der Meinung, dass ihre Kinder so am besten lernen würden und es
sich so auch am besten merken würden, wenn mit besonderem Nachdruck – das Wort
spricht schon für sich – vorgegangen wird.
Hier geht es natürlich um Erziehungsstile, um verschiedene Erziehungstheorien oder
grundsätzliche Überzeugungen.
Im puritanischen England des 17. Jahrhundert, zur Zeit Cromwells, wurde die grundsätzliche Überzeugung vertreten, dass Kinder von Natur aus schlecht sind. Ihr Wille müsse
gebrochen werden, damit sie zu guten und sozialen Menschen gemacht werden können.
Bei „David Copperfield“ oder im „Struwwelpeter“ ist das zu spüren. Diese Überzeugung
muss natürlich ein bestimmtes Erziehungsverhalten bewirken, gerade wenn man seine
Kinder liebt. Einengen, Angst machen, Willen brechen, damit etwas neues Gutes wachsen kann.
Wenn man nun aber der Meinung ist, dass Kinder von Natur aus gut sind und Erziehung
eigentlich bedeutet, für Kinder Bedingungen zu schaffen, in denen sie sich gut entfalten
und entwickeln können, so muss das natürlich zu einem völlig anderen Erziehungsverhalten führen.
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Auch überholte Erziehungstheorien wirken sehr viel länger nach, wenn auch nicht
bewusst in den Köpfen der Menschen, so doch oft unterschwellig in spontanen
Verhaltensweisen in Situationen von Unsicherheit und Überforderung – und nicht, weil
Eltern es so wollen.
Druck erzeugt Druck – Eltern in schwierigen Situationen
Es gibt Situationen, in denen Eltern unter Stress, außergewöhnlichen Belastungen und
besonderem Druck stehen. Und dann geben sie diesen Druck weiter.
Als Beispiel könnte ich hier die Situation im Supermarkt anbieten, die jede Mutter eines
kleinen Kindes sehr gut kennt: Das Kind schreit, strampelt, will etwas Bestimmtes haben. Alle, Kunden, Verkäufer und Verkäuferinnen etc. schauen her. Sie alle – so schießt
es der Mutter durch den Kopf – haben natürlich viel bravere Kinder und wissen auch viel
besser, was man jetzt tun sollte. Nur man selbst wird mit dieser Situation nicht fertig.
Als Mutter denkt man in Panik nur das Eine: So schnell wie möglich „das Geschrei“ abstellen.
Stresssituation:
schreiendes Kind in
der Öffentlichkeit
Stress, Hektik und Schwierigkeiten, in denen Eltern stecken, werden oft an den Kindern
ausgelassen. Das reicht von materiellen bis zu beruflichen Schwierigkeiten, z.B.
Arbeitslosigkeit. Das gilt aber auch für persönliche Schwierigkeiten und besonders für
die Situation der Scheidung der Eltern. In solchen überfordernden Situationen verhalten
sich Eltern ihren Kindern gegenüber oft völlig atypisch. Auf Grund ihrer eigenen
Schwierigkeiten, ihrer eigenen Verletzungen und Schmerzen fügen sie ihren Kindern
Verletzungen zu.
Kinder haben mit der Scheidung ihrer Eltern Probleme. Wie sie diese Probleme in ihrem
Leben bewältigen können, hängt sehr davon ab, wie ihre Eltern sich ihnen gegenüber in
dieser Phase verhalten.
Wenn Eltern hier Bescheid wüssten, wäre ihnen das in dieser Problemsituation hilfreich,
denn schaden, so behaupte ich noch einmal, wollen Eltern ihren Kindern nicht.
Vieles geschieht unabsichtlich, unbewusst, wenn Eltern in Situationen stecken, wo sie
einfach reagieren und nicht kontrolliert handeln.
Wir müssen uns bewusst machen:
Elterliche Erziehung findet bewusst durch beabsichtigtes Handeln und unbewusst durch
das Zusammenleben von Eltern und Kindern statt.
Wir können unsere
Kinder noch so gut
erziehen – sie machen uns doch alles
nach.
Die Bedeutung der Elternbildung
Ich glaube, genau in diesem Punkt muss/kann Elternbildung ansetzen. Also zum Beispiel
im Bewusst-Machen der Folgen der verschiedenen Verhaltensweisen. Hier kann
Elternbildung hilfreich sein, besonders in der Prävention, weil Eltern dann mit ihren eigenen Handlungen bewusster umgehen können.
Beratung und Therapie und auch Mediation haben ihren eigenen Stellenwert, sind wichtig und notwendig.
Doch Bildung setzt meiner Meinung nach niederschwelliger und präventiv an.
Verunsicherung der Eltern
Bildung als Prävention ist gerade heute wichtiger denn je, weil es auf Grund der starken
und schnellen Veränderungen unserer Gesellschaft für Eltern ungemein schwierig ist,
sich zurechtzufinden.
Man muss sich nur vergegenwärtigen, wie sehr Erziehungsbücher boomen.
Offensichtlich, weil die Not und die Verunsicherung der Eltern in diesen Fragen sehr groß
sind.
Verunsicherte Eltern
ziehen sich aus ihrer
Erziehungsverantwortung zurück.
Überkommene Traditionen und die Art, wie man selbst erzogen worden ist, sind heute
nicht mehr immer „passend“ und müssen hinterfragt werden.
Bei Bildungsveranstaltungen, vor allem am Land, höre ich sehr oft:
„Ich möcht’ meine Kinder nicht so erziehen, wie ich selbst erzogen worden bin. Aber wie
soll ich’s dann machen? Einiges war ja ganz gut, aber manches war für mich eher katastrophal.“ Auf Grund dieser Verunsicherung ziehen sich manche Eltern aus ihrer
Erziehungsverantwortung zurück.
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Eltern werden auch verunsichert, weil die Kinder heute sehr oft viel mehr wissen als ihre
Eltern gelernt haben. Das erlebt man in den Dörfern am Land immer wieder: „Der weiß
ja schon alles, was soll ich ihm noch sagen?“ Und so verweigern die Eltern ihren Kinder
das Lebenswissen, das sie ihnen doch schuldig sind.
Dafür reagieren die Eltern aber dann in Situationen, wo sie das Gefühl haben, „Jetzt muss
ich was tun“, zu heftig und meist falsch. Sie erkennen dann selbst, dass sie da falsch
reagiert haben. Dies verunsichert sie nun noch mehr, und sie ziehen sich weiter zurück.
Das ist ein Teufelskreis, in den Eltern manchmal geraten.
Elternbildung soll
den Eltern ihre
Stärken und
Kompetenzen bewusst machen.
Hier kann Elternbildung auf vielfältige Weise helfen. Die grundsätzliche Aufgabe der
Elternbildung ist, den Eltern bewusst zu machen, dass sie Stärken haben und dass sie
auch kompetent sind.
Zusätzlich muss Elternbildung aber auch Information geben. Denn vieles wissen Eltern
einfach nicht, ob es nun auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie oder in einem anderen Bereich ist.
Wichtig ist die Weitergabe von fachlich richtiger, also auf dem neuesten Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse basierender Information.
Bewusstsein durch Wissen
Aber um mehr Bewusstsein zu erreichen, muss Wissen vermittelt werden. Information
ist nicht schon Wissen. Wissen ist angeeignete, persönliche Information, die mit dem eigenen Leben, mit der eigenen persönlichen Situation, mit der eigenen Wirklichkeit in
Beziehung gebracht werden muss. Damit die Information, die man bekommt, auch verarbeitet werden kann, braucht es sinnvolle methodische Angebote, um die Inhalte in das
eigene Bewusstsein aufnehmen zu können.
Auch da gibt es klare wissenschaftliche Erkenntnisse, unter welchen Umständen
Erwachsene am besten lernen, welche Sinneskanäle angesprochen werden müssen,
welche Vermittlungstechniken am zielführendsten sind und so weiter. Gute
Bildungsangebote müssen auf diesen Erkenntnissen basieren, damit Eltern das, was sie
in den Elternbildungskursen hören, auch wirklich verarbeiten, in ihr Bewusstsein aufnehmen und später umsetzen können.
Ein weiterer wichtiger Bereich guter Angebote ist der Austausch zwischen den Eltern.
Eltern sind Betroffene, wie man heute so schön sagt, das heißt, sie sind auch Fachleute
für ihre eigene Situation. Und der Austausch zwischen Fachleuten bringt sehr viel an
Entlastung, an Wissenszuwachs und Erkenntnissen.
Ein weiterer notwendiger Schritt wäre dann, dass die auf Grund der erworbenen
Kenntnisse zu verändernden Verhaltensweisen ein Stück weit auch eingeübt werden
können, damit sie dann in schwierigen Situationen spontan zur Verfügung stehen.
Elternbildung ist:
ð Information – Wissen
ð ð Interaktion – Methoden – Austausch
ð ð ð Einüben neuer, veränderter Verhaltensweisen – Training
Kinder sind keine Knetmasse
Sie sehen schon, das sind anspruchsvolle und auf eine gewisse Weise aufwändige
Bildungsangebote, die hier verlangt sind.
Eltern brauchen die Stärkung ihrer Kompetenzen und dürfen nicht durch falsch verstandene Angebote noch weiter verunsichert werden.
Rezepte aber, so wie manche es wünschen, die gibt es nicht und kann es nicht geben,
weil unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen verschieden reagieren
und einfach auch Verschiedenes brauchen.
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„Es gibt keine Sicherheit, aber ungemein viel Angst, sie zu verlieren.“ (Phil Bosmann)
„Rezepte“ können in der Elternbildung nicht gegeben werden. Es kann keine Rezepte
geben, weil Kinder keine Knetmasse sind, die man nach Anleitung formen kann. Würde
man das versuchen, würde man ihnen Gewalt antun, psychische, aber auch physische,
weil sie in ihrem Menschsein nicht ernst genommen und übergangen werden.
Das Gelingen der Erziehung hängt auch vom guten Willen der Kinder ab. Und ich glaube,
das muss man sich, vor allem als Elternteil, immer wieder vor Augen halten.
In der Elternbildung geht es um mehr Verständnis, um mehr Klarheit, um mehr „Echtheit“
(Erik H. Erikson). Die Eltern in ihrer elterlichen Kompetenz zu stärken, die eigenen
Fähigkeiten und Stärken den Eltern bewusst zu machen und sie zu unterstützen ist nötig.
Was soll in der Elternbildung noch vermittelt werden: wertschätzendes Verhalten, die
Achtung vor der Person des Kindes, der sensible, behutsame Umgang mit
Schwierigkeiten, aber auch das sinnvolle Setzen von hilfreichen Grenzen.
Wie Eltern-Kind-Gespräche gelingen können, wie Auseinandersetzungen, die immer
wieder notwendig sind, konstruktiv ausgetragen werden können, soll in Elternbildungsseminaren erarbeitet und – das ist, glaub’ ich, ganz besonders wichtig – erlebt
werden können, denn das ist es, was Eltern im Umgang mit ihren Kindern brauchen, um
psychische Gewalt zu vermeiden.
Eltern brauchen die
Stärkung ihrer
Kompetenzen und
dürfen nicht durch
falsch verstandene
Angebote noch
weiter verunsichert
werden.
Eltern sind heute in einer schwierigen Situation
Natürlich muss Elternbildung bei der Situation und Befindlichkeit der Eltern ansetzen.
Eltern müssen in ihrer Situation ernst genommen werden.
„Alles Lernen beginnt bei mir und mit mir“, sagt Xaver Fiederle, Professor für
Erwachsenbildung in Freiburg.
Und: „Ich weiß nur, was ich wissen will.“ (Jean Piaget)
Eltern müssen in ihrer Situation ernst genommen, in ihrer Sprache informiert werden, und
sie müssen die sanfte Pädagogik, die notwendig ist, um psychische Gewalt zu vermeiden, selbst erleben und erfahren, damit sie diese im Umgang mit ihren Kindern anwenden können.
Genauso wie mit Kindern umgegangen werden soll, muss in der Elternbildung auch mit
den Eltern umgegangen werden. Denn nur durch das Vor- und Er leben können Eltern
den richtigen „Umgang“ lernen und verstehen.
„Kinder können nur so glücklich oder unglücklich werden wie es die Erwachsenen sind,
in deren Welt sie aufwachsen müssen.“ (Johanna Romberg)
Und in diesem Zusammenhang müssen wir uns aber auch bewusst machen, dass die
Situation der Eltern heute wirklich eine schwierige ist.
„Ich weiß nur,
was ich wissen will.“
Jean Piaget.
Kinder können nur
so glücklich oder
unglücklich werden
wie es die Erwachsenen sind, in deren
Welt sie aufwachsen
müssen.
(Johanna Romberg)
Im Beruf, in der Gesellschaft, in der Öffentlichkeit ist teilweise ein völlig anderes Verhalten
gefragt als in der Familie. Familien- und Berufsverhalten klaffen auseinander. In einer
zunehmend kälter werdenden Gesellschaft herrscht Leistungsdruck, Konkurrenzkampf,
gibt es Ängste, gibt es Ausgrenzung, gibt es Mobbing. In dieser Welt sind auch
Erwachsene, Eltern, jeder Menge psychischer Gewalt ausgesetzt. Solidarität geht verloren, wir leben in einer gewalttätigen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist
Elternbildung wichtig, weil sie Raum geben kann, diese Erfahrungen aus der persönlichen Betroffenheit zur Sprache zu bringen und andere Verhaltensweisen anzusprechen
und auszuprobieren.
Und genau diese sanfte Art ist es auch, wie Referenten und Referentinnen mit ihren
Teilnehmern und Teilnehmerinnen umgehen müssen. Sie müssen darauf achten, dass
auch diese so miteinander umgehen, denn Eltern sind in Bildungsveranstaltungen nicht
Publikum. Eltern sind Teilnehmer und Teilnehmerinnen, sie sind Lernpartner und
Lernpartnerinnen.
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Elternbildung soll
helfen, Schwächen
nicht gewalttätig
auszumerzen, sondern Stärken zu verstärken und dadurch
die Schwächen abzubauen.
Für diese Elternbildung braucht es aber speziell ausgebildete Ausbildner und
Ausbildnerinnen und Angebote guter Aus- und Weiterbildungen. Es braucht Referenten
und Referentinnen, die gelernt haben, die einzelnen Wissensgebiete zusammenzuführen und zu vernetzen, gemeinsam zu betrachten und anzubieten. Nur so ist die
Elternbildung für Eltern hilfreich und kann auch in ihre Alltagsrealität einfließen.
Es braucht Referenten und Referentinnen, die Übersetzungsarbeit leisten können, die
die wissenschaftlichen oder fachspezifischen Formulierungen so „übersetzen“, dass die
Menschen die Botschaft auch verstehen und mit ihrem eigenen Leben in Berührung bringen können.
Es braucht Referenten und Referentinnen, die gelernt haben, nicht Schwächen gewalttätig auszumerzen, sondern Stärken zu verstärken und dadurch die Schwächen abzubauen. Nur so können Eltern erfahren, wie sie dann daheim mit ihren Kindern umgehen
sollen. Elternbildung soll helfen, Schwächen nicht gewalttätig auszumerzen, sondern
Stärken zu verstärken und dadurch die Schwächen abzubauen.
Kinder wollen bedingungslos geliebt
werden. Kinder wollen, dass verantwortlich mit ihnen umgegangen wird, damit
sie lernen können,
selbst Verantwortung
zu übernehmen.
Kinder wollen hilfreich begleitet werden, damit sie später
selbstständig ein
glückliches Leben
führen können.
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Zum Abschluss: Wie wollen Kinder denn erzogen werden?
Sie wollen zuallererst geliebt werden, so wie sie eben sind. Und diese Zuneigung darf
nicht an Bedingungen geknüpft werden. Kinder wollen frei agieren können, wollen lieben
lernen, damit sie auch später selbst in Beziehung treten können. Sie wollen wertschätzend behandelt werden, in der Würde ihrer eigenen Person geachtet und ernst genommen werden, damit sie ihren eigenen Wert erkennen und ihren Selbstwert aufbauen können. Kinder wollen Orientierung und Halt finden, hilfreiche Grenzen erfahren, damit sie
auch später erkennen und entscheiden können, was für ihr Leben Sinn macht und was
keinen Sinn macht.
Und: Kinder wollen, dass man verantwortlich mit ihnen umgeht, damit sie auch fähig werden, Verantwortung zu übernehmen, für sich selbst, für die Menschen, mit denen sie zu
tun haben, für die Gesellschaft und die Umwelt. Sie wollen einfach, dass Eltern, Erzieher
und Erzieherinnen oder Lehrer und Lehrerinnen sie hilfreich begleiten, sodass sie später selbstständig ein glückliches Leben führen können.
„Also sprach in ernstem Ton
der Papa zu seinem Sohn“
„Väter im Erziehungsalltag“
Referent: Dr. Harald Werneck
Ich möchte speziell auf die Rolle der Väter als Urheber der psychischen Gewalt an den
Kindern eingehen.
Im Zuge dessen möchte ich auch (nochmals) auf die verschiedenen Formen der psychischen Gewalt im Erziehungsalltag eingehen und auf die Frage, wo die Grenze liegt
zwischen sinnvollen und notwendigen Erziehungsmaßnahmen einerseits und
Maßnahmen, die bereits – mehr oder weniger – als psychische Gewalt zu klassifizieren
sind, andererseits.
Schließlich sollen auch Anregungen für einen gewaltfreieren Erziehungsalltag gegeben
werden.
Was ist psychische Gewalt?
Um sich zum Themenbereich psychische Gewalt systematisch Gedanken zu machen,
scheint es mir aber vorerst angemessen, in Ergänzung zu den bereits vorangegangenen Definitionen zu deklarieren, auf welchem Verständnis von psychischer Gewalt meine
Ausführungen beruhen. Der Misshandlungsbegriff kann ja (wie bereits gehört) insbesondere im Bereich der psychischen Gewalt enger und weiter gefasst werden. Im
Gegensatz zu strafrechtlichen Entscheidungskontexten etwa scheint es im Zusammenhang mit präventiven Überlegungen sinnvoll, sich an breiten Gewaltdefinitionen zu orientieren.
Ich lege meinen Ausführungen zuerst einmal eine Definition in Anlehnung an das
Konzept von Garbarino, Guttmann und Seeley (1986) zu Grunde, wo unter psychischer
Gewalt alle Handlungen und Unterlassungen von Eltern und Bezugspersonen verstanden werden, die Kinder ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der eigenen
Wertlosigkeit übermitteln und sie in ihrer psychischen und/oder körperlichen Entwicklung
beeinträchtigen können.
Dazu zählen grundsätzlich nicht nur die extremen Formen seelischer Grausamkeit, sondern auch auf den ersten Blick vielleicht harmlosere Varianten elterlichen Verhaltens, wie
zum Beispiel ständiges Schimpfen oder das demonstrative Bevorzugen eines
Geschwisterkindes; auf diese Formen möchte ich dann später noch eingehen.
Alle Handlungen
und Unterlassungen
von Eltern und
Bezugspersonen, die
Kinder ängstigen,
überfordern, ihnen
das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit
vermitteln und sie in
ihrer psychischen
und/oder körperlichen Entwicklung
beeinträchtigen, können als psychische
Gewalt verstanden
werden.
Aus dieser breiten Definition wird aber zugleich deutlich, wie schwierig es ist, eine
Grenze zwischen üblichen, weitgehend tolerierten Erziehungspraktiken und psychisch
schädigendem Elternverhalten zu ziehen.
Hier geht es also vor allem um die Frage des geeigneten Erziehungsstils.
Erziehung – eine Frage des Stils?
Schon in den 30er-Jahren wurden die verschiedenen Erziehungsstile einer Dreiteilung
unterworfen, die sich mit leichten Modifikationen im Wesentlichen bis heute bewährt hat.
Diese drei „Grund-Erziehungsstile“ sind der autoritäre, der demokratische und der
Laissez-faire-Stil. Zumindest die Namen dieser Erziehungsstile haben mittlerweile auch
den Einzug ins Allgemeinwissen geschafft.
Sie unterscheiden sich vor allem hinsichtlich des Grades der Lenkung einerseits und des
Grades der emotionalen Wertschätzung durch die Erziehungspersonen andererseits.
Diese mehr oder weniger bewusst gewählten Stile, die den Erziehungsalltag wesentlich
23
prägen, variieren in ihrer Anwendungshäufigkeit sehr stark – in Abhängigkeit von der
Kultur, von individuellen Einstellungen, von Überzeugungen, vom gesellschaftlichen
Kontext und nicht zuletzt auch von der Zeit.
Der autoritäre Erziehungsstil
Der autoritäre
Erziehungsstil führt
auf der einen Seite
zwar kurzfristig oft
zum erwünschten
Resultat, längerfristig aber zu einer
Verschlechterung der
Beziehung der
Kinder zu den
Erziehenden.
Bezeichnend ist, dass 1845 im „Zappelphilipp“, daraus stammt das Zitat meines
Referattitels, der Vater seinen Sohn in ernstem Ton ermahnt.
Dies ist bezeichnend einerseits für die Rollenaufteilung damals, aber auch bezeichnend
für den früher wohl vorherrschenden Erziehungsstil, nämlich den autoritären.
Dieser Erziehungsstil kann allgemein gekennzeichnet werden durch erhöhte
Unfreundlichkeit, häufigeres Befehlen in der Erziehung, durch Pessimismus, Erregung,
vermehrte Strafandrohungen und natürlich auch vermehrte Straferteilungen.
Das führt auf der einen Seite bei den Kindern zwar kurzfristig oft zum erwünschten
Resultat, andererseits aber längerfristig doch eher zu einer Verschlechterung der
Beziehung zu den Erziehenden.
Der autoritäre Stil provoziert in der Regel vermehrt ablehnende Reaktionen der Kinder,
verstärkte Unfreiheit im Handeln, unmittelbare Angepasstheit – interessanterweise gepaart mit späterer Unangepasstheit – und natürlich eine Behinderung der seelischen
Reifung allgemein.
Dieser Umgang zwischen Erziehenden und Kindern wird in seiner Reinkultur als
„schwarze Pädagogik“ bezeichnet. Diese Erziehungsform wird zwar von der
Gesellschaft, vom „common sense“ mittlerweile nur mehr sehr bedingt akzeptiert, ist aber
trotzdem zumindest immer noch eine potenzielle Quelle psychischer Gewalt am Kind.
Dieser Erziehungsstil ist noch immer zumindest in den Hinterköpfen vieler verankert und
somit häufiger im Erziehungsalltag präsent, als uns lieb ist.
Der Laissez-faire-Stil
Laissez faire führt
zwar kurzfristig zu
einer verbesserten
Beziehung zu den
Erziehenden, langfristig jedoch zu
Desorganisation und
Unangepasstheit.
Abgelöst als weit verbreitetes Erziehungsideal wurde dieser autoritäre Stil in den späten
60er- und 70er-Jahren – Stichwort „antiautoritäre Erziehung“ – immer mehr durch das
Ideal des „Laissez faire“. Hier legen die Erziehenden grundsätzlich Wert auf Ruhe,
Verständnis und Höflichkeit im Erziehungsalltag, ansonsten vertrauen sie aber im
Wesentlichen auf Selbstregulationsmechanismen der Kinder.
Bei den so erzogenen Kindern führt dies zwar vermehrt zu Freiheit im Handeln, einer zumindest kurzfristig (oft nur vordergründig) verbesserten Beziehung zu den Erziehenden,
zu positiveren Gefühlen den Erziehenden gegenüber, andererseits aber natürlich vor
allem zu Desorganisation, im Endeffekt dann auch zu schlechteren Erziehungsergebnissen sowie zu einer unmittelbaren und auch späteren Unangepasstheit.
Der demokratische Erziehungsstil
Dieser Erziehungsstil wird oft auch als „sozialintegrativer Stil“ bezeichnet und sollte zumindest theoretisch im Wesentlichen die Vorteile der beiden vorher Genannten integrieren: nämlich das weit gehende Erreichen des Erziehungszieles (vom autoritären
Erziehungsstil) und die relativ gute emotionale Beziehung zwischen Eltern und Kind (vom
Laissez-faire-Stil).
Von der grauen Theorie zur Praxis
24
Wie lässt sich das nun – zumindest annähernd – im Alltag umsetzen? Was gibt es für
Ansätze, das tatsächlich auch im Alltag umzusetzen, wo ja vieles anders ist als in der
grauen Theorie? Wie kann also ein Kind ohne Anwendung körperlicher und auch psychischer Gewalt dazu gebracht werden, entsprechend dem Willen der Erziehungsperson
etwas zu tun, was es spontan nicht tun würde, oder etwas zu unterlassen, was es im
Moment zwar gerne tun würde, aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht tun sollte?
Wichtig dabei erscheint mir aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie vor allen
Dingen, den Entwicklungsstand des jeweiligen Kindes verstärkt zu beachten.
Aus der Forschung über die Entwicklung des moralischen Urteilvermögens wissen wir,
dass sich Kleinkinder bei ihrer Einschätzung von Handlungen als gut oder böse, richtig
oder falsch im Wesentlichen daran orientieren, ob sie von den Erwachsenen für diese
Handlungen belohnt oder bestraft werden. Dementsprechend schwierig und aussichtslos wird es daher in den meisten Fällen sein, etwa einem 2-Jährigen den tieferen Sinn
der verschiedenen Erziehungsinterventionen darzulegen, in der Hoffnung auf Einsicht
und Vernunft. Ein Kind dieses Alters richtet sein Verhalten einfach noch nahezu ausschließlich nach den Konsequenzen beziehungsweise den Reaktionen der Eltern aus.
Selbst noch so gut gemeinte Erklärungen werden auf Grund der einfach unrealistischen
Erwartungshaltung kontraproduktiv wirken, nämlich dann, wenn die elterlichen
Forderungen im Endeffekt doch, dann allerdings gegen den bewusst gemachten Willen
der Kinder durchgesetzt werden. Sinnvoller und effizienter wäre in solchen Fällen, von
vornherein in ruhigem Ton klare Anweisungen zu geben beziehungsweise Grenzen zu
setzen, die vom Kind in dieser Situation möglicherweise noch nicht verstanden, aber
doch akzeptiert werden können. Auf diese Weise kann ein ruhiges, aber bestimmtes
„Nein“ in vielen Situationen nicht nur klärend, sondern auch psychisch entlastend wirken
– für das betroffene Kind und auch für den das „Nein“ aussprechenden Elternteil.
Wichtig ist, den
jeweiligen Entwicklungsstand des
Kindes zu beachten.
Je älter die Kinder
sind, desto sinnvoller
wird es, Erziehungsmaßnahmen zu
erklären und, statt
starre Grenzen zu
setzen, zunehmend
flexiblere Verhaltensregeln zu
erklären und zu
vereinbaren.
Je älter die Kinder dann sind, desto sinnvoller ist es, Erziehungsmaßnahmen doch zu
erklären und, statt starre Grenzen zu setzen, zunehmend flexiblere Verhaltensregeln zu
erklären und zu vereinbaren.
Vor allem Väter begehen oft den Fehler, dass sie lange Zeit das Verhalten ihres
Sprösslings tolerieren, ohne ein Wort zu sagen, bis ihnen dann sozusagen der
Geduldfaden reißt. Dann „explodieren“ sie, was für das Kind völlig unnachvollziehbar ist.
Für das Kind reagiert der Vater unverhältnismäßig stark, da zumeist dann gleich sanktionierend.
Erst relativ spät, interessanterweise erst nach dem Volksschulalter, sind Kinder dann
wirklich in der Lage zu begreifen, dass man von Regeln auch Ausnahmen machen kann,
ohne dabei die Regel selbst grundsätzlich in Frage zu stellen.
Ich denke, das ist auch in der alltäglichen Erziehung wichtig zu berücksichtigen.
Dennoch ist eine klare und konsequente Erziehungslinie bei Kindern beziehungsweise
Jugendlichen unheimlich wichtig. Die Kinder müssen einmal wissen, worauf sie sich einstellen und worauf sie sich verlassen können. Das setzt natürlich auch voraus, dass sich
die Eltern beziehungsweise die Erziehungspersonen selbst über diese Erziehungsziele
und auch die Erziehungsstile im Klaren sind.
Dennoch ist eine
klare und konsequente Erziehungslinie ausgesprochen
wichtig.
Väter im Aufbruch
Speziell die Väter sind heute mehr denn je über die an sie gestellten Erwartungen und
Anforderungen als Erzieher verunsichert. Schwankend so etwa irgendwo zwischen dem
Bild des am Abend nach Hause kommenden und die Kinder für die Sünden des Tages
bestrafenden Vaters einerseits und dem alles tolerierenden Spielkameraden, mit dem
man alles machen kann, andererseits.
Grundsätzlich geht speziell auch bei den Vätern der Trend in Richtung einer deutlichen
Abnahme autoritärer Aspekte in der Erziehung, wie in einer Generationen vergleichenden Studie von Eitler (1984) gezeigt wurde, in der Erziehungsstile und Erziehungspraktiken der jetzigen Vätergeneration mit jenen der Großväter verglichen wurden.
Auch in einem eigenen Forschungsprojekt zur Familienentwicklung im Lebenslauf gaben uns 58 Prozent der jungen Väter an, ihre Kinder milder zu erziehen als sie selbst erzogen wurden (z.B. Werneck, 1998). Nicht einmal 1 Prozent der Väter erziehen ihre
Kinder strenger, als sie selber erzogen wurden. Besonders interessant erscheint auch,
dass Väter, die selbst sehr streng erzogen worden sind, sich in der Regel zumindest vornehmen, mit ihren eigenen Kindern besonders mild umzugehen.
Väter erziehen heute
milder als ihre
eigenen Väter.
25
„Neue Väter“
zeichnen sich durch
geringe Gewaltbereitschaft, hohe
Befürwortung der
Emanzipation der
Frau, starke
Gefühlsbetontheit
und hohes Engagement in der Kindererziehung aus.
Die „neuen“ Väter
Das deckt sich auch mit Resultaten einer kürzlich durchgeführten deutschen
Untersuchung von Zulehner und Volz (1999) mit Daten aus Deutschland. Danach ist die
Gewaltbereitschaft bei den so genannten „neuen Vätern“, die sich vor allem durch hohe
Befürwortung der Emanzipation der Frauen, starke Gefühlsbetontheit und hohes
Engagement in der Kindererziehung auszeichnen, generell gering: 91 Prozent dieser
neuen Männer lehnen männliche Gewalt grundsätzlich stark ab. Das passt auch gut zu
den Wünschen und Ansprüchen an den idealen Vater, der einer eigenen Umfrage unter
Studentinnen und Studenten zur Folge vor allem verständnisvoll, liebevoll, fürsorglich,
gesprächsbereit und verantwortungsvoll sein sollte.
Erziehungsalltag der Väter
Wie sieht nun der konkrete Erziehungsalltag für Väter in der Regel aus?
Die Zeit, die Väter mit ihren Kindern verbringen, wird vor allem dem gemeinsamen Spiel
gewidmet. Versorgende Tätigkeiten spielen, natürlich abhängig vom Lebensalter des
Kindes, grundsätzlich eine untergeordnete Rolle.
Die alltägliche Erziehungsarbeit aber wird, wie wir aus verschiedenen Studien wissen,
im Wesentlichen noch immer von den Müttern geleistet.
Was die angegebene Strenge in der Erziehung betrifft, so gibt es etwa in unserer
Längsschnittstudie, aber auch anderen Erhebungen zur Folge keine bedeutenden
Unterschiede zwischen Vätern und Müttern, statistisch gesehen – was für den Einzelfall
nicht unbedingt gültig ist.
Die Qualität insbesondere der Vater-Kind-Beziehung und, damit zusammenhängend, die
Neigung zur Anwendung diverser Formen psychischer Gewalt im Erziehungsalltag hängt
aber auch stark von der Qualität der Beziehung zwischen den Eltern ab. Auch das wird
interessanterweise erst seit ein paar Jahren übereinstimmend in mehreren Studien immer wieder betont.
Während Väter zu
ihren Töchtern oft
bessere emotionale
Beziehungen als zu
ihren Söhnen haben,
stimulieren sie ihre
Söhne intellektuell
mehr als ihre
Töchter. Diese geschlechtsspezifischen
Unterlassungen können auch als Form
psychischer Gewalt
betrachtet werden,
da sie zu Entwicklungsbeeinträchtigungen führen
können.
Der kleine Unterschied
Abgesehen von der negativen Vorbildwirkung sich streitender Eltern, die, glaube ich, relativ evident ist, fand etwa das Forscherehepaar Cowan und Cowan Anfang der 90erJahre (1994) in einer groß angelegten amerikanischen Studie, dass Väter bei Partnerschaftsproblemen vor allem die Töchter schlechter behandeln.
Das weist einmal mehr auf Unterschiede im Erziehungsverhalten je nach Geschlecht des
Kindes hin.
Auch hiezu gibt es eine Fülle von Untersuchungsergebnissen, die einander allerdings
teilweise widersprechen. Man könnte sie dahingehend zusammenfassen, dass seitens
der Väter die emotionale Beziehung zu den Töchtern oft besser ist als zu den Söhnen,
dass die Söhne dafür aber intellektuell mehr stimuliert werden.
Betrachtet man jetzt die Befunde sozusagen von hintenherum, hinsichtlich der Frage,
was bei den Töchtern beziehungsweise den Söhnen zu wenig gefördert wird, so ließen
sich im Sinne der eingangs erwähnten breiten Definition zu präventiven Zwecken die
geschlechtsspezifischen Unterlassungen durchaus als Form der psychischen Gewalt
klassifizieren, die dann natürlich in weiterer Folge auch den Keim für spätere Entwicklungsbeeinträchtigungen in sich bergen.
Vernachlässigung der väterlichen Pflichten
Damit wäre ich auch schon bei einer Kernthese meines Vortrages:
26
Die häufigste Form psychischer Gewalt, die zurzeit von Vätern in Österreich praktiziert
wird (im Sinn der eingangs angeführten breiten Definition), besteht wohl weniger in den
verschiedensten Varianten aktiver Gewaltanwendung, sondern eher in der
Vernachlässigung ihrer väterlichen Pflichten, im Unterlassen einer optimalen und maximalen Entwicklungsförderung der Kinder, die ja sozusagen Kraft ihrer Existenz eigentlich ein Anrecht auch auf väterliche Unterstützung hätten.
Die Abwesenheit beziehungsweise die – selbst bei Anwesenheit – oft nicht vorhandene
emotionale Verfügbarkeit, aus welchen Gründen auch immer, wird mehrfach als einer der
Hauptgründe für das bedenkliche Ansteigen diversester Verhaltensstörungen angeführt.
Es geht hier in erster Linie um Störungen im Sozialverhalten, um aggressive
Verhaltenstörungen – vor allem Buben werden immer aggressiver. Ein Hauptgrund hierfür wird wohl in der eben beschriebenen „Unterväterung“ zu finden sein.
Viele dieser Buben und Mädchen würden sich vielleicht wünschen, dass der „Papa“ ab
und zu einmal, wenn auch „in ernstem Ton“, aber doch zu ihnen spricht. Pointiert formuliert: Besser in ernstem Ton als gar nicht!
Unterlassungen –
die häufigste Form
väterlicher Gewalt
In zu vielen Fällen fehlt der Vater entweder ganz oder weitgehend in der Erziehung. Vor
allem aus der Perspektive der Kinder fehlt er als Ansprechpartner. Er fehlt als positives
Identifikationsmodell, als eine die Mutter ergänzende Erziehungsinstanz oder einfach –
scheinbar banal – als interessanter Freizeitpartner; wobei die Gründe, warum sich die
Väter nicht eingehender mit ihren Kindern befassen, in vielen Fällen weniger in der
grundsätzlich fehlenden oder mangelnden Bereitschaft oder sogar fehlenden Fähigkeit,
sich mit den Kindern zu beschäftigen, zu suchen sind, als vielmehr in externen Ursachen,
die mit der Vater-Kind-Beziehung an sich nicht unmittelbar direkt zusammenhängen.
Dazu gehören typischerweise eine Trennung der Eltern oder natürlich auch der hohe berufliche Zeitaufwand. Oder beides zusammen: Trennung und Beruf.
Diese mittelbaren Formen psychischer Gewalt wären der Vollständigkeit halber noch zu
ergänzen durch Formen struktureller, ja gesamtgesellschaftlich bedingter Gewalt: etwa
mangelnde Einräumung von kindgerechten Spielmöglichkeiten, von Bewegungsmöglichkeiten und ähnlichem.
Neben diesen strukturellen Komponenten ist aber nicht zu vergessen, dass es nach wie
vor Formen der unmittelbaren, aktiven psychischen Gewalt gibt, die im Erziehungsalltag
mehr oder weniger deutlich zu beobachten sind.
Art und Ausmaß dieser Gewaltformen haben sich bei Vätern und Müttern in den letzten
Jahrzehnten in Summe einander angenähert und lassen sich im Durchschnitt nicht mehr
wesentlich voneinander unterscheiden.
Psychische Gewalt: fällt weniger auf,
ist gesellschaftlich eher akzeptiert als physische Gewalt
Obwohl eine umfassende, objektive, methodisch korrekte Erfassung psychischer Gewalt
letztendlich nahezu unmöglich ist – das ist ja das Dilemma! – und somit die harten Daten
fehlen, stelle ich jetzt eine weitere Hypothese auf: Parallel zum Rückgang der physischen
Gewalt, der natürlich sehr zu begrüßen ist, hat die psychische Gewalt in der Erziehung
als Mittel zur Konfliktaustragung und als alltägliches Erziehungsmittel eher zugenommen.
Die physische Gewalt wird gesellschaftlich immer mehr geächtet, während die psychische eher gerechtfertigt wird.
Gemessen an den zu erwartenden Spätfolgen, die im Extremfall bis zu Suizidversuchen
gehen können, wird die psychische Gewalt im Vergleich zur physischen Gewalt in der
Regel unterbewertet.
Die Gründe dafür: Einerseits ist das gewaltsame Verhalten als solches schwer identifizierbar, andererseits sind die Konsequenzen, die psychischer Missbrauch nach sich ziehen kann, häufig unklar und unabsehbar.
Gemessen an den
zu erwartenden
Spätfolgen, die im
Extremfall bis zu
Suizidversuchen
gehen können, wird
die psychische
Gewalt im Vergleich
zur physischen
Gewalt in der Regel
unterbewertet.
Psychische Gewalt ist eher Ausdruck einer Grundhaltung, Ausdruck einer Einstellung,
die den Erziehungsalltag aber wirklich maßgebend und auch nachhaltig prägt (und
wahrscheinlich nachhaltiger prägt als der fallweise Einsatz physischer Bestrafung).
27
Eine permanente psychische Gewalt als Ausdruck einer Erziehungseinstellung ist wahrscheinlich mittel- und längerfristig noch schädlicher als physische Gewalt.
Psychische Gewalt
ist auch Ausdruck
einer Grundhaltung,
einer Einstellung, die
den Erziehungsalltag
maßgebend und
wahrscheinlich
nachhaltiger prägt
als fallweise physische Bestrafung.
Zu den klassischen Varianten psychischer Gewalt zählen etwa: das Kind einschüchtern,
isolieren, es übermäßig kontrollieren, mit lang anhaltendem Liebesentzug bestrafen,
emotional erpressen, ablehnen, auslachen, blamieren, grundlos misstrauen, ständig
über- oder auch unterfordern oder das speziell unter Vätern weit verbreitete Spektrum
verbaler Gewaltformen, wie zum Beispiel beleidigen, erniedrigen, sich lustig machen,
hänseln, abwerten, ständig Kritik üben, Sarkasmus, Zynismus etc. Diese Liste ließe sich
wohl noch lange fortsetzen.
Vielleicht sollte sich jede/r als ersten Schritt, im Sinne einer Bewusstmachung und in weiterer Folge zur Vermeidung dieser aggressiven Kommunikationsformen für sich selbst
einmal so eine Liste überlegen, um sich zu verdeutlichen, welche Erziehungsmaßnahmen aus subjektiver Perspektive des Kindes eigentlich eine Integritätsverletzung
bedeuten müssen.
Was die Prävention gerade von psychischer Gewalt so erschwert, ist ja unter anderem,
dass psychische Gewalt in vielen Fällen von den Ausübenden gar nicht und auch von
den Opfern häufig nur diffus oder gar nicht als solche erkannt wird.
Was können wir tun?
Bewusstseinsarbeit, Sensibilisierung auf konkreter individueller, aber auch auf gesellschaftliche Makroebene, etwa in Form dieser heutigen Enquete, bilden die Basis, auf
welcher dann Strategien überlegt werden müssen und können, um Gewaltaspekte im
Erziehungsalltag möglichst zu reduzieren.
Auf soziologischer, gesellschaftlicher Ebene sollten die Bemühungen zur Vermeidung
psychischer Gewalt grundsätzlich in Richtung einer umfassenderen Entlastung der
Familien gehen, vor allem in krisengeförderten Übergangsphasen, also zum Beispiel in
der Phase des Übergangs zur Elternschaft oder in der Phase der Pubertät, wo die
Familien mehr Unterstützung bräuchten.
Familien- und gesellschaftspolitische Maßnahmen, im Sinne einer Stärkung, eines
„Empowerments“ des Einzelnen und der Familien als Ganzes, beeinflussen in letzter
Konsequenz auch den innerfamiliären Kommunikationsstil positiv, die „Interaktionskultur“. Sie sind im Rahmen einer umfassenderen Strategie – und einer solchen bedarf
es – daher wohl unverzichtbar.
Parallel zu dieser übergeordneten Ebene obliegt es aber auch vielleicht noch zu einem
viel größeren Anteil der Verantwortung des Einzelnen – und den kann man nicht aus
dieser Verantwortung entlassen –, sich unmittelbar um eine gewaltfreie Erziehung zu
bemühen.
Das setzt, wie gesagt, zuerst einmal das Bemühen um die Herstellung beziehungsweise Intensivierung einer tragfähigen, auf gegenseitigem Vertrauen basierenden
Gesprächsbasis zwischen Kind und Vater voraus, so dass auch das Kind die subjektive
Sicherheit hat, sich mit allen Anliegen an den Vater wenden zu können und damit auch
ernst genommen zu werden. Denn wer sich von vornherein ein zynisches Statement
erwartet, wird kaum das Gespräch suchen.
