Psychische Gewalt am Kind
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Psychische Gewalt am Kind
Psychische Gewalt am Kind Dokumentation der Enqueten „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“, Nov. 1999 „Es irrt der Mensch, solang’ er strebt“, Okt. 2000 BUNDESMINISTERIUM F Ü R S O Z I A L E S I C H E R H E I T U N D G E N E R AT I O N E N Impressum Wir danken allen Referentinnen und Referenten für die Durchsicht der redigierten Texte ihrer Referate. Redaktion: Barbara Urban, Medizinjournalistin, ORF, e-mail: [email protected] Lithographie und Gestaltung: Druckerei BMSG Lektorat: Media Verlagsservice Druck: Druckerei BMSG Medieninhaber und Herausgeber: Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen 1. Auflage Erhältlich in der Abteilung VI/2 Tel.: 711 00-3244 oder e-mail: [email protected] Werte Leserinnen und Leser! Die Broschüre, die Sie in Händen halten, stellt das zusammengefasste Ergebnis zweier Enqueten zum Thema „Psychische Gewalt an Kindern“ dar. Während körperliche Gewalt in den letzten Jahren in Fachgremien, in den Medien und der Öffentlichkeit verstärkt diskutiert wurde, war die leisere, unauffälligere und in ihrer Grausamkeit und ihren Folgen scheinbar harmlosere Form der Gewalt an Kindern, nämlich die psychische Gewalt, einfach viel zu wenig Thema. Der Grund dafür mag nicht nur in den zumeist weniger augenfälligen Auswirkungen dieser Gewaltform liegen, sondern auch darin, dass diese Form der Gewalt so schwer fassbar ist, so schwer einzugrenzen und zu definieren. Vielschichtigkeit und Schwierigkeit des Themas „psychische Gewalt“ werden beim Studium der vorliegenden Broschüre so richtig offenkundig. Während in der ersten Enquete der Schwerpunkt bei jenen Formen der psychischen Gewalt an Kindern lag, die in den Familien bzw. durch die Familien ausgeübt wird, befasste sich die zweite Enquete mit den Auswirkungen psychischer Gewalt, die aus Institutionen kommt, wie zum Beispiel der Schule oder Einrichtungen der Jugendwohlfahrt. Diese Broschüre soll als Nachschlagwerk dienen, als Nachlese die Erinnerung auffrischen und die Vertiefung mit dem Thema ermöglichen. Sie soll Gelegenheit bieten, sich mit diesem komplexen Thema auseinanderzusetzen. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass es sich bei den Beiträgen der vorliegenden Dokumentation um keine wissenschaftliche Publikationen handelt. Deshalb wurde bewusst der Charakter des gesprochenen Wortes auch in der vorliegenden schriftlichen Form beibehalten. Die Beschäftigung mit diesem Thema kann keine rein akademische sein; das zeigten auch die Reaktionen unmittelbar während der Enqueten. Selbst Expertinnen und Experten mussten immer wieder mit tiefer Betroffenheit erkennen, dass auch sie selbst nicht gegen die Ausübung der einen oder anderen Form psychischer Gewalt gefeit sind. Die Erkenntnis, dass selbst das gut gemeinte „Handeln in bester Absicht“ mitunter psychische Gewalt hervorrufen und somit das Gegenteil von „gut“ sein kann, ist erschreckend. Daher ersuche ich Sie, dem Thema „psychische Gewalt“ nicht nur in Ihrem Arbeitsumfeld, sondern auch in Ihrem privaten Leben vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken und Ihren höchstpersönlichen Beitrag dafür leisten zu wollen, dass Gewalt – in welcher Form auch immer – zurückgedrängt wird und dadurch ein höherer Grad der Bewusstmachung erreicht werden kann. Ihr Mag. Herbert Haupt Familienminister Was ist psychische Gewalt? Versuch einer Definition Psychische Gewalt ist ... l wenn Kindern mutwillig Angst gemacht wird. l wenn Kinder eingeschüchtert, ausgegrenzt, isoliert werden. l wenn Kinder verspottet werden oder der Verspottung Preis gegeben werden. l wenn Kinder missachtet und entwertet werden. l wenn Kinder klein gemacht, klein gehalten und abgewertet werden. l wenn Kinder gezielt entmutigt werden. l wenn Kinder mit Druck und Unterdrückung erzogen werden. l wenn Kindern keine Grenzen gesetzt werden. l wenn Eltern ihren Kindern Orientierung verweigern und sich ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kindern entziehen. l wenn Strafe zu einem Zeitpunkt vollzogen wird, wo das Kind gar nicht mehr weiß, was es getan hat, und die Strafe nicht als Konsequenz seiner Handlungen erkennen kann. l wenn Kinder das tun müssen, was ihre Eltern immer gerne getan hätten, wenn Kindern sozusagen das Leben der Eltern auferlegt wird. l wenn Gefühle der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe ausgelöst werden und es zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses des Kindes kommt. l wenn Kinder als Spielball der Interessen des jeweiligen Elternteils z.B. im Zuge einer Scheidung missbraucht