Vätern fällt es zumeist schwer, am
Feierabend oder zum
Wochenende in eine
kindgerechte Sprache zu wechseln.
Männlich-väterliche
Sprache hat mehr
28
Sie sprechen oft ein andere Sprache ...
Speziell Vätern fällt es – mitbedingt durch die geringe mit den Kindern verbrachte Zeit –
wahrscheinlich auch oft schwerer, all die Sorgen und Nöte der Kinder in der ganzen
Tragweite, die es für das Kind bedeutet, nachzuvollziehen. Es fällt ihnen schwer, adäquat darauf einzugehen und darauf zu reagieren. Dazu kommt, dass es in der Regel gerade Vätern nach dem Berufsalltag, also wenn sie am Abend nach Hause kommen, oder
zum Wochenende, schwerer fällt, sich von der Erwachsenensprache auf die altersgemäße Sprache der Kinder umzustellen, sowohl vom Stil her als auch von den Inhalten.
Väter wissen oft nicht, welche Gesprächsthemen gerade für die Kinder relevant sind und
was diese gerade wirklich beschäftigt.
Ich denke, das hängt auch damit zusammen, dass die männlich-väterliche Gesprächskultur im Durchschnitt betrachtet vielleicht grundsätzlich mehr Barrieren auf dem Weg zu
einer kindgerechten Sprache zu überwinden hat als jene der Mütter.
Barrieren auf dem
Weg zu einer kindgerechten Sprache
zu überwinden als
die „Muttersprache“.
Konklusio
Psychische Gewalt im Erziehungsalltag zu vermeiden setzt also vor allem bei Vätern voraus, sich grundsätzlich bereitwillig auf das Kind einzulassen, sich mehr an den kindlichen
Bedürfnissen zu orientieren, diese auch ernst zu nehmen, dabei aber gegebenenfalls
auch Richtungen vorzugeben und das Kind in liebevoller und zielführender Weise anzuleiten und zu begleiten.
Bedingung dafür wäre in erster Linie aber wiederum eines: mehr Zeit der Väter für ihre
Kinder.
29
„Niemand hört ihn, wenn er schreit“
„Stadt-Land-Problematik“
Referent: Dr. Reinhard Neumayer
Ich habe zwei Einleitungen für Sie vorbereitet. Die erste ist ein wenig naiv. Während der
zweiten können Sie sich davon erholen.
Erste Einleitung
Idyllische
Dorfstrukturen gibt
es nur mehr im
Fremdenverkehrsprospekt.
Es treffen sich zwei Idealisten aus dem psychosozialen Feld und besprechen ihre
Situation. Der eine arbeitet in der Stadt, der andere auf dem Land. Der vom Land sagt
zu seinem Kollegen: „Ja ihr in der Stadt, ihr habt es gut! Das gibt es so viele Angebote.
Alles ist leichter erreichbar. Und diese herrliche Anonymität! Wenn man in eine
Beratungsstelle geht, ist es unwahrscheinlich, dass der Nachbar im gleichen Wartezimmer sitzt. Da kann man doch wirklich gut und profund arbeiten, und die Klienten nehmen diese Arbeit sicher gerne an.“
Der Kollege aus der Stadt schluckt die spontane Antwort hinunter und sagt: „Aber bei
euch am Land, wo noch die Familienbande funktionieren, wo die Großfamilien tragfähig
sind, wo Krisen innerhalb des Clans ausgetragen werden, wo die dörfliche Gemeinschaft
alles trägt, da braucht man wahrscheinlich gar nicht so viele Beratungsstellen.“
Und dann schluckt der vom Land, und beide haben plötzlich den Eindruck, dass der
jeweils andere von einem anderen Kontinent kommt.
Jeder von Ihnen arbeitet entweder in der Stadt oder auf dem Land oder – bei besonderem Pech – in einem Bereich einer Bezirkshauptmannschaft, wo es städtische und ländliche Umgebung gibt. Oder Sie arbeiten vielleicht in einer Kleinstadt, die gar nicht weiß,
ob sie noch ein Dorf oder schon eine Stadt ist.
Die Strukturen sind alle nicht mehr so, wie wir geglaubt haben oder wie es uns Fremdenverkehrsprospekte suggerieren.
Das war die naive Einleitung, jetzt kommt die andere.
Zweite Einleitung
Es war einmal ein Klient, der hat noch gar nicht gewusst, dass er einer ist.
Er ist eine „Sie“, eine Lehrerin, die das Gefühl hat, dass mit einem ihrer Schüler etwas
nicht in Ordnung ist. Der Bursche ist recht zurückgezogen, ängstlich, wirkt, als sei er unter Druck. Es gibt viel zu wenig Hinweise auf ein stabiles Selbstwertgefühl, und er weicht
aus, wann immer es Gelegenheit für ein persönlicheres Gespräch gibt – und so oft gibt
es die ja gar nicht.
Bei einigen der Leser und Leserinnen beginnt vielleicht jetzt schon die Hypothesenbildung: Was könnte denn mit diesem Schüler wirklich los sein?
Andere wiederum erinnern sich jetzt, dass ich mit der Situation einer Lehrerin begonnen
habe. Sie fragen sich jetzt also: „Wieso soll die Lehrerin der Klient sein?“
Und wieder andere beschäftigt vielleicht die Idee, dass das Referat etwas mit Stadt und
Land zu tun haben sollte. Warten Sie ab!
30
Dank ganz beharrlicher und vielfältiger Versuche von vernetzungsfreudigen Anbietern
aus der psychosozialen Szene ist der Lehrerin ja klar: Dieser Schüler braucht Hilfe! Und
es gibt auch eine ganze Palette von Angeboten. Die Auswahl zu treffen ist nicht leicht,
aber es lohnt sich in den Fall einzusteigen. (Hinweis: Die Lehrerin wird deshalb zur
Klientin, weil sie sich zunächst Rat für die geeignete eigene Vorgangsweise sucht. Also
zuerst einmal ist sie die Klientin und nicht das Kind, nicht die Familie.)
Sie tut viel. Sie holt telefonisch unter Zuhilfenahme einer reichhaltigen Broschürensammlung Auskünfte über Arbeitsschwerpunkte, Öffnungszeiten und Erreichbarkeit von
verschiedenen Beratungseinrichtungen mit oder ohne therapeutisches Zusatzangebot
ein. Außerdem erkundet sie – nicht unwesentliche – Zugangskriterien wie: Wer darf denn
welche Beratungsstelle überhaupt aufsuchen? Und sie informiert sich natürlich über
mögliche Kosten.
Aber bevor sie wirklich etwas tun kann, bedarf es – das ist der mittlerweile erschöpften
Lehrerin inzwischen klar geworden – der Zustimmung der Eltern.
Und, was vielleicht noch viel schwieriger ist, auch der Mitwirkung der Eltern.
Das bedeutet Motivationsarbeit, Überzeugungsarbeit und so weiter – jedenfalls Arbeit.
Die Eltern – entgegen aller statistischen Wahrscheinlichkeit sogar beide Eltern – kommen der „Einladung“ der Lehrerin in die Sprechstunde nach.
Sie kommen also und hören sich zunächst einmal geduldig und dann immer verständnisloser an, worum es geht.
Offenbar geht es nicht um schlechte Leistungen, nicht um tadelnswertes Benehmen,
nicht um überraschend aufgedecktes Schulschwänzen.
Was will diese Lehrerin eigentlich?
Auszüge aus den (vermuteten) Gedankengängen der Eltern und wie sie versuchen, es
selber darzustellen:
„Wir haben uns doch so bemüht – nie hat es auch nur eine Ohrfeige gebraucht. Er hat
auch so recht bald verstanden, der Bub, was sich gehört. Eigentlich braucht man nur einmal hinschauen, und er gehorcht. Und Zurückreden, das gibt es sowieso nicht, weil erst
muss man einmal was leisten, und dann hat man was zu reden.“
Vielleicht hat man aber dann auch nichts mehr zu sagen ...
„Ja doch, früher, da war einmal so eine Zeit, da wollte er so auf trotzig machen.
Aber da weiß man ja, wenn man sich da nicht durchsetzt, dann wachsen einem diese
Kinder gleich über den Kopf.
„Wir haben uns doch
so bemüht! Ja, es hat
Zeiten gegeben, da
wollte er trotzig sein.
Wenn man sich da
nicht durchsetzt,
dann wachsen einem
die Kinder gleich
über den Kopf. Aber
schlagen mussten
wir ihn nie! Hie und
da ein wenig einsperren ins
Kinderzimmer –
wem schadet das?
Und jetzt soll er, sollen wir alle Hilfe
brauchen?“
Aber es geht alles ohne Schlagen.
Obwohl manchmal, da hätte es einen schon gejuckt. Aber heute, da steht das ja überall,
dass das nicht mehr geht mit dem Hinhauen.
Nein, wir haben das feiner gemacht.
Aufheben – Badezimmer – einmal das Gesicht mit dem Waschlappen abputzen und dann
ab ins Kinderzimmer. Dort muss er bleiben, bis er vernünftig ist und bittet – bittet, dass
er wieder herauskommen darf. Aber es muss das Bitte schon ernst meinen. Einfach nur
„Bitte“ sagen und dann schon heraussausen, und alles ist vergessen – na so geht das
natürlich nicht! Das muss schon ehrlich kommen, das muss man spüren, dass das
echt ist.
Und jetzt soll er Hilfe brauchen? – Was? Wir alle? ... (?) Wieso? Was ist denn nicht in
Ordnung?“
Die Realität
Steigen wir jetzt aus dieser Szene aus, und fassen wir zusammen:
Es gibt ein auffälliges Kind. Das Kind ist jemandem – in diesem Beispiel einer Lehrerin
– aufgefallen.
Dann hat dieser Jemand – diese Lehrerin – auch noch den Versuch gemacht, einen
Hilfeprozess in Gang zu bringen.
Aber das war eben nur eine Einleitung. Die Realität sieht zumeist anders aus.
Es gibt viele Kinder, an deren Verhalten etwas Auffälliges zu bemerken wäre, würde nur
jemand mit geschultem Blick hinschauen.
Es gibt Kinder, die haben aufgegeben. Sie resignieren, sie versuchen nicht mehr auf sich
und auf ihre Not aufmerksam zu machen.
31
Viel zu oft bleiben
die „Schreie“, die
verschiedenen
Versuche, sich bemerkbar zu machen,
auf seine Not aufmerksam zu machen,
unbemerkt.
Und es gibt Kinder, die immer noch schreien. Doch – ganz im Sinne des Referattitels:
„Niemand hört ihn, wenn er schreit“.
Die verschiedenen Versuche, sich bemerkbar zu machen, auf seine Not aufmerksam zu
machen, bleiben unbemerkt.
Wenn ich von geschultem Blick spreche, dann setze ich den Level nicht hoch an. Ich
meine damit keine Untersuchungen durch ein mobiles „Psycho-Notfalls-Team“. Ich meine
Sensibilisierung der Menschen, ich meine Aus- und Fortbildung möglicher Ersthelfer.
Zielgruppenorientierte Information
Erziehung sollte
dahin führen, die
Fähigkeit zu erlangen, sich in einem
sozialen Kontext so
zu bewegen, dass
jeder seine Entwicklungschancen wahrt,
ohne die des anderen
zu beschädigen.
Diese Veranstaltung versucht einen Impuls zur Meinungsbildung zum Thema
„Psychische Gewalt“ zu setzen.
Aber es hat keinen Sinn, nur Hinweise darauf zu geben, was alles verboten ist. Das wissen inzwischen ohnehin schon viele Leute. Es gehört vielmehr auch gesagt, was in der
Entwicklung der Kinder hilfreich ist. Und vielleicht sollte man auch eine Zielrichtung dazu
sagen. Also: Wohin soll die Entwicklung zielen?
Nützlich ist es, die Fähigkeit zu erlangen, sich in einem sozialen Kontext so zu bewegen,
dass jeder seine Entwicklungschancen wahrt, ohne die des anderen zu beschädigen.
Für mich geht es in die Richtung „Seelische Gesundheit jetzt und in der Zukunft“. Es geht
um Elternbildung.
Ich habe viele Jahre lang als Referent in der Elternbildung gewirkt und habe es häufig
mit Paaren zu tun gehabt, die ihr erstes Kind erwartet haben und in völliger Euphorie alle
Angebote zum „Thema: Kind“ wahrgenommen haben.
So kamen diese werdenden Eltern auch zu einem Informations- und Diskussionsabend,
an dem man mit einem Psychologen über Kinderentwicklung reden konnte. Das Thema
waren die ersten drei Lebensjahre. Die, die auf ihr erstes Kind gewartet haben, haben
die Hoffnung gehabt, dort ein Angebot an Sicherheitsmaßnahmen gegen mögliche
Fehler zu bekommen. Und wenn sie das dann alles gut befolgen, dann wird das Kind genau das, was sie für den perfekten Familienergänzungsteil auf ihrer Wunschliste haben,
der aus irgendeinem biologischen Grund bis jetzt gefehlt hat.
Viel spannender war es für mich, wenn Eltern dabei waren, die schon auf ihr zweites Kind
gewartet haben. Also genau genommen waren es in diesem Fall fast ausschließlich
Mütter. Nur bei denen, die aufs erste Kind warten, kommen meist noch Paare. Also diese
paar noch immer neugierigen Mütter, die dann gekommen sind, haben sich die ersten
Themen mit diesem gewissen abgeklärten Lächeln angehört und auf die Themen gewartet, die für sie wirklich spannend sind. Sie wussten ja schon, wie das ist mit „Dann
wird das Kind gehen lernen“ und „Wo wird es überall dagegen stoßen?“, „Welche
Gefahren gibt es überhaupt?“
Diese haben dann erst gefragt: „Wie ist das denn eigentlich mit der Geschwistereifersucht?“ Da haben sich dann die, die noch aufs erste Kind gewartet haben, gelangweilt zurückgelehnt und sich offensichtlich gedacht: „Bis das bei uns soweit ist, da
haben wir ja noch ewig Zeit!“
Ich will damit nur verdeutlichen, dass Elternbildung zielgruppenorientiert sein muss.
Wir müssen uns in der Vorbereitung einiges überlegen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, auch über die unangenehmen Themen zu reden. Wir müssen uns überlegen, was
wir uns trauen und was die Zuhörer aushalten.
Elternbildung muss
zielgruppenorientiert
sein.
32
Das mit der Geschwistereifersucht ist ja so populär, dass die Laien mehr darüber wissen
als die Fachleute. Diesen Teil habe ich genossen. Das war wirklich spannend, weil da
hat jeder so seine eigenen Erfahrungen eingebracht.
Elternbildung in Stadt und Land
Sie werden sich jetzt wieder fragen: „Was hat das mit Stadt-Land zu tun?“
Ich habe Elternbildungsveranstaltungen in einem kleinstädtischen Kurort in der
Thermenregion südlich von Wien, aber auch im hügeligen karstigen Land an der nördlichen Grenze von Niederösterreich gehalten.
Wissen Sie, was da immer die allererste Frage an mich war? „Haben Sie selber Kinder?“
Der Kompetenznachweis war (und ist) gefragt – biologisch und erzieherisch. Diese
Frage wurde mir übrigens am Land – vor allem im nördlichen Waldviertel – sehr oft gestellt.
Ich habe mit den Elternbildungsveranstaltungen als Kinder- und Jugendpsychologe, der
ich bin, zu einer Zeit angefangen, in der ich diesen geforderten biologischen Nachweis
noch nicht erbringen konnte. Aber ich habe das als Auftrag aufgefasst und habe mittlerweile zwei gar nicht mehr so junge Kinder.
Und erst als die beiden herangewachsen sind, habe ich verstanden, warum mich die
Eltern das damals gefragt haben. Sie haben das nicht so formuliert, aber sie haben eigentlich herausfinden wollen, ob ich das alles ernst meine, was ich ihnen erzähle, und
wie Kinder auf solche „psychologischen Tipps“ reagieren.
Ich glaube, dass der Unterschied zwischen Stadt und Land in diesem Bereich nicht so
groß ist, wie manche von Ihnen vermuten. Die Fragen und Sorgen der (werdenden)
Eltern gleichen sich sehr stark.
„Waffenlose“ Eltern
Viele Eltern fragen sich: „Was mache ich denn, wenn mein Kind mir nicht folgt?“
Da geht es nicht darum zu sagen „Das kann Ihnen nicht passieren, Sie als perfekter
Elternteil werden das schon schaffen“, sondern sich damit auseinander zu setzen.
Es geht also um die grundsätzliche Hilflosigkeit der Anfrager.
Es sind uns die „Waffen der Erziehung“, wie Rohrstaberln und ähnliches, ja aus der Hand
genommen worden. Sie gelten als überholt – allerdings weniger wegen der Vernunft und
Einsicht der Eltern. Vielmehr sind sie wie das über Generation praktizierte „Scheitelknien“
nur durch den technischen Fortschritt aus der Mode gekommen. Wer heizt heute noch
mit Holzscheiteln? Auf der Zentralheizung knien ist, na ja, schwieriger.
Eltern, die in Not geraten sind, reagieren
oft mit psychischer
Gewalt
Aber denken Sie auch an andere Erziehungsmethoden: Früher hat es wirklich geheißen:
„Schlimme Kinder in den Keller!“. Sie wurde also an einen Ort verbannt, wo noch dazu
vorher jahrelang darauf hingewiesen wurde, dass genau dort der „schwarze Mann“
haust. Der Keller war ja nicht nur Lebensmittelvorratskammer, oft auch Aufbewahrungsort für Alkohol. So gesehen war es für manche in der Familie dann vielleicht sogar
angenehm, in den Keller zu gehen, aber sicher nicht für die Kinder!
Was ich zeigen möchte, ist diese Hilflosigkeit der Eltern mit dem Gefühl: „Das Kind stellt
mich bloß, und ich weiß einfach nicht, was ich dagegen tun soll.“
Eltern verlieren nicht gerne das Gesicht
Eltern, die quasi in Not geraten sind, reagieren eben oft mit psychischer Gewalt.
Nehmen Sie das Beispiel von der Supermarktkassa, wenn ein Kind etwas von den
Lockangeboten haben möchte: im Blick der Öffentlichkeit, im Blick der Familie, im Blick
der Partnerin, der Schwiegermutter, der anderen Kinder – wenn ich dem einen das durchgehen lasse, was machen dann die anderen mit mir?
Wie oft reagieren hier Eltern auf quengelnde oder fordernde Kinder mit übermäßiger psychischer Gewalt bis zu der Androhung: „Wenn du nicht gleich Ruhe gibst, aufhörst usw.,
dann gehe ich ohne dich nach Hause!“
33
Bei diesem Szenario fühlen sich sicher auch die hauptberuflichen Pädagogen angesprochen, die sich statt dem Supermarkt eine Gruppensituation vorstellen im
Kindergarten, in der Schule, bei Nachmittagsbetreuungsformen.
Das Kind stellt mich bloß!
Vielen Eltern ist, als sie selbst noch Kinder waren, eingehämmert worden, dass sie nie
respektlos mit den Eltern umgehen dürfen.
Dahinter verbarg sich ein Versprechen, nämlich: „Wenn ihr euch als Kinder euren Eltern
unterworfen habt, dann wird euch das dadurch vergolten, dass ihr dann, wenn ihr endlich selber Eltern seid, genauso mit euren Kindern umgehen könnt.“
Dieses Versprechen kann jedoch heute – ich sage Gott-sei-Dank – nicht mehr zwangsläufig eingelöst werden.
Aber machen wir uns bitte in einem Fachleutegremium nicht vor, dass sich dieser
Gesinnungswandel schon überall durchgesetzt hat. In vielen sitzt tief innerlich noch die
Hoffnung, dass das Versprechen von anno dazumal doch noch eingelöst wird, und so
wird es de facto von den Kindern eingefordert.
„Wir haben es nicht
leicht gehabt, und
darum sollen die
Jungen erst einmal
zeigen, ob sie unserer Nachfolge würdig und wert sind.“
Ich habe – basierend auf den zahlreichen Gesprächen und Erfahrungen in meiner Arbeit
– so den Eindruck und Verdacht, dass es in der öffentlichen Meinung und in der veröffentlichten Meinung eine Art unausgesprochenen Konsens unter den Erwachsenen gibt,
der in etwa so lauten könnte: „Ja, ja, besser gehen soll es den Jungen schon als uns.
Aber wir haben es nicht leicht gehabt, und darum sollen die Jungen erst einmal zeigen,
ob sie unserer Nachfolge würdig und wert sind.“
Aber wie soll man denn diesen Respekt bekommen, wenn nicht mit den überkommenen
erprobten Mitteln?
Notwendige Unterschiede des Angebots in Stadt und Land
Wir können viel über Prophylaxe reden, aber es geht auch um „Reparaturen“.
Wir benötigen also eine notwendige Dichte von qualifizierten Hilfsangeboten, die den regionalen Gegebenheiten adäquat gestaltet sind.
Sie werden verstehen, dass sich die Situation ändert, je nachdem, ob ich eine zentrale
Stelle in einem Ballungsraum habe oder ob ich eine Fläche versorgen muss.
Im städtischen Bereich mag es sinnvoll sein, wenn mehrere spezialisierte und trotzdem
leicht erreichbare Angebote parallel und auch an verschiedenen Adressen zur Verfügung
stehen. Hier ist es sinnvoll, Öffnungszeiten bis in den Abend hineinzuziehen oder die
Frequenzen bei den Beratungs- und Behandlungsformen so zu setzen, dass die Klienten
möglichst häufig wiederkommen. Das Stichwort heißt hier: Straßenbahn.
Wenn die Erreichbarkeit innerhalb von einer Viertel- oder halben Stunde liegt –
Straßenbahn im Großraum ist ein Beispiel, dichte Frequenz, dichtes Netz – dann kann
man so etwas anbieten.
Sinnvolle Angebote
müssen die
Besonderheiten von
Stadt und Land,
wie z.B. regionale
Erreichbarkeit,
berücksichtigen.
Am Land schaut es anders aus. Da ist eine große Fläche zu versorgen, und ich meine
jetzt wirklich Fläche. Das hat nichts mit Steilheit des Geländes, mit Schneekettenpflicht
und dergleichen zu tun, aber Anreisezeiten und Kosten für das Transportmittel kosten
eben Geld. Es hat noch nicht jeder ein Auto, und die Buslinie hält nicht vor der Türe.
Mir hat eine Waldviertler Bäuerin einmal gesagt: „Das ist sehr gut, was Sie da vorschlagen, und wir hören eh zu. Ja, aber da muss ich mir jedes Mal ein Auto aufnehmen für
jede Fahrt“, und dann relativieren sich bestimmte Angebotsformen durch Nichterreichbarkeit.
Da wird es eher multifunktionale Angebote geben müssen im Vorfeld, also Stellen, die
für sehr viele Erstanfragen kompetent sind, aber dann auch in der Lage sind, eine qualifizierte Weiterverweisung von den komplexen und hochkomplizierten Fällen zu leisten.
Klienten mit an sich schon strapazierter Motivation nehmen nämlich nicht viele „Anläufe“.
Wenn sie sich beim ersten Mal fehlgeleitet fühlen, geben sie einfach auf.
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Sie sagen: „Hilft eh nix“. Und wir dürfen dann nicht überrascht sein, wenn sich in dieser
Familie eine Dramatik entwickelt, wo wir dann überhaupt nicht mehr helfen können – weder mit Angeboten vor Ort noch mit spezialisierten Angeboten, weil der Kontakt nicht
mehr hergestellt werden kann.
Flächendeckung versus Mindeststandard
Ich bin in dieser Situation in Niederösterreich für die sozialen Dienste freier Träger in der
Jugendwohlfahrt zuständig.
Da gibt es das mehr oder weniger schöne Wort von „flächendeckenden Angeboten“. Das
ist ein Wort, das mich sehr beunruhigt, weil wenn irgendein neues Angebot kommt, sagen wir mal Mediation, sagen wir einmal Scheidungsberatung, sagen wir einmal
Besuchsbegleitungsformen, kommt es zum gleiche Ablauf:
Es geht dann nicht um die Einrichtung des Angebots an einer Zentralstelle, sondern wir
haben 21 Bezirke und 4 Städte mit eigenen Jugendabteilungen, also mindestens 25
Stellen (die übrigens alle nicht mit der Straßenbahn erreichbar sind). Das Installieren
(etwa durch freie Träger), aber auch die notwendige finanzielle Bedeckung dauert dann
relativ lange und blockiert möglicherweise andere, ebenfalls notwendige neue Angebote.
Das, was wir in diesem Zusammenhang versuchen, ist – ganz neu seit 2000 – eine groß
angelegte Jugendwohlfahrtsplanung, die den Mindeststandard an Versorgung gewährleisten soll. Es wird also für Niederösterreich vorgegeben werden, was an Versorgungsangebot am psychosozialen Sektor vorhanden sein muss. „Muss“ im Sinne von „darauf
sollen sich die Klienten verlassen können“.
Was wir dadurch erreichen wollen ist, dass die Kinder, die im Sinne des Referattitels
„schreien“, aber auch Rat suchende Erwachsene, die wissen wollen, wohin sie sich wenden sollen, auch wirklich eine qualifizierte, erreichbare Beratungs- oder Hilfestellungsmöglichkeit vorfinden.
Dann braucht es eigentlich nur mehr Ohren – Ohren allerdings mit Menschen dran –
Ohren, die hören.
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„Der Vater hat’s verboten“
„Ohnmacht der Helfer“
Referent: Dr. Stefan Allgäuer
Ich bin selber ein „Helfer“.
Ich bin Psychologe und Therapeut. Jetzt arbeite ich als Geschäftsführer im Management
und in der Organisation von sozialen Diensten.
Meine Perspektive zum Thema „Psychische Gewalt am Kind“ ist diejenige aus Sicht der
Helfer, der Helfersysteme und der Intervention der Helfer. Deshalb habe ich den Untertitel
„Ohnmacht der Helfer“ gewählt.
Ich habe mir die Frage gestellt: Worauf kommt es an, dass wir in einer Situation gut und
effektiv reagieren können? Was bräuchte es, damit wir noch besser reagieren könnten?
Beim Beschäftigen mit dem Thema „psychische Gewalt“ ist mir etwas immer deutlicher
geworden: Entweder lernen wir, damit zu arbeiten, dass (fast) alles, womit wir uns in der
JWF (Jugendwohlfahrt) zu beschäftigen haben, auch psychische Gewalt beinhaltet.
Oder aber wir versuchen, psychische Gewalt auf ein klares, diagnostizierbares Symptom
zu beschränken, das beschreibbar/abgrenzbar/identifizierbar ist und von dem dann auch
entsprechende Handlungsstrategien ableitbar sind.
Ich habe versucht, diesen Bogen zu spannen; im Wissen, dass natürlich in vielen
Alltagssituationen und in fast allen krisen- und konflikthaften pädagogischen Situationen
psychische Wirkungen zu beobachten sind, die – subjektiv – als Gewalt des jeweils anderen erlebt werden.
Ich habe meine Überlegungen in Thesen gefasst – es sind deren sieben –, mit der
Hoffnung und Aufforderung, diese und mit diesen das Thema weiter zu diskutieren.
Ich habe diesen Thesen vier – zusammenfassende – Aussagen zum Verständnis von
psychischer Gewalt vorangestellt. Sie dienen der Eingrenzung des Themas. Die sieben
Thesen skizzieren dann Konsequenzen für die Helfer.
Und hier sei gleich angemerkt: Unter Helfer verstehe ich in diesem Fall alle, also auch
die Eltern und alle anderen an der Erziehung, an der Begleitung eines Kindes oder
Jugendlichen Beteiligten.
1) Psychische Gewalt ist subjektiv zu verstehen und zu betrachten.
Das subjektive Erleben des Kindes, sein emotionales, existenzielles Empfinden steht im Vordergrund.
Da das Erlebte von
den Betroffenen sehr
unterschiedlich empfunden und beurteilt
werden kann, müssen wir uns mit der
„Diagnose psychische Gewalt“ nach
dem subjektiven
Befinden der betroffenen Person richten.
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Wenn wir uns mit dem Thema psychische Gewalt auseinandersetzen, muss uns klar
sein, dass hierbei das subjektive Empfinden des Kindes/des Jugendlichen im
Vordergrund stehen muss.
Nicht wir sind diejenigen, die quasi die Diagnose stellen und sagen, das ist psychische
Gewalt. Da das Erlebte von den Betroffenen sehr unterschiedlich empfunden und beurteilt wird, müssen wir uns danach richten.
Wir müssen die jeweilige Situation in ihrer Wirkung auf Kinder betrachten (durchaus im
Gegensatz zur körperlichen Gewalt, sexuellen Gewalt, wo der Maßstab eindeutig ist und
es eine beschreibbare, messbare Grenze gibt).
Verschiedene Kinder werden ein und dieselbe Situation unterschiedlich empfinden und
bewerten. Und ein und dieselbe Situation kann sogar bei ein und demselben Kind in unterschiedlichen Momenten völlig unterschiedlich wirken.
In Ergänzung zu dem, was wir im Umgang mit körperlicher und sexualisierter Gewalt gelernt haben, ist offensichtlich:
l Nicht allein der strafrechtlich relevante Tatbestand steht im Vordergrund.
l Nicht die Intention des „Täters“ ist das Primäre,
l sondern eben die erlebte subjektive Welt des Kindes.
2) Psychische Gewalt muss in ihrem Kontext gesehen und
verstanden werden.
Subjektivität hat zur Konsequenz, dass wir jede Situation differenziert betrachten
müssen.
Aussagen wie: „Gewalt gehört gestoppt“, „Kinder sind zu schützen“, „Gewalt gehört geahndet“, und Arbeitsaufträge wie Meldepflicht, Beweissicherung usw. – all das ist möglicherweise nicht das genügend geeignete Konzept zum Umgang mit psychischer
Gewalt, vor allem dann, wenn wir im Kontinuum weg von den eindeutigen, massiven und
existenzbedrohenden Gewalt-Erfahrungen kommen.
3) Psychische Gewalt entsteht und besteht dort, wo Kinder und
Jugendliche einer Dynamik von „zu viel“ oder „zu wenig“
ausgesetzt sind und die existenziellen Bedürfnisse der Kinder
keinen Platz haben.
Ursachen von psychischer Gewalt sind auf den Polen von „zu wenig und/oder zu viel“
zu finden. Im folgenden Diagramm sind beispielhaft einige Bereiche dieser Polarität
angeführt.
Zu viel
zu wenig
Nähe
Distanz
Emotion
Forderung
Schutz und Sicherheit
(neue) Erfahrungen/Reize
Annahme
etc.
Eine Dynamik des
„Zuviel“ braucht:
Entlastung
Wurzeln
Schutz
etc.
Eine Dynamik des
„Zuwenig“ braucht:
Förderung
Reifung
Wachstum
etc.
4) Psychische Gewalt manifestiert sich dort, wo Kinder bei für sie
schwierigen Erfahrungen/Erlebnissen keine Sprache bzw. keine
Ausdrucksform finden können oder dürfen.
Wenn Kinder etwas erleben, für das sie keine Sprache, keine Ausdrucksform finden (dürfen oder können), wenn sie so also quasi ein Opfer der Situation werden, dann – würde
ich sagen – ist psychische Gewalt vorhanden.
Um ein Beispiel zu bringen: Wenn Eltern ihrem Kind eine „heile Welt“ vorspielen, das Kind
aber ganz genau spürt, dass es zwischen seinen Eltern „nicht mehr stimmt“, dann ist das
psychische Gewalt.
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Wie Sie alle wissen, neigen Kinder hier zu Ambivalenzen. Sie neigen dazu,
Widersprüchliches in ihrer Umwelt so zu interpretieren, dass sie sich selbst die „Schuld“
dafür geben. So halten sie sich auch dafür verantwortlich, wenn die Eltern trotz
Schwierigkeiten beisammen bleiben.
Soweit zu vier Aspekten der psychischen Gewalt.
In den folgenden sieben Thesen möchte ich dieses Verständnis von psychischer Gewalt
nun auf die Situation der Helfer und der möglichen Hilfestellungen umsetzen.
Anna, 10 Jahre alt, hört böse Stimmen im Kopf. Diese Stimmen, eine männliche und
eine weibliche, tyrannisieren sie aufs Äußerste. Beim Zeichnen spricht Anna von „Gift“
in ihr drin.
Die Stimmen und Schreie in ihrem Kopf symbolisieren die verinnerlichten
Spannungszustände in der Familie. Die Eltern konstruieren eine doppelte Wirklichkeit:
Auf der einen Seite herrschen eisiges Schweigen und familiärer Stillstand, kalter Krieg.
Es regiert eine herbe Verbitterung über alle möglichen Enttäuschungen, über die aber
nicht gesprochen wird.
Auf der anderen Seite entladen sich diese Spannungen in kurzen, heftigen Ausbrüchen.
Es kommt – in Abwesenheit von Anna – zu Schreiduellen, Vorwürfen und gegenseitigen
Abwertungen.
Phänomen der Spiegelung und Übertragung: Könnte es
sein, dass sich die
Sprachlosigkeit als
Phänomen der psychischen Gewalt
auch bei uns auf der
Helferebene fortsetzt? Etwa dadurch,
dass psychische
Gewalt bisher zu wenig Thema war?
Die Eltern sind sehr bemüht, nicht vor Anna zu streiten. In bester pädagogischer Absicht
geht es ihnen darum, ihre Tochter aus allem herauszuhalten. Sie haben vereinbart, vor
Anna gute Eltern zu sein und Frieden zu bewahren. Die Ereignisse eskalieren. Herr N.
schlägt seine Frau, Anna bekommt das nicht mit, sie schläft. Anna sieht aber am nächsten Morgen eine durch und durch geknickte Mutter, die „irgendwie anders ist als sonst“.
Sie traut sich nicht zu fragen, sie versteht die Welt nicht mehr.
Färbt die Sprachlosigkeit auf die Helfer ab?
In der Dynamik der Helferstrukturen kann man folgendes Phänomen beobachten: Oft
wiederholen sich die Symptome der Klienten und Patienten in den Helfersystemen.
Sie kennen das vielleicht aus der Supervision: Da entdeckt man gelegentlich, dass man
die Symptomatik und Dynamik der Klienten in die eigene Arbeit oder ins eigene Team
übernommen hat. Es passiert also immer wieder, dass man das System, mit dem man
arbeitet, widerspiegelt.
So möchte ich folgende erste These formulieren.
These I
Sprachlosigkeit als Phänomen psychischer Gewalt setzt sich auch auf der
Helferebene fort. Das (unbewusste) Credo scheint zu sein: „Psychische
Gewalt ist kein Thema.“ Es ist ja auch leichter, andere Diagnosen bzw.
Symptome zu beschreiben, zu behandeln.
Es fällt uns leichter, von „sichtbaren“ Symptomen wie Bettnässen, Aggressivität,
Verwahrlosung usw. zu reden als von diesen schwer sichtbaren und abgrenzbaren
Phänomenen.
Man könnte diese Tatsache aber auch von einer anderen Seite betrachten: Könnte es
sein, dass sich das Symptom der „psychischen Gewalt“ auch in unseren Arbeitssystemen, in der Art und Weise, wie wir zusammen arbeiten, wiederholt?
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Manchmal bekommt man fast diesen Eindruck, wenn man die Selbstzerfleischung
innerhalb von Teams, die Überarbeitung oder auch die klassisch hierarchischen
Organisationskonzepte betrachtet, welche – als subjektive Tatsache – die Erfahrung von
Gewalt mit verursachen könnten.
Das Hinschauen, wie etwas auf uns abfärbt und was es bei uns Helfern auslöst, wenn
wir uns mit dem Thema psychische Gewalt beschäftigen, könnte ein ganz wichtiger
Hinweis zum Verständnis eben dieses Bereichs psychischer Gewalt für unsere
Hilfsangebote sein.
Erklärungskontexte suchen und anbieten
Wenn Kinder zu verstehen beginnen, „was läuft“, dann können sie mit der Situation besser umgehen. Wie schon vorher erwähnt, neigen Kinder dazu, immer dann, wenn sie
nicht wissen, „was los ist“, es auf sich zu beziehen und zu sagen „Ich selber bin nicht o.k.
Bei mir ist was los. Wenn ich nur anders wäre, dann ginge es meinen Eltern besser, dann
würden sie sich mehr lieben, würden mich mehr lieben usw.“
Primäre Aufgabe von Eltern und Helfer/-innen im Kontext psychischer Gewalt ist es, dem
betroffenen Kind/Jugendlichen in seiner Situation behilflich zu sein, sein Erleben zuzulassen, ihm Ausdruck zu geben und sein Erleben zur Sprache zu bringen.
Nicht der Schutz vor, nicht das Ahnden von, nicht die Wertung (richtig/falsch) usw. ist
primäres Ziel, sondern die Hilfestellung, Sprache zu finden und das Kind als Subjekt zu
stärken.
Das können Eltern und Bezugspersonen vielfach und idealerweise selbst tun (etwa wenn
sie ganz unbewusst im Alltag eine Deutung anbieten, die für das Kind/die Situation
stimmt).
Dazu bedarf es zuweilen der behutsamen Information, Beratung und Begleitung von
Eltern, damit diese lernen, nicht nur ihre Erwartungen und Aufträge an die Kinder zu formulieren, sondern auch einen entsprechenden Kontext der Erklärung dafür anzubieten.
Das ist – immer noch – ein großes Feld für die Elternbildung. Je mehr im Gespräch in
Familien versucht wird, einen Erklärungskontext herzustellen, umso weniger psychische
Gewalt wird ausgeübt.
Eine gute Auflösung solcher Situationen ist immer noch die „gute alte Gordonsche IchBotschaft“ (vgl. dazu Thomas Gordon: „Familienkonferenz“).
Dazu bedarf es in manchen Fällen auch der psychologischen und/oder kinderpsychiatrischen Abklärung und Behandlung, nämlich überall dort, wo die Sprachlosigkeit sich
schon in Symptomen verfestigt hat oder sich zu verfestigen droht.
Eltern sollten dort miteinbezogen werden, wo dies möglich ist, z.B. in Settings wie dem
der Familientherapie.
These II
Primäre Hilfe für Kinder und Jugendliche – „Erste Hilfe“ aus dem Blickwinkel
der psychischen Gewalt – ist es, einen Erklärungskontext herzustellen.
Ein kleines Beispiel hiefür:
Der Vater geht mit seinem Kind immer wieder in der Stadt spazieren. Und da kommen
sie auf ihrem Weg regelmäßig bei einem Nachtklub vorbei. Der vierjährige Bub sieht die
roten Lampen. Der Vater erklärt das mit „das ist ein Geschäft“, oder „das ist ein Gasthaus“
– nichts weiter.
Das Kind ist mit dieser Erklärung zufrieden.
Das Kind wird sieben, beginnt zu lesen und fragt den Vater „Du Papa, was ist das, ein
Nachtklub?“ Der Vater antwortet dem Kind: „Das ist nix für dich.“
Noch gibt sich das Kind mit dieser Interpretation zufrieden.
Zwei Jahre später fragt das Kind immer wieder und wieder, und dann sagt der Vater „Du,
da darfst aber wirklich nie hineingehen, da siehst du Dinge, die du besser nicht sehen
sollst.“
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Der Neunjährige ist nicht zufrieden mit der Interpretation, fragt dann noch etwas weiter,
bekommt vom Vater aber keine angemessene Erklärung.
Eines Tages, als die Gelegenheit günstig ist, schummelt er sich in den Nachtklub. Am
nächsten Tag erzählt er seinen Freunden davon, und die fragen ganz aufgeregt: „Und
hast du gesehen, was du nicht sehen solltest?“ Er antwortete „Ja. Ich habe meinen Vater
gesehen.“
Wir können unseren Kindern keine heile Welt vormachen, wir können ihnen aber helfen,
solange sie es annehmen von uns. Wir können ihnen einen entsprechenden
Erklärungskontext anzubieten, der ihnen hilft, Situationen nicht als psychische Gewalt,
sondern als Realität, als Konflikt, als Schwierigkeit, als mehr oder weniger gut zu sehen
und dann ein Stück weiter zu verarbeiten.
Nicht nur „gegen Gewalt“, sondern für starke Kinder
Die Ohnmacht der Helfer/innen – nicht wir können entscheiden, was ein hilfreicher
Erklärungskontext ist – kann nicht über mehr Macht (z.B. Ordnungsmacht, Bestrafung,
Verfolgung der Täter usw.) erfolgen, sondern nur darüber, dem Kind mehr Macht
(zur Interpretation, zur Subjektivität, zum Ausdruck) zu vermitteln. Das Ziel ist das
Empowerment der Kinder.
Wir müssen lernen,
zielgerichtete
Öffentlichkeitsarbeit
und Bewusstseinsbildung über Medien
zu leisten.
In diesem Sinne sind alle jene Ansätze sehr wichtig, die präventiv schon dort beginnen,
bevor Gewaltsituationen entstehen.
Das beste Mittel gegen psychische Gewalt sind starke gesunde Kinder und starke gesunde Eltern.
Die Maßnahmen der Gesundheitsförderung und der Öffentlichkeitsarbeit in diesem
Bereich sind hier anzusetzen und gefragt. Wir haben bei uns in Vorarlberg seit drei
Jahren eine sehr intensive Kampagne zum Thema „Kinder stark machen“ laufen, mit sehr
viel medialer Präsenz und mit sehr viel Aktivität und Aktionen.
Ich glaube, wir im psychosozialen Feld müssen noch lernen, dass die Bewusstseinsbildung auch über mediale Formen von enormer Bedeutung ist. Wir sollten die
Medien nicht nur verteufeln, sondern uns ihrer auch bedienen.
Ziel ist es, Vertrauen aufzubauen und zu stärken. Wie ist das bei uns Helfern, wenn
Kinder NEIN sagen usw. und ihre Stärke zeigen?
These III
Das beste Mittel gegen psychische Gewalt sind starke Kinder. Gesundheitsförderungsprogramme sind angesagt.
Schließlich stellt sich auch die Frage, auf welche Welt wir, die Pädagogen usw., unsere
Kinder vorbereiten: auf eine idealisierte, gewaltfreie Welt (wie wir sie uns alle wünschen)?
Dann sagen wir aber gleichzeitig: Gewalt ist ein Betriebsunfall.
Oder bereiten wir sie auf eine Welt vor, in der Gewalt ein Teil der Realität ist genau so,
wie das Sich-Wehren.