werden, wenn also das Kindeswohl vorsätzlich und bewusst vorgeschützt wird, um eigene Interessen durchzusetzen oder zu fördern. l wenn Kinder Loyalitätskonflikten zwischen den Eltern ausgesetzt werden. l wenn den Eltern das Verhalten des Kindes wichtiger als seine Person ist. l leise. Sie ist nicht laut. Sie ist nicht spektakulär, aber sie ist langhaltig, sie ist ausdauernd, und sie ist nachwirkend. Psychische Gewalt ist weiters ... l immer dort, wo Angst als Erziehungsmittel eingesetzt wird. l nicht nur Vernachlässigung, es kann auch ein Übermaß an erstickender Liebe sein. l viel schwieriger zu erkennen als körperliche Gewalt, da sie am Körper keine sichtbaren Narben hinterlässt. l so schwer fassbar, da sie individuell erlebt wird und ihre Wirkung von außen oft nicht erkennbar und einschätzbar ist. l subjektiv zu verstehen und zu betrachten; das subjektive Erleben des Kindes, sein emotionales, existenzielles Empfinden steht im Vordergrund. l ein „unangenehmes“ Thema, da dieses Phänomen schwer fassbar ist, sich nicht genau definieren lassen „will“, sich wissenschaftlicher Analyse entzieht und uns zur Auseinandersetzung mit vielen Themen zwingt, auf die wir gar nicht so gerne hinschauen. Psychische Gewalt ... l wird durch alle Handlungen und Unterlassungen von Eltern und Bezugspersonen hervorgerufen, die Kinder ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit übermitteln und sie in ihrer psychischen und/oder körperlichen Entwicklung beeinträchtigen können. l „passiert“ oftmals eigentlich ohne böse Absicht. l wird unterschiedlich aufgefasst; was dem einen noch Spaß macht, kann für den oder die andere schon Verletzung, Abwertung, Verwundung bedeuten. l kann dadurch entstehen, dass die Eltern den Druck, dem sie in der Gesellschaft, Arbeit etc. ausgesetzt sind, an ihre Kinder weitergeben. l kann auch durch gut gemeinte Hilfsangebote ausgeübt werden. l entsteht und besteht dort, wo Kinder und Jugendliche einer Dynamik von „zu viel“ oder „zu wenig“ ausgesetzt sind und die existenziellen Bedürfnisse der Kinder keinen Platz haben. l manifestiert sich dort, wo Kinder bei für sie schwierigen Erfahrungen/Erlebnissen keine Sprache bzw. keine Ausdrucksform finden können oder dürfen. l tritt nicht nur alleine auf, sondern zumeist auch als „stille Schwester“ aller anderen Gewaltformen. 1. Enquete WEHE, WEHE, WENN ICH AN DAS ENDE SEHE Psychische Gewalt am Kind Moderation: Dr. Barbara Rett, ORF 25. November 1999, 9.30 Uhr Palais Palffy 1010 Wien, Josefsplatz 6 Psychische Gewalt an Kindern wird bis heute zwar nicht gerichtlich geahndet, doch durch das seit 1989 in Österreich bestehende allgemeine Züchtigungsverbot gilt auch psychische Gewalt als nicht tolerierbares Erziehungsmittel; Erziehung muss gewaltfrei sein, also auch frei von psychischer Gewalt. Doch was bedeutet gewaltfreie Erziehung? Welche Erziehungsmittel ergreifen Eltern, bzw. welches Erziehungsmittel ersetzt die „g’sunde Watsch’n“? Starke mediale Präsenz und dramatische Berichterstattungen über die in letzter Zeit auftretenden Fälle körperlicher und im Speziellen sexueller Gewalt haben zwar eine größere Sensibilisierung der Bevölkerung für diese zweifellos äußerst wichtige Thematik erreicht, das Interesse jedoch an der Diskussion über psychische Gewalt an den Rand gedrängt. Ziel der Enquete war es, der Problematik im Zuge der Gewaltdiskussion ihren Stellenwert zu geben, aber auch klar zu machen, dass Prävention ein unverzichtbarer Bestandteil einer gewaltfreien Erziehung darstellt. Titel und Überschriften in Anlehnung an: Wilhelm Busch: Max und Moritz Dr. Heinrich Hoffmann: Der Struwwelpeter Inhaltsverzeichnis Enquete 1 „Vater ist in großer Not, und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“ „Was ist psychische Gewalt?“ Dr. Werner Leixnering Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie an der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz Seite 08 „Paulinchen war allein zu Haus, die Eltern waren beide aus“ „Was ist psychische Vernachlässigung?“ Dr. Eva Traindl Niedergelassene Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde, Wien Seite 12 „Sei hübsch ordentlich und fromm, bis nach Haus ich wieder komm“ „Elternbildung – Wie wollen Kinder erzogen werden?“ Dr. Luitgard Derschmidt Forum Beziehung, Ehe und Familie der Katholischen Aktion Österreich, Salzburg Seite 17 „Also sprach in ernstem Ton der Papa zu seinem Sohn“ „Väter im Erziehungsalltag“ Dr. Harald Werneck Institut für Entwicklungspsychologie, Universität Wien Seite 23 „Niemand hört ihn, wenn er schreit“ „Stadt-Land-Problematik“ Dr. Reinhard Neumayer Niederösterreichische Landesregierung, Abteilung Jugendwohlfahrt Seite 30 „Der Vater hat’s verboten!“ „Ohnmacht der Helfer“ Dr. Stefan Allgäuer Institut für Sozialdienste, Vorarlberg Seite 36 „Die Buben aber folgten nicht“ „Sorgerechtsproblematik/Strafrechtsproblematik“ Dr. Beate Matschnig Jugendgerichtshof Wien Seite 45 „Zu Hilf’, ihr Leut’, zu Hilf’, ihr Leut’!“ „Extrembelastungen im Kindesalter“ Dr. Gertrude Bogyi Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters, Wien Seite 50 „Vater ist in großer Not, und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“ „Was ist psychische Gewalt?“ Referent: Dr. Werner Leixnering Psychische Gewalt ist ein „unangenehmes“ Thema, da dieses Phänomen schwer fassbar ist, sich nicht genau definieren lassen „will“, sich wissenschaftlicher Analyse entzieht und uns zur Auseinandersetzung mit vielen Themen zwingt, auf die wir gar nicht so gerne hinschauen. Die Titel der Referate sind alle dem „Struwwelpeter“ entnommen. Und das hat mehrere Gründe: Der „Struwwelpeter“ hat, kinderpsychiatrisch gesehen, eine ganz doppelbödige Botschaft: Auf der einen Seite beschrieb er bereits vor 150 Jahren sehr genau seelische Bilder, und zwar so eindringlich, dass wir sie heute noch immer verstehen und als aktuell empfinden. Auf der anderen Seite bietet er Methoden des Umgangs damit an, die uns heute befremden. Die Pädagogik, die in diesem Struwwelpeter angeboten wird, wird vielfach als „schwarze“ Pädagogik bezeichnet. Tatsache ist, dass uns der Struwwelpeter auf jeder Buchseite mit Gewalt konfrontiert. Sei es, dass Situationen so dramatisiert werden, dass sie eskalieren und Gewalt nach sich ziehen, sei es, dass Gewalt als pädagogische Konsequenz angedroht wird. Und wenn wir uns mit dem Thema psychische Gewalt beschäftigen, sind wir sehr schnell mit sehr heiklen Fragen des Erziehens und der Pädagogik konfrontiert. Psychische Gewalt ist ein sehr vielschichtiges, sehr komplexes Thema, wo eine Schwarz-weiß-Sicht der Dinge keinesfalls angebracht ist. Psychische Gewalt ist ein „unangenehmes“ Thema, da dieses Phänomen schwer fassbar ist, sich nicht genau definieren lassen „will“, sich wissenschaftlicher Analyse entzieht und uns zur Auseinandersetzung mit vielen Themen zwingt, auf die wir gar nicht so gerne hinschauen. Doch: Psychische Gewalt ist ein Thema, dem wir uns zu stellen haben. Denn: Psychische Gewalt kommt sehr häufig vor. Wahrscheinlich in einem wesentlich größerem Ausmaß, als wir alle, inklusive meiner Person, das vermuten. Und: Psychische Gewalt tritt nicht nur alleine auf, sie tritt zumeist auch als „stille Schwester“ aller anderen Gewaltformen auf. Auf der schwierigen Suche nach „Markern“ „Vater ist in großer Not, und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum.“ Um der Frage „Was ist psychische Gewalt?“ nachzugehen, möchte ich zunächst den Begriff „stumm“ aus dem Untertitel meines Referates herausgreifen. Psychische Gewalt ist leise. Psychische Gewalt ist nicht spektakulär. Aber sie ist langhaltig, sie ist ausdauernd, und sie ist nachwirkend. Stumm. Psychische Gewalt ist leise. Sie ist nicht laut. Sie ist nicht spektakulär. Sie erzeugt auch nicht gleich lautes Schreien, aber sie ist langhaltig, sie ist ausdauernd, und sie ist nachwirkend. Und genau hier liegt auch das Problem, psychische Gewalt wissenschaftlich methodisch erfassen zu können. Wo ist die Grenze? Ab wann kann/muss man von psychischer Gewalt sprechen? Wo sind die „Marker“ für psychische Gewalt? Es ist tatsächlich so, dass die Grenzen zwischen Erziehungspraktiken, die sich des Prinzips der Strafe bedienen, und psychischer Gewalt oftmals fließend sind. Gerade weil die Grenzen oft so schwimmend sind, gerade weil psychische Gewalt oft so leise von statten geht, haben wir ein großes Problem, sie frühzeitig zu erfassen, sie präventiv zu erfassen. Trotz dieser Schwierigkeiten müssen wir uns dem Problem stellen! 8 Die Crux der Definition Wie kann man also tatsächliche psychische Gewalt bewerten, beurteilen? Nun, man muss einmal die beiden involvierten Pole betrachten: den Menschen, an dem psychische Gewalt ausgeübt wird, und denjenigen, der sie ausübt. Also gleichsam Opfer und Täter. Genauso wie bei körperlicher und sexueller Gewalt. Es geht also immer um zwei oder mehrere Personen, die miteinander interagieren. Worum geht es bei der Ausübung psychischer Gewalt denn de facto? Es geht – um das vielleicht phänomenologisch ein bisschen zu beschreiben – um die Bedrohung von Kindern im Umgang mit ihnen. Es geht vor allem um die mutwillige Erzeugung von Angst – die Betonung liegt auf mutwillig. Es geht um Einschüchterung. Es geht um Zynismus in der Erziehung. Es geht um Ausgrenzung, um Isolation von Kindern. Es geht – um es wienerisch zu formulieren – ums „ins