Niederschwellige Soziale Dienste als Anlaufstellen
Wo psychische Gewalt als solche gesehen und verstanden wird und bereits gehandelt
wird, hat der Verarbeitungsprozess schon begonnen.
Wo versucht wird, psychische Gewalt subjektiv zu verarbeiten (in der Projektion auf sich
selbst), wo Symptome sich verhärten – dort sollten die Angebote der Jugendwohlfahrt
verstärkt einsetzen.
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Das bedeutet: Die im JWG (Jugendwohlfahrtsgesetz) vorgesehenen Sozialen Dienste
möglichst niederschwellig anlegen, die Akzeptanz steigern und den Zugang erleichtern.
Ganz entgegen den Bestrebungen heute: Sparen durch Erschweren der Zugänge und
Erhöhung der Schwellen.
In Vorarlberg versuchen wir durch das Angebot privater Träger (höhere Akzeptanz bei
persönlichen Problemen), durch eine dezentrale, regionale Streuung, durch kurze Wege
und niedere Schwellen (in öffentlich zugänglichen Gebäuden) usw. diesen Weg zu schaffen. Ein wichtiger Punkt ist hier auch PR und Werbung!
Diese Angebote an Hilfen müssen auch für Eltern/Erwachsene zugänglich sein.
These IV
Psychische Gewalt erfordert präventive, niederschwellige soziale Dienste mit
hoher Akzeptanz.
Es gehört zu meiner Arbeit als Geschäftsführer, unseren Geldgebern jedes Jahr genau
auseinander zu setzen, was das, was wir machen, kostet.
Das Institut für Sozialdienste ist eine private soziale Organisation, die in sehr vielen
unterschiedlichen Bereichen tätig ist.
Wenn ich mit einem potenziellen Sponsor spreche, da schildere ich immer die drastischen Situationen, erzähle von den schlimmsten Dingen und massivsten Problemen.
Und ich merke, wie schwer es mir fällt, zu erklären, wie wichtig es ist, auch soziale
Dienste für Kinder und Jugendliche anzubieten, die vielleicht noch gar kein massives,
kein sichtbares ausgeprägtes Problem haben.
Aber es braucht eine präventive, niederschwelllige, soziale Angebotspalette mit hoher
Akzeptanz.
Das „niederschwellig“ geht in Richtung Stadt-Land, in Richtung gute Erreichbarkeit,
Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, in Richtung Kunden- und Klientenfreundlichkeit
und all dessen, was es in diesem Bereich gibt.
Ist es ein Armutszeugnis, dass so
viele Menschen
unsere Angebote in
Anspruch nehmen?
Wir haben pro Jahr allein im Institut für Sozialdienste etwa 18.000 Klientinnen und
Klienten. Das ist mehr als 5 Prozent der Bevölkerung von Vorarlberg.
Davon sind etwas mehr als die Hälfte direkte Beziehungs-, Familienerziehungsprobleme
und alles, was hier dazugehört.
Man könnte sagen, dass es ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft ist, dass so viele
Menschen unser Angebot in Anspruch nehmen müssen.
Man könnte aber auch sagen, es ist ein Kompliment, dass so viele Menschen hier leben,
denen ihre Beziehungen zu ihren Kindern, ihren Familien so wichtig sind, dass sie unsere Hilfe zu einem Zeitpunkt in Anspruch nehmen, wo noch nicht alles zusammengebrochen ist, oder um Veränderungen und Übergänge nicht-destruktiv zu gestalten.
Sensible Kooperation der Helfer
These V
Hilfe oder Handeln der Helfer muss, um nicht ebenfalls in den Kontext von
psychischer Gewalt zu geraten, koordiniert und im Lebenskontext des Kindes
kalkulierbar, verstehbar und kritisierbar sein.
Wir müssen hier ganz sensibel vorgehen. Sie alle wissen, dass wir als Helfer nicht einfach irgendwelche Dinge inszenieren und dann sagen können „Ich weiß schon, was für
dich gut ist“. Das muss koordiniert und dem Lebenskontext des Kind angepasst, verstehbar und gestaltbar sein. Und ein wichtiger Parameter ist hier eben auch das Alter
des Kindes.
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Wenn die Helfer dasselbe tun, was z.B. im Elternsystem passiert, nämlich neben- oder
gegeneinander zu agieren, dann passiert auf der nächsten Ebene dem Kind nochmals
dasselbe.
Etwa: Wenn jemand nach dem Prinzip „Gewalt gehört geahndet“ zu agieren beginnt, jemand anderer mit dem Kind zu arbeiten bzw. klären beginnt, was es erlebt und wieder
jemand anderer den Eltern bestätigt, dass die erzieherische Klarheit (Wer ist auf der
Elternebene? Wer bestimmt? usw.) für das Kind ganz wichtig ist. Das kann man ja alles
nebeneinander haben, und noch viel mehr (Schlagwort: Die eine Hand weiß nicht, was
die andere tut).
Dazu wieder eine Geschichte.
Hüte dich vor den Buben!
Ein Vater wollte seine Tochter vor den Gefahren des Lebens bewahren. Als die Zeit gekommen war und seine Tochter zu einer wahren Schönheit erblüht war, nahm er sie zur
Seite und klärte sie über die Gemeinheit und Hinterhältigkeit der Welt auf.
Er sagte: „Liebe Tochter, denk an das, was ich dir sage. Alle Männer wollen nur das eine.
Die Männer sind raffiniert und stellen Fallen, wo sie nur können. Du merkst gar nicht, wie
du immer tiefer in den Sumpf ihrer Begierden versinkst. Ich will dir den Weg des Unglücks
zeigen. Erst schwärmt der Mann von deinen Vorzügen und bewundert dich. Dann lädt er
dich ein, um mit ihm auszugehen. Dann kommt ihr an seinem Haus vorbei, und er sagt
dir, dass er nur schnell seinen Mantel holen wolle. Er fragt dich, ob du ihn nicht in seine
Wohnung begleiten möchtest. Oben lädt er dich zum Sitzen ein, bietet dir Tee an, ihr hört
gemeinsam Musik, und wenn die Stunde dann gekommen ist, wirft er sich plötzlich auf
dich. Damit bist du geschändet, wir sind geschändet, deine Mutter und ich, unsere
Familie ist geschändet. Unser Ansehen ist dahin.“
Die Tochter nahm sich die Worte des Vaters zu Herzen. Einige Zeit später kam sie stolz
lächelnd auf ihren Vater zu und sagte „Vati, bist du ein Prophet? Woher hast du bloß gewusst, dass sich alles so abspielt? Es war genauso, wie du es beschrieben hast. Erst
hat er meine Schönheit bewundert, dann hat mich eingeladen. Wie durch Zufall kamen
wir bei seinem Haus vorbei und da merkte der Ärmste, dass er seinen Mantel vergessen
hatte. Um mich nicht allein zu lassen, bat er mich, ihn in seine Wohnung zu begleiten.
Wie es der Anstand befiehlt, machte er mir Tee, verschönte mir die Zeit mit herrlicher
Musik.
Nun dachte ich an deine Worte und ich wusste daher genau, was auf mich zukommen
sollte. Aber du wirst sehen, ich bin würdig, deine Tochter zu sein. Als ich den Augenblick
nahen fühlte, warf ich mich auf ihn und schändete ihn, seine Eltern, seine Familie, sein
Ansehen und seinen Ruf.“
Ich denke, was wir können, ist Kindern/Jugendlichen einen Erklärungskontext anbieten.
Wie sie ihn dann verwenden, liegt in ihrer Macht. Mehrere solcher Erklärungskontexte,
vielleicht auch verschiedene, sind oft Realität. Sie sind dann gefährlich, wenn das Kind
diese nicht integrieren kann.
Mehrperspektivität statt Reduktion
Psychische Gewalt ist ein interdisziplinäres Phänomen – es kann nicht eindeutig einer
Berufsgruppe zugeordnet werden. Sei es der/die Sozialarbeiter/in des Jugendamtes,
der/die Psycholog/in, der/die Lehrer/in, der Arzt, die Ärztin, seien es die Eltern,
Angehörige oder wer auch immer – jeder, der die Sprachlosigkeit sieht und/oder spürt,
ist aufgerufen, im System des Kindes mitzuhelfen, die Erfahrungen zur Sprache zu bringen
l durch Gespräche
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l durch kreative Medien
l durch pädagogische Situationen
l durch Ermutigung zum Ausdruck und zum Fühlen
l durch das Vor-Leben
l usw.
Erklärungen von psychischer Gewalt sind vielseitig und fordern interdisziplinäres
Arbeiten. Nicht die Reduktion darauf, wem das Thema „gehört“, ist sinnvoll, sondern die
Mehrperspektivität. Vernetztes Handeln ist hilfreich, gerade für die Kinder, die hier Hilfe
brauchen.
Wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie viele unterschiedliche Akteure unter Umständen
in einer einzigen Situation integriert sind und handeln (Hinweis: Siehe Referat Dr.
Neumayer, S 82), einschreiten und helfen, dann ist das ganz typisch für das Thema.
These VI
(Er-)Klärungen von psychischer Gewalt sind vielseitig und legen interdisziplinäres Arbeiten nahe. Nicht Reduktion, sondern Mehrperspektivität
ist hilfreich.
Der Vater hat’s verboten
... der Übertitel meines Referates entstammt natürlich auch dem Struwwelpeter, und zwar
aus der „gar traurigen Geschichte mit dem Feuerzug“. Ein Kind spielt mit dem Feuerzug
und verbrennt dann. Am Anfang dieser Geschichte gibt es zwei Katzen. Und als die Eltern
ausgegangen sind, „... heben die Katzen ihre Tatzen ...“ und sagen der daheim gebliebenen, zündelnden Tochter immer wieder: „Das darfst du nicht.“ Sie drohen mit den
Pfoten, „der Vater hat’s verboten! Miau, Mio, Miau, Mio, lass stehn, sonst brennst du
lichterloh“.
Die zwei Katzen sind die Symbole für die Helfer/innen.
Ich glaube, das ist gar kein so schlechtes Symbol. Wir können schnurren, wir können
herumstreichen, wir können mit den Pfoten kratzen, wir können ihnen – unseren Kindern
– verschiedene Dinge raten, erlauben oder verbieten.
Das Kind hier hat die Botschaft der Katzen nicht verstanden, hat einen anderen Weg eingeschlagen.
Wir können – zumindest längerfristig gesehen – nicht mehr tun, als verschiedene Dinge
anzubieten.
Eben darum denke ich, dass die unterschiedlichen Zugänge und interdisziplinäre
Ansätze sehr hilfreich sind, denn möglicherweise kommt ein Helfer/eine Helferin von einem anderen Feld besser an das Kind heran.
Ein 10-jähriger Bub, dessen Eltern sich unter ganz dramatischen Umständen scheiden
ließen, hat in der Erziehungsberatung in der Kindertherapie mit Puppen gespielt. Da lässt
er die eine Puppe die andere fragen: „Du was ist denn das – Scheidung?“ Sagt die andere Puppe: „Scheidung, das ist wie der Untergang der Titanic. Die beiden brechen auseinander, nur dass sie nicht ertrinken.“
Interdisziplinäre
Ansätze, unterschiedliche Zugänge
und die Kooperation
der verschiedenen
Berufsgruppen sind
in der Prävention
und Aufarbeitung
psychischer Gewalt
unumgänglich.
Ich weiß nicht, ob es gescheit ist, dass 7-jährige Kinder den Film „Titanic“ sehen, aber
wenn der Bub das verstanden hat und das Bild ihm eine Hilfe gibt, dann war es trotzdem
sinnvoll.
Und es war eine Erklärung, auf die ich nie gekommen wäre.
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Gewalt, was sonst?
Ich frage mich bei der Beschäftigung mit solchen Themen immer: Was ist das Gegenteil
von psychischer Gewalt?
Ich denke, wir sollten als Helfer/innen darauf achten, dass wir nicht immer nur dagegen
rennen, um zu verhindern, was es zu verhindern gilt, sondern den Blick darauf werfen,
was wir denn eigentlich aufbauen und stärken wollen.
These VII
Reduktion von psychischer Gewalt setzt voraus, dass wir lernen, lebendige
Vielfältigkeit gegenseitig auszuhalten.
Ich denke, zwischen dem Pol psychische Gewalt und dem, was das Gegenteil davon
ist – vielleicht können Sie diese Frage einmal für sich selber anschauen und beantworten –, kann man kann nur subjektive Antworten finden.
Ich glaube nicht, dass Gewaltlosigkeit der Gegenpol ist.
Ich würde heute sagen: Der Gegenpol von psychischer Gewalt ist das Aushalten von
Vielfältigkeit und Lebendigkeit, von Unterschiedlichkeit, von Vielfältigkeit.
Das gilt für die Familien, für die Kinder, für die Beziehungen mit und in denen wir arbeiten. Wenn es gelingt, ein bisschen etwas davon entstehen zu lassen, dass Menschen,
die miteinander leben und aufwachsen, ein bisschen mehr an Vielfältigkeit, Lebendigkeit,
Unterschiedlichkeit gegenseitig aushalten – was ja nicht immer so lustig ist –, dann
haben wir viel erreicht.
Und ich glaube, das ist auch ein gutes Bild für uns als Helfer/innen. Wenn es uns gelingt,
uns in unseren Unterschiedlichkeiten auszuhalten und uns in unseren Unterschiedlichkeiten leben zu lassen, dann können wir einen Beitrag dazu leisten, dass wir Kindern helfen, sich in solchen Situationen besser zurechtzufinden.
Züngelnde Helfer
Zum Schluss noch eine ganz kleine Geschichte, um die Vielfältigkeit noch in ein Bild zu
packen.
Da gibt es in einem Dorf eine Schlange, die beißt ständig die Einwohner. Und eines Tages
gehen die Menschen – wie es in den Geschichten so ist – zu einem heiligen Meister und
sagen zu ihm: „Du bist so heilig und so weise. Könntest du nicht die Schlange zähmen,
sodass sie uns nicht ständig beißt?“ Der Meister willigt ein und tut, wie ihm geheißen.
Die Schlange beißt also nicht mehr. Die Dorfbewohner merken bald, dass die Schlange
harmlos geworden ist. Bald beginnen sie Steine nach ihr zu werfen, sie am Schwanz hinter sich herzuziehen und sie ständig zu belästigen.
Eines Nachts hält die Schlage das nicht mehr aus und kriecht übel zugerichtet in des
Meisters Haus, um sich zu beschweren. Der Meister sagte: „Mein Freund, du jagst den
Menschen keine Angst mehr ein, das ist schlecht“. „Aber du hast mich doch gelehrt, gewaltlos zu sein“ antwortete die Schlange. Sagte der Meister: „Ich habe dir gesagt, du
sollst aufhören zu beißen, nicht aber zu züngeln und zu zischen.“
Ich denke, auch wir müssen in unserem Beruf manchmal züngeln und zischen. Auch
Kinder und Eltern dürfen züngeln und zischen. Das ist was anderes als Gewalt, auch als
psychische Gewalt auszuüben, und diesen Unterschied herauszufinden, dazu wünsche
ich uns allen sehr viel Erfolg!
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„Die Buben aber folgten nicht“
„Sorgerechtsproblematik/Strafrechtsproblematik!“
Referentin: Dr. Beate Matschnig:
Ich arbeite am Jugendgericht in Wien. Wir sind zuständig für sämtliche Straftaten
Jugendlicher bis zum 19. Lebensjahr, die im Bereich Wien verübt werden.
Außerdem sind wir Pflegschaftsgericht für sämtliche Erziehungsnotstände von ganz
Wien, unabhängig vom Bezirk.
Wie reagiert die Justiz auf Gewalt?
Primär sind wir immer spät dran.
Das ist nicht die Schuld der Justiz allein, sondern das ergibt sich aus der Situation. Denn
in dem Moment, wo ein Fall bei uns anhängig ist, ist ja bereits etwas passiert.
Wir arbeiten nicht in der Prävention, sondern wir werden mit Tatsachen konfrontiert. Wir
können dann nur noch im Nachhinein versuchen, den Schaden möglichst gering zu halten, regulierend oder ordnend einzugreifen.
Was passiert, wenn es sich um kleine Kinder handelt?
Wir haben sämtliche Fälle des sexuellen Missbrauchs bei uns, der Gewalt an Kindern,
der groben Vernachlässigung, die ja genauso auch ein Gewaltfaktum darstellen.
Ich beginne mit dem einfachsten und gelindesten Eingreifen unsererseits: das ist die
Unterstützung zur Erziehung. Dieser Fall ist allerdings auch der seltenste bei uns und
deckt maximal knapp 10 Prozent meiner Arbeit ab.
Unterstützung zur Erziehung
... kann dann angewandt werden, wenn die Eltern zumindest noch ein bisschen kooperationsbereit sind, wenn z.B. das Jugendamt sagt: „Mit uns arbeiten sie zwar nicht zusammen, aber wenn sie einen Gerichtsbeschluss in der Hand haben, dann könnte man
ihnen vielleicht gewisse Auflagen auftragen.“
Diese Auflagen können mannigfaltig sein: Das kann eine intensivere Zusammenarbeit
mit dem Jugendamt sein oder eine Kontrolle durch das Jugendamt.
Sehr häufig ist es eine Kindergartenunterbringung oder Hortunterbringung, damit eine
gewisse kontinuierliche Beobachtung der Kinder gewährleistet ist.
Weiters: Kontrolltermine bei Ärzt/innen, logopädische Behandlungen, Familienintensivbetreuungen – Sie sehen schon, der Bogen ist weit gespannt.
In der Praxis sieht das so aus, dass ich mich in so einem Fall mit den Eltern zusammensetze und die möglichen Maßnahmen mit ihnen durchspreche.
Im Idealfall können sie die Auflage akzeptieren, da sie einsehen, dass etwas passieren
muss, weil das Kind sonst aus der Familie genommen wird.
Doch wie gesagt, das sind die seltensten Fälle bei uns.
Denn entweder arbeiten die Eltern so und so schon mit dem Jugendamt zusammen oder
sie lehnen alles strikt ab. Dann hilft auch unser Einschreiten kaum, denn wenn ich einen
Antrag bekomme, und ich muss ja die Eltern zu jedem Antrag des Jugendamtes laden,
und die Eltern kommen schon nicht einmal zu mir, dann ist ein Beschluss mit Unterstützung auf Erziehungshilfe völlig sinnlos.
Ich kann Eltern im Pflegschaftsverfahren nicht zwangsweise bei mir vorführen lassen.
Das heißt, wenn sie den Kontakt ablehnen, ist diese Maßnahme auch nicht durchführbar.
Unterstützung zur
Erziehung bedeutet
zum Beispiel
Kontrollen durch
das Jugendamt,
Kindergartenunterbringung oder
Hortunterbringung,
damit eine gewisse
kontinuierliche
Beobachtung der
Kinder gewährleistet
ist, sowie Kontrolltermine bei Ärzt/innen, logopädische
Behandlungen oder
Familienintensivbetreuungen.
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Entzug der Obsorge
In den meisten Fällen, die bei uns anhängig sind, kommt es zu einer Abnahme des
Kindes, zu einem Entzug der Obsorge der Eltern.
Wobei Obsorge teilbar ist. Es gibt die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung – das
wird in 90 Prozent aller Fälle entzogen.
Das heißt, sie dürfen das Kind nicht mehr bei sich haben, sie sind nicht mehr zuständig
für Pflege und Erziehung. Man belässt ihnen aber noch die gesetzliche Vertretung und
Vermögensverwaltung. Das wird in 90 Prozent aller Fälle bei den Eltern belassen.
Wir sind uns sehr
wohl bewusst,
dass auch eine
Herausnahme der
Kinder aus ihrer
Familie Gewalt an
den Kindern ist. Nur
ist in den meisten
Fällen keine andere
Lösung denkbar.
Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass auch eine Herausnahme der Kinder aus ihrer
Familie Gewalt an den Kindern ist.
Auch wir erleben das zum Teil sehr dramatisch. Wenn die Eltern die Kinder nicht „herausgeben“ und dann Polizei, Feuerwehr, Vollzugsbeamter und Jugendamt auftreten, um
die Kinder quasi gewaltsam aus der Familie zu reißen, dann ist das pure Gewalt, die bei
den Kindern einen Schock verursacht.
Nur ist in den meisten Fällen keine andere Lösung denkbar.
Es ist nicht so, dass das Jugendamt leichtfertig einen Antrag bei uns stellt oder dass irgendeiner von uns eine solche Maßnahme leichtfertig genehmigt.
Es wird von uns intensivst recherchiert, bevor wir uns zu so einem Schritt entschließen.
Wir haben die Jugendgerichtshilfe im Haus, mit Psychologen und Sozialarbeitern, die
zusätzlich zum Jugendamt nochmals sämtliche Erhebungen im Umfeld durchführen, die
mit Nachbarn, in den Schulen, Kindergärten und mit den Ärzten und Ärztinnen sprechen.
Die Jugendgerichtshilfe nimmt uns Richtern diese Erhebungen ab, denn das würde
unser Zeitbudget bei weitem überschreiten.
Nach diesen Recherchen folgen Gespräche von uns mit den Eltern. Daraufhin wird meistens auch noch ein Sachverständigengutachten über die Erziehungsfähigkeit der Eltern
und die Möglichkeit, das Kind aus der Familie herauszunehmen, eingeholt, und erst dann
wird der Beschluss getroffen, dass das Kind der Familie abgenommen wird.
Für das Kind ist die Sache damit aber noch keineswegs durchgestanden, und das macht
die Sache auch immer so schwierig.
Denn dann kommen die Besuchsregelungen. Die Eltern können oder wollen diese
Regelung zumeist nicht akzeptieren. Dass dadurch auch das Kind immer wieder involviert wird, dessen muss man sich bewusst sein.
Das Kind hat keine Ruhe mit der Abnahme, nur haben wir bisher noch keine bessere
Lösung gefunden.
„Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“
Was passiert a la longe mit dem Kindern?
Da kommen wir nun zum Titel dieser Tagung „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“.
Über 80 Prozent
unserer straffällig
gewordenen
Jugendlichen kommen aus „belasteten“
Familien. Es wurde
ihnen in ihrer
Familie Gewalt angetan, sie wurden
misshandelt oder
vernachlässigt.
46
Verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, ich möchte nicht sagen, dass jeder, der eine gewaltsame Kindheit durchgemacht hat, kriminell wird. Das stimmt sicher nicht. Aber es gibt
einen Umkehrschluss.
Jeder einzelne Fall, jeder einzelne Strafakt wird von uns an die Jugendgerichtshilfe weitergeleitet, die umfangreiche Erhebungen über das ganze Umfeld, über die Familie, die
Schule des Betroffenen usw. im Zuge des Pflegschaftsverfahrens macht. Und von dort
her gibt es eine grobe Statistik, die besagt, dass über 80 Prozent unserer straffällig gewordenen Jugendlichen aus „belasteten“ Familien kommen, sei es, dass ihnen dort
Gewalt angetan wurde, dass sie misshandelt oder vernachlässigt wurden.
Und etliche von unseren Straftätern haben auch einen Pflegschaftsakt bei uns anhängig. Das sind dann die 14-, 15-, 16-Jährigen, bei denen wir uns zwar auch bemühen, noch
irgendwelche hilfreichen Maßnahmen zu setzen, wo es aber natürlich immer schwieriger wird.
Jeder wird für ein 2-, 3-, 4-, 5-jähriges Kind Verständnis haben, dem Gewalt angetan
wurde. Jeder sagt „Dieses arme Kind“ und „Was ist nur mit diesem Kind passiert? Das
ist ja furchtbar.“ Jeder hat hier Verständnis und wird jeder Maßnahme zustimmen.
Wenn es aber einen 15-, 16-Jährigen betrifft, der pappig und rotzig ist und etwas angestellt hat, der sich alles andere als positiv präsentiert, der keine Goldlocken mehr hat,
sondern eine Punkerfrisur, dann hört sich das Verständnis schlagartig auf. Kein Mensch
zerbricht sich dann den Kopf darüber, was der Jugendliche schon alles mitgemacht hat,
was mit ihm passiert ist und was wir jetzt eigentlich schonenderweise mit ihm tun sollen.
Da ist der Ruf nach Strafe sehr, sehr laut. Und er wird immer lauter.
„Alles einsperren“ versus Bewährungshilfe
Es gibt kein Verständnis mehr für Therapien und andere Maßnahmen.
Die Devise geht immer stärker in Richtung „Einsperren“.
Was wir versuchen, ist im Rahmen von Probezeiten Maßnahmen zu setzen, um doch
noch irgendeine Hilfestellung zu geben. Die Möglichkeiten dazu haben wir noch, angefangen von der Bewährungshilfe.
Die Jugendlichen sind meistens auf sich allein gestellt. Unter Umständen gibt es irgendwo noch eine Mutter – wenn, dann ist es in aller Regel eine Mutter, die da vielleicht
noch dahinter steht.
Bewährungshilfe ist eine Möglichkeit, die ich dem Klienten drei Jahre lang vermitteln
kann. Das soll eine Unterstützung sein. Das hat mit Strafe absolut nichts zu tun. Das ist
eine rein positive Maßnahme für ihn. Ich sage jetzt immer „ihn“, weil 95 Prozent aller
Straftäter Burschen sind.
Wir können im Rahmen der Probezeit zum Beispiel anordnen „Du musst regelmäßig in
die Schule gehen. Du musst dir eine Lehre suchen oder musst beim Arbeitsamt gemeldet sein.“
Dann geht es weiter mit Therapien.
Wir können unseren Süchtigen, und das sind sehr, sehr viele, Weisung geben, sich einer Therapie zu unterziehen, sei es ambulant, sei es stationär.
Wir haben bei uns im Haus bei der Jugendgerichtshilfe auch das Antiaggressionstraining,
das diesen Jugendlichen helfen soll, ihre eigenen Aggressionen, die sie letztendlich alle
aus ihrer Kindheit mitgenommen haben, aufzuarbeiten und zu verbessern.
Letzte Maßnahme: Haft
Letztendlich bleibt dann die Haft. Das ist dann gar nicht mehr erquicklich, wobei es bei
uns im Haus noch zumindest eine sehr dichte Betreuung gibt.
Es werden schulische Weiterbildung und verschiedene Kurse angeboten, und die
Jugendgerichtshilfe betreut die Häftlinge sowohl psychologisch als auch sozialarbeiterisch.
Sind längere Haftstrafen zu verbüßen, dann schaut es schon schlechter aus.
Ich glaube, es gibt jetzt in Gerasdorf eineinhalb Psychologen für 90 auffällige Burschen,
die eigentlich eine Therapie erhalten sollen. Das ist so faktisch nicht machbar. Aber es
gibt kein Geld für eine Aufstockung des Personals.
Eineinhalb
Psychologen sollen
90 verhaltensauffällige Burschen
therapieren. Es gibt
kein Geld für eine
Aufstockung des
Personals, denn
diese Burschen
haben keine Lobby.
Und für diese Burschen haben wir keine Lobby!
Schwierige Teenager
Gerade jene Jugendlichen, die uns am meisten am Herzen liegen, „bleiben“ bei den
Institutionen letztendlich irgendwo „über“.
Es sind diese schwierigen 13- bis 16-Jährigen.
47
Sie passen in keine
Wohngemeinschaft,
es gibt zu wenig
Heime, und auch
eine Pflegschaftsfamilie hält diese
Jugendlichen
kaum aus.
Sie passen in keine Wohngemeinschaft hinein, weil dort würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach alles „umdrehen“ und die Nachbarn so verärgern, dass sie ausziehen
müssten.
Heime gibt es keine mehr in diesem Ausmaß.
Eine Familie – eine Pflegschaftsfamilie – hält einen solchen Burschen oder eine solches
Mädchen auch nicht aus.
Wir haben versucht, eine Lösung für diese Jugendlichen in einer interdisziplinären
Kommission zu finden.
Wir haben versucht, niederschwellige Einrichtungen zu schaffen. Wir werden aber mit
der Mitteilung „Das geht nicht. Das ist zu schwierig. Wer haftet und wer tut und wer macht
und wer zahlt vor allem?“ konsequent abgeblockt.
Ich kann Ihnen keine Lösung dafür anbieten. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es schwierig geworden ist. Viel schwieriger, als es früher war.
Es ist viel schwieriger, sie unterzubringen, das Echo in der Öffentlichkeit wird schlechter, wir haben mehr Probleme, damit umzugehen.
Alles kann nicht von uns aufgefangen werden.
Ich frage mich manchmal, ob man nicht dazu übergehen sollte, Kinder früher aus dem
Familienverband herauszunehmen. Obwohl ich mir bewusst bin, dass das ein zweischneidiges Schwert ist. Denn einerseits arbeiten wir am Gericht ja letztendlich auch nur
mit Druck, Macht und Gewalt. Wie schon gesagt, ein Kind aus seiner Familie herauszureißen ist Gewalt, und deswegen versuchen wir, ein Kind so lang wie nur irgendwie möglich zu Hause zu lassen.
Je älter die Kinder,
desto schlechter sind
ihre Chancen.
Andererseits sehe ich oft Fälle, wo man die Situation zu Hause schon seit Jahren beobachtet, und es wird nicht besser, sondern immer schlechter.
Wir wissen, dass es Gewalt in dieser Familie gibt. Wir wissen, dass es Vernachlässigung
gibt, und wir versuchen trotzdem mit noch einer Weisung, mit einer anderen Schule, mit
einem andern Hort, einem anderen Familienintensivbetreuer usw. der Situation beizukommen, bis es letztendlich dann so weit ist, dass wir das Kind dann doch aus der Familie
herausnehmen müssen.
Nur – je älter die Kinder sind, desto schlechter sind ihre Chancen!
Wenn die Kinder einmal fünf, sechs sind, ist es viel schwieriger, als wenn sie ein Jahr
oder noch kleiner sind.
Dass das ein zweischneidiges Schwert ist, weiß ich, und dass es juristisch schwierig ist,
weiß ich auch. Ich habe das sozusagen oft genug am eigenen Leib erfahren.
Elternwohl vor Kindeswohl?
Zum Abschluss noch eine Geschichte.
Da ist eine Mutter, die durchaus in der Lage ist, ein Baby zu haben. Die Grundversorgung
des Babys, also das Füttern und Wickeln und Streicheln und alles, was dazu gehört, ist
kein Problem für sie. Doch in dem Moment, wo ihr Kind anfängt, mobil zu werden, wo es
aufsteht und geht, wird sie mit der Situation nicht mehr fertig.
Sie begann ihren Sohn zu schlagen, weil sie seiner nicht mehr Herr wurde. Sie konnte
ihm keine Grenzen setzen. Sie hat nicht mehr gewusst, was sie mit ihm machen soll. Sie
war einfach von ihrer ganzen Konstellation her nicht fähig, mit dem Kind irgendetwas anzufangen.
Diese Frau bekam wieder ein Kind. Um dieses neue Baby hat sie sich aber sehr wohl
gekümmert. Als wir den „Großen“ aus der Familie genommen haben, war dieser drei
Jahre, der Kleine war zu diesem Zeitpunkt fünf Monate alt. Der Große kam zu
Pflegeeltern.
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Zu diesem Zeitpunkt habe ich mit der zuständigen Sozialarbeitern beim Jugendamt gesprochen und gesagt „Was machen wir jetzt? Warten wir, bis der Kleine auch anfängt zu
gehen und „schwieriger“ wird für die Mutter? Nehmen wir ihr das Kind dann ab? Dann
ist der Bub aber immerhin wahrscheinlich auch eineinhalb oder zwei Jahre alt.“
Die Pflegeeltern, die den älteren Buben übernommen hatten, waren bereit, auch den
Kleinen zu nehmen.
Und wir entschlossen uns, ihr auch das kleine Kind schon jetzt abzunehmen und haben
das dann das erste Mal durch alle Instanzen durchgezogen. Wir haben mit einem
Sachverständigengutachter gearbeitet, der gesagt hat, dass die Mutter sehr wohl in der
Lage ist, ein Baby zu versorgen, nicht aber ein größeres Kind.
Und so haben wir das Kind mit fünfeinhalb Monaten abgenommen. Aber das war eine
Ausnahmesituation.
Ich kann nicht sagen, dass das immer so funktioniert.
Ich bin ausschließlich für das Wohl des Kindes zuständig, ausschließlich!
Ob es der Mutter dabei gut geht oder den Pflegeeltern oder den Großeltern oder wem
auch immer in diesem ganzen Familienverband, ist für uns nicht entscheidend.
Für das Kind ist diese Situation sicher leichter gewesen, denn ein Einschnitt mit fünfeinhalb Monaten ist leichter zu verkraften als mit zwei oder drei Jahren.
Ob das in Zukunft so gehen wird, das kann ich nicht versprechen. Ich weiß es nicht, weil
die Instanz sehr konservativ ist. Auch der Oberste Gerichtshof stellt immer zuerst fest,
dass die Elternrechte eigentlich schwerer wiegen als die Kinderrechte. Das steht auch
definitiv in den Entscheidungen des OGH.
Scheinbar ist es also eher dem Kind zuzumuten, etwas auf sich zu nehmen, wenn es
den Elternrechten entgegenkommt.
Das beginnt sich jetzt zu ändern.
Wünsche für die Zukunft
Was wir uns wünschen würden – und was jetzt zum Teil auch schon funktioniert –, ist
eine sehr intensive Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. Insofern, dass wir die einzelnen Fälle vorher besprechen, weil man sich leichter tut, wenn man „gleichgeschaltet“
läuft.
Das Zweite, das wir uns wünschen, ist eine Verbesserung der Situation für unsere
schwierigen Teenager. Wir bräuchten da sehr dringend eine Möglichkeit, auch diese
schwierigen Jugendlichen adäquat unterzubringen. Es sollte einfach nicht mehr vorkommen, was leider immer wieder passiert, dass wir einen 14-Jährigen in Haft haben,
weil wir nicht wissen, wo wir ihn eigentlich „hintun“ sollen.
Wir können ihn ja nicht auf die Straße stellen.
Ich kann nur hoffen, dass Tagungen wie diese dazu führen, dass sich nicht nur die
Situation für die kleinen Kindern verbessert, sondern dass es eben auch bei jenen eine
Verbesserung der Situation gibt, die quasi schon am Ende eines Leidensweges stehen,
den sie von Klein auf an mitmachen mussten.
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„Zu Hilf’, Ihr Leut’, zu Hilf’, Ihr Leut’!“
„Extrembelastungen im Kindesalter“
Referentin: Dr. Gertrude Bogyi
Sowohl der Titel der Enquete „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“ als auch der
Titel meines Beitrages „Zu Hilf’ ihr Leut’, zu Hilf’ ihr Leut’“ weisen darauf hin, worum es
in meinem Beitrag gehen wird.
Das Zitat „Zu Hilf’ ihr Leut’, zu Hilf’ ihr Leut’“ ist jener Geschichte im Struwwelpeter entnommen, wo der Jäger den Hasen erschießen möchte. Letztendlich geht diese
Geschichte aber dann doch noch gut aus.
Aber wovon ich Ihnen jetzt berichten werde, da ist leider nichts gut ausgegangen. Es geht
um Kinder, die Zeuge eines Mordes geworden sind.
Ich bin seit siebenundzwanzig Jahren an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des
Kindes- und Jugendalters am AKH tätig, beschäftige mich seit langem auch mit dieser
Thematik und habe bis jetzt zweiundvierzig Kinder betreut, die Zeugen eines Mordes geworden sind.
Man kann jetzt sagen, dass das eigentlich eine kleine Gruppe ist. Für mich jedoch ist das
eine wahnsinnig große Gruppe, denn bei dieser Gruppe sind zum Beispiel all die
Flüchtlingskinder, die schreckliche Kriegserlebnisse zu verarbeiten haben, nicht dabei.
(Es wäre übrigens ein wesentlicher Bestandteil der Integration, diesen Kindern eine lang
währende Aufarbeitung ihrer schrecklichen Erfahrungen zu ermöglichen.)
Martin
So schwer
traumatisierte
Kinder können nie
geheilt werden. Aber
es ist unsere Pflicht,
sie zu begleiten.
Ich möchte mit der Geschichte von Martin beginnen, der zum Zeitpunkt des Traumas
sechs Jahre alt war. Ich betreue ihn auch heute noch. Und es ist auch sehr wichtig, dass
ich ihn noch immer betreue, denn es dauert sehr lange, bis solche seelischen Traumen
auch nur halbwegs verarbeitet werden. Wirklich geheilt können diese Kinder nie werden.
Auch nicht mit der besten Therapie. Wir sind jedoch verpflichtet, diese Kinder zu begleiten. Wir müssen sie in den verschiedensten Lebensphasen begleiten und wirklich für sie
da sein, da das Trauma in den verschiedenen Altersstufen reaktiviert wird und dann neu
bearbeitet werden muss. Doch davon später.
Der sechsjährige Bub war der einziger Zeuge, als sein Vater die Lebensgefährtin erschossen hat. Diese Lebensgefährtin des Vaters war Mutterersatzperson, und zwar
schon seit vier Jahren. Seine leibliche Mutter hatte die Familie verlassen, als das Kind
zwei Jahre alt war. Dann kamen die verschiedensten Tanten und Omas, bis der Bub
schließlich beim Vater und dessen Lebensgefährtin lebte. Bis zu dem Tag, als der Vater
sie im Streit erschoss.
Sprachlosigkeit – ein Verarbeitungssyndrom
Üblicherweise ist es so, dass Kinder knapp nach einem so schrecklichen Ereignis wie
automatisiert einzelne Daten und Fakten erzählen können. Doch bereits ein paar
Stunden, ein paar Tage später tritt eine aktive Verdrängung ein. Die Kinder erzählen das
Erlebte dann anders, können sich an vieles, das sie vorher genau gewusst haben, nicht
mehr erinnern.
Das ist immer auch das große Problem, wenn Kinder vor Gericht als Zeugen aussagen
sollen.
50
Diese Sprachlosigkeit gehört zu einem Verarbeitungssyndrom, das ich Ihnen nun näher
schildern möchte.
Auch dieser Kleine hatte mir am Anfang die verheerenden Geschehnisse genauestens
geschildert. Ein paar Wochen später war er plötzlich stumm und sprachlos geworden.
Ich fragte ihn, ob er nicht vielleicht zeichnen möchte. Er bejahte und begann zu überlegen, was er denn eigentlich zeichnen wolle. Und dann hat er selbst gemeint, er werde
zeichnen, wie es ihm geht.
Auf einem der Bilder, die er zeichnete, fand ich auch mich. Ich sollte gerade erschossen
werden. Aber da das natürlich auch für ihn sehr schlimm gewesen wäre, hat er mir eine
kugelsichere Weste „umgehängt“, sodass ich nicht erschossen werden kann.
Mittlerweile ist das eineinhalb Jahre her, doch das Kind gerät noch immer bei jedem
Blutfleck in Panik. Sieht es Blut, bekommt es eine Wahnsinnsangst. Der kleinste Blutfleck
genügt, um alles sofort zu reaktivieren.
Wir wissen heute, dass bei schweren psychischen Traumatisierungen jede Kleinigkeit
genügt, um ein Wiedererleben auszulösen.
Eine für uns gar nicht sichtbare, nicht erkennbare Kleinigkeit genügt, und das Kind muss
die Geschehnisse in den verschiedensten Facetten wieder erleben. Mit einem Mal ist die
gesamte Problematik wieder da ist.
Sieht er Blut,
bekommt er eine
Wahnsinnsangst.
Der kleinste
Blutfleck genügt,
um die schrecklichen
Erlebnisse zu
reaktivieren.
Psychische Traumatisierung
ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationen und individuellen
Bewältigungsmechanismen.
Charakteristischer Weise ruft dies sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ein extremes Gefühl der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe hervor. Das betroffene Kind
fühlt sich ohnmächtig, und es kommt zu einer Erschütterung des Selbst- und
Weltverständnisses.
Bei einem psychischen Trauma handelt es sich um ein subjektives Erleben, und deswegen stellt es sich auch nicht für jeden gleich dar.
Betroffene Kinder
fühlen sich hilflos,
schutzlos und ohnmächtig. Zumeist
fühlen sie sich auch
noch schuldig an
dem, was sie miterleben mussten.
Es gibt also keine objektive Skala mit Schweregraden der psychischen Traumatisierung.
Meistens treten nach dem Ereignis auch noch ganz massive Schuldgefühle bei den betroffenen Kinder auf. Schuldgefühle, nichts „dagegen“ getan zu haben.
Zum Beispiel hat mir ein Kind, das Zeuge war, als der Vater die Mutter ermordet hat, gesagt: „Weißt du, sie haben so oft gestritten, und ich hab’ immer wieder gesagt, hört auf
zu streiten. Aber wenn ich sie hätte ausstreiten lassen, dann hätte der Papa die Mama
nicht erschießen müssen.“
Dieses Sich-schuldig-, Sich-mitbeteiligt-Fühlen ist natürlich auch ein sehr wesentlicher
Punkt bei der Traumatisierung.
Professor Friedrich sagt immer, wir müssten wieder eine Streitkultur entwickeln. Ich
nehme das sehr ernst, und ich glaube sogar, es wäre eine präventive Maßnahme. Ein
Kind soll keinesfalls von allem, von jedem Streit fern gehalten werden. Denn es ist ja nicht
der Streit an sich, es ist viel mehr die Art und Weise, wie gestritten wird.
Wenn der Vater der Mörder ist
Ich arbeite mit Kindern, die Traumen der verschiedensten Art erlebt haben. Aber das
Schlimmste, was einem Kind passieren kann, ist fraglos, wenn der Vater die Mutter oder
auch umgekehrt, die Mutter den Vater ermordet. Da kommt es zu schwersten
Erschütterung vom Selbst- und Weltverständnis des Kindes.
Es ist wesentlich leichter, wenn der Mörder ein Außenfeind ist.
Denn wenn Vater oder Mutter Täter sind, kann das Kind ja seine negativen Gefühle nicht
voll auf diese „Person“ richten. Vater oder Mutter werden vom Kind geliebt, und das
Gefühlschaos, in das ein Kind stürzt, das miterleben musste, wie der eine liebe Mensch
den anderen geliebten Menschen ermordet hat, ist grauenvoll. Diesen Kindern wird regelrecht der Boden unter den Füßen weggezogen. Jegliches Urvertrauen in die Welt ist
„Weißt du, sie haben
so oft gestritten, und
ich hab’ immer wieder gesagt, hört auf
zu streiten. Aber
wenn ich sie hätte
ausstreiten lassen,
dann hätte der Papa
die Mama nicht
erschießen müssen.“
Diesen Kindern wird
der Boden unter den
Füßen weggezogen.