Eck stellen“ von Kindern, und das nicht nur wörtlich, sondern auch im übertragenen Sinn. Es geht um die Tatsache, dass man Kinder verspottet und der Verspottung preisgibt. Es geht zum Beispiel auch darum, was die moderne Psychologie unter dem Phänomen des „Bullying“ beschreibt. (ð Bullying – siehe auch Seite 59) Und da geht es nicht nur um Erwachsene, da geht es auch um ältere Jugendliche, die psychische Gewalt auf annähernd Gleichaltrige ausüben, nach dem Motto „Gib’s den Schwachen“. Es geht letztlich um Missachtung, es geht um Entwertung. Und als Individualpsychologe möchte ich hinzufügen, es geht um die gezielte Entmutigung von Kindern. Das, so glaube ich, können wir beispielsweise unter psychischer Gewalt verstehen. Bei psychischer Gewalt geht es um die mutwillige Erzeugung von Angst, um Einschüchterung, Zynismus, Ausgrenzung und Verspottung. Anzeichen psychischer Gewalt Im Gegensatz zu körperlicher Gewalt hinterlässt psychische keine offensichtlichen Spuren. Also woran können wir denn erkennen, dass psychische Gewalt an Kindern ausgeübt wurde oder wird? An deren Rückzug zum Beispiel, an deren mehr oder weniger verdeckter oder verdrängter Aggressivität. Ich möchte ganz besonders darauf hinweisen, dass gerade Aggressivität auch Ausdruck von eigener Bedrohung ist. Zu oft wird Aggression nur als impulsives Element, das quasi aus dem Nichts kommt, gesehen. Weitere wichtige Anzeichen erlebter psychischer Gewalt können psychosomatische und kinderpsychiatrische Symptome wie Einkoten, Schlafstörungen und zwanghaftes Verhalten sein. Ich kann es auch anders ausdrücken: Psychische Gewalt an Kindern äußert sich nicht selten in so genannten „introversiven“ Symptomen, also Symptomen, die sich nach innen wenden und die natürlich dann sehr oft auch autoaggressive Komponenten beinhalten. Man könnte sehr vereinfacht sagen: „Was kränkt, macht krank“; und bei psychischer Gewalt geht es vielfach um Kränkung. Rückzug, Aggressivität und verschiedene psychosomatische und kinderpsychiatrische Symptome können Anzeichen dafür sein, dass das Kind psychischer Gewalt ausgesetzt war/ist. Entstehung von psychischer Gewalt Hier scheint es wichtig, drei Komponenten zu beobachten oder zu beachten: Der Täter Betrachten wir zum einen die Persönlichkeit und psychische Verfassung dessen, der die Gewalt ausübt. Es ist zu einfach zu sagen, Täter sind Menschen, die einfach so sind, die nicht anders können. Und wir können ihnen auch nicht helfen, und damit ist die Sache erledigt. Nein. Ich glaube, gerade mit diesen Menschen müssen wir uns befassen. Wir müssen ihnen Angebote machen. Wir müssen sie zu verstehen versuchen, bei aller Emotion, die sich bei uns ihnen gegenüber zeigt. 9 Das Opfer Wir müssen zweitens die Persönlichkeit des Kindes zu erfassen versuchen. Wir müssen versuchen zu verstehen: „Was war denn aus der Sicht des Kindes vielleicht die Voraussetzung dafür, dass es zur Anwendung psychischer Gewalt gekommen ist?“ – und das meine ich jetzt absolut nicht wertend! Das heißt, auch hier ist die differenzierte Befassung mit dem Kind und mit der Situation, in der das Kind lebt, notwendig. Die Interaktion Die Rahmenbedingungen dürfen niemals außer Acht gelassen werden. Um psychische Gewalt besser zu verstehen, müssen wir uns die Rahmenbedingungen, unter denen Erziehende und Kinder miteinander leben, genau anschauen. Und drittens ist die Interaktion wesentlich. Wir verstehen oft Phänomene der psychischen Gewalt besser, wenn wir das Miteinander und die Rahmenbedingungen, unter denen Erziehende und Kinder miteinander leben oder miteinander auskommen müssen, besser erfassen können. Diese Rahmenbedingungen dürfen niemals außer Acht gelassen werden. Als wichtiger Hinweis für Interventionsansätze: Meist sind beide in irgendeiner Form in Not – das Kind und die Person, die psychische Gewalt verursacht. Nur können sehr oft die Nöte der beiden nicht mitgeteilt werden, und damit kommt es zur Eskalation und zur Problematisierung. Natürlich ist das schwächere Glied in der Kette das Kind, und unsere Gesellschaft tut gut daran, zunächst einmal zu den Schwächeren hinzusehen und diese eben auch entsprechend zu schützen. Der Umgang mit psychischer Gewalt Zur Frage des Umgangs ein paar Worte zur Einleitung. Ich glaube, man müsste sich dabei drei Bereiche näher anschauen: Erziehungsalltag Psychische Gewalt ist oftmals keinesfalls beabsichtigt. Sie etabliert sich oft schleichend in Situationen, und man merkt leider erst nachher, was da geschehen ist. Erstens den Umgang mit psychischer Gewalt im Erziehungsalltag, denn sie kommt in irgendeiner Form sehr oft vor, mehr oder weniger intendiert – das ist ja das Problem. Psychische