Diese Kinder haben
jegliches Urvertrauen in die Welt auf
immer verloren.
Diese Kinder wissen
wirklich nicht mehr
ein und aus.
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diesen Kindern auf immer genommen worden. Diese Kinder wissen wirklich nicht mehr
ein und aus.
Wie verunsichert diese Kinder sind, sieht man an Martin, der auch heute noch, nach zwei
Jahren Therapie bei mir, sagt: „Ich weiß ja nicht, ob du mich nicht auch erschießen willst.“
Martin ist derzeit wieder stationär bei uns aufgenommen. Seine Verunsicherung ist so
tief, dass er sich ununterbrochen absichern muss, ob die Schwester in der Nacht munter ist, damit da ja jemand aufpasst, dass ihm nichts passiert.
Das psychogene Schocksyndrom
Walter Spiel, der langjährigen Leiter und Gründer unserer Klinik, hat 1974 ein psychogenes Schocksyndrom an Hand von Kindern und Jugendlichen beschrieben, an denen
ein Mordversuch verübt worden ist.
Bei diesen Kindern ist quasi im letzten Moment alles noch gut gegangen, sie wurden nicht
einmal – körperlich – verletzt. Dennoch bleibt die Tatsache, dass ein Elternteil versucht
hat, das Kind zu ermorden.
Psychogenes
Schocksyndrom:
Es äußert sich als
Reaktion auf ein
traumatisches
Ereignis in der ersten
Phase durch
Panikreaktion,
Fluchttendenzen,
Angstreaktionen
bis hin zur Apathie.
Es erfolgt dann eine
aktive Verdrängung
gegen die Bewusstmachung der
Ereignisse und eine
Bearbeitung in der
Fantasie. Erst
6 Monate bis 1 Jahr
danach, manchmal
auch noch später,
kommt es zu
Symptombildungen,
und erst danach ist
eine Bearbeitung der
Realität möglich.
Spiel hat hier vier Phasen beschrieben, die ich dann auch bei diesen extrem traumatisierten Kindern, die Zeugen eines Mordes geworden sind, erlebt habe.
Diese Phasen sind:
1.)
Panikreaktion, Fluchttendenzen, Angstreaktionen, Apathie
2.)
Aktive Verdrängung des Erlebten
3.)
Bearbeitung der Erlebnisse in der Fantasie
4.)
Symptombildung (6 Monate bis 1 Jahr nach dem Trauma)
Und dazu jetzt ein Beispiel.
Jürgens Geschichte
Jürgen war sechs Jahre alt, als er miterleben musste, wie sein Vater seine Mutter und
die Großmutter ermordet hat. Die Tatwaffe war eine Glasscherbe. Mit dieser hat er ihnen
die Kehle durchgeschnitten. Der Vater versuchte auch Jürgen zu ermorden. Doch offensichtlich hatte der Mann dann eine Tötungshemmung und somit blieben nur leichte
Kratzspuren. Im Anschluss daran hat der Vater dann Selbstmord begangen, indem er
mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler gefahren ist.
Laut Auskunft der Gerichtsmedizin war Jürgen stundenlang mit den Leichen von Mutter
und Großmutter allein.
Die Tat passierte in den Abendstunden, und erst am nächsten Tag verließ er die
Wohnung. Er packte seinen Rucksack, gab eine Haarbürste, ein Scherzerl Brot und
Papiertaschentücher hinein, nahm dann den Hund an die Leine und ging zur Nachbarin.
Er läutete bei ihr an und sagte: „Ich muss jetzt auswandern, weil alle meine Leute sind
gestorben.“
Diese Botschaft konnte er noch überbringen, dann brach er ohnmächtig zusammen.
Dann wurde er mit der Rettung zu uns gebracht.
Jürgen hat abgesehen vom Miterleben der Tat noch weiteres Schreckliches miterlebt.
Wie wir nachher rekonstruiert haben, hat er die Leichen seiner Mutter und Großmutter
ins Badezimmer geschleppt und siebeneinhalb Stunden lang versucht, sie abzuspülen,
damit sie zu bluten aufhören.
Natürlich hat er das Blut nicht stoppen können, hat sie so nicht retten können. Sie können sich sein Entsetzen vorstellen, als das Blut durch die Verdünnung mit dem Wasser
sogar noch mehr geworden ist! Das hat ihm am Schluss enorme Schuldgefühle bereitet, weil er der fixen Überzeugung war, dass es seine Schuld war, dass sie so geblutet
haben.
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Als er dann zu uns gebracht wurde, war er apathisch, war am Anfang sprachlos, konnte
nichts sagen. Er hat das Erlebnis also schon am Anfang verdrängt.
Das wäre also die erste Phase des psychogenen Schocksyndroms, die Apathie.
Nach und nach bin ich dann dem Jürgen ein Stückchen näher gekommen, denn dass
solche Kinder auch ein Schutzschild an Abwehr aufbauen, das können Sie sicherlich
leicht verstehen. Er malte sein erstes Bild in der Therapie, und das war ganz in Schwarz
gehalten. So schaute also seine Welt aus. Auf diesem Bild war ein Erhängter auf einem
Schiff zu sehen.
Jürgen hat sich dann ganz massiv gegen die Bewusstmachung der Tatsache gewehrt,
dass der Vater der Mörder ist. Er hat mir in den Therapie-Stunden gesagt: „Weißt du, der
Mörder war zwar so groß wie mein Papa, und er hat so ausgeschaut wie mein Papa, und
er hat so eine Stimme gehabt wie mein Papa, aber es war nicht mein Papa.“
Also dieser Schmerz, dass der Täter auch noch der Vater ist, war für dieses Kind zu diesem Zeitpunkt einfach zu viel.
Genau das meinte Spiel mit der „aktiven Verdrängung“.
Die Wahrheit nicht verleugnen
Auch für Helfer und Helferinnen ist es entsetzlich, so etwas auszuhalten zu müssen.
Natürlich wäre es hier sehr verführerisch zu vertrösten und dem Kind zu sagen: Ja, Du
hast Recht, die Polizei hat sich geirrt. Der Mörder ist nicht Dein Papa.
Aber hier ein Appell an alle Helfer/innen: Tun Sie das nie! Das wäre der größte Fehler.
Sie würden damit vielleicht sogar auch psychische Gewalt am Kind verüben, auch wenn
Ihnen das jetzt ganz komisch erscheinen mag.
Aber wenn wir die Wahrheit leugnen, geben wir dem Kind eigentlich keine Möglichkeit
mehr, mit uns darüber zu reden. Wir würden dann ja diese Lüge aufrecht erhalten.
Natürlich hab ich dem Kind auch nicht jeden Tag gesagt: „Du, der Mörder war Dein Papa!“
Aber am Anfang hab ich dem Kind gesagt: „Weißt Du, es wäre schön, wenn sich die
Polizei geirrt hätte, aber es war der Papa.“
Ganz wichtig ist, dass jemand dem Kind beisteht, das Ganze gemeinsam mit dem Kind
aushält und gemeinsam mit ihm trägt.
Verarbeitung in der Fantasie
In der Regel erfolgt dann die dritte Phase, in der es zu einer Bearbeitung des Falles in
der Fantasie kommt. Und dann, oft ein halbes bis zu eineinhalb Jahre später, wenn die
Menschen aus der Umgebung des Kindes glauben, jetzt hat es ohnehin schon alles verkraftet, weil es auch nicht mehr darüber spricht, dann kommt es zu massiven
Symptombildungen.
Die Symptome können die ganze Bandbreite der Palette der kinderpsychiatrischen
Auffälligkeiten umfassen, von Einnässen über Leistungsstörungen, bis hin zum Stottern.
Die Erkrankungen sind dann noch einmal das Zeichen einer Bearbeitungssituation, und
erst in der vierten Phase beginnt der lange, lange Prozess der Bearbeitung der Realität.
Der Trauerprozess kommt überhaupt noch viel, viel später.
Am Beginn der vierten Phase muss die ganze Gewalt, die ganze Schuld, all das, was da
passiert ist, zunächst einmal Schritt für Schritt verarbeitet werden. Was sich dann in den
verschiedensten Entwicklungsphasen eben auch wiederholt. Angenommen, ein Trauma
passiert einem kleinen Kind, dann muss dieses Kind dieses Trauma in allen
Entwicklungsstufen neu und auf einem anderen Entwicklungsniveau bearbeiten.
Zu den Symptomen
zählen: Tick-Erkrankungen, Angststörungen, aggressive Tendenzen,
Bettnässen, Lernund Leistungsstörungen, motorische
Störungen,
Kontaktstörungen,
Stottern.
53
Die heikle Frage der Unterbringung
In Jürgens Fall kam dann natürlich auch noch die Frage der Unterbringung auf. Hier ein
Appell an alle Sozialarbeiter/innen: Überlegen Sie bitte immer sehr gut, wo Sie solche
Kinder unterbringen.
In der ersten Minute sind natürlich sofort alle Verwandten zur Stelle. Die sagen, selbstverständlich nehmen wir das Kind zu uns, keine Frage, das bin ich meiner Schwester
schuldig, oder Ähnliches. Das hört sich zwar sehr gut an, aber oft ist eine andere Lösung
besser. Und manchmal ist es auch meine Aufgabe gewesen, diesen Menschen zu sagen, sie dürfen Tante oder sie dürfen Oma bleiben, aber es ist gescheiter, das Kind
kommt ins Kinderdorf.
Ich hatte da zum Beispiel eine Frau, die selbst vier kleine Kinder hatte und dann drei
kleine dazu nehmen hätte wollen!
Es geht ja nicht „nur“ darum, dieses Kind bei sich aufzunehmen. Es geht vor allem auch
darum, es zu begleiten.
Jürgen kam zur Schwester seiner toten Mutter und musste noch eine Reihe von
Trennungen (Schulwechsel, Scheidung von Onkel und Tante etc.) und weiteren psychische Traumen durch die Gesellschaft erleben.
(Mehr über Jürgens Geschichte lesen Sie im zweiten Teil der Dokumentation, Seite 63).
Zeichnungen von Kindern dürfen zwar nicht überbewertet werden, trotzdem geben sie
uns oft einen guten Einblick in den momentanen Sinneszustand. Deshalb möchte ich
Ihnen zum Abschluss noch erzählen, was Jürgen gezeichnet hat.
Waren seine Zeichnungen am Anfang eigentlich nur ein schwarzes Bild, so zeichnete er
nach einem Jahr einen Kaiseradler. Warum? – Weil er sich in einen Kaiseradler verwandeln lassen will, denn der steht unter Naturschutz, und dann kann ihm nie wieder etwas passieren!
Bei richtiger Begleitung können die Ressourcen und Stärken eines Kindes auch bei den
ärgsten Traumen wieder geweckt werden. Und in diesem Sinne wollen wir weiter arbeiten!
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2. Enquete
ES IRRT DER MENSCH,
SOLANG ER STREBT
Psychische
Gewalt am Kind
Moderation:
Barbara Urban, ORF
6. Oktober 2000, 10 Uhr
Hofburg, Großer Redoutensaal
1010 Wien, Josefsplatz
Psychische Gewalt
ist sicherlich jene Gewaltform, die am häufigsten auftritt. Zum einen tritt sie immer als Begleiterscheinung bei
jeder Form körperlicher und sexueller Gewalt auf; zum anderen haben zusätzlich viele Kinder – ohne körperlich betroffen zu sein – unter psychischer Gewalt, sei es im Elternhaus, sei es im sozialen Umfeld, zu leiden.
Psychische Gewalt hinterlässt keine körperlichen Spuren und ist daher schwer festzustellen und zu beweisen.
Oftmals werden extrem „brave“ Kinder nicht als „Opfer“ wahr genommen, sondern finden sogar noch die
Anerkennung der erzieherischen Leistung ihrer Eltern in einer immer noch autoritär denkenden Gesellschaft.
Auch das Verhalten der Eltern in Scheidungssituationen kann zu psychischer Misshandlung führen, wenn
z.B. Kinder zum Mittelpunkt juristischer Auseinandersetzungen werden, um elterliche Machtinteressen durchzusetzen.
Psychische Gewalt kommt aber auch in Institutionen vor oder kann durch institutionelles Handeln ausgelöst
werden.
Auch zwischen Kindern/Jugendlichen gibt es diese Form der Gewalt – Schlagworte, wie „Bullying“ oder
„Mobbing“ sind in letzter Zeit laut geworden.
Ziel der Enquete war es, das Spannungsfeld Schutz bzw. Gefahr durch die Familie versus Schutz bzw. Gefahr
durch Institutionen bei psychischer Gewalt am Kind zu beleuchten.
Titel und Überschrift in Anlehnung an:
Johann Wolfgang von Goethe: Faust
Inhaltsverzeichnis Enquetes 2
„Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an“
„Psychische Gewalt aus der Gesellschaft: Der Kreis wird enger“
Dr. Werner Leixnering
Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie
an der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz
Seite 158
„Heinrich! Mir graut’s vor dir!“
„Traumatisierung und Gesellschaft“
Dr. Gertrude Bogyi
Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters, Wien
Seite 162
„Erbarme dich und lass’ mich leben“
„Scheidung – psychische Gewalt an Kindern?“
Dr. Harald Werneck
Institut für Entwicklungspsychologie, Universität Wien
Seite 168
„Nicht Kunst und Wissenschaft allein,
Geduld will bei dem Werke sein“
„Eltern als Begleiter in schwierigen Zeiten“
Dr. Luitgard Derschmidt
Forum Beziehung, Ehe und Familie der Katholischen Aktion Österreich
Seite 175
„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“
„Der Eingriff von Außen – ein zusätzliches Trauma?“
Dr. Reinhard Neumayer
Amt der NÖ Landesregierung, Abt. Jugendwohlfahrt
Seite 182
„Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“
„Schule – ein Ort der Tat“
Dir. Gertraud Schimak/Mag. Dagmar Friedl
Rudolf-Ekstein-Zentrum, Wien
Seite 190
„Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor“
„Entlastungsstrukturen“
Dr. Stefan Allgäuer
Institut für Sozialdienste, Vorarlberg
Seite 196
„Das Gute liegt uns oft so fern“
„Prognose versus Vorurteil: Stolperstein der Prävention“
2 Fallbeispiele
Dr. Eva Traindl
Niedergelassene Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde, Wien
Seite 104
„Der Menschheit ganzer Jammer
faßt mich an“
„Psychische Gewalt aus der Gesellschaft:
Der Kreis wird enger“
Referent: Dr. Werner Leixnering
Wir dürfen ruhig
hinschauen, wenn
wir uns irren.
„Es irrt der Mensch, solang er strebt“, so lautet der Übertitel dieser Enquete. Wenn wir
diesen Satz genauer betrachten, ein wenig umdrehen, dann heißt das ja eigentlich auch:
Wir dürfen uns irren. Und das heißt wiederum auch: Wir dürfen ruhig hinschauen, wenn
wir uns irren. Dass wir also hinschauen dürfen, ja sogar sollen, scheint ein Faktum zu
sein, das uns gerade beim Phänomen der psychischen Gewalt an Kindern (übrigens
auch an Erwachsenen) durchaus verfolgen sollte. Ich sage bewusst „verfolgen“ sollte,
weil verfolgen kann auch bedeuten, etwas immer im Fokus zu haben.
Ich würde aber auch sagen, es ist eine Tatsache, die uns immer „begleiten“ darf. Denn,
wenn wir wirklich hinschauen und dadurch erkennen, dass wir uns irren, haben wir möglicherweise schon einen Ansatz der Veränderung in der Hand.
Der zweite Titel, den ich hier ansprechen möchte, lautet: „Der Menschheit ganzer
Jammer fasst mich an“. Und auch dieses berühmte Zitat möchte ich ein wenig näher betrachten.
„Der Menschheit ganzer Jammer fasst uns an.“ Da steht nicht, der „sieht“ uns an oder
der „ruft“ uns etwas zu, nein „fasst“ uns an. Und alle, die mit Kindern arbeiten, wissen,
welch wesentliche Bedeutung wir in den letzten Jahren all dem geschenkt haben, was
etwas mit dem unmittelbaren Berühren von Kindern zu tun hat. Das heißt, wenn uns dieser Jammer gleichsam bewegen soll, dann muss er uns anfassen. Das heißt aber auch
– und das wissen auch wieder alle, die mit dem taktilen und sensomotorischen Bereich
zu tun haben –, dass man bereit und imstande sein muss, sich anfassen zu lassen.
Psychosomatik:
Wenn psychische
Gewalt ausgeübt
wird, kann sie sich
bei Kindern körperlich äußern. Können
wir uns also körperliche Symptome
organisch nicht
erklären, müssen wir
an die Möglichkeit
erlittener psychischer Gewalt
denken.
Aber „der Menschheit ganzer Jammer“ fasst auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen an, wenn es um psychische Gewalt geht. Denn wenn psychische Gewalt ausgeübt
wird, egal ob sie jetzt von unmittelbaren Bezugspersonen oder aus der Gesellschaft
kommt, kann sie sich bei Kindern körperlich äußern.
Die Psychosomatik spielt hier also eine große Rolle. Deshalb müssen wir bei Kindern,
die an körperlichen Phänomenen leiden, die wir uns organisch nicht gut erklären können, an die Möglichkeit erlittener psychische Gewalt denken, wie in der ersten Enquete
zu diesem Thema schon kurz dargestellt wurde. (ð Hinweis auf Seite 9)
Wir haben bei der letzten Enquete schon darüber gesprochen, dass die Grenzen zwischen Erziehungspraktiken, die sich des Prinzips der Strafe bedienen, und psychischer
Gewalt oftmals fließend sind. Das ist ein Problem, mit dem wir uns immer wieder befassen und auseinandersetzen müssen.
Und genau das Problem dieser fließenden Grenzen sollte uns wahrscheinlich besonders
dazu anregen, immer daran zu denken, dass wir uns auch irren können.
Eine Erziehungsmaßnahme kann eben auch irrtümlich erfolgt sein, und das müssen und
können wir auch zugeben und uns eingestehen – als Eltern, als Lehrer, als Bezugspersonen.
Die Wurzel des Übels
58
Wenn wir uns nicht nur mit dem Phänomen der psychischen Gewalt innerhalb der
Familie befassen, sondern die Problematik etwas weiter beleuchten, dann müssen wir
uns die Frage stellen: Wie geht die Gesellschaft mit Eltern um, die dann wieder mit
Kindern „umgehen“? Oder: Wie geht die Gesellschaft überhaupt mit jenen Personen –
das müssen ja gar nicht immer nur die Eltern sein – um, die dann wieder mit Kindern
„umgehen“?
Müssen wir nicht dort ein wenig nachforschen, wenn wir uns die Wurzeln der psychischen
Gewalt ansehen möchten?
Ist nicht auch ein wesentlicher Punkt, wie Erwachsene mit Erwachsenen umgehen, was
Kinder dann natürlich miterleben, mitbekommen? Und ist dieses Mitbekommen nicht wesentlich mehr also nur das Sehen, das Hören, das Spüren? Ist das nicht auch etwas
Seelisches an sich, ein psychischer, ein emotionaler Akt?
Ein wesentlicher
Punkt ist, wie
Erwachsene mit
Erwachsenen umgehen, denn Kinder
lernen davon.
Noch ein Punkt scheint mir besonders beachtenswert zu sein: der Umgang von Kindern
mit Kindern!
Wenn man sich in der Literatur umschaut und Beschreibungen, Bemerkungen und
Erfahrungen sammelt, so sieht man, dass wir in einer Zeit leben, in der wir sehr darauf
achten, Kindern rechtzeitig Autonomie zu geben, Kindern rechtzeitig Selbstständigkeit
zu geben, Kindern rechtzeitig zu ihrem Recht zu verhelfen. Das bedeutet natürlich auch,
dass Kinder relativ früh selbstständig miteinander „umgehen“, also in Interaktion treten.
Kinder gehen heute auch vielleicht autonomer miteinander um, als das früher der Fall
war, da nicht so schnell jemand von Außen eingreift. Das bedeutet aber auch, dass wir
viel früher darauf achten müssen, wie die Kinder miteinander umgehen.
Also nicht nur Erwachsene gehen mit Kindern um, sondern auch Kinder, auch junge
Menschen gehen miteinander um.
Phänomen Bullying
In diesem Zusammenhang ist leider das Phänomen des „Bullying“ anzusprechen, jenes
Phänomen, das man vielleicht mit schikanieren, quälen, sekkieren, malträtieren usw.
übersetzen kann. Und dazu gibt es seit den 80er Jahren erste Untersuchungen, die dann
in verschiedenen Ländern in verschiedenen Formen repliziert wurden.
Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass Bullying weit verbreitet ist.
Es gibt Daten, die darauf hinweisen, dass in Schulklassen – dort wurden die ersten
Untersuchungen durchgeführt – im internationalen Mittel etwa 5 bis 10 % der Kinder und
Jugendlichen von diesem Phänomen betroffen sind. Und zwar nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass sich die Relation Täter –
Opfer etwa deckt; es gibt andere Ergebnisse, die mehr Täter und weniger Opfer ausweisen.
Das methodische Problem all dieser Untersuchungen ist, dass man auf Befragungen angewiesen ist und dadurch natürlich auch subjektive Momente der Antworten berücksichtigen muss, die das Ergebnis sehr stark beeinflussen können.
Faktum ist aber, dass wir uns mit diesem Phänomen auseinander setzen müssen. Faktum
ist weiters, dass wir es vor allem deshalb mit diesem Phänomen zu tun haben, weil die
Methoden, mit denen heute Gewalt, auch psychische Gewalt, ausgeübt wird, viel subtiler werden. Und subtiler werden bedeutet, dass wir in Zukunft genauer hinsehen müssen.
Bullying:
„Eine Person wird
„gebulliet“ oder
viktimisiert, wenn
sie wiederholt und
über längere Zeit
hinweg negativen
Handlungen durch
eine oder mehrere
Personen ausgesetzt
ist. Eine negative
Handlung findet
statt, wenn jemand
absichtlich einer
anderen Person
Verletzungen oder
Unannehmlichkeiten
zufügt oder zuzufügen versucht.
„Bullying“ oder
Viktimisierung ist
nicht gegeben, wenn
zwei Personen vergleichbarer Stärke
streiten oder
kämpfen“ (nach
OLWEUS, 1992 und
SCHUSTER, 1999).
„Psychische Gewalt aus der Gesellschaft –
der Kreis wird enger“
Nun noch ein paar Worte zur Entstehung psychischer Gewalt. Stellen wir uns jetzt dem
Titel: Wann wird denn der Kreis enger? Wodurch wird er enger?
Durch Verrohung! Verrohung der Sprache ist dabei ein sehr wichtiges Phänomen. Er wird
auch enger durch Verherrlichung von Gewalt in jeder Art. Er wird aber auch enger durch
Einschränkung basaler Lebensbedürfnisse, durch Einschränkung der Entwicklungschancen, durch Einschränkung des Rechts auf einen Platz in der Gesellschaft. Da geht
es bei Kindern um Plätze in Gruppen. Da geht es bei Jugendlichen schon zunehmend
um Arbeitsplätze, da geht es um Fragen der Existenzsicherung für das ganze Leben.
Die Verrohung der
Sprache ist im
Zusammenhang mit
psychischer Gewalt
ein sehr wichtiges
Phänomen.
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Es geht aber auch darum, dass der Kreis enger wird, wenn man sich emotional nicht
mehr Luft machen kann.
Was in der Einzelpsychotherapie gewünscht ist, muss auch – in adäquater Weise – in
Gemeinschaften möglich sein.
Wir sprechen so gern von diesem Schlagwort „den Gürtel enger schnallen“. Ich frage Sie
einmal: Wie würde es Ihnen mit einem Gürtel gehen, bei dem Sie überhaupt kein Loch
mehr finden, an dem Sie die Schnalle einklinken könnten?
Da ist man dann sehr hilflos in der einen, aber auch in der anderen Richtung. Wie schaut
es also mit der Orientierung aus, mit den Zielen, mit den Schritten, wenn Gürtel enger
geschnallt werden müssen? Transportieren wir sie? Ist das nicht auch psychische
Gewalt, wenn wir „Gürtel ohne Löcher“ produzieren?
Der Kreis wird auch
enger, wenn man
sich emotional nicht
mehr Luft machen
kann. Was in der
Einzelpsychotherapie gewünscht
ist, muss auch – in
adäquater Weise – in
Gemeinschaften
möglich sein.
Und das spielt für Kinder, die sich viel schwerer tun, Perspektiven zu erfassen, zu erkennen, eine sehr große Rolle. Wir sind hier also in einem gewissen Sinn wieder auch
beim Problem der Grenzenlosigkeit. Sie wissen alle, dass wir vor 20, 30 Jahren Begriffe
wie „die totale Institution“ sehr stark frequentiert haben. Wir haben daraus sehr viel gelernt. Wir haben sehr viel verändert, und wir haben erfasst, welche Handlungsräume
Menschen brauchen. Heute, glaube ich, müssen wir uns zunehmend mehr auch bei
Kindern und Jugendlichen mit der Frage auseinander setzen, ob unterschiedliche
Individuen, unterschiedliche Kinder und Jugendliche vielleicht auch unterschiedliche
Handlungs- und Erlebnisräume brauchen.
Ich glaube, wir müssen lernen, mehr als bisher unterschiedliche Stile in der Erziehung,
im Umgang mit Kindern und Jugendlichen anzuwenden.
Die Folgen psychischer Gewalt aus der Gesellschaft
Was sind denn die Folgen?
Kinder können
Druck nicht adäquat
verarbeiten. Sie
geben den Druck
weiter – an
Gleichaltrige, an
Jüngere und auch an
Erwachsene.
Erstens: Kinder können Druck nicht adäquat verarbeiten. Das führt zu Verdrängung. Das
führt zu Verleugnung. Das führt zu einer Reihe von psychopathologischen Phänomenen,
die sich zum Teil in psychosomatischen Symptomen äußern können. Es geht da oft um
einen Teufelskreis, der entsteht, wenn Kinder primär schon beeinträchtigt sind. Das
Phänomen der psychischen Gewalt aus der Gesellschaft wird vor allem auch bedrohlich
für Kinder, die von sich aus ungünstigere Voraussetzungen haben.
Zweitens: Psychische Gewalt in der Gesellschaft führt dazu, dass Kinder diese psychische Gewalt unter Erwachsenen miterleben. Zumeist imitieren sie dieses Verhalten
dann unkritisch und unreflektiert, ohne genau zu verstehen, was da überhaupt passiert.
Und letztens: Kinder geben Druck weiter, und das müssen wir uns immer vergegenwärtigen. Sie geben den Druck an Gleichaltrige, an Jüngere, aber unter Umständen auch
an Erwachsene weiter.
Und das ist ein Phänomen, dem wir in der klinischen Psychologie und in der
Psychopathologie immer mehr ausgesetzt sind, dass Kinder, die sehr stark traumatisiert
wurden, ihrerseits nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene wieder psychisch traumatisieren können – natürlich nicht bewusst, aber es entsteht ein Teufelskreis. Das sind
also neue Phänomene, mit denen wir uns auseinander setzen müssen!
Schnelllebigkeit und Leistungsdruck
Zum Schluss möchte ich ein wenig zusammenfassen: Wir leben in einer Zeit, die durch
Schnelllebigkeit, Komplexität und Veränderungsdruck gekennzeichnet ist, und dies stellt
an junge Menschen generell hohe Anforderungen. Sie müssen sich sehr rasch auf
Neues, Anderes, Unerwartetes einstellen, ebenso wie wir weiterhin von ihnen oft
Verständnis für Gehütetes und Geschütztes erwarten.
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Die Kindern zwar im besonderen Maße eigene Fähigkeit zu Entwicklung und Anpassung
– und damit zur Änderung des eigenen Verhaltens – droht auf diese Weise dennoch oft
überfordert zu werden, und dann kann Veränderungslust in Veränderungsfrust enden.
Die Methoden, mit denen Erwachsene die ihnen anvertrauten jungen Menschen sich und
den anderen anpassen wollen, anpassen müssen – vielleicht manchmal auch anpassen
dürfen oder zu dürfen glauben –, werden immer subtiler. Dieser Tatsache müssen wir
uns stellen.
Phänomene des seelisch überfordernden, ja schadenden Gruppendrucks lassen sich
heute mehr und mehr beobachten und stehen zunehmend im Widerspruch zu den in unseren Tagen als selbstverständlich anerkannten erzieherischen Werten der Toleranz und
Akzeptanz.
Die Gefahr des „Überbordens“ psychischer Gewalt ist also allgegenwärtig in einer Zeit,
in der Leistung nicht nur gefordert, sondern mehr noch evaluiert, taxiert und relativiert
wird. Die Angst, selbst in diesem Prozess unter die Räder zu kommen, mobilisiert in oft
erschreckend hohem Ausmaß Kräfte seelischer Gewalt, deren Folgen erst viel später zu
erfassen und schwer zu mildern sind.
Wir alle, meine Damen und Herren, sind fähig, psychischer Gewalt entgegenzuwirken,
sofern wir ihrer nicht nur schaudernd harren, sondern frühen Anfängen und frühen
Gefahren des Psychoterrors klug und konsequent entgegentreten.
Die Kindern im
besonderen Maße
eigene Fähigkeit zu
Entwicklung und
Anpassung droht
überfordert zu werden, und dann kann
Veränderungslust in
Veränderungsfrust
enden.
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„Heinrich! Mir graut’s vor Dir!“
„Traumatisierung und Gesellschaft“
Referentin: Dr. Gertrude Bogyi
Das Gretchen sagt in der Kerkerszene zu Faust: „Heinrich, mir graut’s vor dir“.
Wer ist der Faust? Wer ist das Gretchen, und wovor graut’s?
Ich hoffe, dass meine Ausführungen Ihnen das ein wenig klarer machen können.
Was ist psychische Traumatisierung?
Unter psychischer Traumatisierung verstehen wir eine seelische Verwundung, und zwar
einerseits durch ein plötzliches und unerwartetes Ereignis, das unvorhersehbar ist und
außerhalb der normalen Lebenserfahrung geschieht, also z.B. Missbrauch, Misshandlung, plötzlicher Verlust, Unfall, Katastrophen. Charakteristisch, dass dies sowohl
bei Kindern als auch bei Erwachsenen ein extremes Gefühl der Hilflosigkeit hervorruft.
Andererseits sprechen wir auch von Traumatisierungen, wenn es sich um lang andauernde, chronische traumatische Erfahrungen handelt, die die gesamte Entwicklung des
Kindes von früh an beeinflussen. Walter Spiel hat dazu den Begriff „Persönlichkeitsentwicklungsstörungen“ geprägt. Das kann etwa eine Vernachlässigung oder aber auch
eine psychische oder psychiatrisch schwere Erkrankung der Elternteile sein, die sich auf
die Entwicklung der Kinder auswirken.
Nun noch einmal kurz zur Definition „psychische Traumatisierung“.
Es geht um ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und
den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Gefühle von Hilflosigkeit und schutzloser
Preisgabe werden ausgelöst, und es kommt zu einer Erschütterung des Selbst- und
Weltverständnisses. Freilich gibt es eben, wie schon genannt, eine große Bandbreite
traumatischer Situationen und Situationskonstellationen, sodass sich kein einheitliches
Trauma-Syndrom feststellen lässt.
Dennoch hat Walter Spiel bereits im Jahre 1974 vom so genannten „Psychogenen
Schocksyndrom“ gesprochen.
Es äußert sich als Reaktion auf ein traumatisches Ereignis durch Panikreaktion,
Fluchttendenzen, Angstreaktionen bis hin zur Apathie. Es erfolgt dann eine Phase der
aktiven Verdrängung gegen die Bewusstmachung der Ereignisse und eine Bearbeitung
in der Fantasie. Erst 6 Monate bis 1 Jahr danach, manchmal auch noch später, kommt
es zur Symptombildungen und erst danach ist eine Bearbeitung der Realität möglich. (ð
Siehe auch Seite 52, 53)
Heute spricht man einerseits von der „akuten Belastungsreaktion“, andererseits von der
„posttraumatischen Belastungsstörung“.
Akute Belastungsreaktion: vorübergehende Störung, meist bis 3 Tage nach dem
Ereignis. Nach anfänglichem Zustand der Betäubung werden Depression, Angst, Ärger,
Verzweiflung, Überaktivität und Rückzug beobachtet. Kein Symptom ist längere Zeit
vorherrschend.
Posttraumatische Belastungsstörung: verzögerte Reaktion auf belastendes Ereignis,
selten mehr als 6 Monate nach dem Ereignis. Gekennzeichnet durch Symptomtrias: sich
aufdrängende Erinnerungen, Vermeidung von Situationen, die an das Trauma erinnern,
vegetative Übererregtheit.
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Die posttraumatische Belastungsstörung
und ihre Erscheinungsformen bei Kindern
Eine Vielfalt von Symptomen kann auftreten, die auf eine Traumabelastung zurückführen
sind: Rückzug, Angst, Misstrauen, aber auch Konzentrationsstörungen, Leistungsstörungen, Schlafstörungen, immer wiederkehrende Albträume, psychosomatische
Störungen aller Art und vor allem auch selbstschädigende Verhaltensweisen. Das heißt,
oft wird das aggressive Trauma dann eben gegen sich selbst gerichtet. Bei Jugendlichen
kommen noch oftmals eine Drogenproblematik, sehr häufig auch Selbstmordversuche,
sexuelle Straftaten und vor allem soziale Anpassungsstörungen dazu.
Eine psychische Traumatisierung ist eine das Kind in seiner psychischen Entwicklung
überfordernde Lebenserfahrung, der es wehrlos, hilflos und unentrinnbar ausgeliefert ist.
Starke innere und äußere Eindrücke überfluten die innere Wahrnehmung des Kindes und
führen zu einer massiven Entwicklungsbeeinträchtigung, und das – dies sei jetzt
nochmals betont – auf jeder Entwicklungsstufe. Angenommen, ein Trauma passiert einem kleinen Kind, dann muss dieses Kind dieses Trauma in allen Entwicklungsstufen
neu und auf einem anderen Entwicklungsniveau bearbeiten.
Wie wird nun die Entwicklung weiterverlaufen? Dies hängt einerseits von der
Gesamtpersönlichkeit des Kindes ab, von der Persönlichkeitsstruktur, von den vorhandenen Abwehrmechanismen, von der Art und den Begleitumständen des Traumas, von
der Reaktivierung des Traumas, aber vor allem – und damit bin ich beim heutigen Thema
– vom sozialen Umfeld und damit auch von der Reaktion der Gesellschaft.
Jürgen
Eine psychische
Traumatisierung ist
eine das Kind in
seiner psychischen
Entwicklung überfordernde
Lebenserfahrung,
der es wehrlos, hilflos und unentrinnbar
ausgeliefert ist.
Starke innere und
äußere Eindrücke
überfluten die innere
Wahrnehmung des
Kindes und führen
zu einer massiven
Entwicklungsbeeinträchtigung auf jeder
Entwicklungsstufe.
Die Reaktion der
Gesellschaft nimmt
massiven Einfluss
auf die Entwicklung
traumatisierter
Kinder.
Ich möchte Ihnen nun anhand eines Extrembeispieles erläutern, was ich meine.
Sie erinnern an die Geschichte von Jürgen (Siehe S. 52), der als 6-Jähriger miterleben
musste, wie sein Vater seine Mutter und seine Großmutter ermordete, indem er ihnen
mit einer Glasscherbe die Kehle durchgeschnitten hat. Der Vater versuchte auch Jürgen
zu töten, hatte aber dann offensichtlich eine Tötungshemmung, und somit blieben nur
leichte Kratzspuren. Anschließend beging der Vater Selbstmord.
Jürgen war drei Jahre bei uns in Therapie und wurde dann nach und nach auch von uns
entlassen. Er wurde bei der Schwester seiner Mutter und deren Mann untergebracht. Und
er blieb natürlich auch an der Klinik in Weiterbehandlung.
Und jetzt komme ich dazu, warum ich den Titel eigentlich gewählt habe.
Zwei Jahre nach der Entlassung bei uns kam Jürgen plötzlich wieder zu mir. Er war in
einer höchsten Paniksituation, denn er war nochmals in eine massive Schocksituation
geraten.
Er war mittlerweile in der 2. Volksschulklasse, und es hatte sich dort herumgesprochen,
dass sein Vater ein Mörder war.
Die Eltern einiger Mitschüler von Jürgen gingen daraufhin in die Schule und verlangten
von der Lehrerin darauf zu achten, dass ihr Kind keinesfalls neben Jürgen sitzt. Denn es
wollte niemand, dass sein Kind neben dem „Mörderkind“ zu sitzen kommt.
Die Lehrerin hat nun, obwohl sie eigentlich eine wirklich bemühte, engagierte Lehrerin
war, Jürgen tatsächlich allein in die letzte Reihe gesetzt.
Jürgen saß jetzt also alleine in der letzten Bank, und was glauben Sie, was er getan hat?
Er begann mit allem möglichen wie Radiergummi, Bleistift, Zirkel usw. nach vorne zu
schießen. Es war seine einzige Möglichkeit, mit den Anderen in Interaktion zu treten, auf
sich aufmerksam zu machen. Und dann ist er zusammengebrochen.
Bei mir in der Therapie hat er auf meine Frage „Jürgen, wie geht es dir?“ Tränen gezeichnet. Er hat mir gesagt: „So wie der Himmel weint, wein auch ich.“
Wir haben uns darauf hin die alten Zeichnungen, die er zwei Jahre zuvor gezeichnet
hatte, angesehen und mit den jetzigen verglichen.
Als Jürgen acht
Jahre war, musste er
die Schule wechseln.
Der Grund dafür:
Niemand wollte
neben dem
„Mörderkind“ sitzen.
Hier ist es wieder zu
psychischer Gewalt
gekommen. Die
Umwelt hat Jürgens
neue Familie gemieden, die Lehrerin hat
ihn in die letzte Bank
gesetzt. Es war eine
so verfahrene
Situation, dass er die
Schule wechseln
musste. Dabei wäre
es gerade in so einer
Situation ganz
besonders wichtig,
dass es nicht noch zu
weiteren Trennungen
kommt.
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Als wir die Differenziertheit der alten Zeichnungen und sein neues Stimmungsbild verglichen haben, kamen wir zu dem Schluss, dass Jürgen einfach nicht in seiner jetzigen
Schulklasse verbleiben kann. Der emotionale und gesellschaftliche Druck war dort einfach zu groß für ihn. Er hätte dort keine Chance mehr gehabt, obwohl ich sonst immer
der Meinung bin, dass bei so schweren Verlusterlebnissen und Trennungserlebnissen
wenigstens irgend etwas stabil gehalten werden muss, aber in diesem Fall war es zu spät.
Wir konnten ihn dann in eine neue Klasse eingliedern. Wir bemühten uns, noch bessere
Vorbereitungsarbeit zu leisten, wir sprachen im Vorhinein mit den Eltern und Lehrer/innen. Dass unsere Arbeit schlussendlich Früchte getragen hat, zeigt sich auch an den
Zeichnungen, die Jürgen dann im Lauf der Zeit noch angefertigt hat.
Es waren zwar nach wie vor infantile, nicht so differenzierte Zeichnungen wie vor dieser
neuen Traumatisierung. Trotzdem haben die Bilder dann irgendwann wieder lebendiger
ausgesehen, und somit war es auch in Jürgen wieder lebendiger.
Mit fünfzehn haben sich dann Jürgens Tante und Onkel scheiden lassen, und dann
„konnte“ Jürgen nur mehr Mistkübel anzünden, konnte nur mehr so rebellieren. Er ist kriminell auffällig geworden, hatte also sehr viel mit der Polizei zu tun und hat dann sogar
ein Moped gestohlen.
Zum Glück sagte er damals bei der Polizei: „Ich will jetzt zur Bogyi und nirgendwo anders hin“, und er wurde auch tatsächlich zu mir gebracht. So konnte das dann noch aufgefangen werden.
An diesem Beispiel sieht man einerseits deutlich, welch schreckliche Traumen Kinder
verarbeiten können. Andererseits zeigt es, wie schwer die Gesellschaft es diesen
Kindern macht.
Grausame oder unwissende Gesellschaft?
Ich möchte Ihnen weitere Beispiele dafür bringen, was die Gesellschaft – zum Großteil
wohl aus Unwissenheit und Uninformiertheit heraus – Kindern antut.
Wie der Vater so der Sohn?
Ein 8-jähriger Bub, dessen Vater seine kleine Schwester und die Mutter umgebracht hat,
darf plötzlich nicht mehr seinen Freund besuchen.
Die Mutter des Freundes sagt zu ihm: „Ich habe ja auch drei kleine Mädchen, und ich
habe Angst, dass du sie umbringst.“
Diese Frau hatte sicherlich einfach große Angst, Angst um ihre Töchter, so mag ich ihr
auch keinen Vorwurf machen. Dennoch: Es zeigt deutlich, wie wichtig hier Aufklärung
gewesen wäre.
Väter in Haft
Martin sagt: „Wir
sind eine schlechte
Familie“ und hat ununterbrochen Angst,
bereits wegen einer
nicht gemachten
Hausübung auch
ins Gefängnis zu
müssen.
64
Martin (ð Siehe auch S 50) wiederum war sechs Jahre alt, als er mitansehen musste,
wie der Vater seine Lebensgefährtin erschossen hat. Diese Lebensgefährtin war für das
Kind eine Ersatzmutter gewesen. Wenn Martin heute von Schulkollegen gehänselt wird,
weil er immer wieder zu seinem Vater ins Gefängnis fahren muss, dann sagt er: „Wartet’s
nur, bis der Papa herauskommt aus dem Gefängnis, der schlägt euch dann alle nieder.“
Oder er sagt: „Wir sind eine schlechte Familie“ und hat ununterbrochen Angst, Angst z.B.,
bereits wegen einer nicht gemachten Hausübung auch ins Gefängnis zu müssen.
Ein anderer kleiner Bub, ebenfalls knapp sechs Jahre alt, fürchtet sich wahnsinnig vorm
Schulbesuch, vorm Schuleintritt, weil er nicht weiß, was er der Lehrerin und den anderen Kindern auf die Frage nach seinem Vater antworten soll, denn der sitzt im Gefängnis.