Gewalt ist oftmals keinesfalls beabsichtigt, sie etabliert sich oft schleichend in Situationen, und man merkt leider erst nachher, was da geschehen ist, dass es sich um eine Form von psychischer Gewalt gehandelt hat. Wir alle begegnen tagtäglich Kindern, ob es in der U-Bahn ist, in einer Schulsituation oder zu Hause. Wir begegnen Kindern, und wir begegnen Situationen. Und wichtig ist, dass wir aus Situationen etwas machen. Das hat manchmal auch etwas mit Zivilcourage zu tun, das heißt nämlich, in Situationen Stellung zu beziehen. Ich glaube, dass das immer noch ein ganz entscheidender Punkt ist. Das gilt übrigens für alle Formen der Gewalt. Also zum Beispiel: Wenn Sie im Bus fahren und Zeuge werden, wie ein Jugendlicher auf ein kleineres Kind „hindrischt“, nur weil es ihm im Weg ist: Da gilt es einzugreifen, sich zu äußern – nicht wegzusehen! Gezielte Prävention 10 Zweitens die gezielte Prävention. Hier geht es darum, von vornherein schwierige Erziehungssituationen aufzuzeigen. Es stellt eine große Problematik in der Präventionsarbeit dar, dass oft von der „heilen Welt“ ausgegangen wird, dass also „nicht sein kann, was nicht sein darf“ und dass die Existenz solcher schwierigen Situationen oft von vornherein geleugnet wird. Bei der Präventionsarbeit ist es deshalb sehr wichtig, genau darauf hinzuweisen, dass es in der Erziehung zum Auftreten von Problemen kommen wird und dass man mit diesen zu rechnen hat, aber auch dass es Lösungsmöglichkeiten für solche Probleme gibt! Therapie Bei der Therapie müssen wir sicherstellen, dass nicht nur den Kindern, sondern dort, wo erforderlich – und das wird in den meisten Fällen so sein – auch den Erwachsenen zumindest Therapieangebote gemacht werden. Der Schlüssel zur Verhinderung psychischer Gewalt. Ich möchte mit ein paar Thesen schließen. Erstens: Haltung statt Technik Ich glaube, dass der Schlüssel zur Verhinderung psychischer Gewalt nicht nur in Erziehungstechniken liegt, die wir Erwachsenen vermitteln, sondern in Haltungen, in Einstellungen zu Kindern. Wir sind in unserer Zeit durch die Vorstellung geleitet, dass wir alles mit bestimmten Techniken, Methoden, Trainings oder ähnlichem lösen können. Doch das ersetzt nicht Haltungen. Und die sind gefragt. Gefährlich wird psychische Gewalt im Übrigen besonders dann, wenn sie aus einer völlig falsch verstandenen „vorbeugenden Haltung“ („Damit du nicht auf dumme Ideen kommst ...“) heraus eingesetzt wird. Zweitens: Not produziert Gewalt Einfühlsames Verstehen psychischer Gewaltphänomene orientiert sich an Nöten von Kindern und Erwachsenen und nicht an einer verkürzten Täter-Opfer-Ideologie. Drittens: „Was kränkt, macht krankt“ Psychische Gewalt kann, psychiatrisch betrachtet, nicht nur zur Erlebnisreaktionen, also zu einfachen Reaktionen, sondern auch zu schweren neurotischen und psychosomatischen Störungen bis hin zur chronischen Deformation kindlicher Persönlichkeiten führen, also zu schweren psychischen Störungen. Das soll hier nicht unerwähnt bleiben. Viertens: Reflexionsmöglichkeit für Täter Erwachsene, die psychische Gewalt an Kindern anwenden, sollten die Möglichkeit bekommen, ihre Verhaltensweisen zu reflektieren. Prävention ist nur möglich, wenn so etwas wie ein Nachvollziehen oder ein Einsehen zumindest angestrebt wird. Auch wenn dies nicht immer erreichbar sein wird. 11 „Paulinchen war allein zu Haus, die Eltern waren beide aus“ „Was ist psychische Vernachlässigung?“ Referentin: Dr. Eva Traindl „Die Pflege des minderjährigen Kindes umfasst besonders die Wahrung des körperlichen Wohles und der Gesundheit sowie die unmittelbare Aufsicht, die Erziehung, die Entfaltung der körperlichen, geistigen, seelischen und sittlichen Kräfte ... .“ (§ 146 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch) Ich glaube, dass diejenigen, die für diesen Paragrafen verantwortlich zeichnen, ganz Recht gehabt haben, wenn sie körperliche, geistige, seelische und sittliche Kräfte zusammengenommen haben. Man kann gerade im Kindesalter „körperliche, seelische Gesundheit, Wahrung der sittlichen Kräfte“ nicht voneinander trennen. In keinem anderen Lebensabschnitt besteht ein so enger Zusammenhang zwischen körperlicher, seelischer und geistiger Entwicklung wie im Kindes- und Jugendalter. In keinem anderen Lebensabschnitt können Versäumnisse so negative Auswirkungen haben. Ein Bild, das Kinderärzte in der Praxis häufig sehen, ist die körperliche Vernachlässigung, die leicht zu erkennen ist, weil die Zeichen der Verwahrlosung sichtbar sind. Psychische Vernachlässigung ist von außen nur schwer zu erkennen. „Unverdächtige“ Symptome wie Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Erbrechen