Dabei hatte er sich so sehr auf die Schule gefreut. Anfangs schwindelte er sich irgendwie über die Antwort drüber, doch eines Tages kommt die Wahrheit zu Tage. Die Reaktion
darauf ist, dass ihn die anderen Kinder nicht mehr einladen (dürfen), dass sie nicht mehr
neben ihm sitzen wollen.
Wenn es die anderen wissen ...
Ich brauche vor diesem Fachgremium nicht zu erläutern, wie es sexuell missbrauchten
Kindern und Jugendlichen geht, wenn sie irgendwo einmal über ihren Missbrauch erzählt
haben. Sie alle wissen, wie schwer es ihnen dann oft gemacht wird, wie leichtfertig die
Gesellschaft sagt: „Das Kind hat sich halt so verhalten, dass das passieren musste“ oder
„Die Jugendliche hat sich ja so angezogen, dass sie ja praktisch selber Schuld ist, dass
das passiert ist.“
Und wie oft es trotz – und da hat ja mein Chef, Professor Friedrich, ja sehr viel dazugeholfen – kontradiktorischer Befragungen zu für die Kinder unmöglichen Fragen kommt,
ist haarsträubend. Die Kinder sitzen dann zwar im geschützten Kämmerchen, sind aber
trotzdem zusätzlich einer extremen seelischen Gewalt ausgesetzt.
„Die Jugendliche hat
sich ja so angezogen,
dass sie ja praktisch
selber Schuld ist,
dass das passiert ist.“
Sie bekommen außerdem noch von der Gesellschaft den Vorwurf, dass sie ihre Familie
zerstört haben, und, und, und.
Ich glaube, ich brauche da keine weiteren Beispiele aufzuzählen, denn das ist Ihnen
alles bekannt.
Ebenfalls schwere Traumatisierungen erleiden Kinder, wenn sich ihre Eltern suizidieren.
Da wird oft viel verheimlicht, den Kindern wird nichts oder nicht alles gesagt, und auch
diese Vorenthaltung der Wahrheit ist eigentlich psychische Gewalt am Kind.
Diese Kinder können, wenn sie dann ins Jugendlichenalter kommen, also etwa mit
13, 14 Jahren, dann nur mehr gegen diese Welt rebellieren.
Wenn die Eltern anders sind
Nun noch einmal kurz – wie eingangs erwähnt – zur Situation von Kindern psychisch und
psychiatrisch kranker Eltern.
Solche Kinder sind oft Äußerungen wie: „Dein Vater ist ja ein Narr“ oder „Dein Vater ist
ja in der Klapsmühle“ ausgesetzt. Was macht das mit den Kindern, die ohnehin schon
konstant traumatisiert sind und – wie wir alle wissen – Rollen übernehmen, die eigentlich die Rollenumkehr darstellen?
Kinder alkoholkranker Eltern, schizophrener Eltern, ganz zu schweigen von Kindern von
Eltern mit Drogenproblemen oder aber an Aids erkrankten Eltern – da gibt es ganz massive Berührungsängste der Gesellschaft, womit die Traumatisierung durch die
Gesellschaft beinhart weitergeht.
Ebenso beinhart ist das Verhalten der Gesellschaft gegen oft schwerst traumatisierten
und noch dazu andersfarbigen Kindern.
Kürzlich erst hatte ich einen 13-jähriger Buben aus Ruanda bei mir, der lange, schwerste Kriegserfahrung mitgemacht hat. Die Mutter wurde direkt neben ihm auf der Flucht
erschossen. Er wurde dann vom Vater, der schon längere Zeit zwecks Studium in Österreich weilte, irgendwie nach Österreich gebracht. Und dann ist auch der Vater verstorben.
Kinder, deren Eltern
z.B. alkoholkrank,
drogenabhängig, an
AIDS erkrankt oder
deren Eltern psychisch krank sind,
aber auch Kinder,
deren Eltern eine
andere Hautfarbe
haben, werden von
der Gesellschaft
oft beinhart traumatisiert.
Wir haben in der Therapie über all das geredet, und plötzlich erzählt er mir, wie er in der
U-Bahn verspottet wurde, weil er ein Schwarzer ist!
„Das passiert mir immer wieder“, sagt das Kind. Und wissen Sie, was dieser 13-Jährige
Junge darauf weiter gesagt hat? – „Das muss man überhören“, sagte er mit ganz steinerner Miene, um sich abzuschotten.
Oder ein 4-jähriges Mädchen aus Nigeria, das bei einer Pflegemutter untergebracht ist
fährt mit dieser in der U-Bahn. Da wird die Pflegemutter vor dem Kind als „Dealer-Hure“
beschimpft! Das Kind beginnt zu weinen, und niemand der Passagiere stellt sich schützend davor.
Ich selber hatte einmal so ein ähnliches Erlebnis. Da ging es allerdings um eine türkische Familie, wo ein Mann auf ein kleines Mädchen und eine hochschwangere Frau losgegangen ist, sie furchtbar beschimpft hat. Ich stand dann auf, um mich schützend vor
das Kind zu stellen. Ich wurde daraufhin aufs Ärgste beschimpft und war eigentlich auch
darauf gefasst, eine „drüberzukriegen“.
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Oder aber ich sitze im Taxi, und Kinder spielen auf der Straße. Sie flitzen mit diesen modernen Rollern über die Straße, und der Taxifahrer sagt: „Na eigentlich tät’ ich sie am
liebsten gleich niederführen, die brauchen wir eh nicht.“ Er sagte dies, weil es sich um
ausländische Kinder handelte. Ich bin sofort an der nächsten Ecke ausgestiegen.
Wenn wir gegen psychische Gewalt in der Gesellschaft ankämpfen wollen, dann liegt es
auch an jedem einzelnen von uns, dann müssen wir eben auch Zivilcourage zeigen!
Wenn Kinder anders sind
Die Gesellschaft verübt aber auch dort psychische Gewalt, wo es um die Verspottung
und Ablehnung von Kindern mit körperlichen Mängeln geht.
Denken wir an Kinder, die unter Minderwuchs leiden, denken wir an all die „bösen“ Kinder,
denken wir an Kinder, die z.B. zu uns an die Klinik kommen und die oft befürchten, wenn
sie dann wieder in die Schule gehen, als „Psycherl“ oder „Behinderte/r“ bezeichnet zu
werden.
In einer Gesellschaft, wo Worte wie „Behinderte/r“ als Schimpfworte verwendet werden,
führt das zu einer weiteren Traumatisierung der Betroffenen.
Denken wir an fremd untergebrachte Kinder, in WGs zum Beispiel. Es gibt viele, sagen
wir einmal „schlimme“ Jugendliche, die irgendwo Wände beschmieren oder irgendwas
kaputt machen; wenn aber in diesem Wohnblock eine WG ist, dann sagen alle Bewohner
des Wohnblocks: „Das waren sicher diese acht Kinder aus dieser WG-Wohnung.“
Traumatisierung durch Hilflosigkeit
Denken wir aber jetzt noch an die Reaktion der Gesellschaft bei rein natürlichen
Ereignissen, natürlichen Verlusten.
Unlängst war eine Mutter bei mir, deren kleines Kind gestorben ist. Sie musste erleben,
dass die Gesellschaft, ihre Umgebung darauf mit Rückzug reagierte.
Und das ist kein bösartiges, sondern das ist ein hilfloses Sichzurückziehen.
Am Tag nachdem ihr Kind gestorben war, waren plötzlich keine Kinder mehr im Hof.
„Es herrschte Totenstille.“ Diese Mutter erzählt mir, genauso wie auch andere Mütter, die
ihr Kind verloren haben, dass sie kaum noch durch das Wohnhaus gehen will, weil dann
plötzlich überall die Türen zugehen und sie sich so ganz einsam und alleine fühlt.
Die Türen gehen zu, weil sich keiner traut, mit der Problematik umzugehen.
Auch das ist eine Form von psychischer Gewalt.
Und als diese Mutter dann einmal von anderen Eltern gefragt wurde, wie sie ihr helfen
könnten, hat sie nur mehr gebeten: „Bitte seid ganz normal zu mir und lasst die Kinder
wieder in den Hof.“
Hier sieht man deutlich, wie oft gut Gemeintes und unsere Angst vor dem Trauma, unsere Angst vor dem Anderssein, dazu führen, das Trauma zu prolongieren.
Mir graut’s vor Dir!
Was ich damit aufzeigen wollte war, auf welch vielfältige Weise die Gesellschaft
Menschen, Kinder zu traumatisieren vermag.
Welchen Platz haben diese Kinder in der Gesellschaft, wenn man mehr oder weniger einem „Mörderkind“ das „Mörderische“ schon voraussagt? Was, wenn so ein Kind dann
wie alle anderen gleichaltrigen Kinder einmal in der Schulpause rauft und dann sofort
zum „kleinen Mörder“ gestempelt wird? Was macht also die Gesellschaft mit traumatisierten Kindern, bzw. was müssen dann oft Kinder mit dieser Gesellschaft machen?
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Wir alle sind die Gesellschaft, und wir alle müssen unermüdlich gegen diese Formen der
psychischen Gewalt, der Traumatisierung kämpfen.
Wenn wir jetzt zum Beispiel auch an jugendliche Banden denken. Da hat sich einiges
verändert; sie kämpfen teilweise schon mit Waffen gegeneinander. Warum nur? Eine
konstruktive Auseinandersetzung ist immer seltener geworden. Abgrenzung dominiert
das Miteinander. Wo früher manchmal noch in kritischen Diskursen neue Wege gesucht
wurden, gilt es mehr den je andere zu entwerten und niederzumachen. Beispiele dafür
sind Skins und Hooligans, bei denen idealisierender Zusammenschluss innerhalb der
Gruppe und entwertende Ausgrenzung anderer Hand in Hand gehen.
Keine Gesellschaft hat je auf Dauer existiert, die unberücksichtigt ließ, dass jede Kette
nur so stark sein kann wie ihr schwächstes Glied. Die größte Gefahr der heutigen
Gesellschaft liegt in einer emotionalen Entdifferenzierung, die durch noch so große kognitive Bildung und Ausbildung nicht kompensiert werden kann. Die Herausforderung an
uns alle liegt in der Ausdifferenzierung von Bewertungs- und Entscheidungsstrukturen,
in der Verbesserung von sozialen Verständigungsprozessen, in der verbesserten
Abstimmung eigener Erlebniswelten mit anderen, also einer Verbesserung der sozialen
Wahrnehmung und Erkenntnis, beschreibbar im Begriff einer emotionalen Differenzierung. Die emotionale Bedeutung der Dinge lässt uns handeln. Viele Beispiele zeigen
das. Wir werden nicht durch unser Wissen zu Grunde gehen oder überleben, unsere
Werte und Haltungen werden darüber entscheiden. Eine emotionale Kultivierung, emotionale Differenzierung und Erziehung, d.h. die Entwicklung eines Verständnisses für die
eigene Befindlichkeit und die der anderen ist angesagt.
Wir werden nicht
durch unser Wissen
zu Grunde gehen
oder überleben, unsere Werte und
Haltungen werden
darüber entscheiden.
Wer ist das Gretchen? Wer ist der Faust? Wovor graut’s? Ich danke für die Aufmerksamkeit!
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„Erbarme dich und lass’ mich leben“
„Scheidung – psychische Gewalt an Kindern?“
Referent: Dr. Harald Werneck
Der Titel meines Referates ist natürlich bewusst provokant.
Korrekter müsste die Frage etwa lauten: „Wann und unter welchen Bedingungen kann
eine Trennung der Eltern negative Auswirkungen auf die psychische Entwicklung der betroffenen Kinder haben?“ Oder vielleicht noch neutraler formuliert: „Welche möglichen
Nachteile – aber auch: welche möglichen Vorteile – hat denn eine Trennung der Eltern
für das betroffene Kind, und unter welchen Bedingungen überwiegen für welches Kind
die Vorteile und unter welchen Bedingungen die Nachteile?“
Zu diesem ganzen Fragenkomplex möchte ich Ihnen nun im Folgenden ein paar
Antworten und Anregungen aus der aktuellen Scheidungsforschung vorstellen.
Zahlen und Fakten
Zuerst aber ein paar demografische Kennzahlen dazu von der Statistik Österreich bzw.
Statistik Austria, ehemals Statistisches Zentralamt, damit Sie sich die Dimension oder
die Relevanz der Problematik und des Themas ein bisschen bewusst machen können:
Auf zwei geschlossene kommt im
Moment ca. eine
geschiedene Ehe.
Hochgerechnet
erlebt mittlerweile
ungefähr jedes dritte
Kind die Trennung
seiner Eltern mit.
1999 lagen die Scheidungsquoten bundesweit bei 40,5 %, in Wien bei 51,4 %. In den
70er Jahren war es nicht einmal die Hälfte davon. Auf zwei geschlossene kommt im
Moment ca. eine geschiedene Ehe. Die Zahl der von der Scheidung ihrer Eltern betroffenen Kinder betrug 1999 österreichweit insgesamt ungefähr 21.000, davon waren
rund 17.000 Minderjährige, unter 19 Jahren, mit einem Durchschnittsalter von ungefähr
9 Jahren.
Aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen beträgt die Wahrscheinlichkeit, die
Scheidung der Eltern mitzuerleben, 25 %.
In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass das Trennungsrisiko bei Lebensgemeinschaften, vor allem auf Grund der geringeren Abhängigkeiten der Partner voneinander, wahrscheinlich noch um mindestens 50 % höher als bei Ehegemeinschaften
ist. Das heißt, die Zahl der von der Trennung der Eltern betroffenen Kinder liegt de facto
noch bedeutend über diesen 25 %; hochgerechnet erlebt momentan mittlerweile also ungefähr jedes dritte Kind die Trennung der Eltern mit.
Die entwicklungs- und familienpsychologischen Konsequenzen von Trennungen sind daher nicht nur für die betroffenen Kinder von nachhaltiger Bedeutung, sondern enthalten
durchaus eine soziologische, fast schon gesellschaftspolitische Komponente.
Bedeutung der Trennung für das Kind
Das Defizitmodell:
Zu einer gelungen
Sozialisation braucht
das Kind beide
Elternteile. Ist dies
nicht der Fall, hat
das negative
Konsequenzen für
die kindliche
Entwicklung.
68
Was kann nun die elterliche Trennung für das Kind bedeuten?
Am Beginn einer jeden seriösen Auseinandersetzung mit der Trennungsproblematik
muss fast – entsprechend einem differenziellen Ansatz – die Feststellung stehen, dass
es „die Scheidungsfamilie“ oder „das Trennungskind“ natürlich nicht gibt.
Es erscheint mir weiters wichtig, auf die Notwendigkeit eines perspektivischen Zugangs
hinzuweisen, d.h. es ist zu beachten, dass das Scheidungsgeschehen in der Regel von
allen Involvierten sehr unterschiedlich gesehen und beurteilt wird.
Mavis Hetherington (1989), eine der Pionierinnen der Scheidungsforschung, sprach in
diesem Zusammenhang daher immer von der Scheidung der Frau, von der Scheidung
des Mannes und von der Scheidung des Kindes – was ausdrücken soll, dass man sich
dieser perspektivischen Zugangsweise stets bewusst sein sollte.
Die noch immer mancherorts anzutreffende Auffassung, dass die Trennung der Eltern in
jedem Fall eine Form psychischer Gewalt bedeutet, geht wissenschaftshistorisch auf das
so genannte „Defizitmodell“ zurück, wonach die Verfügbarkeit beider Elternteile die
Voraussetzung für eine gelungene Sozialisation darstellt. Die Abwesenheit eines
Elternteiles bedingt laut diesem Modell automatisch negative Konsequenzen für die kindliche Entwicklung.
Dieses Forschungsparadigma wurde ungefähr in den 80er Jahren von einem „Reorganisationsmodell“ abgelöst, wonach eine Familie durch die Trennung der Eltern nur neu organisiert wird. Die familiären Beziehungen hören selbstverständlich nicht auf. Die alte
Kernfamilie bleibt kognitiv präsent, und vor allem überdauern die emotionalen Bindungen
der betroffenen Kinder an beide Elternteile, zumindest in den allermeisten Fällen, deren
Trennung.
Parallel zu diesem Paradigmen-Wechsel begann auch zunehmend ein Wechsel von
einer klinischen Perspektive des Scheidungsgeschehens hin zu einer Sichtweise von
Scheidung als eine neutral zu bewertende Übergangsphase, eine „Transition“ im
Familienentwicklungsprozess.
Man kann, wie die Zahlen ja gezeigt haben, mittlerweile fast schon von normativem
Charakter reden, wenn Sie bedenken: 50 % Scheidungsquote.
An dieser Stelle möchte ich aber zur Relativierung des Problems klarstellen:
Die Mehrzahl der Kinder bewältigt das Ereignis der Trennung ihrer Eltern ohne wirklich
gravierende mittel- und längerfristige Beeinträchtigungen der Entwicklung und wird nicht
bis kaum klinisch auffällig.
Wenn das doch der Fall ist, dann meist als Folge multipler Belastungen für das Kind, wobei die Trennung dann meist nur das auslösende Moment darstellt.
Bedenkt man, dass ein wichtiger Aspekt von psychischer Gewalt im Ausgeliefertsein
liegt, in der Machtlosigkeit und in der Unkontrollierbarkeit eines nicht erwünschten
Ereignisses, das einem widerfährt, so hat die Trennung der Eltern aber natürlich schon
auch immer etwas mit Gewalt am Kind zu tun.
Das Reorganisationsmodell: Eine
Familie wird durch
die Trennung der
Eltern schlichtweg
nur neu organisiert.
Emotionale
Bindungen bleiben
erhalten.
Denn die Kinder wollen in der Regel ja, dass sich ihre Eltern vertragen und beisammen
bleiben.
So gesehen wird die Trennung letztendlich ohne echte Einflussmöglichkeit und gegen
den Willen des Kindes vollzogen.
Keine Scheidung – Gewalt an Kindern?
Andererseits muss aber auch einmal die Frage gestellt werden: „Können Kinder denn
fallweise nicht vielleicht sogar mehr darunter leiden, wenn sich die Eltern nicht trennen?“
– Sei es durch die anhaltend feindselige familiäre Atmosphäre, geprägt von permanenten Streitigkeiten zwischen den Eltern oder auch durch den mehr oder weniger ausgesprochenen Vorwurf, dass die elterliche Partnerschaft nur wegen der Kinder – zumindest
formell – aufrecht erhalten werden muss?
Die einleitende Titelfrage müsste dann ebenso provokant ergänzt werden durch „Keine
Scheidung – psychische Gewalt an Kindern?”
Sie sehen schon an der Umkehrbarkeit des Titels meines Referates die ganze Differenziertheit. Es muss also der jeweilige Einzelfall beurteilt werden.
Außerdem bin ich der Meinung, es sollte weniger das Ereignis Scheidung bzw. Trennung
der Eltern an sich Gegenstand des eigentlichen Interesses sein, sondern vielmehr die
vielfältigen Rahmenbedingungen, vor der Trennung, während der Trennung und natürlich vor allem auch nach der Trennung – im Sinne eines „kontextualistischen Prozessmodelles“, wie es so schön genannt wird.
69
Die Wichtigkeit der Rahmenbedingungen
Zustände und Umstände
Neuere Studien aus der Scheidungs- und Trennungsforschung konzentrieren sich daher auch weniger auf das eigentlich kritische Ereignis der Trennung an sich (wobei immer die Unterscheidung zwischen dem Zeitpunkt der rechtlichen, emotionalen oder ökonomischen Trennung getroffen werden müsste). Sie konzentrieren sich vielmehr auf die
Untersuchung der spezifischen familiären Verhältnisse oder einer Reihe von Faktoren,
die mehr oder weniger mit der Trennung assoziiert sind und die über die psychische
Entwicklung der Kinder Aufschluss geben können.
Ich möchte Ihnen jetzt nur exemplarisch einige aktuelle Resultate aus einer größer angelegten Studie aus Deutschland vorstellen, nämlich der Kölner Längsschnittstudie von
Ulrich Schmidt-Denter und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: Hier wurde über
insgesamt 6 Jahre hinweg untersucht, unter welchen Bedingungen das Kindeswohl trotz
einer elterliche Trennung noch am ehesten gewahrt bleibt.
Besonders kleine
Kinder im Vorschulalter fühlen sich auf
Grund ihres egozentrischen Denkens zumeist schuldig an der
Trennung der Eltern.
Eine Aussage dieser Studie deckt sich mit nahezu allen einschlägigen Studienergebnissen: Die möglichen Folgen einer Scheidung variieren von Fall zu Fall sehr stark für
die betroffenen Kinder, und zwar vor allem in Abhängigkeit vom Alter, Geschlecht und
Temperament des Kindes. Weiters von Wichtigkeit sind die Eltern-Kind-Beziehung vor
und nach der Scheidung, die sozioökonomische Situation und das gesamte soziale
Umfeld. Ebenso sind der Verlauf der Trennung, die Qualität der Nach-ScheidungsBeziehungen der Eltern, das Wohlbefinden der Eltern usw. von großer Bedeutung.
Um ein Beispiel herauszugreifen: Bezüglich des Alters ist etwa sicher erwähnenswert,
auch für mich als Entwicklungspsychologe, dass Vorschulkinder und jüngere
Volksschulkinder in der Regel von Trennungsfolgen stärker betroffen sind als ältere, weil
sie auf Grund des durch ihr Alter bedingten egozentrischen Denkens oft geneigt sind,
das Fernbleiben eines Elternteiles auf sich zu beziehen und sich dafür sozusagen schuldig oder verantwortlich zu fühlen.
Ergebnisse: Die Verlaufstypen
Bei dieser deutschen Längsschnittstudie konnten nun hinsichtlich der kindlichen
Belastungen durch die elterliche Trennung insgesamt drei Verlaufstypen identifiziert
werden:
Das waren einmal die hochbelasteten Kinder, die durchwegs über den gesamten
Untersuchungszeitraum von 6 Jahren hinweg relativ deutliche und markante Verhaltensauffälligkeiten gezeigt haben.
Eine zweite Gruppe, die so genannten „Belastungsbewältiger“, sind gekennzeichnet
durch anfangs hohe, dann aber stetig abnehmende Symptombelastung.
Und drittens, die so genannten „gering Belasteten“, die durchgängig gering belastet, wenig verhaltensauffällig waren und sozusagen ein bisschen „immun“ schienen.
Interessant sind jetzt in weiterer Folge die Beschreibungen dieser drei Verlaufsformen
über die Zeit hinweg und vor allem die daraus ableitbaren Risikofaktoren auf der einen
Seite und die protektiven Faktoren für Verhaltensauffälligkeiten von Kindern nach der
elterlichen Trennung auf der anderen Seite.
Risikofaktoren
70
Der mit Abstand markanteste Risikofaktor war eine negativ erlebte Beziehung zum getrennt lebenden Vater. Weitere Risikofaktoren, die zu Verhaltensauffälligkeiten der Kinder
führten, waren ungelöste Partnerschafts- und Trennungsprobleme, eine misslungene
Redefinition der Beziehung zwischen den Elternteilen sowie ein sich verändernder bzw.
verschlechternder elterlicher Erziehungsstil.
Also in erster Linie Probleme auf der Elternebene.
Die finanzielle Ausstattung der betroffenen Familie hingegen hat in dieser Studie nicht
so eine große Rolle gespielt.
Interessant ist auch, dass die soziale Stigmatisierung von Scheidungskindern offensichtlich auch nicht mehr so stark ist, wie es vielleicht vor 10, 20 Jahren oder vor einer
Generation noch der Fall war.
Protektive Faktoren
Als protektiv erwiesen sich in erster Linie, analog zum wichtigsten Risikofaktor, eine positiv erlebte Beziehung zum Vater, eine positive Beziehung zu den Geschwistern,
Stabilität und Unterstützung in der Mutter-Kind-Beziehung und eine Konsensbildung zwischen den nunmehr getrennt lebenden Eltern.
Wichtig sind natürlich auch noch individuelle Kompetenzen, personale Ressourcen der
Kinder, aber auch das Lebensalter der Kinder, sozusagen als Trägervariable für
Entwicklungsschritte, welche die Bewältigung der Trennungsproblematik erleichtern,
wie etwa die hilfreiche Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, ein gesichertes
Selbstkonzept oder auch Temperaments- und Persönlichkeitseigenschaften. Ergebnisse
aus der Resilienzforschung bestätigen, dass es – wie die Gruppe der gering Belasteten
aus der Longitudinalstudie – offenbar Kinder gibt, die trotz ungünstigster familiärer
Verhältnisse und Lebensumstände über ein erstaunlich hohes Maß an Widerstandsfähigkeit verfügen, was vor allem durch eine besonders gute, sichere Bindung zu den
Eltern in den ersten Lebensjahren erklärt werden kann.
Häufige Scheidungsfolgen
An dieser Stelle sei erwähnt, dass es natürlich mittlerweile eine Fülle an Studien über
Scheidungsfolgen für die Kinder gibt. Ich möchte hier in diesem Rahmen nur kurz die
Metaanalyse von Amato und Keith (1991) erwähnen, die bei insgesamt 92 Studien zu
den Scheidungsfolgen gehäuft Hinweise für folgende Beeinträchtigungen der betroffenen Kinder fanden: Das waren
1) externalisierende Verhaltensweisen, wie z.B. Aggressivität,
2) internalisierende Verhaltensauffälligkeiten wie Ängste, Depressionen,
3) Schul- und Leistungsprobleme,
4) Auffälligkeiten im Sozialverhalten, vor allem in Richtung verminderter sozialer
Aktivitäten,
5) langfristige Beeinträchtigungen im psychischen und physischen Wohlbefinden – das
heißt, diese Menschen hatten dann später im Erwachsenenalter auch mehr
Gesundheitsprobleme. Ebenso resultierten daraus
6) negativere Einstellungen zur Ehe und als Erwachsene ein höheres Scheidungsrisiko.
In diesem Zusammenhang will ich schon einschränkend festhalten, dass manche dieser
Resultate methodisch durchaus anzweifelbar sind, vor allem weil Scheidungsfolgen
eben nie ausschließlich auf die Veränderungen in der Familienstruktur zurückgeführt werden können, sondern immer auch im gesamten Lebenskontext der Familie und ihrer
Mitglieder zu sehen sind.
Nicht erst die Scheidung macht einen Unterschied
für die Kinder
Weiters gilt es natürlich nicht nur, die mutmaßlichen Effekte einer Scheidung auf die
Entwicklung der Kinder zu berücksichtigen, sondern auch die negativen familiären
Umstände und Entwicklungen, die möglicherweise schon lange vor der eigentlichen
Trennung der Eltern die Kinder beeinträchtigten.
71
Streng genommen
stellen elterliche
Konflikte immer
auch eine Form
zumindest indirekter
psychischer Gewalt
am Kind dar.
Etwas allgemeiner und offener ließe sich dann formulieren, dass elterliche Konflikte das
psychische Wohlergehen von Kindern beeinflussen sowie ihre Fähigkeiten, im
Erwachsenenalter intime Beziehungen aufzubauen, familiale gesellschaftliche
Verbindungen aufrecht zu erhalten, im sozioökonomischen Bereich Leistungen zu
erbringen und positive Elternbeziehungen zu etablieren.
So gesehen stellen elterliche Konflikte natürlich immer auch eine Form zumindest indirekter psychischer Gewalt am Kind dar.
Direktere Formen der psychischen Gewalt häufen sich allerdings im Zuge der elterlichen
Trennung. So kann bei einer Trennung z.B. sehr oft eine temporäre Bevorzugung des
gleichgeschlechtlichen Kindes beobachtet werden. Dies ist vor allem während der
Trennungszeit erklärbar, etwa durch die Theorie des „kollusiven Partnersubstituts“, wonach das andersgeschlechtliche Kind gewissermaßen den nunmehr ungeliebten oder
vielleicht sogar verhassten Partner repräsentiert.
Kinder im Spannungsfeld der Eltern
Das führt mich jetzt zu einem der Hauptprobleme für Kinder im Zuge elterlicher
Trennungen, nämlich dass es Erwachsenen offensichtlich selten gelingt – und wahrscheinlich nur zu einem gewissen Ausmaß gelingen kann –, zwischen gestörter
Partnerbeziehung und Eltern-Kind-Verhältnis entsprechend zu differenzieren.
Eine wirklich strenge kognitive Trennung der gescheiterten Paarebene von der weiterhin bestehenden Elternebene gelingt in den allerseltensten Fällen. Beide sozialen
Subsysteme beeinflussen sich einfach wechselseitig zu sehr; rationale Einsicht in eine
notwendige Trennung dieser beiden Ebenen und emotionale Vorbehalte befinden sich
oft in einem Widerspruch, was sich in irrationalen Ängsten um das Kind äußern kann.
So wird zum Beispiel dem anderen Partner zwar grundsätzlich eine Kompetenz zugesprochen, aber man hat doch immer ein ungutes Gefühl, wenn sich das Kind längere
Zeit bei diesem aufhält.
Wenn das Kind als
Spielball der
Interessen des jeweiligen Elternteils
missbraucht wird,
wird psychische
Gewalt ausgeübt.
Vor allem dann,
wenn das Kind und
das Kindeswohl vorsätzlich und bewusst
vorgeschützt werden, um eigene
Interessen durchzusetzen oder zu
fördern
72
Besonders krass und deutlich wird diese Vermischung der Partner- mit der Eltern-KindEbene, wenn Kinder im Zuge des Trennungsprozesses mehr oder weniger bewusst instrumentalisiert werden, also als Spielball der jeweiligen Interessen beider Elternteile
missbraucht werden.
Hier scheint es mir in vielen Fällen tatsächlich berechtigt, von einer Form psychischer
Gewalt zu sprechen, vor allem dann, wenn das Kind und das Kindeswohl vorsätzlich und
bewusst vorgeschützt werden, um eigene Interessen durchzusetzen oder zu fördern.
Und ich denke, dass hier der Punkt ist, wo wirklich alle, ohne Ausnahme, Mütter, Väter,
alle am Trennungsprozess Beteiligten, also gegebenenfalls auch alle in irgendeiner
Form professionell damit Befassten, sich laufend fragen müssen, wie sehr denn bei den
Vorgangsweisen bzw. Ratschlägen oder Entscheidungen tatsächlich das Kindeswohl im
Vordergrund steht. Denn oft geht es – gar nicht unbedingt in böser Absicht – um ganz
andere Interessen.
Bedenken Sie, dass das Kind durch die angespannte familiäre Situation ohnehin schon
stark belastet ist. Ich meine, alle Beteiligten – und ich betone: alle Beteiligten – täten gut
daran, bei Entscheidungen, die Kinder betreffen, etwa im Zuge eines Scheidungsprozesses, zuallererst die eigenen Motive gründlich und ehrlich vor sich selbst zu hinterfragen. Nur so kann verhindert werden, dass die psychische Gewalt am Kind, die durch
die angespannte familiäre Situation ohnehin in den meisten Fällen bereits Platz gegriffen hat, sich noch weiter ausbreitet und mutwillig potenziert wird, das Kind also noch einmal psychisch „vergewaltigt“ wird.
Die Obsorgefrage
Erlauben Sie mir an dieser Stelle, vor allem auch aufgrund der Aktualität durch die geplante Kindschaftsrechtsreform, kurz ein paar Sätze aus psychologischer Sicht zur
Obsorgefrage. Mir geht es primär um die Beziehungsgestaltung innerhalb der
Ursprungsfamilie und erst sekundär um die juristische Kategorie des gemeinsamen
Sorgerechtes.
Aus psychologischer Sicht scheinen mir jedenfalls für eine vernünftige Regelung zum
Wohl der betroffenen Kinder einige Voraussetzungen förderlich, wenn nicht teilweise
unabdingbar:
l Da wäre vorerst ein Mindestmaß an Willen aller Beteiligten zu konstruktiven
Lösungen, gegebenenfalls unter Inanspruchnahme von externen Hilfestellungen wie
etwa im Zuge des Scheidungsmediationsprojektes.
l Eine weitere Voraussetzung wäre eine Unterstützung der psychischen Stabilität des
Kindes durch eine gewisse Kontinuität und Verlässlichkeit der Eltern-Kind-Kontakte,
aber auch durch einen Grundkonsens in den Erziehungskonzepten beider Elternteile.
Auch die Großeltern sollten hier eingebunden werden, wenn sie beteiligt sind.
l Der nächste Punkt: Vermeidung von Loyalitätskonflikten – also das Kind keinen
Loyalitätskonflikten aussetzen, keine exklusiven Bündnisse mit dem Kind anstreben.
l Feindbildprojektionen so weit wie möglich vermeiden.
l Aber auch keine Überfrachtung der Beziehung mit dem Kind anstreben, keine übertriebene Nähe, was oft aus Schuldgefühlen, etwas Versäumtes nachzuholen, resultiert. Das klingt einfach, ist aber in der Praxis natürlich sehr schwer umzusetzen.
l Weiters keine Konkurrenzkämpfe der Eltern um die Gunst der Kinder.
Eine sinnvolle gemeinsame Obsorge beider Elternteile setzt zweifellos einen beträchtlichen psychischen Reifegrad der Eltern voraus und auch die Fähigkeit, konsensual zumindest eine gewisse Struktur der Alltagsabläufe für das betroffene Kind zu entwickeln.
Davon hängt es im Wesentlichen ab, ob die gemeinsame Obsorge im Einzelfall ein geeignetes Mittel darstellen kann, um die motivationale Bereitschaft beider Eltern auch
nach der Trennung zu erhöhen, die elterliche Verantwortungsgemeinschaft jetzt unter
geänderten Bedingungen aufrecht zu erhalten.
Unter all den genannten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen – und nur unter diesen – kann sich diese gesetzliche Regelung über das Gefühl der geteilten Verantwortung
auch psychologisch positiv auf die Eltern-Kind-Beziehungen und auf die Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft der Eltern untereinander sowie deren Motivation zur
eigenständigen Umsetzung vernünftiger Regelungen auswirken.
Aber, wie gesagt: nur unter diesen Bedingungen.
Gemeinsame Obsorge kann sicher nicht funktionieren, wenn es nur als formale Regelung
verstanden wird oder sogar als Plattform für eine neue Runde im Machtkampf der Eltern,
etwa für Unterhaltsforderungen, missbraucht wird.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich vor der Gefahr einer neuerlichen, zusätzlichen
Instrumentalisierung des Kindeswohls durch eine ideologisch geführte politische Debatte
warnen. Denn hier entwickelt sich sehr leicht eine gewisse Eigendynamik, bei welcher
es in Wirklichkeit nur vordergründig um eine optimale Regelung im Sinne der Kinder geht.
Dadurch würde den Kindern in Wirklichkeit nur doppelt und dreifach psychische Gewalt
angetan. Hier darf es ausschließlich um die Durchsetzung der Interessen der betroffenen Kinder gehen und nicht um die Durchsetzung der Interessen irgendwelcher Parteien,
irgendwelcher Interessenvertretungen, sonstiger Institutionen und auch nicht um jene der
Eltern.
Gemeinsame Obsorge ist u.a. nur dann
sinnvoll, wenn: ein
Mindestmaß an
Willen aller Beteiligten zu konstruktiven
Lösungen vorhanden
ist; eine gewisse
Kontinuität und
Verlässlichkeit der
Eltern-Kind-Kontakte gegeben ist; ein
Grundkonsens über
das Erziehungskonzept besteht; das
Kind in keinen
Loyalitätskonflikt
gebracht wird; es
keine Konkurrenzkämpfe der Eltern
um die Gunst der
Kinder gibt.
Gemeinsame
Obsorge kann sicher
nicht funktionieren,
wenn sie nur als formale Regelung verstanden wird oder
sogar als Plattform
für eine neue Runde
im Machtkampf der
Eltern, etwa für Unterhaltsforderungen,
missbraucht wird.
73
Konklusio
Abschließend lassen Sie mich noch einige mir wichtig erscheinende Aspekte kurz zusammenfassen und daraus Schlussfolgerungen ziehen.
Zahlreiche Studien weisen eine positive Beziehungsgestaltung auch nach der Trennung
der Eltern als herausragendes Kriterium für die Qualität der Scheidungsbewältigung
durch die betroffenen Kinder aus.
Die Gestaltung der elterlichen Paarbeziehung nach der Scheidung, nach der Trennung
kann als wirkungsvollster Ansatzpunkt zur Wahrung des Kindeswohls und der kindlichen
Gesundheit dienen. Dies ist sozusagen ein Schlüssel zur Sicherung kindlicher
Entwicklungsmöglichkeiten nach der Scheidung.
Basierend auf den empirischen Ergebnissen der genannten Längsschnittstudie erweisen sich folgende Punkte für die psychische Entwicklung von Kindern aus Trennungsfamilien günstig:
l wenn es hilfreiche Gespräche gibt zwischen – in der Regel – der Mutter mit dem Kind
über den abwesenden Vater, aber auch mit dem Vater über die Situation mit der
Mutter
l wenn die Mutter der Auffassung ist, dass der Vater dem Kind auch wirklich geben
kann, was es gefühlsmäßig braucht
l wenn die Mutter keine Angst um das Kind fühlt, wenn es sich beim Vater aufhält
l wenn die Eltern – und zwar beide Eltern – meinen, dass die Trennung die richtige
Entscheidung war
l und wenn vor allem die Väter mit der Zahl der Kontakte bzw. mit der Sorgerechtsregelung zufrieden sind.
Unter all diesen Voraussetzungen sind die Chancen relativ groß, dass negative Konsequenzen einer elterlichen Trennung auf die psychische Entwicklung der betroffenen
Kinder weitgehend hintangehalten werden können oder vielleicht sogar durch mögliche
positive Effekte kompensiert werden können.
Das singuläre Ereignis Scheidung an sich allgemein als Form psychischer Gewalt zu
bezeichnen wäre jedenfalls eine unzulässige Vereinfachung.
74
„Nicht Kunst und Wissenschaft allein,
Geduld will bei dem Werke sein“
„Eltern als Begleiter in schwierigen Zeiten“
Referentin: Dr. Luitgard Derschmidt
„Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein“ – das zeigt
die Situation der Erwachsenenbildung, besonders der Elternbildung, und als
Erwachsenenbildnerin spreche ich heute zu ihnen. Mein Anliegen als Elternbildnerin ist
nicht nur das Wohl des Kindes, sondern auch das seiner Eltern, weil ich meine, wir müssen das vernetzt sehen. Denn geht es den Eltern nicht gut, so geht es auch dem Kind
nicht gut und umgekehrt. Unsere Teilnehmer und Teilnehmerinnen in der Elternbildung
sind die Eltern.
In der Elternbildung geht es um die Vermittlung von Wissen an die Eltern, es geht aber
noch mehr darum, für sie die Möglichkeit, Bewusstsein zu gewinnen und den
Handlungsspielraum zu erweitern, anzubieten, und es geht auch im Letzten darum, dass
sie Haltungen erkennen und diese gegebenenfalls auch bei sich verändern.
Welche Rollen spielen nun die Eltern beim Thema „Psychische Gewalt“ am Kind im
Zusammenhang mit Institutionen?
Die Rolle der Eltern ist eine zweifache:
Zum einen kommt von ihnen ausgehend über ihre Kinder Gewalt in diese Institutionen
hinein. Zum anderen sollen sie ihre Kinder hilfreich in schwierigen Situationen begleiten,
unterstützen und befähigen, solche zu bewältigen. Und zu diesen schwierigen Situationen gehören eben auch solche, in denen Kinder psychischer Gewalt aus Institutionen
ausgesetzt sind.
Fließende Grenzen – die „alltägliche“ psychische Gewalt
Wir erleben es alle täglich; psychische Gewalt ist ein Phänomen unserer Gesellschaft.
Nicht nur Kinder, auch viele Erwachsene sind davon betroffen. Und ein Problem dieser
ganz normalen psychischen Gewalt ist es, dass sie so schwer fassbar ist, dass sie individuell erlebt wird und ihre Wirkung von außen oft nicht erkennbar und einschätzbar ist.
Menschen sind einfach verschieden. Kinder wie Erwachsene. Sie sind verschieden in
der Art ihres Agierens. Es ist auch verschieden, wie Menschen das Agieren anderer erleben. So sind, wie wir selbst im Alltag immer wieder erfahren, die Grenzen zwischen
temperamentvollem aktiven Handeln so im Sinn von „hart, aber herzlich“, aggressivem
Verhalten und gezielter psychischer Gewalt fließend.
Außerdem wird Verhalten unterschiedlich erlebt: Was dem einen Spaß macht, kann für
den oder die andere/n schon Verletzung, Abwertung, Verwundung bedeuten. Und das
bringt im ganz normalen täglichen Zusammenleben große Schwierigkeiten. So kommt
es dort, wo Menschen zusammenleben – Kinder wie Erwachsene – zu Problemen.
Und daher gibt es leider auch in Institutionen, die eigentlich zum Wohl der Kinder eingerichtet worden sind, immer wieder psychische Gewalt. Selbst die Organisationsform
und die Struktur dieser Einrichtungen wirkt auf manche Kinder gewalttätig. Auch hier
kommt es auf das subjektive Empfinden des Kindes an. Auch hier muss die
Unterschiedlichkeit von Kindern berücksichtigt werden. Nehmen wir zum Beispiel die
Situation in einem Internat: Manche Kinder fühlen sich unter den vorgegebenen Regeln
und Verordnungen pudelwohl, für andere ist es einfach eine Zumutung, eine Qual, die
sie nicht aushalten.
75
Die Rolle der Eltern
Die Rolle der Eltern in Zusammenhang mit psychischer Gewalt in Institutionen ist, wie
schon eingangs erwähnt, eine zweifache, und darauf möchte ich jetzt genauer eingehen.
Wenn Eltern psychische Gewalt ausüben ...
Zum einen üben Eltern gewollt oder ungewollt psychische Gewalt an ihren Kindern aus,
und Kinder, die unter solcher Gewalt leiden, geben diese dann an andere weiter.
Eltern verhalten sich gewalttätig, weil sie Gewalt als Erziehungsmittel einsetzen, weil sie
selbst so erzogen worden sind und weil manche leider auch glauben, dass es so richtig
ist und die besten Ergebnisse bringt. „Warum wird geliebten Kindern von liebenden Eltern
Gewalt angetan?“ (ð Siehe auch Seite 18)
Kinder nehmen sich
das Verhalten der
Eltern und anderer
erwachsener
Bezugspersonen
zum Vorbild und
ahmen es nach.