und Schlafstörungen können Zeichen dafür sein. Viel schwieriger zu erkennen sind Kinder, die seelisch vernachlässigt sind, bei denen äußerlich keine Verwahrlosungszeichen zu erkennen sind, wo „außen sozusagen alles in Ordnung ist“. Die Symptomatik ist zumeist ganz unspezifisch. Symptome, die jedes Kind einmal hat, können Anzeichen für psychische Vernachlässigung sein. Zum Beispiel: Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Erbrechen und Schlafstörungen. Das kann aber auch bis hin zu schweren psychosomatischen Krankheitsbildern gehen: von bestimmten Asthmaformen über Einnässen und Einkoten bis hin zu Suchterkrankungen bei Jugendlichen. Wir beobachten ein Zunehmen von Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess-BrechSucht) sowie zunehmende Abhängigkeit von Suchtmitteln schon bei sehr jungen Kindern. Das muss man immer wieder sehen und mitverfolgen – leider manchmal auch ohne dass man den Kindern wirklich helfen kann. Drei Fallbeispiele Viele Kinder drücken sich über ihren Körper aus, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Sie sind zu klein, um auszusprechen, was sie bedrückt, es wurde ihnen verboten, auszusprechen, was sie bedrückt, oder sie werden nicht gehört. Ich möchte Ihnen jetzt drei Fallbeispiele vorstellen, und ich habe das Symptom der Enuresis (Einnässen; Enuresis nocturna, nächtliches Einnässen) herausgegriffen, das in der Psychosomatik auch als „das Weinen mit der Blase“ bezeichnet wird. Fallbeispiel 1: „Paulinchen war allein zu Haus, die Eltern waren beide aus.“ (Struwwelpeter) Das Kind heißt nicht Paulinchen, es heißt Sefkie. Es ist ein türkisches Mädchen. 12 Die Eltern haben die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen. Sefkie ist hier geboren. Sie ist 9 Jahre alt, als ich die Familie kennen lerne. Sie hat zwei jüngere Brüder. Eigentlich sind die es, die hauptsächlich zu mir in die Ordination kommen. Die Familiensituation ist nach außen hin „ordentlich und gut“. Der Vater geht einer geregel- ten Arbeit nach, die Mutter ist Hausfrau. Sefkie ist eine sehr gute Schülerin. Die Eltern sind sehr stolz auf sie. Sie wird ins Gymnasium kommen. Bei dieser Gelegenheit, bei dieser Erstanamnese, erzählt mir die Mutter nicht, dass das Mädchen noch einnässt und mit ihren 9 Jahren in der Nacht noch eine Windel braucht. Tagsüber ist sie seit ihrem dritten Lebensjahr sauber. Ich sehe Sefkie in meiner Ordination dann zwei Jahre lang nur in Begleitung ihrer Brüder. Doch eines Tages kam die Mutter mit ihr allein zu mir in die Ordination. Sefkie hat Probleme. Sie will nicht mehr in die Schule gehen. Ihre Schulleistungen werden schlecht. Sie war im Vorjahr doch eine der Klassenbesten. Daraufhin biete ich den Eltern einen Termin für ein ausführliches Gespräch an. Es kommt nur die Mutter. Sie erzählt mir, dass von der Schule aus in einigen Monaten eine Exkursion geplant ist. Da muss das Mädchen natürlich einige Tage außer Haus übernachten. Bis jetzt weiß niemand, dass sie in der Nacht einnässt, aber dann werden alle anderen Kinder von ihrem Problem wissen. Sie werden wissen, dass sie in der Nacht eine Windel braucht. Sie wird dort mit niemandem in einem Zimmer schlafen können. Die Mutter bittet mich, doch eine Krankschreibung auszustellen, damit Sefkie nicht auf diese Exkursion mitfahren muss. Sie hat schon mit der Lehrerin gesprochen und gesagt, dass Sefkie nicht mitfahren möchte. Aber die Schule hat darauf bestanden, dass alle Kinder mitfahren, auch die türkischen Mädchen. Bei diesem Gespräch zwischen Lehrerin und Mutter dürfte herausgekommen sein, dass die Eltern einfach nicht wollen, dass das Kind das elterliche Zuhause verlässt und einige Tage auswärts übernachtet. Da die Lehrerin nun aber nichts von Sefkies zusätzlichem Problem gewusst hat, hat sie darauf bestanden, dass sie mitfährt. Das hat das Mädchen in einen so großen Konflikt gebracht, dass es einfach nicht mehr in die Schule gehen wollte und dass ihre Schulleistungen nach und nach schlechter geworden sind. Für die Eltern hatte das Einnässen keinen Krankheitswert. Außerdem gab ihnen dieses Problem ihrer Tochter die Möglichkeit, sie „im Haus zu halten“ und ihr so Selbstständigkeit zu verwehren. Bei meinem Gespräch mit der Mutter ist herausgekommen, dass sie für das Problem ihrer Tochter nur wenig Verständnis hat. Das Kind ist einmal durchuntersucht worden, doch die urologische Durchuntersuchung wurde abgebrochen. Die Eltern haben einer weiteren Untersuchung im Urogenitalbereich nicht zugestimmt. Für die Nichtmediziner unter Ihnen: Es gibt manchmal über ein gewisses Alter hinaus ein nächtliches Einnässen. Das ist durch eine Problematik im hormonellen System bedingt. Sefkies Eltern litten beide bis hin zur Pubertät an dieser Form der Enuresis. Daher haben sie dem Einnässen ihrer Tochter auch keinen Krankheitswert beigemessen. Und außerdem – und da sehe ich die eigentliche seelische Vernachlässigung – haben die Eltern dieses Problem des Mädchens benutzt, um sie „im Haus zu halten“, um ihr Selbstständigkeit zu verwehren. Sie haben ihrer Tochter noch zusätzlich gedroht: „Wenn du wirklich hinfahren willst, dann werden alle davon erfahren, und es wird eine Schande sein für die ganze Familie.