Aber Eltern können auch unter großem Druck stehen, weil sie selbst Opfer solcher
Gewalt sind (z.B. Mobbing am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzungen aller Art)
oder auch weil sie in einer besonders belastenden Lebenssituation sind (z.B. Scheidung).
Eltern können also aus den unterschiedlichsten Gründen unter einem Druck leiden und
ihn dann, wenn auch ungewollt, weitergeben.
Kinder wiederum nehmen sich das Verhalten ihrer Eltern und natürlich auch der anderen Erwachsenen zum Vorbild und ahmen es nach.
Die Verhaltensweise der Eltern, der erwachsenen Bezugspersonen, sollte also so
gestaltet sein, dass sie eine Orientierungshilfe für Kinder ist. Denn die Kinder müssen
einfach, um sich in einer Welt, die von Erwachsenen geprägt ist, zurechtzufinden, deren
Verhaltensweisen imitieren.
Eltern erziehen ihre Kinder sowohl bewusst durch beabsichtigtes erzieherisches Handeln
als auch unbewusst durch ihr Zusammenleben mit ihren Kindern.
Kinder als Sündenbock narzistischer Projektion
Ein Punkt noch, der verdeutlichen soll, wie komplex dieses Thema in Wirklichkeit ist:
Verhaltensauffällige Kinder befinden sich manchmal auch in so einer Art SündenbockFunktion. Sie übernehmen die Rolle ihrer Eltern. Eltern delegieren an ihre Kinder ihre eigenen aggressiven und destruktiven Anteile, die sie selbst nicht ausleben können, weil
sie es sich „in ihrer Situation“ sozial nicht leisten können. Ein Geschäftsmann oder eine
Geschäftsfrau kann sich weder zynisch noch aggressiv ihren Klienten und Klientinnen
oder Kunden und Kundinnen gegenüber verhalten. Das Kind lebt diese Verhaltensweisen
dann stellvertretend für sie aus.
Die Not der Eltern
schafft Täter.
Der Psychoanalytiker und Familientherapeut Horst Eberhard Richter bezeichnet diesen
Vorgang als narzistische Projektion, die dazu dient, das Individuum von Selbstvorwürfen
zu entlasten.
Man kann das Ganze auch noch einmal harmlos formulieren: Wie oft sind Kinder dazu
motiviert, Dinge zu tun, die ihre Eltern gerne getan hätten, aber nicht tun durften? Und
Sie kennen sicher alle den Spruch: „Meine Kinder sollen es einmal besser haben als
ich.“...
Ich möchte darauf nur hinweisen, um aufzuzeigen, wie komplex und vielfältig die Gründe
sein können, die Kinder schwierig werden lassen.
Ich möchte ebenso darauf hinweisen, dass eine Not bei jenen Eltern dahinter steht, die
ihre Kinder so erziehen, dass diese zu Tätern werden, dass sie psychische Gewalt ausüben. Das soll keine Entschuldigung sein, aber Lösungen können nur gefunden werden,
wenn die Situationen klar durchschaut und die Ursachen benannt werden können. Daher
sind Bewusstseinsbildung und Elternbildung so wichtig, denn komplexe Probleme müssen eben auch komplex und von vielerlei Seiten aus angegangen werden.
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Bei dem im Interesse der Kinder notwendigen Zusammenspiel von Elternhaus und
Institution, wie etwa Schule, kommt es oft eher zu einem Auseinanderspiel oder zu einem Gegeneinanderausspielen.
Der „Schwarze Peter“ wird in der Hilflosigkeit schwieriger und komplexer Situationen
auch in öffentlichen Diskussionen zwischen den Eltern und der jeweiligen Institution
hin- und her geschoben. Die Schuld wird immer dem jeweils anderen zugeteilt.
Definition der Rollen als Lösungsansatz
Dieses Hin- und Herschieben der Schuld führt naturgemäß zu keiner Lösung.
Im Interesse der Kinder wäre es notwendig, zu einer offenen Zusammenarbeit im
Wahrnehmen der unterschiedlichen Rollen und Aufgaben zu finden.
Welche Aufgabe, welche Verpflichtung, welche Rollen haben Eltern, welche Rolle haben
Erzieher, welche Rolle haben Lehrer dem Kind gegenüber? Und wie unterscheiden sich
diese Rollen voneinander?
In manchem sind sie gleich, in manchem ähnlich, in manchem aber sind sie verschieden, und es ist wichtig, diese Rollen nicht zu verwechseln.
In dieser Auseinandersetzung ist es notwendig, auch die unterschiedlichen Fähigkeiten
und Haltungen, die ja gerade besonders schwer zu verändern sind und in dieser
Diskussion die größten Probleme bereiten, zuerst einmal zu akzeptieren und
Unterstellungen und Ängste zu vermeiden. Genau das ist aber sowohl für Eltern als auch
für Lehrer oder andere Betreuungspersonen sehr schwierig. Genau das lässt, wie ich aus
meinen Gesprächen mit Eltern in der Erwachsenenbildung weiß, oft mutlos werden; sowohl auf der Seite der Eltern als auch auf der Seite der anderen Betreuungspersonen.
Dabei muss im Interesse der Kinder eine gute Zusammenarbeit mit gegenseitiger
Anerkennung und Wertschätzung immer wieder gesucht werden!
Im Interesse der
Kinder muss eine
gute Zusammenarbeit zwischen
den Eltern und den
anderen betreuenden
Personen und
Institutionen mit
gegenseitiger
Anerkennung und
Wertschätzung
gesucht werden!
Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Druck
schaffen Gewalt
Im Weiteren muss auch die Rolle des gesellschaftlichen Umfeldes, die Rolle der Medien
und der Druck der wirtschaftlichen und Arbeitssituation, unter dem Eltern leiden, im
Zusammenhang mit psychischer Gewalt in Augenschein genommen werden.
Ich möchte in dem Zusammenhang auf Beck-Gernsheim (in: „Das ganz normale Chaos
der Liebe“) hinweisen, die aufzeigt, dass Kinder für Frauen in unserer Gesellschaft nicht
nur ein Karriere-Handycap, sondern auch ein berufliches, soziales und finanzielles
Existenzrisiko geworden sind. Ich möchte das einmal so stehen lassen. Aber auch die
Väter leiden unter diesem Druck (oder sollten darunter leiden).
Ich habe dazu einen Cartoon entdeckt, der das sehr pointiert zeigt. Ein kleines Kind
schaut zu seiner Mutter auf und fragt, auf den durch die Wohnungstür eintretenden,
freundlich lächelnden Mann zeigend: „Pst, Mami, wer ist denn der Mann, der abends immer zum Fernsehen kommt?“
Hier geht es keineswegs darum, Väter gegen Mütter auszuspielen, sondern hier geht es
vor allem darum, aufzuzeigen, dass teilweise auch Väter unter sehr starkem Druck stehen und dass in unserer Arbeitswelt auf die familiäre Situation einfach keine Rücksicht
genommen wird.
Der Unterschied ist nur, dass es für Männer karrierefördernd ist, wenn sie Familie haben, weil sie dann nachweislich einsatzfähiger sind.
Wenn die Wirtschaftsentwicklung so weiter geht wie manche Wirtschaftsfachleute prophezeien, wenn die Wichtigkeit von Flexibilität, Mobilität und permanenter Verfügbarkeit
immer mehr zunimmt, wenn es irgendwann einmal zu einer Unterscheidung zwischen
Gewinnern und Verlierern kommen sollte, dann werden gerade jene Menschen, die
Bindungen haben, die sich durch Kinder gebunden fühlen, in Gefahr geraten, auf die
Seite der Verlierer zu kommen.
77
Hier müssen Gesellschaft wie auch Politik dagegensteuern.
Obwohl es da auch schon verschiedene Überlegungen, Bestrebungen und Maßnahmen
gibt, die Lobby der Wirtschaft wird leider immer viel größer sein als die Lobby für Eltern
und Kinder.
... Geduld will bei dem Werke sein
Und gerade in Stress- und Drucksituationen ist es für liebevolle Eltern schwer, die
Geduld aufzubringen, die bei dem „Werke“ sein will, wie es in der Überschrift heißt.
Es dürfen die Bedürfnisse der Eltern nicht gegen die Bedürfnisse der Kinder ausgespielt
werden – und umgekehrt.
Natürlich wird es auch zu einem großen Problem für die Kinder, wenn sich die wirtschaftliche Situation ihrer Eltern im Allgemeinen verschlechtert und diese unter noch
größeren Druck kommen.
Europaweit ist das auch deutlich sichtbar. Kinder können sich nur in Richtung zufriedener und freundlicher Menschen entwickeln, wenn es ihnen gut geht und ihre Bedürfnisse
befriedigt werden. Dieses „Gutgehen“ darf nicht ausschließlich materiell verstanden, sondern muss umfassender gesehen werden. Kindern kann es aber nur gut gehen, wenn
es auch ihren Eltern gut geht. Und Menschen, denen es gut geht, haben es nicht nötig,
psychische Gewalt und Druck auf andere auszuüben. Weder Eltern noch Kinder. Nur
dann kann die nötige Geduld bei dem Werke sein.
Eltern als Begleiter in schwierigen Situationen
Wir haben bis jetzt von der Rolle der Eltern zum Thema psychische Gewalt in
Institutionen in dem Zusammenhang gesprochen, dass von ihnen ausgehend über ihre
Kinder Gewalt in die Institutionen hineingebracht wird.
Besonders wichtig ist aber die Rolle der Eltern, die Kinder in diesen schwierigen
Situationen begleiten, ihnen zur Seite stehen und ihnen helfen sollen, dass die Wunden,
die möglicherweise geschlagen werden, heilen und keine Belastung für ihr ganzes Leben
werden.
Was tut also eine Mutter oder ein Vater, wenn das Kind von der Schule heimkommt und
sich beklagt „Ich werde immer von allen ausgelacht, niemand will mit mir spielen.“ Was
tun, wenn sich das Kind ausgegrenzt fühlt und darunter leidet?
Wenn ein Kind eine solche belastende Situation von sich aus anspricht, so ist das schon
ein großer Vorteil. Meist aber kann das Kind – aus welchen Gründen auch immer – seine
Probleme nicht so benennen. Das hängt natürlich auch vom Alter des Kindes ab. Daher
ist von Seiten der Erwachsenen sehr viel Aufmerksamkeit nötig, sich auf Kinder so
einzustellen, dass man ihre Sprache versteht, die Signale, die sie aussenden, richtig zu
deuten weiß.
Nur der, der sich
wirklich auf das
Kind einstellt und
dem Kind zugewandt bleibt,
erkennt, wie es
dem Kind geht.
78
Eltern müssen aufmerksam, einfühlsam sein und Nähe zu ihrem Kind haben, um die
Bedürfnisse des Kindes zu erkennen. Sie müssen Geborgenheit und Zuwendung geben.
Das braucht Zeit und Geduld. Geborgenheit erleben wir dann, wenn unsere körperlichen
Bedürfnisse befriedigt werden und uns vertraute Menschen ein Gefühl von Nähe geben.
Zuwendung erleben wir dann, wenn vertraute Menschen uns ein Gefühl des Angenommenseins geben, wenn vertraute Menschen zu uns als Person stehen.
Kinder brauchen Geborgenheit und Zuwendung, um ihre Bedürfnisse sagen, zeigen und
signalisieren zu können. Die Sprache der Kinder ist eine vielfältige, je nach Alter und
Person des Kindes, wobei sich ältere z.B. in der Pubertät, wie wir ja wissen, oft schwerer tun, ihre Bedürfnisse anzumelden, als jüngere.
Und was ganz wichtig ist: Auch die Bedürfnisse sind verschieden, ebenfalls nach Alter
und Person. Kinder entwickeln sich aktiv von sich aus. Sie können nicht wie Gefäße beliebig gefüllt werden, sondern sie nehmen nur auf, was ihrem Entwicklungsstand entspricht, betont der Schweizer Arzt Remo H. Largo, der sich über 20 Jahre mit Wachstum
und Entwicklung von Kindern beschäftigt hat. Er sagt, ein Angebot, das über seine
Entwicklung hinausgeht, bleibt ungenützt oder kann sogar die Entwicklung des Kindes
beeinträchtigen. Deshalb ist es auch unter anderem so wichtig, diese Verschiedenheit
von Kindern ganz ernst und wahrzunehmen.
Nur der, der sich wirklich auf das Kind einstellt und dem Kind zugewandt bleibt, erkennt,
wie es dem Kind geht.
Und wir sollten uns auch in Gesprächen mit Kindern in die Situation von Kindern versetzen. Was, wenn ein Kind ein Problem anspricht und nur die Antwort bekommt „Du
willst ja immer nur, dass alles nach deinem Kopf geht“ oder „Du bist einfach zu empfindlich“? Was das Problem des Kindes ist und wie schwer das Kind darunter leidet, wie
sehr es sich verletzt fühlt, weiß nur das Kind allein. Sensibilität und Empfindlichkeit sind
eben – wie schon zuerst erwähnt – von Kind zu Kind oft sehr verschieden.
Vielleicht kennen Sie die Zeichnung, wo ein Affe, eine Katze, eine Ente und ein Hund in
einer Reihe vor einem hohen Baum stehen und der „Lehrer“ sagt: „Zum Ziele einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich: Klettern Sie auf diesen
Baum!“
Gerechtigkeit und adäquate Behandlung müssten anders ausschauen.
Die Verschiedenheit von Kindern muss akzeptiert werden. Kinder müssen gerade in so
schwierigen Situationen, wo sie sich ohnehin schon abgewertet fühlen, von ihren Eltern
in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt und in ihrer Eigenständigkeit unterstützt werden. Ein
schönes Beispiel dafür findet sich im Film „Forrest Gump“, wo der junge Mann für sein
Leben diesen „Stehsatz“ von seiner Mutter mitbekommt: „Dumm ist, wer Dummes tut“.
Und dieser Satz hilft dem leicht beschränkten, naiven jungen Mann auf eine liebevolle
Art, sein Leben eigenständig bewältigen zu können.
Kinder müssen gerade in schwierigen
Situationen, wo sie
sich ohnehin schon
abgewertet fühlen,
von ihren Eltern in
ihrem Selbstwertgefühl gestärkt und
in ihrer Eigenständigkeit unterstützt
werden.
Autonomie entwickeln
Eltern müssen ihren Kindern helfen, Autonomie zu entwickeln. Diese Autonomie wird
schon von Geburt an aufgebaut, wenn das Baby lernt, dass es seine Bedürfnisse äußern
kann und darauf eine Reaktion erlebt. Das Baby schreit, die Mutter kommt mit der
Flasche – durch die Kausalitätserfahrung erlebt sich das Baby als Herrscher der Welt
und kann so Vertrauen und Sicherheit hinsichtlich der Wirksamkeit des eigenen Handelns
entwickeln. Das ermöglicht Autonomie und Selbstständigkeit im Handeln und in den sozialen Beziehungen.
Doch nicht nur als Baby sollten Kinder Erfahrungen der eigenen Wirksamkeit und
Akzeptenz machen können, sondern auch später. Unser Wohlbefinden und
Selbstwertgefühl hängt wesentlich davon ab, ob wir uns von unseren Mitmenschen angenommen fühlen und mit unseren Leistungen uns selbst und unseren Mitmenschen
genügen.
Wenn die Leistungen des Kindes nicht auch im Zusammenhang mit seinen Fähigkeiten
gesehen werden, kann das zwischen Eltern und Kindern zu einem großen Problem werden. Vermindertes Wohlbefinden und Selbstwertgefühl schwächen einfach unsere
Beziehungsfähigkeit. Die Mitmenschen spüren unsere Unsicherheit, und wir werden sozial weniger attraktiv. Das kann zu einem Teufelskreis führen, den es zu durchbrechen
gilt. Das erleben viele Kinder in ihren Schulklassen.
Vermindertes
Wohlbefinden und
Selbstwertgefühl
schwächen unsere
Beziehungsfähigkeit.
Akzeptanz und Wertschätzung als „Grundbausteine“
des Lebens
Das „Fitkonzept“ nach Largo orientiert sich am Wohlgefühl und Selbstwertgefühl des
Kindes, weil psychisches und körperliches Wohlbefinden die Grundvoraussetzungen
dafür sind, dass sich ein Kind bestmöglich entwickeln kann, und weil ein gutes
Selbstwertgefühl entscheidend für seine Beziehungs- und Leistungsfähigkeit ist. Es
gilt also von Seiten der Eltern her, die Kinder für das Zusammenleben mit anderen fit zu
79
machen, ohne verletzt zu werden und ohne zu verletzen. Es muss dieser doppelte Aspekt
gesehen werden, und Eltern haben dabei eine ganz besondere Aufgabe.
Während die Umgebung die soziale Akzeptanz des Kindes oft von seinem Verhalten abhängig macht, sollte für die Eltern das Verhalten des Kindes nicht wichtiger sein als seine
Person.
Wichtig ist, Person
und Verhalten auseinander zu halten –
das klingt theoretisch sehr gut, aber
im praktischen
Alltag ist das, wie
alle Erziehenden
wissen, oft ganz
schön schwierig.
Als Person vorbehaltlos akzeptiert zu werden ist eine Erfahrung, die die meisten Kinder
nur in den ersten Lebensmonaten machen dürfen. Ein Kind sollte sich aber als Person
nie von seinen Eltern in Frage gestellt fühlen und nie auf Grund seines Verhaltens
grundsätzlich abgelehnt werden. Das heißt nicht, dass Eltern jegliches Verhalten ihrer
Kinder billigen sollten, ganz im Gegenteil, aber die Person als solche darf von Seiten der
Eltern nicht in Frage gestellt werden.
Wichtig ist, Person und Verhalten auseinander zu halten – das klingt theoretisch sehr gut,
aber im praktischen Alltag ist das, wie alle Erziehenden wissen, oft ganz schön schwierig.
Einfacher wäre, wenn man Eltern sagen könnte, je mehr Zuwendung, je mehr Liebe, je
mehr Fürsorge ein Kind bekommt, desto besser geht es ihm. Aber genauso wie zu wenig Unterstützung die Autonomie des Kindes nicht wachsen lässt, genauso verhindert
auch Überfürsorge die Eigenständigkeit und Autonomie.
Letztlich sollte unser Ziel sein, dass die Kinder fähig werden, ihre eigenen Probleme
selbst zu lösen, dass sie sich im Zusammenhang mit psychischer Gewalt vor Übergriffen schützen lernen, die die Grenzen der eigenen Person verletzen und überschreiten.
Grundlage jeder hilfreichen Handlung von Eltern und anderen Begleitern in schwierigen
Zeiten muss die Wertschätzung und Achtung der Person des Kindes sein.
In dieser Grundhaltung müssen Eltern den Kindern geben, was sie brauchen – und das
ist nicht immer das, was Eltern glauben, das die Kinder brauchen.
Kinder müssen im Laufe ihres Erwachsenwerdens lernen, in ihren sozialen Beziehungen
eine ausgewogene Balance zwischen dem Tun und dem Mit-sich-geschehen-Lassen zu
finden.
Tun im Sinne von Ursache von Reaktionen anderer zu sein und Mit-sich-geschehenLassen heißt auch, auf andere und ihre Bedürfnisse zu reagieren.
Das Mit-sich-geschehen-Lassen birgt die Gefahr, die eigene Identität zu verlieren, wenn
man nicht manchmal auch das Tun wahrnimmt. Wer aber meint, immer mit dem Kopf
durch die Wand zu müssen, der wird überall anecken und beziehungsunfähig sein. Diese
Balance zu finden ist nicht leicht, und Eltern sollten ihren Kindern dabei helfen.
Aber genauso wie zu
wenig Unterstützung
die Autonomie des
Kindes nicht wachsen lässt, verhindert
Überfürsorge die
Eigenständigkeit
und Autonomie.
Wenn man heute mit Kindergärtnerinnen, vor allem aber auch mit Lehrern und
Lehrerinnen spricht, so hört man immer öfter: „Ich habe das Gefühl, vor einer Gruppe
von Prinzen und Prinzessinnen zu stehen.“
Einzelkinder haben manchmal Defizite bei sozialen Verhaltensweisen, die sie im
Zusammenleben mit Erwachsenen nicht brauchen. Diese Verhaltensweisen müssen
dann in der Gruppe der Gleichaltrigen erst nachgelernt werden, und das kann
Schwierigkeiten bringen. Auch da müssen Eltern ihre Kinder einfach hilfreich begleiten
und auszugleichen versuchen, was an Problemen auftritt.
Kunst und Wissenschaft allein ...
... helfen Eltern dabei nur teilweise. Geduld ist gefragt, Sensibilität. Die Eltern müssen
erkennen lernen, was bei den Kindern verstärkt und wo eventuell entgegengesteuert werden muss, wo Unterstützung und Bestätigung Not tun oder wo es vielleicht wichtiger
wäre, dem Kind zu ermöglichen, die Grenze seiner Frustrationstoleranz zu erhöhen.
Geschwister sind dabei hilfreich, denn unter Mehreren lernt man sich zu sich arrangieren. Für das Zusammenleben unter Menschen ist Toleranz notwendig. Wer Geschwister
hat, lernt das in der Familie, bei Einzelkindern muss diese Sozialisation dann oft erst im
Kindergarten und in der Schule nachgeholt werden.
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Eltern können und müssen Kinder gerade in schwierigen Zeiten begleiten. Die erzieherische Herausforderung dabei ist, das Kind richtig zu verstehen und im Umgang mit ihm
das richtige Maß zu finden.
Es gibt viele Elternratgeber, die Hilfe anbieten, auch faktische Tipps, die Eltern tatsächlich ein Stück weiterhelfen. Es gibt Angebote in der Elternbildung. Diese Hilfen werden
von vielen Eltern sehr gerne angenommen. Wichtig dabei ist aber, dass Eltern nicht noch
mehr verunsichert werden, sondern dass sie in ihrer eigenen Kompetenz gestärkt werden.
Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass es zu diesen komplexen und schwierigen Aufgaben
der Eltern noch viel zu sagen gäbe. In den Grundlinien ist es immer so einfach, doch der
Teufel steckt meistens im Detail, und Rezepte kann es nicht geben. Es braucht Geduld
und viele kleine Schritte.
Konklusio
Zusammenfassend möchte ich nur mehr kurz einige Punkte herausheben, die mir besonders wichtig erscheinen:
l Wichtig ist die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Institutionen.
l Wichtig ist die Lobbyarbeit für Kinder und Familien.
l Wichtig ist die Bewusstseinsbildung, vielfältig und auf allen Ebenen.
l Wichtig ist Elternbildung.
l Wichtig ist es auch, die Autonomie und die Eigenständigkeit des Kindes zu stärken,
seine Frustrationstoleranz zu erhöhen und zu lernen, die Sprache des Kindes zu verstehen.
Aber eine Aufgabe, die Eltern ganz besonders und hauptsächlich nur sie wahrnehmen
können, ist, das Kind als Person bedingungslos zu akzeptieren und ernst zu nehmen.
„Du aber liebe mich, auch wenn ich schmutzig bin, denn wenn ich weiß gewaschen wäre,
liebten mich doch alle“ (Dostojewski).
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„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“
„Der Eingriff von außen – ein zusätzliches Trauma?“
Referent: Dr. Reinhard Neumayer
Gleich am Anfang sei festgestellt: Wir alle handeln immer in bester Absicht. Das, was wir
tun, das ist also ohnehin „wunderbar, toll, klasse“ – oder etwa nicht?
Wir gehen davon
aus, dass, da wir ja
immer in bester
Absicht handeln, am
Schluss auch etwas
Gutes herauskommen muss.
Wir haben Klienten, die schuldlos in eine Notlage gekommen sind. Wir erleben ihr Leid
mit, doch das soll uns nicht persönlich treffen, weil wir ja Profis sind. Wir bemühen uns,
in geeigneter Form zu handeln, so dass es unseren Klienten nach unserer Intervention
auch tatsächlich besser geht.
Wir gehen davon aus, dass, da wir ja immer in bester Absicht handeln, am Schluss auch
etwas Gutes herauskommen muss.
Wir wollen immer nur das Richtige tun. Das haben wir uns geschworen, als wir uns für
diese Berufe entschieden haben.
Und das beweist uns auch die tägliche Praxis. Aber vielleicht vor allem deswegen, weil
wir am liebsten auf die Fälle hinschauen, bei denen auch wirklich etwas Gutes herausgekommen ist.
Denn: „Grau ist alle Theorie“ – das wissen Sie genauso gut wie ich.
Es könnte also sein, dass wir heute ein bis zwei Blicke auch auf Fälle werfen müssen,
bei denen nicht nur Gutes herausgekommen ist.
Wir Zuständigen ...
Beginnen wir einmal bei Wir. Wer ist eigentlich Wir?
Wir – das sind natürlich die Zuständigen. Aus irgendeinem Grund wird man „zuständig“.
Wir werden zu Zuständigen, weil sich Klienten an uns wenden, weil Klienten in der
Erwartung zu uns kommen, dass ihnen hier geholfen wird. Sie tragen ihr Anliegen in der
Erwartung vor, dass wir ihnen helfen.
Für einen Klienten
ist immer sehr
erstaunlich, dass
er sich an jemanden
wendet, und plötzlich ist dann wer
anderer zuständig.
Es könnte aber auch sein, dass sie bei der falschen Tür stehen geblieben sind, dass sie
sich im Türschild geirrt haben und dass wir gar nicht zuständig sind. Das ist dann manchmal eine Erleichterung. Dann kann man den Klienten, die Klientin zu einer anderen Tür
schicken oder ihm/ihr eine andere Telefonnummern geben ...
Aber wahrscheinlich passiert Ihnen so etwas gar nicht, wahrscheinlich passiert so etwas
immer nur mir.
Aber auch wenn der Klient beim richtigen Türtaferl stehen geblieben ist, hat das nicht für
immer Gültigkeit. Für einen Klienten ist immer sehr erstaunlich, dass er sich an jemanden wendet, und plötzlich ist dann wer anderer zuständig. Oder es kommt noch wer dazu,
oder es redet in einer bestimmten Phase dann plötzlich noch wer Neuer mit.
Der Klient weiß zunächst nichts von diesen Phasen. Er kommt nicht bei der Tür herein
und sagt „Bitte, ich bin jetzt in der Anfangsphase meiner Problemdarstellung. Wenn Sie
sich als Zuständiger bitte darum kümmern wollen und mir dann sagen, wann der Nächste
zuständig ist.“
... wir handeln ...
Wie dem auch sei – sobald ein Klient bei uns ist und wir zuständig sind, handeln wir. Wir
alle handeln. Und wenn wir schon handeln, dann geplant und vernetzt. Sie wissen
hoffentlich, in wie vielen Netzen Sie hängen. Wir handeln also vernetzt, und wir handeln
immer.
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Handeln – das Wort an sich ist schon eine Drohung.
Sollten wir nicht nachdenken, bevor wir handeln?
Aber wir handeln immer und bei jedem Schwierigkeitsgrad.
Gibt es jemanden unter Ihnen, der das schon öfters mit sich selber ausdiskutiert hat, bei
welchem Schwierigkeitsgrad er oder sie eigentlich sagen müsste: „Das ist mir jetzt vielleicht zuviel“? Vielleicht wäre es fairer, zu Ihrem Klienten/Ihrer Klientin zu sagen: „Es ehrt
mich, dass Sie zu mir gekommen sind, aber ich muss Ihnen ehrlicher Weise sagen, dass
ich davon nichts verstehe. Und bevor ich mich großmächtig aufblase, um vor Ihnen als
allwissender Riese dazustehen, der für Alles eine Antwort hat, bin ich lieber ehrlich und
sage, dass ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann.“
... nur in bester Absicht ...
Aber wir handeln ja in bester Absicht. Wir wissen, was gut ist. Wir handeln in bester
Absicht für das Kindeswohl. Alle, die in der Jugendwohlfahrt tätig sind, wissen über diesen magischen Begriff Bescheid. Und alle, die an der Jugendwohlfahrt auch nur angestreift sind, haben auch schon mit diesem Wort zu tun gehabt.
Es geht in der Jugendwohlfahrt um das Wohl des Kindes.
Was genau ist bitte das Wohl des Kindes?
Ich arbeite seit über 20 Jahren in diesem Bereich, aber ich kann Ihnen das nicht genau
sagen. Aber es ist eine Leitschnur für uns. Und deswegen handeln wir in bester Absicht
für das Kindeswohl. Oder vielleicht manchmal für das Helferwohl?
Passiert es vielleicht doch manchmal, dass wir etwas nicht nur des Kindeswohles wegen tun? Passiert es vielleicht manchmal, dass wir – um ein bisschen besser dazustehen – einfach handeln auf unsere Fahnen schreiben? Passiert es vielleicht manchmal,
dass wir Klienten und Klientinnen, die mit einem bestimmten Anliegen kommen, so umbiegen, dass sie zu unserem Angebot passen?
Passiert es vielleicht
manchmal, dass wir
Klient/innen, die mit
einem bestimmten
Anliegen kommen,
so umbiegen, dass
sie zu unserem
Angebot passen?
Das, meine ich, ist das Helferwohl und nicht das Klientenwohl.
Und kann es auch sein, dass es die Öffentlichkeitsarbeit ist, die uns manchmal als leitendes Motiv bewegt?
Aber wahrscheinlich gibt es bei Ihnen so etwas gar nicht, wahrscheinlich passiert so etwas immer nur mir.
Kann also unser Eingreifen von außen ein zusätzliches Trauma für unsere Klientinnen
und Klienten sein?
Wenn wir mit der Idee, unseren Klienten zu helfen oder ihnen Wege zu zeigen, auf denen vielleicht Hilfe zu bekommen ist, oder ihnen ihre eigenen Ressourcen bewusst
machen, um Hilfe in Anspruch nehmen zu können, an unsere Arbeit herangehen, dann
werden wir a priori wahrscheinlich nicht gleich daran denken, dass wir ihnen mit unserem
Tun, unserem Handeln auch zusätzliches Leid zufügen können.
Und trotzdem gibt es das.
... und meinen es immer nur gut
Unser heutiges Thema lautet: Psychische Gewalt durch Institutionen. Daher die Frage:
Kann es auch durch gut gemeinte Hilfsangebote zur Ausübung von psychischer Gewalt
kommen?
Schauen wir einmal, was so ein „gut gemeintes Hilfsangebot“ alles bewirken kann.
Behalten Sie bitte die Wortfolge „gut gemeintes Hilfsangebot” für die nächsten paar
Minuten „eingespeichert“.
Ich möchte Ihnen etwas aus meiner Studentenzeit erzählen.
Das war in den 70er Jahren. Ich habe damals ein Praktikum an einer Krankenanstalt gemacht, und diese Krankenanstalt hat gewisse Regeln im Umgang mit Kindern gehabt.
83
Streng nach damals gültigen wissenschaftlichen Erkenntnissen lautete die Regel: Kinder
aus schwierigen Familien kommen in die Krankenanstalt und werden dort für einige
Wochen nicht mit ihrer Familie zusammenkommen. Ganz bewusst. Schädigende
Einflüsse sollen so von diesen Kindern fern gehalten werden.
Über Wochen hindurch durften die
Kinder „zu ihrem
eigenen Wohle“ ihre
Angehörigen nicht
sehen – doch niemand hatte die Absicht, den Kindern
psychische Gewalt
anzutun. Es wurde
eben in bester
Absicht nach dem
damaligen wissenschaftlichen Stand
der Dinge gehandelt.
Die Situation war dann so, dass die Kinder vom Fachpersonal gut betreut worden sind,
gute therapeutische Angebote bekommen haben und Angehörige – die waren nämlich
gemeint mit den schädigenden Einflüssen – nur Auskunft bekommen haben. Heute
würde man sagen: durch zertifizierte Auskunftspersonen. Das heißt, die Angehörigen
konnten zu bestimmten Sprechstunden kommen und fragen „Wie geht es meinem
Kind?“, und haben dann haben sie eine klare Auskunft bekommen und konnten wieder
heimgehen.
Es war auch noch möglich, ein Brieflein für das Kind zu hinterlassen.
Ich habe mich nicht wirklich wohl gefühlt bei der Vorstellung, dass es irgendwann einmal
auch meinem Kind so gehen könnte, obwohl ich damals überhaupt noch keine Kinder
hatte.
Was immer Sie sich heute im Oktober des Jahres 2000 über diese Vorgangsweise denken – damals hatte ganz bestimmt niemand die Absicht, psychische Gewalt an Kindern
zu begehen. Es wurde eben in bester Absicht nach dem wissenschaftlichen Stand der
Dinge gehandelt.
Wahrscheinlich fallen Ihnen selber auch noch andere solcher Beispiele ein.
Heute, aus der gebührlichen zeitlichen Distanz, können wir uns natürlich überlegen, was
wir damals den Kindern angetan haben. Es ist keinesfalls in böser Absicht, sondern in
bester Absicht geschehen.
Das Fachpersonal, das die Kinder während der wochenlangen Trennung von ihren
Angehörigen betreut hat, wusste genau: „Wir müssen hier Beziehungsarbeit leisten.“ Das
waren nicht irgendwelche eiskalten Theoretiker, die an Kindern experimentierten. Nein!
Das waren Menschen, die sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit plus ihrem fachlichen
Wissen engagiert haben, um für diese Kinder etwas Positives zu bewirken.
Sie konnten nicht – vielleicht wollten sie es auch nicht – sehen, dass es zu zusätzlichen
Problemen gekommen ist, weil man den Kindern ihr Bezugsnetz gestohlen hat, weil die
Kinder natürlich unter Trennungsängsten gelitten haben.
Auch ich hätte Trennungsängste in dieser Situation!
Kinder, die nicht begreifen konnten, dass sie vor jemandem geschützt werden, den sie
lieb haben; Kinder, die erleben mussten, dass draußen jemand bei der Glastür vorbeigeht, mit dem sie gerne reden würden, von dem sie gerne in den Arm genommen worden wären, der aber nicht zu ihnen gelassen wurde – für Wochen! Zum Glück haben sie
das mit ihrem kindlichen Verstand gar nicht ganz erfassen können, denn sonst hätten sie
sich noch ganz anders „aufgeführt“, als sie es getan haben.
Nachdem wir alle schon den Jahrtausendwechsel gefeiert haben, kann ich ja sagen, das
passierte im vorigen Jahrhundert.
Das klingt vielleicht irgendwie beruhigender.
Es ist leicht, für gestern schlau zu sein
Ein zweiter Hinweis.
Für alle die, die schon etwas länger im Geschäft sind, oder alle die, die manchmal in die
Literatur schauen, ist nicht zu übersehen, dass sich in einem Spezialgebiet, nämlich der
Adoption, die Geisteshaltung der beteiligten Fachleute in den letzten 15 Jahren wesentlich verändert hat.
84
Der Gedankengang bei Adoptionen war früher, nur ja keinen Kontakt zwischen der
Herkunftsfamilie und dem Adoptivwilligen herzustellen. Eine Behörde, zuständigerweise
das Jugendamt, war dazwischengeschaltet. Bei der Behörde sind die Informationen zusammengelaufen. Das Kind wurde anonym übergeben. Unterlagen hat es schon gegeben, aber eher nicht für die Adoptiveltern oder das betroffenen Kind.
Und dann ist etwas passiert – Menschen sind nicht immer so wie die graue Theorie:
Adoptivkinder sind erstaunlicherweise, genauso wie leibliche Kinder, genauso wie
Pflegekinder, älter geworden. Und dann haben sie irgendwann einmal begonnen, Fragen
zu stellen wie: „Bin ich in deinem Bauch aufgewachsen?“
Menschen sind nicht
immer so wie die
graue Theorie.
Pflegeeltern sind auf solche Fragen trainiert gewesen, Adoptiveltern damals nicht. So
blieb ihnen nichts übrig, als die Frage als unzulässig zurückzuweisen.
Doch die Adoptivkinder sind beharrlicher geworden – auch das war ja nicht vorhersehbar – und haben die Frage mehr als einmal gestellt ...
Heute sind wir soweit, dass die anonyme Adoption die absolute Ausnahme ist.
Wir wissen, dass die Heranwachsenden sicher fragen werden, wie ihre persönlichen
Verhältnisse sind. Wir wollen zeitgerecht dafür sorgen, dass es diese Information gibt.
Wir schulen Adoptiveltern. Wir beraten Adoptivfamilien bei den Problemen ihrer heranwachsenden Kinder.
Dennoch: Niemand hatte vor 15, vor 20 Jahren die Absicht, den Kindern psychische
Gewalt anzutun.
Vielleicht gibt es in 20 Jahren wieder eine Tagung, bei der Leute, die heute noch relativ
jung sind, unsereins, die wir dann bereits etwas grau und erschöpft in der vorderen Reihe
sitzen, erzählen werden, was es damals bei der Jahrtausendwende für absurde Ideen
im Umgang mit Kindern gegeben hat.
Erste Fallgeschichte
Karli, vier Jahre alt, ist jetzt endlich weg von zu Hause. Er wird in der Nacht nicht mehr
so schreien, wenn daheim gestritten wird. Er wird nicht mehr grün und blau im Gesicht
sein, oder sonst wo, wie man ja beim Turnen gesehen hat ...
Er wird auch nicht mehr die Kinder in diesem Kindergarten beißen und treten.
Er ist jetzt weit weg von hier, bei einer anderen Familie. Nein, Freunde hat er wenige gehabt, vielleicht den Peter und die Karin, aber die sieht er jetzt nicht mehr. Nein, seine
Eltern soll er jetzt auch nicht mehr sehen, vielleicht später einmal, wenn er sich erst eingewöhnt hat und die Therapie so richtig greift ...
Nein, reden tut er jetzt nicht viel, eigentlich sehr wenig ...
Ob er jetzt glücklich ist?
Na jedenfalls geht es ihm viel besser als vorher, oder?
Der Eingriff von außen – Garant, dass es besser wird?
Im Allgemeinen haben Institutionen bestimmte Vorstellungen davon, wann Kinder „gerettet“ werden müssen.
Institutionen haben aus diesem Behufe oft einen Katalog, in dem genau aufgelistet wird,
wann gehandelt werden muss, wann eingegriffen werden muss, wann Kinder offenbar
in ihrer Herkunftsfamilie oder im erweiterten Umfeld einer solchen Fülle von Gefahren
und Gefährdungen ausgesetzt sind, dass man sie nicht mehr dort belassen kann.
Bei der Jugendwohlfahrt gibt es ziemlich klare Richtlinien bzw. ein Auflistung von
Hinweisen, ab wann die Gefährdung so akut ist, dass man das Kind aus dieser Situation
herausnehmen muss.
Es gibt aber auch weniger dramatische Fälle – Gott sei Dank gibt es die auch –, wo man
überlegen kann, ob man nicht auch mit langsam greifenden, dafür aber beharrlich
angebotenen Hilfeformen zu einer Veränderung der Situation beitragen kann.
Stellen Sie sich jetzt Folgendes vor: Eine Institution, eine Behörde, hat nach Durchsicht
aller Kataloge festgestellt, „bei diesem bestimmten Kind ist der Pegelstand erreicht, jetzt
ist Handlung angesagt“.
Und so wird ein gut gemeintes Angebot gemacht. Ein gut gemeintes heißt in solchen
Fällen aber: „Das Kind kommt weg“.
85
Was aber, wenn die
Pflegefamilie nun
genauso mit
Schwierigkeiten
beladen ist wie die
ursprüngliche
Familie? Dann hat
es sich das Kind
aber nicht wirklich
verbessert.
Das Kind kommt in eine hoffentlich bessere Situation.
Wir nehmen natürlich an, dass es das betroffenen Kind bei einer anderen Familie, bei
der Pflegefamilie besser haben wird.
Was aber, wenn die andere Familie nun genauso mit Schwierigkeiten beladen ist wie die
bisherige? Dann hat es sich das Kind aber nicht wirklich verbessert.
Es hat lange gedauert, bis den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – und da zähle ich mich
auch dazu – (dank intensiver Fortbildung) klar geworden ist, dass die Unterbringung auf
einen Pflegeplatz eben nicht einen komplexen Wechsel, nicht ein Streichen der
Vorgeschichte bedeuten kann. Wenn man das weiß, wird auch klar, dass es nicht nur
trotziges Verhalten von Kindern ist, wenn sie auf einmal anfangen, ihre Herkunftsfamilie
zu idealisieren; dass es nicht nur Widerstand gegen die neue Familie ist, wenn sie dort
nicht sofort in Dankbarkeit zerfließen, und dass es nicht Fehler in der Angebotsseite der
Pflegefamilie sind, wenn das Kind nicht sofort in strahlendem Glück aufgeht.
Der Einblick von außen
Wir haben fremde Hilfe gebraucht, Supervision mit erlebnisgeleiteten Fortbildungsformen, um zu erkennen, was in einem Kind in dieser Situation vorgehen kann; um zu
erkennen, dass das Kind Verluste erleidet. Diese Verluste bemerkt es sogleich, eventuelle Erleichterungen, Verbesserungen wohl erst viel später. Ob es einmal sagen wird
„Das hat mir damals wirklich geholfen“, das können wir nicht voraussagen. Ich muss gestehen, in den Jahren, in denen ich jetzt in diesem Bereich tätig bin, habe ich das überhaupt noch von keinem Kind gehört.
Ich habe es von Erwachsenen bis jetzt vielleicht drei- oder viermal gehört – aber niemals
von einem Kind.
Wären also positive Rückmeldung oder Dankbarkeit ein Maß, das uns hilft, unsere
Verhaltensweisen zu steuern, dann wäre es besser, wir ließen es ganz.
Aber der Umkehrschluss „Schauen wir doch einfach nicht hin“, der verhilft einem auch
nur kurz zu gutem Schlaf.
Zweite Fallgeschichte
Noch eine kleine Geschichte:
Fatima, 16 Jahre alt, hat es nicht leicht mit den strengen Vorstellungen ihrer Familie,
wenn sie doch gleichzeitig sieht, wie ihre Schulfreundinnen aufwachsen und was für die
alles selbstverständlich ist, nicht aber für sie.
Nach einem heftigen Streit, bei dem sie auch vom Vater verprügelt wird, wendet sie sich
an die Berufsschullehrerin. Diese verspricht zu helfen, wendet sich an das Jugendamt,
und es kommt – nicht zuletzt wegen der festgestellten Verletzungen – zu einer
Unterbringung des Mädchens in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft. Dort
wird das Mädchen betreut, therapeutisch begleitet und unter Beachtung der Multikulturperspektive gestützt.
Die Herkunftfamilie hat nicht verstehen können (wollen?), warum sich eine Schule und
ein Amt in die Erziehung einmischen und sich dabei genauso wie die Eltern auf das Wohl
des Kindes beziehen!
Für diese Familie ist Fatima übrigens „gestorben“!
Erratum: Das Mädchen heißt nicht Fatima, sondern Monika.
Wie passen die Normen, die seitens einer Institution für selbstverständlich erwartet werden, mit denen in der Familie zusammen?
l Das kann sich auf den Erziehungsstil beziehen.
l Das kann sich auf allgemeine Werthaltung beziehen.
l Das kann sich auf kulturelle, religiöse Vorstellungen beziehen.
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l Das kann sich auf vielerlei beziehen. Offenbar gibt es in den Institutionen Vorstellungen darüber, wie Familien sein sollen, und das weit über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus.
Das mag vielleicht daran liegen, dass in diesen Institutionen Menschen arbeiten, die ihre
eigene Werthaltung vertreten. Es mag aber vielleicht auch daran liegen, dass dort
Menschen ihre eigene Werthaltung nicht immer reflektieren.
Und wenn dann in dieser Geschichte ein Mädchen vorkommt mit einem seltsam klingenden Namen, dann haben Sie wahrscheinlich schon ähnliche Erfahrungen gemacht,
dann ist Ihnen vielleicht schon einmal so ein konfrontierendes Gespräch in Erinnerung,
wo Sie versucht haben, jemandem, der ganz anders denkt als Sie, klar zu machen, dass
Sie es sind, die oder der weiß, wie es langgeht. Und wenn die Familie sich nicht daran
hält, dann wird eben ein Eingriff notwendig.
Wahrscheinlich sind Sie ein wenig zusammengezuckt, als Sie gelesen haben, dass das
Mädchen gar nicht Fatima, sondern Monika heißt. So einfach ist es nämlich nicht, dass
es nur irgendwelche Minderheiten sind, die man klar auf Grund von Äußerlichkeit,
Nationalität, Reisepass, Hautfarbe oder sonst etwas eingrenzen kann und sagen kann:
„Das machen ja nur die dort!“
Schauen Sie gut nach, mit welchen Klienten und Klientinnen Sie regelmäßig arbeiten und
ob es nicht dort auch eine ganz andere Form von Minderheiten gibt.
Dritte Fallgeschichte
Letzte Geschichte. „Klein, aber nicht fein”
Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch an Jaqueline ist erstmals aufgetaucht, als sie 12
war. Sie hat sich einer Freundin (1) anvertraut, die ist dann mit ihr zur Frau Direktor (2)
gegangen, dann wurde die Schulärztin (3) geholt und danach das Jugendamt verständigt. Eine Sozialarbeiterin (4) und eine Psychologin (5) haben mit Jaqueline gesprochen.
Dann ist eine Anzeige gemacht worden, wodurch eine Einvernahme durch eine Polizistin
(6), den Untersuchungsrichter (7), die Begutachtung durch den Gerichtssachverständigen (8) und die Befragung in der Hauptverhandlung (9) folgten. Mit der ersten
Therapeutin (10) kam Jaqueline nicht soo gut zurecht, also wurden noch zwei weitere
Versuche (11+12) gemacht, ja und dann noch die Erzieherinnen (13–16) im Jugendheim.
Hoffentlich hat Jaqueline niemanden vergessen?
Ach ja, die Mutter (17) und die Großmutter väterlicherseits (18), die gar nicht glauben
kann, dass ihr Bub so etwas machen könnte („Das bildest du dir doch nur ein, gell!“) wollten die Geschichte auch genau erzählt bekommen.
Für eine Verurteilung des Beschuldigten haben die Beweise nicht gereicht.
Gut gemeint heißt nicht automatisch gut
Sie, verehrte Experten und Expertinnen, wissen natürlich, dass so etwas heute nicht
mehr sein muss. Heute kann es nicht mehr vorkommen, dass ein missbrauchtes Kind
quasi von Amts wegen 18 (!) mal irgendjemandem seine Geschichte erzählen muss. Sich
18 (!) mal rechtfertigen muss, dass es ein Problem hat;
18 (!) mal zugeben muss, in eine komplett unaushaltbare Situationen geraten zu sein und
nicht den Mund gehalten zu haben; 18 (!) mal mit Leuten konfrontiert wird, die sagen:
„So, wie du das sagst, kann es doch gar nicht gewesen sein.”
Sie werden sagen, das kann man heute alles schon viel besser machen, es gibt doch
diese kontradiktorische Befragung. Die soll doch nur einmal stattfinden und nicht beim
Untersuchungsrichter und beim Hauptverhandlungsteil und bei insgesamt 18 Personen.
Springen Sie jetzt um 20 Jahre zurück. Hat damals jemand gesagt: „So viele Helfer“?
Alle Finger hätten Sie sich abgeschleckt, wenn es so viele Helfer gegeben hätte!
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Man hätte es als einen großartigen Fortschritt gewertet. Lauter hervorragend geschulte
Intervenienten und Intervenientinnen. Lauter Professionalistinnen und Professionalisten.
Alle wollen nur das Beste vom Kind.
Hoffentlich kriegen sie es nicht.
Lauter hervorragend
geschulte IntervenientInnen. Lauter
Professionalistinnen
und Professionalisten. Alle wollen nur
das Beste vom Kind.
(Hoffentlich kriegen
sie es nicht!)
Wir alle handeln immer in bester Absicht. Na klar. Trotzdem kann es passieren, dass wir
damit Schaden anrichten. Auch wenn das wirklich keiner von uns absichtlich tut.
In einer ganz interessanten Arbeit in der Zeitschrift „Praxis der Kinderpsychologie“ im vorigen Jahr ist dieser Teufelskreis aufgezeigt worden. Der Teufelskreis: Was passiert,
wenn man nicht auf eigene Fehler hinschaut, wenn man nicht eine selbstkritische
Perspektive einnimmt, wenn man nicht von Selbstverständlichkeiten abgeht?
Vereinfacht zusammengefasst steht dort, dass es dadurch zu einem Klima des gegenseitigen fachlichen und vielleicht auch wissenschaftlichen Schulterklopfens kommt.
Gut sind wir, fesch sind wir, wir machen eh alles, was wir können, und außerdem ist die
Arbeit immer zu viel.
Natürlich! Gut sind wir – das hoffe ich schon für unsere Klienten; fesch sind wir – das
überlasse ich jedem selbst; wir machen, was wir können – das kann manchmal gefährlich werden; und die Arbeit wird zu viel – natürlich.
Wir sollten uns natürlich auch überlegen, was wir dagegen unternehmen können. Wieder
so ein Katalog, werden Sie sagen, und Recht haben Sie. Ich wollte es Ihnen einfach nicht
ersparen. Wie könnten wir diese immer wieder drohende sekundäre Traumatisierung
weitgehend vermeiden? Wenn wir es wüssten, säßen wir nicht hier, sondern würden
schon daran arbeiten.
Trotzdem einige Hinweise.
Wie machen wir es besser? – Ein Versuch
l Zunächst einmal eine ehrliche Sicht auf Nachteile beim noch so gut gemeinten
Hilfsangebot. Nur das wird uns in die Lage versetzen, unsere Hilfsangebote zu optimieren. Und wenn Trennungen ein Nachteil sind, dann muss man damit umgehen.
Man wird sie aus Aspekten von Kinderschutz nicht automatisch vermeiden können,
aber man muss sie in seine Überlegungen einbeziehen.
Man muss diesem Aspekt ein zusätzliches Hilfsangebot widmen, inhaltlich, nicht
noch einen Trennungshelfer dazu.
l Fortbildung und Supervision für Helfer/innen, um sich eigenen Fehlern und
Fehlentscheidungen stellen zu können und daraus zu lernen.
Das ist ein Aufruf an jede und jeden Einzelnen von Ihnen und natürlich an die
Dienstgeber, so etwas zu ermöglichen. Supervision und Fortbildung fallen nicht von
allein vom Himmel.
l Qualitätsentwicklung aus der Perspektive „Kinderschutz als Konsumentenschutz“. Wieso? – Weil es manchmal hilft, sich vorzustellen, ein Kind, 11, 12 Jahre
alt, wäre Klient eines amerikanischen Konsumentenschutzanwaltes und würde sagen „Ist das wirklich das Beste, was Sie für mich tun konnten? Können Sie das beweisen? Haben Sie alle Möglichkeiten gut überlegt und mir wirklich das Beste angeboten, oder haben Sie irgendeine Routine in der Schublade, nach der ich abgehandelt worden bin?“
l Und ein letzter Punkt (und hier schließt sich wieder der Kreis im Bereich Öffentlichkeitsarbeit): Ich habe es ganz am Anfang schon angedeutet. Öffentlichkeitsarbeit
nicht nur reaktiv beim Skandal. Das ist eine Situation, in der wir immer wieder sind.
Einem Kind geht es so schlecht, dass es auch den Medien auffällt. Es wird berichtet, es wird vorverurteilt, es wird gefragt „Warum habt ihr denn nicht ...?“
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l Wenn dann erst mit Öffentlichkeitsarbeit begonnen wird, wird man der Sache nicht
wirklich helfen. Da schwankt man zwischen Dementi und „Bin in einer Besprechung“,
oder man versucht es mit Ehrlichkeit und hofft, dass etwas Verwandtes davon dann
auch in den Medien gebracht wird.
Aber tatsächlich geht es um etwas ganz anderes bei der Öffentlichkeitsarbeit. Es geht
um eine begleitende Form, aktiv und permanent und nicht nur damit etwas in der
Zeitung steht.
Öffentlichkeitsarbeit soll ein positiv formuliertes Ziel haben, damit auch Entscheidungsträger rechtzeitig die erforderlichen Mittel bereitzustellen gewillt sind. Diese
Entscheidungsträger bedienen sich nämlich in vielerlei Hinsicht nicht unserer fachlichen Hinweise, sondern der Informationen und dem Druck der Medien. Und das
sollte uns Mut machen, auch diesen Teil unserer Arbeit zu übernehmen.
Zum Schluss nehmen Sie vielleicht einen Satz als Zusammenfassung mit:
Wenn wir überall dort, wo wir gut gemeinte Hilfe anbringen, die Aspekte beachten, wie
sie aus der Zukunft her kritisch gesehen werden könnten, dann könnten wir doch mit der
Verbesserung schon morgen früh beginnen. Dankeschön!
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„Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“
„Schule – ein Ort der Tat“
Referentinnen: Dir. Gertraud Schimak, Mag. Dagmar Friedl
Sehr verehrte Damen und Herren!
„Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“ – wir sind Goethes Worten nachgegangen und auf
Seneca gestoßen.
Dieser hat Aphorismen des Hippokrates übernommen bzw. verschriftlicht. Der Geheimrat
benützt lediglich den Beginn eines Hippokratischen Aphorismus, wir wollen Ihnen den
vollständigen Text nicht vorenthalten:
„Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, die Gelegenheit
flüchtig, der Versuch gefährlich, die Entscheidung schwer.“
Wir freuen uns, in der Kürze der Zeit und mit Hilfe Ihrer Aufmerksamkeit über die flüchtige Gelegenheiten, den gefährlichen Versuch und die schwierige Entscheidung in den
Dialog treten zu dürfen über ein sehr komplexes Thema: nämlich dem der hohen Kunst
des Miteinander in der Institution Schule.
Wie dieses Miteinander z.B. auch aussehen kann, zeigt die Entwicklungsgeschichte zum
Goethe-Zitat, wie wir sie in der Einleitung dargestellt haben.
Vom „Miteinander“ der historischen Persönlichkeiten zum Miteinander der Institution
Schule – versuchen wir gemeinsam den Transfer:
Ersetzen wir Goethe durch Personen des Lehrkörpers – sie verdichten, sie fassen zusammen, sie entrümpeln; Seneca, der von Hippokrates übernimmt und verschriftlicht, ersetzen wir durch Vertreter/innen der Schulbehörde und Hippokrates durch die
Gesellschaft.
Und nehmen Sie unser gemeinsames Auftreten, als äußeres Zeichen für unsere Überzeugung, dass Lernen nur im Dialog gelingen kann, aber auch misslingt, wenn dieser
verweigert wird.
Dazu ein Beispiel aus dem schulischen Alltag:
Erste Klasse Volksschule, zweite Stunde, Lerneinheit: Buchstaben-Laut-Zuordnung am
Buchstaben P, 24 Schüler/innen, eine Lehrerin, Unterrichtssprache Deutsch.
Der Schüler Patrick (P-atrick!) sitzt ganz hinten auf dem Boden, sieht also alle Kinder nur
von hinten, die Lehrerin kommentiert erklärend: „Ich halte ihn sonst nicht aus.“
Die Lehrerin bietet zum Buchstaben P verschiedene Gegenstände an, alles beginnt mit
P oder enthält diesen Buchstaben: Puppe, Postkasten, Zahnpasta, Papier.
Patrick holt sich einen Teil des Angebotes und bemüht sich offensichtlich um
Konzentration und Teilnahme.
Patrick ergreift eine kleine Puppe, springt selbst freudig auf und ab und schreit laut und
begeistert: „Peppo, hopp! Peppo, hopp!“
Lehrerin: „Patrick, jetzt ist aber Schluss!“
Patrick springt weiter auf und ab, die kleine Papierpuppe in seiner Hand.
Lehrerin, läuft zu Patrick, nimmt ihm die Papierpuppe weg und fordert ihn nachdrücklich
auf: „Patrick! Mach endlich mit!“
Und das Kind mit dem glücklichen Namen P-atrick – es könnte heute seinen besonderen Tag haben, würde sein Name Beachtung finden –, das Kind Patrick, das so einfallsreich seine Puppe Peppo taufte und mit der Aufforderung „Hopp!“ springen ließ, hat nun
keine Puppe mehr und setzt sich still und ruhig, wie gefordert, auf seinen Platz zurück.
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Wir überlassen es Ihrer Fantasie, wie er der Aufforderung „Mach jetzt endlich mit!“ nachkommen wird.
Eine unbedeutend scheinende, fast mikroskopisch kleine Momentaufnahme aus dem
Schulalltag – und wo ist die Gewalt?
Gewalt ist dort, wo nicht hingehört wird, wo nicht aufeinander gehört wird, wo bestehende
Erwartungen keine Neugierde zulassen, wo unvorbereitete, also nicht vorausgedachte,
spontane Reaktionen keinen Platz haben und Raum und Zeit für Entwicklungsprozesse
fehlen.
Und wo ist die Gewalt?
Gewalt ist dort, wo es nicht um Entwicklung, also prozesshaftes Geschehen gehen darf,
sondern in einer vorgegebenen Zeit zu vorgegebenen Bedingungen und mit vorgegebenen, weil vorbereiteten und daher eingeschränkten, fixierten Mitteln ein bestimmtes
Ziel erreicht werden soll.
Gewalt ist dort, wo es nicht um die Persönlichkeit von Schüler/innen, nicht um die
Wahrnehmung ihrer Ideen und emotionalen Befindlichkeit, sondern um scheinbaren
Erfolg von Lehrer/innen geht.
Beispiel AHS, Englisch-Stunde: Eine Schülerin kommt erheblich zu spät zum Unterricht
und entschuldigt sich mit den Worten: „Ich habe heute nicht geschlafen, meine Oma ist
in der Nacht gestorben.“ Darauf die Lehrerin: „It’s O.k. But tell me in English!“
Ein anderes Beispiel. Elternabend, die Klassenlehrerin stellt sich und ihre Arbeitsweise
vor: „Ich werde Ihre Kinder mit samtener Faust behandeln!“
Oder dies: Hauptschule, der Klassenvorstand begrüßt die Schüler/innen seiner Klasse
mit den Worten: „Das sage ich euch gleich: Ich bin als strengster Lehrer der Schule bekannt!“
Aber auch das: Begrüßung eines neuen Schülers durch einen Klassenlehrer:
„Ah, deine Familie kenne ich, ich kenn ja deinen Bruder. Hoffentlich hast du eine andere
Arbeitshaltung als er.“
Gewalt ist dort, wo das Gegenüber nicht wahrgenommen wird, wo autoritäre Herrschaft
vorbeugend – sicher ist sicher! – Schüler/innen klein, mundtot und leicht lenkbar machen
soll.
Schule – ein Ort der Tat
Psychische Gewalt als Alltagsphänomen – auch wir sind Täter/innen und Opfer. Eine
Tatsache, die uns erschrecken darf, aber nicht schockieren, die uns betroffen machen
darf, aber nicht handlungsunfähig.
Wenn wir in der bisherigen Darstellung den Fokus auf die Täterschaft im Bereich Schule
gerichtet haben, wollen wir dennoch nicht vergessen, wie sehr am Schulgeschehen
Beteiligte auch Opfer des Phänomens „Psychische Gewalt“ sein können und de facto
auch sind.
Gestatten Sie uns auch jene Perspektive, die Täterinnen und Tätern überwiegend
fehlende Vorsätzlichkeit der Tat unterstellt.
Denn welche Personengruppe im Kontext Schule wir auch betrachten – Eltern,
Schüler/innen, Lehrer/innen, Schulleiter/innen, Vertreter/innen der Schulbehörde – wir
sind überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit der Problembeteiligten sich nicht
kollektiv entschlossen hat, Bösewichte und Gewalttäter/innen zu werden und zu sein.
Nein! Und das entschieden!
Denn das Gegenteil ist der Fall: Was geschieht, firmiert unter lautersten Absichten und
bei hohen Erwartungen und Zielen.
Aber es geschieht auch – und das ist unsere zweite Hypothese – in Unkenntnis, im
Zustand der Kantschen Unmündigkeit bezüglich grundlegender Kenntnisse menschlicher Psychodynamik und Kommunikation.
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„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit.“
(Kant).
Aufklärung versus Schuldzuweisung, Aufklärung im Sinne des Klarstellens, der klärenden Einsicht des Problembewusstseins, der Exploration des eigenen Selbst, der
Erkenntnis. Aufklärung im Sinne der Selbst-Erkenntnis.
Schule ist aber auch Ort der Tat in anderer Hinsicht:
Schule als Institution, die alle Kinder und Jugendlichen durchwandern müssen, birgt unendliche Chancen, all das zu lernen, was andernorts nicht gelernt werden konnte.
Schule als Ort der Tat, der Handlung, wo nachgeholt werden darf, wozu es andernorts
keine Gelegenheit gab, wo es möglich sein muss, Fehler zu machen, die nicht sanktioniert, sondern als Gelegenheit, neue Lösungsansätze zu finden, begrüßt werden.
Schule als Ort, der Probehandeln nicht nur ermöglicht, sondern nachgerade die
Bedingungen für dieses bereitstellt, Bedingungen, die da sind:
l vielfältige Beziehungsangebote,
l Echtheit,
l Flexibilität,
l Einfühlung,
l Erleben der eigenen Fähigkeiten und Grenzen
l und ein offenes Angebot von Zeit und Raum.
Das Ziel der Bemühungen im Kontext der genannten Bedingungen hieße dann das
Erreichen personaler Kompetenz als der Möglichkeit, sich selbst im Umfeld wahrzunehmen, Bedürfnisse und Interessen adäquat zu formulieren und zu vertreten und Sinn im
persönlichen und im Gruppen-Leben zu finden.
Schule ist auch dieser Ort der Tat.
Schuleingangsphase, Sarah, 8 Jahre alt, steht im Klassenzimmer. Non-verbal artikuliert
sie Verzweiflung und Hilflosigkeit und teilt der Lehrerin mit:
„Meine Oma hat gesagt, der Name Sarah gefällt ihr nicht.“
Die Lehrerin: „Das muss aber ganz schwer für dich sein.“
Sarah setzt sich auf den Schoß der Lehrerin und beginnt zu weinen.
Lehrerin, streichelt Sarah: „Das tut aber sehr weh.“
Andere Kinder aus der Gruppe verlassen nach und nach ihre Arbeit und wenden sich
Sarah zu:
„Hör einfach nicht hin!“
„Wenn sie das sagt, sag ihr, dass dir ihr Name auch nicht gefällt.“
„Sprich einfach einen Tag lang nicht mit ihr!“
Die Kinder sind ganz nah bei Sarah angekommen und bieten ihre jeweils eigenen
Lösungen an. Sarah spürt Interesse an ihrem Problem und fühlt die innere
Verbundenheit, kann zwar keine dieser Lösungen als die ihre anerkennen, fühlt sich aber
angenommen und getröstet, hört zu weinen auf und sagt: „Ich werd’ die Oma anrufen.“
Wie sonst könnte sich personale Kompetenz eines Kindes äußern?
Worin äußert sich die personale Kompetenz der Lehrerin?
„... die Gelegenheit ist flüchtig ...“
Durch die offene Wahrnehmung und die einfühlende Reaktion der Lehrerin, die sofort
Raum und Zeit zur Verfügung stellt, die nicht auf Fortsetzung der Arbeit beharrt, entsteht
eine Atmosphäre von Geborgenheit, in der die Kinder unaufgefordert ganz frei und entsprechend ihren Fähigkeiten Handlungsmöglichkeiten anbieten. Bewertungen fehlen.
92
Weil die Lehrerin diesen äußeren Rahmen der Freiheit gibt, ermöglicht sie jedem einzelnen Kind einen angstfreien Zugang zur eigenen kreativen Möglichkeit.
Niemand muss überzeugen, niemand muss überzeugt werden.
Frei von Bewertung kann Sarah zuhören und gelangt zu der ihr adäquaten eigenen
Lösung. Alle angebotenen Lösungswege bedeuten eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der beteiligten Kinder.
Das sind Sternminuten der Pädagogik, die sich sogar als Sternstunden herausstellen,
da Sarah frei von Bewertung zuhören kann und so zu der ihr eigenen Lösungsmöglichkeit
gelangt.
Und Sternstunde der Pädagogik auch daher, weil dieses Miteinander beweist, dass alle
angebotenen Lösungsmöglichkeiten Sinn machen, nämlich jeweils für den Anbieter bzw.
die Anbieterin. Und die Gesamtheit der Lösungswege bedeutet zudem eine Möglichkeit
zur Erweiterung des Handlungsspielraumes aller beteiligten Kinder, auch derjenigen, die
sich nicht direkt involviert haben, sind sie doch Hörende. Alle Kinder und auch die
Lehrerin erleben, dass es zu einem Problem viele Lösungsmöglichkeiten gibt.
Und das ist Freiheit: aus dem Angebot wählen dürfen, nicht müssen, und mit dem eigenen Lösungsansatz selbstbestimmt zu entscheiden.
Wäre da nur nicht die Angst ...
„... der Versuch ist gefährlich, die Entscheidung schwer ...“
Welche Ängste können eine Lehrerin geradezu heimsuchen, wenn sie sich auf einen derartigen Versuch einlässt? – Gedanken wie
... und wenn jetzt alle die Arbeit verlassen?...
... und wenn ein Streit unter den Kindern um die beste/die einzige Lösung ausbricht?...
... und wenn Sarah untröstlich weiterweint?...
... und wenn ich selbst die beste Lösung nicht finde?...
... und wenn meine beste Lösung von Sarah nicht angenommen wird?...
... oder wenn Sarah eine Lösung wählt, die ich nicht für gut halte?...
... und wenn die (schon bekannte) Oma auf einmal vor der Klassentür steht?...
... und wenn ... und wenn ... und aber ... und wenn ... und wenn und aber ...
... und tatsächlich: Manchmal wird alles ganz anders und viel schwieriger als erwartet.
Na wunderbar! Jetzt gilt es für die Lehrerin, neue Möglichkeiten in der Schwierigkeit zu
entdecken und eine Erweiterung ihres Handlungsspielraumes erfahren zu dürfen.
Nannten wir nicht Schule einen Ort des Lernens für alle Beteiligten?
„... die Kunst ist lang ...“
In unserem Zitat geht es um die Kunst, und die Kunst der Beziehungsfähigkeit stellt ohne
Zweifel hohe Anforderungen an Lehrer/innen. Diese Kunst setzt lebenslanges Lernen an
der eigenen Persönlichkeit voraus.
Und selbst bei besten Voraussetzungen einer reifen, eigenverantwortlichen LehrerinnenPersönlichkeit besteht die Gültigkeit der aphoristisch zitierten Tat-Sachen: die Kürze der
Zeit, die Flüchtigkeit der Gelegenheit, die Gefährlichkeit des Versuches und die
Schwierigkeit der Entscheidung.
Nochmals: Selbst unter besten Voraussetzungen kann es möglich sein, dass
Lehrerinnen ihr eigenes Gefühl der Hilflosigkeit entweder nicht von dem des Kindes unterscheiden können oder es nicht als Ausdruck der Hilflosigkeit des Kindes identifizieren
können.
Steht das eigene Erleben im Vordergrund, ist der freie Blick auf die psychische Realität
des Kindes nicht möglich.
Diese Perspektive erst würde die Annahme des Kindes sowie Sympathie und Solidarität
für seine Situation ermöglichen.
93
Das Gefühl der Hilflosigkeit im Kind – oft bedingt durch sein bisheriges Erleben und
Mangel an Handlungsalternativen – und daraus abgeleitete Inszenierungen zeigen die
Verzweiflung fehlender Ich-Stärke.
Kann ein Lehrer/eine Lehrerin das eigene Erleben als Übertragung der Gefühlswelt des
Kindes erkennen, bleibt seine/ihre Handlungsfähigkeit bestehen. Der/Die Lehrer/in wird
in der Beziehung weiterhin bemüht sein, den Selbstwert des Kindes zu erhalten und seine
Entwicklung zu fördern.
„ Ach Gott! Die Kunst ist lang
Und kurz ist unser Leben. Mir wird,
Bei meinem kritischen Bestreben,
Doch oft um Kopf und Busen bang.
Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben,
Durch die man zu den Quellen steigt!
Und eh man nur den halben Weg erreicht,
Muß wohl ein armer Teufel sterben.
(Wagner in „Faust“)
“
Und wie sind nun „die Mittel zu erwerben, durch die man zu den Quellen steigt“?
Lehrer/innen werden im Schulalltag immer wieder mit eigenen Bedürfnissen konfrontiert,
in der Person des Schülers/der Schülerin begegnet jeder Lehrer/jede Lehrerin immer
auch sich selbst. Gleichzeitig stellen die Bedürfnisse des Kindes höchste Anforderungen
an Lehrer/innen, zusätzlich zu den eigenen, meist über-fordernden Erwartungen. Hier
ist die Fähigkeit der Lehrer/innen gefordert, die eigenen Gefühle als solche zu erkennen
und sie in Bezug zur aktuellen Situation zu setzen. Das bedeutet einen Wechsel der
Perspektive: weg vom Verhalten, hin zum Erleben.
In unserer Illustration durch die Schülerin Sarah hieße die Perspektive „Verhalten“, dass
sich die Lehrerin auf das Weinen konzentriert, auch darauf, dass andere Schüler/innen
den Arbeitsplatz unaufgefordert verlassen.
Die Lehrerin in unserem Beispiel richtet den Fokus jedoch auf das Erleben und initiiert
damit nachhaltige Erfahrungen für alle Beteiligten, Lernen eben.
Ohne Kenntnis der jeweils eigenen Persönlichkeitsstruktur, also ohne entsprechende
Selbsterfahrung, fehlt in der aktuellen Situation eine tatsächliche Wahlmöglichkeit. Die
eigene Befindlichkeit, nämlich die der Lehrerin, geht bevor und bestimmt die Antwort an
das Kind.
Kehren wir noch einmal zu unserem ersten Beispiel zurück: der Schüler Patrick, der,
„Peppo, hopp!“, die Puppe ergreift und in seinem Angebot an die Lehrerin letztendlich
nicht wahrgenommen wird.
Uns fällt auf, dass die Lehrerin mit der Aussage „Ich halte ihn sonst nicht aus.“ eine
Grenze erkennt und dadurch Kompetenz beweist. Die Grenzen wahrzunehmen bedeutet dann Erkenntnis, wenn die Lehrerin daraus die Bereitschaft zu weiteren Fragen entwickeln kann.
Nietzsche sagt: „Werde, der du bist!“, und wir denken, diese Aufforderung oder
Forderung an den Menschen impliziert als erste Frage diese: Wer bin ich? Und unmittelbar daran anschließend: Was brauche ich, um zu werden, wer ich bin?
Für die Lehrerin heißt das: Was brauche ich, um diese Situation bewältigen zu können?
Unterstützt werden unsere Thesen durch ein, wie uns scheint, ganz besonderes Zitat von
Hartmut von Hentig, der schreibt:
„Die Persönlichkeit des Lehrers sei sein bestes Curriculum.“
Persönlichkeitsbildung aber ist ein dynamischer Prozess und durch Aus- und
Weiterbildung niemals zu vollenden, sehr wohl aber durch diese anzubieten, zu initiieren, zu begleiten und letztendlich auch immer wieder zu fordern.
94
Bleibt das Vertrauen: das Vertrauen in uns selbst und in die eigenen Fähigkeiten, in die
Dynamik der eigenen Entwicklung und in die der uns anvertrauten Kinder.
Entwicklung lässt sich nicht verordnen. Sie geschieht zum einzig möglichen und daher
richtigen Zeitpunkt. Manchmal wie zur Bestätigung, und manchmal zu unserer Überraschung. Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit!
„ An einem dürren Ast
Ist eine Blüt’ erblüht
Hat sich heut nacht bemüht
Und nicht den Mai verpaßt.
Ich hatt’ so kein Vertraun
Daß ich ihn schon verwarf
Für Anblick und Bedarf
Hätt ihn fast abgehaun.
(Bert Brecht)
“
95
„Da steh ich nun, ich armer Tor,
und bin so klug als wie zuvor“
„Entlastungsstrukturen“
Referent: Dr. Stefan Allgäuer
Was braucht es für Bedingungen, dass wir Hilfsstrukturen anbieten können, die tatsächlich auch bei denjenigen Entlastung erreichen, die von Gewalt, von psychischer und anderer Gewalt betroffen sind?
Diesen Fragen will ich nachgehen. Doch dazu müssen wir zuvor sozusagen einen Blick
hinter die Kulissen werfen.
Im Wechselbad der Gefühle
Alle, die wir im psychosozialen Umfeld arbeiten, arbeiten in einem Spannungsfeld:
Einerseits müssen wir uns als Profis unserer Schwächen, unserer Unzulänglichkeiten
klar sein, müssen uns unser Nicht-Erreichen und manchmal erfolgloses Bemühen offen
eingestehen.
Andererseits müssen wir immer wieder dokumentieren, nachweisen, begründen, erklären, dass das, was wir tun, auch effektiv ist, Resultate bringt, notwendig ist – denn
sonst bekommen wir keine Finanzierung.
In diesem Wechselbad der Gefühle befinde auch ich mich oft in meiner Arbeit.
Wenn man das Thema psychische Gewalt und andere Gewalt in all seiner Differenziertheit anschaut, dann sieht man vier unterschiedliche Handlungsfelder für alle, die in diesem Bereich tätig sind. Damit meine ich nicht nur Profis, nicht nur jene, die dafür bezahlt
werden, sondern alle, die in einen bestimmten Bereich dafür zuständig sind und die entsprechende Kompetenz mitbringen; das sind auch Eltern, das sind natürlich die
Pädagogen und Pädagoginnen, sind viele andere mitwirkende Personen auch.
Die vier Handlungsfelder von psychischer Gewalt
+
+
subjektive Gewalterfahrung:
Behandlung
und Unterstützung
S
U
B
J.
massive, sichtbare Gewalt
und Reaktion:
Behandlung, Schutz
und Maßnahmen
3
E
R
L
E
B
E
N
1
Alltagssituationen:
Prävention, Erziehung
und Gesellschaft
Gewalt mit wenig
(sichtbarer) Reaktion:
Beobachtung, Begleitung,
Sorge und Sicherung
4
2
–
96
–
INTENSITÄT
++
Wenn wir das Thema „psychische Gewalt“ und „Gewalt“ anschauen, dann gibt es zwei
unterschiedliche Vektoren, die eine Rolle spielen:
zum einem (untere waagrechte Linie) der Vektor der Intensität des Erlebens, also wie
stark die Intensität der Gewalt ist, wie stark die Gewalt scheinbar oder wirklich ist;
auf der anderen Seite die vertikale Linie, wo wir unterscheiden können, wie ein Kind oder
ein Jugendlicher jeweils die unterschiedliche Gewalt erlebt, denn das ist ja nicht immer
das Gleiche.
Wenn man das dann in einem einfachen Schema auflöst, ergeben sich ganz grob und
ganz unscharf vier unterschiedliche Handlungsfelder für Entlastungsstrukturen.
Und diese vier Handlungsfelder sind:
zum einen jener Bereich (1, rechts oben), in dem es eine hohe Intensität von Gewalt gibt
(wie auch immer die ausgesehen hat). Und auf der anderen Seite ist jener Bereich, wo
ein starkes subjektives Erleben stattgefunden hat, wo Kinder, Jugendliche entsprechend
stark reagieren, in welche Richtung auch immer. Das ist der Bereich, den wir uns in den
heutigen Referaten schon vielfach angeschaut haben, wo es Behandlung, Schutz,
Maßnahmen auf allen Ebenen braucht, wo es sehr intensive Hilfs- und Helfermaßnahmen braucht.
Der zweite Bereich (2, rechts unten), in dem viel Gewalt aufscheint und viel Gewalt vorhanden ist, in dem aber Kinder, Jugendliche wenig oder sichtbar nicht besonders darauf
reagieren.
Das ist jener Bereich, wo wir all jene Maßnahmen und Handlungen setzen müssen, bei
denen es darum geht, zu beobachten, zu begleiten, Sorge und Sicherung zu gewährleisten. Hier müssen wir genau schauen, ob diese subjektive Bewältigung nur eine scheinbare oder eine wirkliche ist. Vielleicht wird hier etwas nur versteckt und kommt dann später in einer anderen Form wieder hoch.
Das ist jener Bereich, wo gerade auch die Mitarbeit von Pädagogen und Pädagoginnen,
Eltern, anderen Berufen wie Kindergärtner/innen usw. gefordert sind, weil wir – die
Spezialist/innen – in verschiedenen Situationen nicht anwesend und in vielen
Lebensbezügen nicht nahe genug „dran“ sind.
Der dritte Bereich (3, links oben) ist jener, in dem Menschen subjektiv sehr intensiv auf
irgendwelche Dinge reagieren, die mit Gewalt zusammenhängen, wo aber auf der anderen Seite der Zusammenhang mit der Gewalt – mit dem, was tatsächlich passiert ist
– noch nicht oder nicht eindeutig festgestellt werden kann.
Auch das kennen Sie wahrscheinlich aus Ihrer Arbeit – und gerade hier ist es wichtig –
hier sind vor allem die ambulanten Dienste und Angebote gefragt –, das sehr ernst zu
nehmen und den Menschen die Möglichkeit zu geben, in Kontakt mit sich, mit ihrem
Erleben und ihrem Erfahren zu kommen; das ist eine ganz andere Form der
Unterstützung in diesem Bereich.
Und viertens jener Bereich (4, links unten), wo es um die scheinbaren Alltagssituationen
geht, wo es darum geht, im präventiven Sinn, im pädagogischen Sinn, im Sinn von
Erziehung, im Sinn von Sozial- und Gesellschaftspolitik sensibel zu werden. Sensibel zu
werden überhaupt im Umgang mit dem Thema Gewalt mit- und untereinander.
Das also sind die vier Handlungsfelder.
Ich werde im Folgenden zwei Bereiche zum Thema „Entlastungsstrukturen“ ausführen
und dann noch einen kleinen dritten Punkt zum Thema „Alltagssituationen und
Prävention“.
Auch die Kuh muss ins Zimmer
Die erste Frage ist: „Was müssen wir tun, damit wir bei Kindern, Jugendlichen, die im
Gewaltkontext mit Gewalt konfrontiert waren, eine Entlastung erreichen?“
Ich möchte diese Frage sehr bewusst immer wieder so stellen, weil wir als Profis nicht
nur darauf schauen dürfen „Was ist die richtige Methode? Was muss man tun? Was ist
97
Vorschrift?“ usw., sondern eben immer wieder darauf schauen müssen: „Was können wir
tun, damit der oder die Betroffene auch tatsächlich etwas spürt und tatsächlich etwas in
ihm/in ihr bewirkt wird?“
Was braucht es, damit Kinder und Jugendliche Entlastung erleben?
Wir haben es da mit einem schwierigen und komplexen Thema zu tun, und das möchte
ich mit einer kleinen Geschichte noch etwas verdeutlichen.
Oft können wir
erst helfen, wenn
Gewalt eskaliert.
Ein Mann kommt zum Meister und sagt: „Meister, ich brauche dringend Hilfe, sonst werde
ich verrückt. Ich lebe mit meiner Frau, den Kindern und Schwiegereltern in einem einzigen Raum. Wir sind mit unseren Nerven am Ende, wir brüllen uns an und schreien uns
an. Es ist die Hölle. Was soll ich nur tun?“
„Versprichst du alles zu tun, was ich dir sage?”, fragt der Meister.
„Ich schwöre, ich werde es tun“, antwortet der verzweifelte Mann.
„Gut. Wie viele Haustiere hast du?“
„Eine Kuh, eine Ziege und 10 Hühner.“
„Gut, nimm sie alle zu dir ins Zimmer, dann komm in einer Woche wieder“.
Der Hilfesuchende war entsetzt, aber er hatte versprochen zu gehorchen. Also nahm er
die Tiere ins Haus. Eine Woche später kam er wieder, ein Bild des Jammers.
Er stöhnte: „Ich bin ein Wrack; der Schmutz, der Gestank, der Lärm, wir sind alle am Rand
des Wahnsinns.”
„Nun geh nach Hause“, sagte der Meister „und bring jetzt die Tiere wieder nach draußen.“
Der Mann rannte den ganzen Heimweg und kam am nächsten Tag freudestrahlend zum
Meister zurück.
„Wie schön ist das Leben. Die Tiere sind draußen, die Wohnung ein Paradies, so ruhig,
so sauber, so viel Platz.“
Ich hab das Beispiel nicht darum gebracht, weil man uns Helfern oft vorwirft, dass wir bestenfalls die Probleme lösen, die wir selber verursachen.
Ich habe es deswegen gebracht, weil wir uns oft und gerade bei diesem Thema in der
schwierigen Situation befinden, abwarten zu müssen, bis Gewalt eskaliert. Erst dann
können wir helfen.
Wir müssen wie im Bild dieser Geschichte noch die Kuh und die Ziegen hineinstellen,
um überhaupt etwas tun zu können.
Das trifft vor allem oft die Helfer im öffentlichen Bereich, aber manchmal auch im freiwilligen Bereich. Die Menschen müssen oft erst so viel Druck, so viel Belastung haben,
dass sie dann auch Hilfe suchen und Hilfe annehmen.
Im unten stehenden Schaubild sind 4 Dimensionen skizziert, die beschreiben, welche
Art von Hilfe bei oder nach Gewalterfahrungen entlastend wirkt:
Entlastung bei/nach Gewalt
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rasch, konkret, spürbar
(multi-)professionell
klar wertend
ganzheitlich
1) Gewalt fordert: rasches konkretes Handeln
Entlastung nach Gewalt braucht zum einen rasches, konkretes für den oder die
Betroffenen spürbares Handeln.
Sie wissen, Gewalt ist häufig etwas, das unmittelbar erfolgt, das unmittelbar erlebt wird,
das zumeist ungeplant und unvorbereitet kommt, und Menschen, die deshalb Hilfe suchen, brauchen ganz rasch etwas ganz Konkretes.
Um zu entlasten, müssen wir also rasch konkrete Schritte vor- und wahrnehmen.
Solche Schritte sind: Überlegen: Was tut wer? Was geschieht als Nächstes? Was mache ich?
All das ist auch mit dem betroffenen Kind oder Jugendlichen zu kommunizieren.
Auch wenn Kinder das vielleicht noch nicht ganz verstehen, so spüren sie dann doch,
dass da jetzt etwas geschieht.
Hilfe, Entlastung erfordert also rasches, konkretes, eben für die Betroffenen spürbares
Handeln.
Ein Beispiel: In einer kleinen Gemeinde wurde eine Missbrauchsituation bekannt.
Ein junger Erwachsener lockte immer wieder jugendliche Burschen, die er über seine
Arbeit als Jugendführer kennen gelernt hatte, zu sich nach Hause. Dort zeigte er ihnen
pornografische Videos usw. und missbrauchte die Jugendlichen zum Teil auch.
Um zu entlasten,
müssen wir rasch
konkrete Schritte
vor- und wahrnehmen.
Schon als die ersten Erhebungen und Ermittlungen liefen, wurde die „Geschichte“ öffentlich. Medien hatten irgendwie Wind davon bekommen und berichteten darüber. Und
das zu einem Zeitpunkt, als ein Teil der betroffenen Eltern noch gar nichts davon wusste. Es wurde öffentlich, bevor einige der betroffenen Kinder und Jugendlichen überhaupt
gewusst haben, dass ihre Erfahrungen jetzt an die Öffentlichkeit kommen werden.
In dieser Situation war (und ist) es ganz besonders wichtig, so rasch wie möglich alle
Beteiligten und Betroffenen zusammenzuholen. Es muss mit den Eltern und soweit möglich mit den Kindern, den Lehrer/innen, mit dem Pfarrer, mit dem Arzt/der Ärztin, also wirklich mit allen Beteiligten darüber gesprochen werden, was jetzt geschehen wird, wer was
tun wird etc.
Missbrauchsituation
in einem kleinen
Dorf – Medien
üben psychische
Gewalt aus.
Da geschah plötzlich etwas ganz Interessantes: Am ersten Tag sind die Zeitungen voll
mit „Missbrauch in der Gemeinde X“ und „Jugendführer missbraucht Kinder“ usw. Zum
Teil wurden in den Zeitungen Bilder gezeigt, die zur Folge hatten, dass sich die Kinder
nicht mehr aus dem Haus trauten, auch die, die gar nichts damit zu tun hatten. Es wurde
also nochmals und ganz massiv psychische Gewalt ausgeübt.