“ Nur der Leistungsabfall in der Schule und dass sie zweimal versucht hat, Schule zu schwänzen, hat die Mutter zu mir gebracht. Wir konnten dann in einem Gespräch doch noch einen Kompromiss finden. Ich habe der Mutter einen Brief an die Lehrerin mitgegeben, in dem ich das Problem genau beschrieben habe. Die Mutter hat mir versprochen, mit der Lehrerin Kontakt aufzunehmen, ihr den Brief zu geben und das Problem mit ihr zu besprechen. Im Endeffekt konnte das Mädchen dann auf diese Schulexkursion mitfahren. Dieser Fall ist noch relativ „gut ausgegangen“ – vielleicht auch deshalb, weil die Eltern doch nicht mehr allzu weit davon entfernt waren, selbst Maßnahmen zu setzen. Im nächsten Fall ist es so, dass die Eltern zwar wollen, aber nicht mehr können. Denn auch Eltern können ein Burn-out-Syndrom bekommen, also ausbrennen. Und mit ihnen die Kinder – unter gewissen Voraussetzungen. 13 Fallbeispiel 2: „Es brennt die Haut, es brennt das Haar, es brennt das ganze Kind sogar.“ (Struwwelpeter) Bernhard ist 10 Jahre alt. Er ist von Geburt an ein leicht behindertes Kind. Er besucht die Sonderschule. Seine Mutter ist ebenfalls behindert, aber nur motorisch. Sie hat eine Gangstörung. Der Vater kümmert sich sehr liebevoll um beide. Er verbringt viel Zeit mit der Familie. Als Bernhard 9 Jahre alt ist, kommt ein Nachzügler. Bernhard bekommt einen kleinen Bruder. Er reagiert sehr eifersüchtig auf das Baby. Er will wieder aus der Flasche trinken und Windeln tragen. Er spricht das auch einmal in der Ordination aus und sagt: „Ich will wieder eine Windelhose anziehen.“ Er beginnt nachts vermehrt einzunässen. Die Eltern haben vorbildlich reagiert. Sie haben das von sich aus als Eifersuchtsreaktion gedeutet. Sie waren mit ihm in der Ordination, haben von den Problemen mit ihm erzählt und haben gefragt, ob sie etwas machen sollen, und was geschehen soll. Ich war auch der Ansicht, dass es sich um eine Eifersuchtsreaktion handelt. Wir haben uns daher geeinigt, einmal abzuwarten. Der Vater hat sich vermehrt Bernhard zugewendet, hat mit ihm viele Ausflüge gemacht, hat mit ihm viel gemeinsam unternommen, und nach ein paar Wochen ist das Symptom „Einnässen“ wieder verschwunden. Der Vater hat überhaupt sehr viel in dieser und für diese Familie gemacht und war immer für die Familie da. Bernhards kleiner Bruder bekam eine schwere akute Erkrankung und musste ins Krankenhaus. Bernhard wurde während dieser Zeit zu einer älteren Verwandten gegeben, die sehr rigide Erziehungsvorstellun gen gehabt haben dürfte. Bernhard begann wieder einzunässen. Ein Jahr später hat Bernhards kleiner Bruder eine schwere akute Erkrankung bekommen. Er musste sofort ins Krankenhaus, war einige Tage sogar auf der Intensivstation, und man hat am Anfang überhaupt nicht gewusst, ob er überleben wird. In dieser Situation wurde die Mutter mit dem Kind gemeinsam im Krankenhaus aufgenommen. Auch der Vater war sehr oft im Krankenhaus beim kleinen Bruder und bei der Mutter. Bernhard wurde unter diesen Umständen auf unbestimmte Zeit zu einer älteren Verwandten gegeben. Diese Frau dürfte sehr rigide Erziehungsvorstellungen gehabt haben. Und Bernhard begann wieder einzunässen. Die Verwandte hat ihn daraufhin in der Nacht aufgeweckt. Sie hat ihn das Bett abziehen lassen. Sie hat ihn in die Ecke gestellt. Aber das haben wir erst nachher erfahren. Als Bernhard dann wieder zu Hause war und sich die Situation mit dem Bruder weitgehend beruhigt hat, hat Bernhard aber nicht nur eingenässt, sondern auch begonnen einzukoten. Und er hat seine schmutzigen Unterhosen in den Schultaschen der anderen Kinder versteckt. Die Mutter ist zu mir gekommen und hat gesagt „Bitte, helfen Sie uns. Wir halten das nicht mehr aus. Das Kind muss ins Krankenhaus. Was sollen wir denn nur tun?