Am nächsten Tag jedoch waren die Medien plötzlich voll von Berichten wie „Hilfe in der
Gemeinde X“.
Das war der erste Schritt, um die Situation zu deeskalieren. Man sprach nicht mehr nur
über die Dramatik der Geschehnisse, sondern über den Weg, wie man jetzt möglichst
allen Beteiligten weiterhelfen kann.
2) Gewalt fordert: werten, ohne zu entwerten
Ein zweiter Punkt: Im Umgang mit Gewalt sind wir als Helfer gefordert, klar zu werten.
Und das ist durchaus etwas anderes als das, was wir in anderen Bereichen lernen; wo
wir als Helfer nämlich gefordert sind, neutral, objektiv oder einfach zuhörend zu sein.
In der Arbeit mit dem Thema Gewalt sind wir gefordert, klar zu werten, nicht abzuwerten
und nicht andere schlecht zu machen, aber doch deutlich annehmend, unterstützend,
akzeptierend zu sagen „Das ist falsch. Das ist ein Verhalten, das nicht in Ordnung ist“
und dem Kind, dem Jugendlichen so auch quasi diesen Part zu verstärken oder eine Zeit
lang auch abzunehmen.
Die schwierigste Arbeit ist diejenige mit Opfern, die sagen: „Da war doch nichts. Der hat
doch nix gemacht. Den darf man doch nicht verurteilen.“
Normalerweise
sollen Helfer/innen
neutral, objektiv
oder einfach zuhörend sein. Hier müssen sie klar werten.
99
Ihnen in langer Arbeit deutlich zu machen, dass ihr subjektive Erleben, das vielleicht
zwiespältig ist, etwas anderes ist als ein objektives „Richtig“ oder „Falsch“ und dass es
eben Situationen gibt, die so nicht richtig sind, die also Übergriffe sind, ist eine schwierige Aufgabe.
Ich denke, Entlastung braucht dieses klar Wertende, ohne dass wir dadurch abwerten,
ohne dass wir dadurch den Anderen schlecht machen, ohne dass wir dadurch etwas
kaputt machen.
3) Gewalt braucht: multiprofessionelles Handeln
Wir müssen der
skeptischen Öffentlichkeit deutlich
machen, dass gerade
mit Hilfe unserer
Disziplinen Entlastung gebracht
werden kann.
Ein dritter Punkt: Entlastung bei/nach Gewalt braucht professionelles oder zum Teil multiprofessionelles Handeln.
Gerade in einer Zeit, wo das Soziale mehr mit Sozialschmarotzer assoziiert ist als mit
Solidarität, sollten wir, die Professionellen in diesem Bereich, auch deutlich machen, dass
es hier Fachkompetenz braucht, um Kindern und Jugendlichen zu helfen.
Wir machen uns durch unsere – berechtigten – Zweifel oft schlechter, als wir sind.
Die professionellen Hickhacks oder die öffentlichen Diskussionen unter verschiedenen
Berufsgruppen bzw. Repräsentant/innen von unterschiedlichen Institutionen tun uns
keinen guten Dienst.
Wir sollten viel mehr einer doch sehr skeptischen Öffentlichkeit deutlich machen, dass
unsere Disziplinen – die pädagogischen, die sozialarbeiterischen, die psychologischen
und alle anderen – ganz wichtige Bestandteile für eine Entlastung bringen können und
müssen.
4) Gewalt braucht: ganzheitliche Betrachtung
Das soziale Umfeld,
die Beziehung zu
den Täter/innen,
alles muss mit
einbezogen werden.
Und schließlich als Viertes: Es ist wichtig, im Sinne der Entlastung auch ganzheitlich hinzusehen.
Ganzheitlich meine ich hier in dem besonderen Sinn, dass man sich vergegenwärtigen
und wissen muss, dass das Kind in einem spezifischen Umfeld lebt, dass das Kind möglicherweise in ambivalenten Beziehungen mit den Tätern konfrontiert ist, und im Sinn von
Entlastung gibt es immer nur eine ganzheitliche Weiterentwicklung und nicht nur einen
Teil daraus. Da sind oft Zwischenschritte notwendig, es braucht Zeit und Reifung.
So weit zum ersten Teil, zur Entlastung.
Als Geschäftsführer frage ich mich weiters: Wie muss ich Organisationen organisieren,
Systeme und Arbeitsstrukturen organisieren, damit es uns eher gelingt, Entlastung auch
tatsächlich in Bewegung zu bringen?
Organisation der Organisation
Sie kennen vielleicht folgende Geschichte.
Gott betrachtete nach der Erschaffung der Welt zufrieden sein Werk. Und auch der Teufel
betrachtet die Schöpfung mit Wohlgefühl, auf seine Weise natürlich.
Sichern die Strukturen, dass das,
worum es geht, im
Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit
steht?
100
Als er ein Wunder nach dem anderen begutachtete, da rief er immer wieder „Wie gelungen ist das alles. Lasst es uns organisieren und damit alle Freude nehmen.”
Wir haben mittlerweile ein paar tausend Jahre Erfahrung mit der Frage der Organisation
und der Struktur und haben gelernt, wie man auch Strukturen so organisieren kann, dass
sie etwas zielorientierter sind und nicht nur destruktiv.
Und wenn Sie Ihre eigenen Arbeitsstrukturen – seien es Ihre Organisationen oder das
Gesamtsystem anschauen – betrachten Sie diese immer unter zwei Aspekten:
l Zum einen nach der Frage „Sichern die Strukturen, dass das, worum es geht, im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht?”
Viele Strukturen sind so konstruiert, dass dem nicht so ist. Da stehen dann Dinge
wie, dass richtig abgerechnet ist, dass man keinen Schilling zu viel ausgibt im
Mittelpunkt. Also organisieren Sie Strukturen so, dass das im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, was aus unser Perspektive im Zentrum stehen soll: dass es uns
gelingt, Kindern und Jugendlichen bei und nach Gewalt zu helfen!
Tragen die Strukturen dazu bei, dass
es den Mitarbeiter/innen leicht gemacht
wird, das zu tun,
wofür sie bezahlt
werden?
l Zweitens. Stellen Sie sich die Frage: „Tragen die Strukturen dazu bei, dass es den
Mitarbeiter/innen leicht gemacht wird, das zu tun, wofür sie angestellt sind?“
Auch hier muss ich mich manchmal selbstkritisch fragen und beobachten, dass es
oft in Organisationen, in Teams, in Bereichen um ganz andere Dinge geht.
Aber eine Organisation hat ausschließlich den Zweck, Rahmenbedingungen dafür
zu schaffen, dass die Menschen, die darin arbeiten, das tun können, wofür sie bezahlt werden.
Auch da könnten wir eine ganze Menge weiterentwickeln.
Der Teufel steckt – in der Struktur
Fragen wir uns weiter: Wo ist der Teufel bei den Strukturen am Werk?
Nur zwei Aspekte dazu. Zum einen führen wir immer wieder Ablenkungs- und
Dauerbrennerdiskussionen, die nichts bringen. Fragen wie „Was ist besser, privat oder
öffentlich, GmbH oder Verein?“ kennen Sie. Ich glaube, aus dem Aspekt der Hilfe
heraus sollten wir nur darauf schauen, was sind die Stärken und die spezifischen
Bedingungen von einem Bereich, und was kann jemand besonders gut.
Diese Fragen kann man auf anderer Ebene diskutieren, wenn man viel Zeit hat. Da gäbe
es viel dazu zu sagen, aber im Sinne der Hilfe sollten wir Folgendes in den Mittelpunkt
stellen: Was können wir besonders gut im Hinblick auf diese Kinder, Jugendlichen, die
uns brauchen?
Zum Zweiten achten Sie auf Krisensymptome von Institutionen oder Organisationen.
Zum Beispiel, wenn es zu viele Hierarchieebenen gibt, die für einen einzelnen „Fall“
zuständig sind oder wenn es zu viele unterschiedliche Bereiche gibt, die zusammenarbeiten müssen, damit man dann effektiv etwas tun kann; oder auch wenn viele
Besprechungen mit vielen Menschen notwendig sind, damit man in einer konkreten
Situation etwas tun kann. Das alles sind Hinweise, dass man strukturell im Sinne der
Zielsetzung etwas besser machen könnte.
Wenn es zu viele
Hierarchieebenen
gibt, die für einen
einzelnen „Fall“
zuständig sind; wenn
es zu viele unterschiedliche Bereiche
gibt, die zusammenarbeiten müssen, damit man effektiv etwas tun kann; wenn
viele Besprechungen
mit vielen Menschen
notwendig sind,
dann sollte strukturell dringend etwas
geändert werden.
Worum geht es bei den Strukturen? Das folgende Diagramm soll wiederum vier
Dimensionen aufzeigen:
Strukturen sollen
Zugänglichkeit sichern
professionelle Arbeit
ermöglichen
Klienten- und Prozessorientierung ermöglichen
Schutz bieten
101
ad 1) Die Tür offen halten
Strukturen sollen so wirken, dass sie für alle jene, die Hilfe brauchen – in diesem Fall
Kinder und Jugendliche – zugänglich sind.
Wir müssen lernen,
die Sprache unserer
Klienten und
Klientinnen zu
sprechen.
Wie können wir unser Angebot so strukturieren, dass alle jene, die unsere Hilfe brauchen, also die betroffenen Kinder und Jugendlichen, dieses Angebot auch annehmen
können? Wie organisieren wir Niederschwelligkeit?
Welche Sprache sprechen wir, wenn wir an unsere Klientinnen und Klienten herangehen? Auf viele der Prospekte und Folder, die wir erstellen, können wir zweifelsohne stolz
sein. Aber die, die diese Folder eigentlich brauchen, verstehen sie nicht.
Wie können wir die Öffentlichkeitsarbeit so gestalten, dass wir so präsent sind, dass die,
die uns brauchen, auch wissen, dass es uns gibt?
Ich weiß, das kostet Geld. Da müssen wir mit unseren Geldgebern diskutieren, gut argumentieren, denn Geld für Öffentlichkeitsarbeit ist nicht selbstverständlich. Aber unter
dem Aspekt der Hilfe ist das ein ganz wichtiger Punkt.
Wir müssen so
präsent sein, dass
alle, die uns brauchen, auch wissen,
dass es uns gibt.
In diesem Zusammenhang sollten wir uns auch überlegen, mit welchem Image wir arbeiten und uns präsentieren möchten. Ich glaube, das Image „Wir sind arm, krank und
haben mit allen Problemen der Welt zu tun“ ist überholt.
Wir sollten uns vielmehr selbstbewusst präsentieren und in der Öffentlichkeit transportieren, dass wir verantwortungsbewusst und professionell Hilfe zur Selbsthilfe anbieten.
ad 2) Der Struktur den Teufel austreiben
Struktur muss
Professionalität
sichern.
Wie schon oben aufgezeigt, eine Struktur soll Professionalität sichern, soll sichern, dass
die Profis, die angestellt sind, die entsprechenden Rahmenbedingungen haben, um auch
effektiv arbeiten zu können.
Zweitens. Die Struktur soll so sein, dass die Mitarbeiter/innen Reflexionen machen,
lernen können, sich weiterentwickeln können.
Die Struktur soll die höchste Verantwortung bei den Menschen lassen und belassen, welche die konkrete Arbeit mit Kindern und Jugendlichen machen. Hierarchie kann das nicht
sichern.
ad 3) Sich an den Klienten orientieren
Wir sollten darauf achten, wie wir uns organisieren und an wem (an wessen Zielen und
Vorgaben) wir uns orientieren.
Wir bieten keine Produkte an. Wenn wir sagen, wir machen Mediation, wir machen
Psychotherapie in dieser und dieser Form, so denke ich, ist das eine Überbrückungshilfe, die wir brauchen.
Das, was wir in der Arbeit erreichen können, ist das, was in der Interaktion zwischen
Klient/Klientin und Helfer/Helferin entsteht. Und alle Methoden, die wir mit einbringen,
sind unser Rüstzeug, aber nicht das Produkt, das wir „verkaufen“. Und Kinder/Jugendliche sind die – wichtigsten – Beteiligten an diesem Prozess. Sie gestalten ihn mit und
machen ihn einmalig.
ad 4) Auch die Helfer/innen schützen
Viertens. Schließlich müssen Strukturen Schutz bieten. Schutz heißt auch Zeit, heißt
auch Anonymität, Schutz vor Bekanntheit usw., und wir müssen auch darauf achten, dass
wir uns selber als Helferinnen und Helfer schützen. Ich glaube, dass das eine wichtige
Aufgabe von Organisationen in diesem Bereich ist. Auch Helfer/innen sind immer wieder von Gewalt bedroht, von Diffamierung und dem Öffentlich-verurteilt-Werden.
102
Conklusio
Vor etwa 2000 Jahren ist ein Paradigmenwechsel im Umgang mit Gewalt im christlichen
Abendland vor sich gegangen.
Im Alten Testament lautete die Botschaft „Auge und Auge, Zahn um Zahn“.
Das neue Testament brachte dann eine neue Botschaft und verbreitete sie in der Welt:
„Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halte ihm auch die rechte Wange
hin“.
Wir haben es 2000 Jahre mit diesem System probiert. Ich glaube nicht, dass das der
Weisheit letzter Schluss ist, und denke, wir sollten das weiterentwickeln.
Ich habe bei der letzten Enquete die Frage gestellt, was denn das Gegenteil von Gewalt
sei. Ich glaube nicht, dass das die Gewaltlosigkeit und das ewige Glück sind, das können wir höchstens in einer anderen Welt erreichen.
Das Gegenteil von
Gewalt ist nicht
Gewaltlosigkeit.
Ich glaube, dass das Gegenteil von Gewalt etwas ganz Banales ist: Wir sollten uns
bemühen, unsere Unterschiedlichkeiten, unser Anderssein und unsere Verschiedenheit
zu ertragen!
Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte schließen:
Ein paar Jäger haben zur Büffeljagd ein Flugzeug gechartert. Der Pilot setzt sie ab, und
es wird vereinbart, wann er die Jagdgesellschaft wieder abholen wird.
Nach den vereinbarten Tagen kommt er mit dem Flugzeug wieder zum Treffpunkt.
Der Pilot wirf einen Blick auf die erlegten Büffel und sagt zu den Jägern: „Mit der
Maschine kann ich aber nicht mehr als einen Büffel transportieren. Die anderen müssen
Sie leider zurücklassen.”
Da antworten die Jäger: „Im letzten Jahr erlaubte uns der Pilot, zwei Tiere in einer
Maschine dieser Größe mitzunehmen.“
Der Pilot ist zwar skeptisch, sagt aber schließlich: „O.k., wenn Sie es voriges Jahr so gemacht haben, können wir es vermutlich wieder probieren.“
Die Maschine hebt ab, aber mit den Jägern und den zwei Büffeln an Bord kann sie kaum
an Höhe gewinnen, und so prallt sie gegen eine nahe gelegenen Berg.
Die Männer klettern aus dem Wrack heraus, blicken sich um, und ein Jäger sagt zu den
anderen: „Was glaubt ihr, wo wir sind?”
Da erwidert einer: „Ich glaube, wir befinden uns ungefähr zwei Kilometer links von der
Stelle, an der wir letztes Jahr abgestürzt sind.“
„Da steh ich nun, ich armer Tor“ war der Übertitel meines Referates. Wie können wir erreichen, dass es uns immer ein bisschen mehr gelingt, das Anderssein des Anderen zu
ertragen?
Ich glaube, wir könnten das erreichen, wenn wir das tun, was der Pilot hätte tun sollen,
nämlich den Mut zu haben, am richtigen Ort „ja“ und am richtigen Ort „nein“ zu sagen.
Wir könnten das erreichen, wenn wir das tun, was die Jäger hätten tun sollen, nämlich
aus der eigenen Erfahrung, aus der Erfahrung der Anderen und aus der Geschichte im
Leben und in der Welt zu lernen.
Und wir könnten das Aushalten unserer Unterschiedlichkeit und Vielseitigkeit erreichen,
wenn wir das tun, was die Büffel hätten tun sollen, nämlich am Leben zu bleiben und uns
selber zuzugestehen, dass wir verschieden und anders sein dürfen. Dann halten wir das
auch bei den anderen besser aus, und das ist die beste Prävention von Gewalt.
Wir müssen den
Mut aufbringen,
am richtigen Ort
„ja“ und am richtigen Ort „nein“ zu
sagen.
103
„Das Gute liegt uns oft so fern“
„Prognose versus Vorurteil: Stolperstein der Prävention“
Referentin: Dr. Eva Traindl
Kann eine Prognose gleichsam zu einem Vorurteil und so zum Stolperstein der
Prävention werden?
Die folgenden zwei Fälle sollen Ihnen zeigen, welchen Einfluss Prognosen auf die weitere Entwicklung eines Kindes haben können. Urteilen Sie selbst, ob die Prognose hier
zu einem Stolperstein der Prävention geworden ist.
Die Geschichten von „Anna“ und „Berta“
Auch wenn ich jetzt von den beiden Fällen parallel berichte, lagen zwischen den beiden
Geschichten Jahre.
Am Anfang verlaufen die beiden Fälle fast ident, erst im Verlauf entwickeln sie sich dramatisch auseinander.
Ein Mädchen wurde
im Alter von einem
Jahr fremduntergebracht, das andere
Mädchen lebt heute
noch bei seiner
Familie.
Ich stelle Ihnen also zwei Familien vor: Familie A. mit ihrer Tochter Anna und Familie B.
mit ihrer Tochter Berta.
Beide Kinder, Anna und Berta, habe ich von Geburt an betreut.
Das eine Mädchen wurde im Alter von einem Jahr fremduntergebracht, das andere
Mädchen lebt heute noch bei seiner Familie.
Ich werde Ihnen jetzt über das erste Lebensjahr dieser Kinder berichten.
Sie haben die Gelegenheit zu überlegen, welche Prognosen sich hier als richtig herausgestellt haben. Welche Vorhersagen – eine Prognose ist eine Vorhersage – wurden
möglicherweise durch Vorurteile beeinflusst, wo wäre Prävention möglich gewesen, und
wo war sie möglich?
Die Vorgeschichte
Ich erzähle Ihnen die Vorgeschichte, soweit sie mir damals bei der Geburt der Kinder bekannt war.
Familie A.
Mutter: 30 Jahre,
geistig behindert, hat
einen Sachwalter.
Vater: 40 Jahre,
keine geregelte
Arbeit, da er an
Depressionen leidet.
Anna, das Kind der Familie A., wird nach unauffälliger Schwangerschaft entbunden. Sie
ist unmittelbar nach der Entbindung beschwerdefrei. Annas Mutter ist 30 Jahre alt und
hat eine geistige Behinderung.
Vor ihrer Heirat mit Herrn A. lebte sie in einer Wohngemeinschaft für geistig behinderte
Menschen. Sie hat einen Sachwalter, das heißt, sie ist nur unzureichend im Stande, ihre
eigenen Belange wahrzunehmen.
Ihr Mann, Herr A., ist 40 Jahre alt. Er ist seit längerer Zeit arbeitslos. Er kann keiner
geregelten Arbeit nachgehen, weil er seit Jugendjahren an Depressionen und immer
wiederkehrenden Angstzuständen leidet. Er wohnt – bis zur Geburt seiner Tochter – bei
seiner Mutter.
Ich erfahre von dem Fall durch die zuständige Sozialarbeiterin, die mich informiert und
bittet, die medizinische Betreuung des Kindes zu übernehmen. Es besteht eine Auflage,
welche die Eltern verpflichtet, das Kind regelmäßig zu kinderärztlichen Untersuchungen
zu bringen.
104
Familie B.
Auch Berta wird nach unauffälliger Schwangerschaft entbunden und ist nach der
Entbindung beschwerdefrei.
Bertas Mutter ist 30 Jahre alt und hat eine geistige Behinderung. Sie arbeitete in einer
geschützten Werkstätte und besuchte die Sonderschule.
Sie wohnt bis zur ihrer Heirat bei ihrer Herkunftsfamilie. Auch sie hat einen Sachwalter,
da sie nicht im Stande ist, eigene Belange wahrzunehmen.
Herr B., ihr Mann, ist 42 Jahre alt. Er ist seit einem Arbeitsunfall Frührentner und leidet
seit diesem Unfall an epileptischen Anfällen.
Auch in diesem Fall wurde ich vom zuständigen Jugendamt – es war ein anderes
Jugendamt als bei der Familie A. – informiert, und die Sozialarbeiterin hat mich gebeten,
die medizinische Betreuung zu übernehmen; das vor allem deshalb, weil ich Bertas
Mutter schon von einer früheren Schwangerschaft und von einer früheren Geburt her gekannt habe.
Sie werden jetzt nach diesen Erstvorstellungen wahrscheinlich nicht wissen, welches
Kind in der Folge fremduntergebracht werden musste und welches nicht.
Mutter: 30 Jahre,
geistig behindert, hat
einen Sachwalter.
Vater: 42 Jahre,
Frührentner, leidet
an epileptischen
Anfällen.
Das erste Gespräch
Ich lerne die Eltern von Anna und die Eltern von Berta kennen, als sie zu mir in die
Ordination bzw. zu mir in die Elternberatung kommen.
Ich gebe Ihnen eine Beschreibung der Eltern, damit Sie sich vorstellen können, wie sie
ausgesehen und wie sie sich verhalten haben.
Annas Eltern
Annas Mutter, Frau A. ist sehr groß. Sie hat auffällige Gesichtsmissbildungen. Sie hat
sehr starke Zahnfehlstellungen. Sie kann ihren Mund nicht schließen und speichelt sehr
stark beim Sprechen. Ihre Kleidung ist vernachlässigt.
Herr A. ist ebenfalls sehr groß. Er wirkt sehr ungepflegt. Er trägt seinen sehr langen
Vollbart, der voller Essensreste ist.
Im Gespräch macht Herr A. einen sehr höflichen und gebildeten Eindruck.
Seine Frau antwortet auf Fragen mit stereotypen Sätzen oder Satzteilen, z.B. Oijoijoi oder
Jajaja.
Bei der Nachbesprechung mit der Sozialarbeiterin meint diese, dass die Mutter kaum in
der Lage sein werde, Anna zu versorgen. Von einer Fremdunterbringung hat das
Jugendamt nur deshalb bis jetzt Abstand genommen, weil der Vater sehr ernsthaft versprochen hat, seine Frau zu unterstützen. Außerdem findet die Familie noch
Unterstützung durch die väterliche Großmutter, bei der sie einstweilen wohnen können.
Die Kinderpflegerin wird bei Bedarf vorbeikommen und den Eltern helfen.
Man wird aber – und Sie sehen hier die erste Prognose – um eine Fremdunterbringung
nicht herumkommen.
Frau A. hat
Gesichtsmissbildung,
Zahnfehlstellung,
speichelt stark beim
Sprechen.
Herr A. wirkt sehr
ungepflegt, jedoch
höflich und gebildet
Sozialarbeiterin:
„Man wird um eine
Fremdunterbringung
des Kindes nicht
herumkommen.“
Nun zur Erstvorstellung von Berta.
Bertas Eltern
Bertas Mutter ist mir – das habe ich schon erwähnt – von früher her bekannt. Bertas
Mutter hat bereits eine Geburt hinter sich. Sie hat ihr Kind einige Jahre großgezogen, bis
es fremduntergebracht wurde.
Dieses Kind wurde fremduntergebracht, weil es, ebenso wie Frau B., eine Behinderung
hatte. Es handelte sich um eine geistige Behinderung, die zunehmend schwer wiegender
geworden ist. Weiters bestand bei diesem ersten Kind der Verdacht, dass die mütterliche
Großmutter das Kind misshandelt hat. Das war aber nur ein Verdacht. Das Kind wurde
105
Frau B.s erstes Kind
wurde fremduntergebracht. Unglücklich
über diesen Verlust,
will sie unbedingt
noch ein Kind: Berta.
Herr B. ist sehr
aggressiv; hat Angst,
dass sein Kind
ebenso wie das erste
Kind seiner Frau
fremduntergebracht
werden wird.
fremduntergebracht, und Bertas Mutter, Frau B., war sehr unglücklich über den Verlust
des ersten Kindes. Bei ihr hat ein sehr starker Kinderwunsch bestanden. Sie hat mehrmals versucht, das Kind aus dem Pflegeheim, in dem es untergebracht war, zu entführen.
Als sie gesehen hat, dass das keinen Sinn hat, und da sie zu dieser Zeit Herrn B. kennen gelernt hat, ist sie wieder schwanger geworden – mit Berta.
Herr B. wirkt in diesem ersten Kontakt auf mich ängstlich aber auch sehr aggressiv. Sein
Arbeitsunfall liegt schon lange zurück. Epileptische Anfälle bekommt er nur dann, wenn
er seine Medikamente nicht regelmäßig einnimmt. Bei oder nach diesen epileptischen
Anfällen ist es aber auch schon vorgekommen, dass er aggressiv geworden ist.
Herr B. äußert sehr aggressiv und sehr ängstlich seine Befürchtungen, dass dieses –
sein – Kind so wie das erste Kind seiner Frau in ein Heim kommen könnte. Er hofft aber,
dass jetzt alles in Ordnung kommt, weil er steht auf dem Standpunkt, „wozu hätte er denn
die Frau überhaupt geheiratet, wenn sich jetzt wieder das Amt in alles einmischt“. Er versteht die Auflage nicht.
Die ersten Lebensmonate
Beide Kinder
bleiben in ihrer
Entwicklung zurück
Annas Eltern suchen
die Entwicklungsambulanz auf. Bertas
Eltern lehnen alles,
was vom „Amt“
kommt, als Kontrollversuch ab.
Beide Mädchen
beginnen eine
Physiotherapie.
Auch Bertas
Sozialarbeiterin
meint, dass sie um
eine Fremdunterbringung nicht herumkommen werde.
Ich erzähle Ihnen jetzt von den ersten Monaten im Leben von Anna und Berta.
Es ergibt sich ein wesentlicher Punkt bei beiden Kindern. Beide Kinder bleiben in ihrer
Entwicklung zurück. Das wird schon in den ersten Lebenswochen auffällig. Beide Kinder
zeigen kaum Blickkontakt, sind in ihren Bewegungsmustern auffällig, und ich empfehle
bei beiden Kindern – und bespreche das auch mit der Sozialarbeiterin – eine zusätzliche Diagnostik und Therapie in einer Entwicklungsambulanz.
Die Eltern gehen mit diesem Problem unterschiedlich um.
Annas Eltern sind dem gegenüber positiv eingestellt. Sie suchen die Ambulanz für
Entwicklungskontrolle und Therapie auf und beginnen eine Physiotherapie mit Anna.
Bertas Eltern haben das Gefühl, dass sie in dieser – es wird in Wien als Sondermutterberatung bezeichnet – Beratungsstelle vom Jugendamt zusätzlich noch kontrolliert werden. Der Vater sagt mir in der Ordination, er werde nichts annehmen, was von irgendwelchen Ämtern ausgeht, da er doch mit Ämtern so schlechte Erfahrungen gemacht hat.
Ich bespreche mit der Sozialarbeiterin die Möglichkeit, dass man Bertas Eltern in ein
Institut für Entwicklungsdiagnostik und -therapie zuweist, damit sich die Eltern selbst melden können. Und das funktioniert dann auch. Bertas Eltern melden sich selbst dort und
beginnen ebenfalls mit Berta eine Physiotherapie.
Die Sozialarbeiterin war in diesem Fall der Ansicht, dass auch diese Eltern um eine
Trennung von ihrem Kind nicht herumkommen werden, vor allem auf Grund dessen,
dass schon ein Kind fremduntergebracht ist und auch, weil sich der Vater den Sozialarbeiterinnen am Jugendamt gegenüber ausgesprochen aggressiv benimmt.
Therapieverlauf
Annas Eltern freuen
sich über jeden
Fortschritt. Bertas
Eltern brechen den
Kontakt zu Ärzte
und Ärztinnen,
Institut und
Jugendamt ab.
Annas Therapie
Bei Anna wird mit der Physiotherapie begonnen. Die Eltern freuen sich über jeden
Fortschritt. Allerdings beginnen sich Herrn A.s Depressionen zu verstärken, und er muss
seiner Depressionen und seiner eigenen körperlichen Beschwerden wegen selbst sehr
viele ärztliche Termine wahrnehmen.
Er wünscht sich daher, dass die Auflage geändert wird, d.h. dass er nicht mehr so oft mit
seiner Tochter zur Kontrolle kommen muss bzw. dass sie gelockert wird.
Bertas Therapie
.
106
Bertas Eltern besuchten freiwillig mehrmals das Institut für Entwicklungsdiagnostik. Auch
mit Berta wurde eine Physiotherapie begonnen. Aber dann hat man ihnen vom Amt aus
noch zusätzlich eine Intensivbetreuung empfohlen. Auf Grund dieser zusätzlichen
Familienintensivbetreuung haben sich Bertas Eltern dazu entschlossen, den Kontakt zu
dem behandelnden Arzt und Betreuungspersonal im Institut für Entwicklungsdiagnostik
und auch zum Jugendamt überhaupt abzubrechen („Es wird uns zuviel!“).
Bertas Vater hat mir noch einmal gesagt, er wäre der Meinung, man würde ihm nur deshalb so viele Therapien aufbrummen, damit man endlich einen Beweis findet, damit man
ihm das Kind wegnehmen kann.
Ich habe mich sehr bemüht, dass er das nicht so sieht, aber er ist bei seiner Meinung geblieben.
Paradoxon
Bei Anna konnte die Auflage geändert werden. Anna musste nur mehr einmal monatlich
von mir untersucht werden, und jetzt passiert das Paradoxe in Annas Fall. Wir haben ein
Übereinkommen getroffen, dass sie nicht mehr so oft zu einer Kontrolle in die
Elternberatung und in meine Ordination zu kommen brauchen, sondern dass die Eltern
ihre Energien dafür aufwenden sollen, die Physiotherapie im Institut für Entwicklungsdiagnostik mit Anna durchzuziehen.
Trotz Lockerung der
Auflagen kommen
Annas Eltern öfter
in Ordination und
Beratung.
Und da haben die Eltern ganz anders reagiert als erwartet. Sie brachten das Kind sogar
öfter zu uns als vorher. Sie suchten uns auf, teilweise, um uns etwas zu erzählen, etwas
zu zeigen oder uns um Rat zu fragen. Sie kamen sowohl öfters in die Ordination als auch
in die Elternberatung, und ihre Termine im Institut für Entwicklungsdiagnostik hielten sie
ebenfalls ein. Wir hatten das Gefühl, ihr Vertrauen gewonnen zu haben.
Bertas Weg
Bei Berta war es dann so, dass die Eltern wirklich alle Therapien und alle Kontakte abgebrochen haben. Ich sah den Vater noch einmal, als er mich bat, ihm eine Bestätigung
zu schreiben, dass ich das Kind regelmäßig gesehen hätte. Damit würde er in der
Gerichtsverhandlung einen Beweis haben, dass er die Auflage erfüllt hätte.
Berta wird fremduntergebracht.
Ich kann die Eltern nicht davon überzeugen, dass das nicht ausreicht, und ich erfahre
dann in einem Folgegespräch mit der Sozialarbeiterin, dass den Eltern bereits vor einigen Wochen mitgeteilt worden war, dass sie das Kind nicht behalten können.
Annas Weg
Bei Anna zeigt sich im 10. und 12. Lebensmonat ein deutlicher Entwicklungsschub. Da
die Eltern von Anna nicht in der Lage sind, die Therapien zu Hause durchzuführen – die
Physiotherapeutin, die mit Anna arbeitet, sagt, sie hat das Gefühl, die Eltern arbeiten
zwar im Institut mit, würden aber die gezeigten Übungen zu Hause nicht anwenden können – wird für Anna zusätzlich eine mobile Frühförderung empfohlen.
Annas Eltern sind
gegen die mobile
Frühförderung.
Erstmals sind die Eltern nicht einverstanden.
Daraufhin versuchen wir in einem Gespräch ihre Ängste zu besprechen. Dabei zeigt sich,
dass die Eltern zum Beispiel Angst davor haben, aus irgendeinem Grund gleichzeitig einen anderen Termin wahrnehmen zu müssen. Dann wären sie womöglich nicht zu
Hause, wenn die Frühförderin kommt, und dann würden sie als unverlässlich gelten.
Außerdem wollen sie keine Frühförderin ins Haus lassen, da sie sonst regelmäßig „zusammenräumen“ müssten.
Wir beschließen Folgendes: Wir vereinbaren mit den Eltern eine Bedenkzeit und sagen,
sie sollen selbst entscheiden, so wie andere Eltern auch, ob sie eine zusätzliche
Förderung für ihr Kind in Anspruch nehmen wollen oder nicht. Sie haben ja schon einmal eine Förderung in Anspruch genommen. Sie haben sozusagen schon bewiesen,
dass sie für ihr Kind etwas tun wollen. Ob sie zusätzlich etwas tun wollen, das überlassen wir ihnen.
Nach der Bedenkzeit
entscheiden sich
Annas Eltern für die
Frühförderung.
Niemand spricht
mehr von Fremdunterbringung.
107
Kurz vor Annas erstem Geburtstag haben sich die Eltern dann entschieden, die mobile
Frühförderung für ihre Tochter in Anspruch zu nehmen. Herr A. sagt, er wolle nicht Schuld
sein, dass sein Kind sich nicht gut entwickelt, und immerhin wäre er ja der Vater und damit in erster Linie für seine Tochter verantwortlich. Im Schutze des vertrauensvollen
Umganges miteinander war er fähig geworden, sich auch selbst Verantwortung zuzutrauen.
„Das Gute liegt uns oft so fern“
Das war der Übertitel dieses Referates, in dem es um Prognosen und um Beeinflussung
durch Vorurteile gehen sollte.
Wo wären Ihre Vorurteile gewesen?
Wie hätten Ihre Prognosen ausgeschaut?
Wie hätte Ihre
Prognose ausgeschaut? Hätten Sie
am Anfang der
Geschichte gewusst,
welches Mädchen
fremduntergebracht
wurde?
Ich habe diese beiden Fälle für Sie ausgewählt, weil ich es so spannend finde, dass sie
so ähnlich angefangen haben. Beide Mütter sind geistig behindert. Beide Kinder bleiben
in ihrer Entwicklung zurück. Beide Väter sind krank. Es ist eine schlechte Ausgangslage,
die es fast unmöglich macht, überhaupt an das Gute zu glauben. Man wird um eine
Fremdunterbringung nicht herumkommen, lautet die Prognose nach der Geburt der
Kinder.
Was ist Prävention? Einfach gesprochen ist Prävention das Verhindern, dass etwas
Schlimmeres passiert. Das Schlimme, die weitere Fehlentwicklung des Kindes, aber
auch die Trennung des Kindes von den Eltern soll verhindert werden. Und genau das
scheint in beiden Fällen am Anfang schwierig zu sein; sowohl bei Anna als auch bei
Berta.
Conklusio
Zusammenfassend glaube ich, dass folgende Punkte hilfreich waren, dass Annas
Geschichte gut ausgegangen ist.
Auch Therapeuten
und Therapeutinnen
sind nicht vorurteilsfrei! Wir müssen uns
bemühen, für die
Sichtweise des
Anderen offen zu
sein; nicht nur für
die Sichtweise der
Eltern, sondern auch
für die der anderen
Therapeuten und
Therapeutinnen.
Alle mit dem Fall betrauten Personen, die Sozialarbeiterin, die Kinderpflegerin, die
Physiotherapeutin, die behandelnden Ärzte/Ärztinnen, und das war nicht nur ich, das waren auch die Ärzte/Ärztinnen im Institut für Entwicklungsdiagnostik, haben ihre
Vorgangsweise bei Bedarf miteinander abgesprochen. Das jetzt nicht so sehr im Sinne
einer Supervision oder im Sinne einer Helferkonferenz, sondern wenn ein Punkt fraglich
war, wenn Fragen aufgetaucht sind, dann haben wir miteinander gesprochen. Wir haben
auch mit den Eltern gesprochen und sie über weitere Schritte informiert. Wir waren offen für die Sichtweise des Anderen, nicht nur für die Sichtweise der Eltern, sondern auch
offen für die Sichtweise der anderen Therapeuten und Therapeutinnen.
Auch Therapeuten und Therapeutinnen sind nicht vorurteilsfrei! Aber wir haben unseren
Vorurteilen nicht nachgegeben, weil wir uns und den Eltern vertraut haben.
Wir haben nicht an unserer anfänglichen Prognose, d.h. an unserer anfänglichen
Vorhersage festgehalten, sondern wir haben uns überraschen lassen. Wir waren neugierig, wir waren erwartungsvoll, ob sie unseren Empfehlungen nachkommen können,
und letztendlich sind wir – in Annas Fall – positiv überrascht worden.
Dennoch: Was ich für wesentlich halte: Wir haben den Eltern von Anna von Anfang an
sicherlich mehr (Kompetenz) zugetraut als Bertas Eltern.
108
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Familienpsychologie im Aufwind. Brückenschläge zwischen
Forschung und Praxis (S. 203–221).
Hogrefe, Göttingen.
Schneewind, K. A. (1999): Familienpsychologie (2., überarbeitete Aufl.).
Kohlhammer, Stuttgart.
Schwarz, B. (1999): Die Entwicklung Jugendlicher in Scheidungsfamilien.
Beltz, Weinheim.
Statistik Österreich. (2000a): Bevölkerung und soziale Bedingungen. Bevölkerung.
[Online im Internet].
URL: http://www.oestat.gv.at/fachbereich_03/bevoelkerung_txt.htm
[20. 5. 2000].
Statistik Österreich. (2000b): Presseinformation. [Online im Internet].
URL: http://www.oestat.gv.at/presse/2000101_txt.htm
[8. 6. 2000].
Walper, S. & Schwarz, B. (Hrsg.). (1999): Was wird aus den Kindern?
Chancen und Risiken für die Entwicklung von Kindern aus
Trennungs- und Stieffamilien.
Juventa, Weinheim.
Werneck, H. & Werneck-Rohrer, S. (Hrsg.). (2000): Psychologie der Familie.
Theorien, Konzepte, Anwendungen.
WUV, Wien.
Werneck, H. & Werneck-Rohrer, S. (Hrsg.). (2000): Psychologie der Familie.
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WUV, Wien.
Werneck, H. (1998): Übergang zur Vaterschaft. Auf der Suche nach den
„Neuen Vätern“.
Springer-Verlag, Wien und New York.
Werneck, H. (1998): Übergang zur Vaterschaft. Auf der Suche nach den
„Neuen Vätern”.
Springer-Verlag, Wien und New York.
Zulehner, P. M. & Volz, R. (1999): Männer im Aufbruch.
Schwabenverlag, Ostfildern.
Zumkley-Münkel, C. (1996): Kinder brauchen Grenzen! Aber was bedeutet das?
Psychologie in Erziehung und Unterricht, 43, 302-306.
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Kurzbiografien
- in alphabetischer Reihenfolge
Allgäuer, Dr. phil. Stefan
Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe, Psychotherapeut;
praktische Arbeit im Kinderdorf Vorarlberg und in der Erziehungs- und
Erwachsenenberatung im Institut für Sozialdienste, Supervisor, seit 1995
Geschäftsführer des Institutes für Sozialmedizin in Vorarlberg.
Bogyi, Dr. phil. Gertrude
Klinische Psychologin und Psychotherapeutin an der Universitätsklinik für
Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters und in freier Praxis.
Präsidentin und Lehranalytikerin im Österreichischen Verein für Individualpsychologie.
Lehrbeauftragte an der Universität Wien
Derschmidt, Dr. phil. Luitgard
Bildungsreferentin des Forums Beziehung, Ehe und Familie der Katholischen
Aktion Österreich
Erwachsenenbildnerin mit Schwerpunkt Eltern-, Partner- und Familienbildung,
verheiratet, Mutter dreier erwachsener Kinder.
Friedl, Mag. Dagmar
AHS-Lehrerin für Deutsch und Philosophischen Einführungsunterricht;
Studium an der Bundesakademie für Sozialarbeit; seit 1995 Lehrerin in
Mosaikklassen des Rudolf-Ekstein-Zentrums; Psychagogin in Ausbildung.
Leixnering, Dr. med. Werner
Facharzt für Psychiatrie und Neurologie/Kinder- und Jugendneuropsychiatrie,
Psychotherapeut;
Leitender Oberarzt des Bereichs Heilpädagogik und Psychosomatik an der
Klinischen Abteilung für Allgemeine Pädiatrie der Universitätsklinik für Kinderund Jugendheilkunde Wien (bis Mai 2001);
Seit Juni 2001 Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie an
der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz
Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien
Matschnig, Dr. jur. Beate
Richterin des JGH Wien seit April 1978
Befasst mit Pflegschaftssachen und Jugendstrafsachen
Neumayer, Dr. phil. Reinhard
Klinischer und Gesundheitspsychologe
Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Abteilung Jugendwohlfahrt
Leiter des mobilen psychologischen Dienstes
Psychotherapeut (Individualpsychologie) in freier Praxis.
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Schimak Gertraud
Pflichtschullehrerin, Psychagogische Betreuerin an Pflichtschulen,
Psychotherapeutin, systemische Supervisorin;
seit 1994 Leiterin des Rudolf-Ekstein-Zentrums, eines Sonderpädagogischen
Zentrums für integrative Betreuungsformen in Wien mit den Schwerpunkten
Psychagogische Betreuung sowie präventive Hilfestellung für Kinder der
Schuleingangsphase (Modell Mosaik)
Traindl, Dr. med. Eva
niedergelassene Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde in Wien;
in der Elternberatung tätig;
Gründungsmitglied, Mitarbeiterin und Konsularärztin des Vereines
„Unabhängiges Kinderschutzzentrum Wien“.
Ärztin für psychotherapeutische Medizin in Ausbildung
Werneck, Univ.-Ass. Mag.rer.nat. Dr.phil. Harald
Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe
seit 1993 Universitätsassistent an der Abteilung für Entwicklungspsychologie und
Pädagogische Psychologie (Leiterin: o.Univ.-Prof. Dr. Brigitta Rollett) des Instituts
für Psychologie der Universität Wien; Lehrbeauftragter für Entwicklungspsychologie
und Familienpsychologie;
Leiter des Forschungsprojektes „Familienentwicklung im Lebenslauf (FIL)“;
2 Töchter
Nähere Informationen unter: www: http://mailbox.univie.ac.at/harald.werneck
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