“ Es wurde ein Gespräch zwischen Lehrerin, Schulpsychologen und den Eltern geplant. Der Schulpsychologe hat diese von den Eltern geschilderte Situation als Problem der ganzen Familie wahrgenommen. Er war auch Psychotherapeut. Er hat mit Bernhard in der Schule – sodass die Eltern nicht noch zusätzlich zeitlich belastet waren – eine Spieltherapie begonnen, und nach einem halben Jahr waren das Einkoten und Einnässen wieder verschwunden. Ich habe Ihnen das als Beispiel dafür gebracht, dass auch bei einer Familie, die für ihre Kinder sehr viel tut und auch Symptome richtig erkennen und deuten kann, durch äußere Umstände eine Situation entstehen kann, in der ein Kind so völlig in den Schatten gestellt wird, so „vernachlässigt“ wird, dass es das nicht verkraftet. 14 Fallbeispiel 3: „Ein Häuflein Asche bleibt allein und beide Schuh’, so hübsch und fein.“ (Struwwelpeter) Das Thema hier heißt: Wohlstandsverwahrlosung. Im Gegensatz zu Verwahrlosung, wo alle Ressourcen fehlen, sind bei Wohlstandsverwahrlosung fast alle Ressourcen vorhanden – außer einer: nämlich jener, dass die Probleme des Kindes richtig erkannt und richtig gedeutet werden. Das Mädchen Sandrina hat gleich nach ihrer Geburt Harnwegsinfekte gehabt. Es wurde eine schwere Nierenmissbildung festgestellt. Das Kind ist im Säuglingsalter zweimal operiert worden. Sie bekommt eine Dauertherapie mit Antibiotika. Die Eltern wohnen mit der Großmutter in einem Haushalt. Es kann immer jemand auf Sandrina aufpassen. „Es ist immer jemand für Sandrina da.“ Es fällt aber auf, dass in bestimmten Situationen, die von den Erwachsenen als belastend empfunden werden, das Kind offensichtlich keine oder eine inadäquate Betreuung und Unterstützung erhält. So ist es zum Beispiel gewesen, als Sandrina mit 16 Monaten für 10 Tage im Krankenhaus aufgenommen werden musste. Während dieser Zeit wurde sie von den Eltern und der Großmutter nur zweimal besucht. Der Vater kam nicht öfter, weil er die Krankenhausatmosphäre nicht aushält, die Mutter, weil sie verzweifelt ist, wenn das Kind weint. Wenn sie kommt und wenn sie geht, weint das Kind. Die Großmutter kommt deshalb nicht, weil sie zu dieser Zeit keine Zeit hat und eigentlich auch nicht so gerne ins Krankenhaus geht. „Das Kind leidet nur, wenn wir kommen“, so sagten sie mir. Ich habe versucht, die Eltern aufzuklären, dass das Verhalten des Mädchens verständlich ist und Sandrina gerade unter diesen Umständen ihre Bezugspersonen dringend in ihrer Nähe braucht. Es ist mir nicht gelungen. Mir ist dann weiters aufgefallen, dass die Eltern sich bei Impfungen geweigert haben, beim Kind zu bleiben. Normalerweise ist es so, dass die Eltern das Kind während der Impfung im Arm halten wollen. Diese Eltern wollten den Ordinationsraum verlassen. Die Großmutter hat das dann übernommen. Sie hielt das Kind im Arm, aber auch sie hat sich beim Einstich weggedreht. Die Situation war dann oft so, dass sie gesagt hat: „Es tut überhaupt nicht weh. Du bist das schönste Mäderl von der ganzen Welt. Da kann dir gar nichts passieren. Wenn du nicht weinst, kauft dir die Oma, was du willst. Oder: Wenn du weinst, kauft dir die Oma, was du willst. Jetzt hast du so viel geweint, und die Frau Doktor hat dir so viel wehgetan, da kannst du dir aussuchen, was du willst.“ Auf die Frage, „wie es dem Kind geht“, haben die Eltern immer geantwortet: „Es geht ihr gut, sie bekommt ja alles, was sie will.“ Mit drei Jahren hat Sandrina Trotzanfälle bekommen – in diesem Alter ein entwicklungsbedingter Vorgang. Ihre Trotzanfälle wurden anfänglich „mit Geschenken abgewürgt“. Trotzdem wurden sie immer häufiger und heftiger, sodass die Eltern dem Verhalten ihrer Tochter hilflos gegenüber gestanden sind. Die familiäre Situation war so, dass die Großmutter ganz andere Erziehungsmaßnahmen gesetzt hat als jeweils Mutter und Vater. Eines Tages sagte der Vater: „Ich will jetzt, dass das Kind in den Kindergarten kommt, damit zu Hause endlich Ruhe ist.“ Und „eh nur in den besten Privatkindergarten“. Das Kind ist dann in den Kindergarten gekommen, obwohl die Großmutter dagegen war („Ein Kind gehört nach Hause, dort geht es ihm am besten!“). Und im Kindergarten hat Sandrina wieder begonnen einzunässen. Zum Einnässen ist zu sagen: Ich habe die Eltern mehrmals darauf hingewiesen, dass bei einem Kind mit einer schweren Nierenschädigung die Sauberkeitserziehung nicht zu früh beginnen soll, dass sie Geduld haben sollen. Die familiäre Situation war so, dass die Großmutter ganz andere Erziehungsmaßnahmen setzte als Mutter und Vater. Die Hinweise, dass möglicherweise diese unterschiedlichen Ansichten und Anforderungen ihrer Sandrina war bei ihrem 2. Geburtstag Tag und Nacht sauber! Die Oma sagte zu mir: „Meine Tochter war schon mit einem Jahr sauber, und auf so was muss man Wert legen!“ 15 Bezugspersonen für Sandrinas Symptome verantwortlich sein könnten, wurden ignoriert. Da Sandrina im Kindergarten also wieder mit dem Einnässen begann, hat die Oma das Kind zu mir gebracht und gesagt, ich solle doch jetzt endlich den Eltern mitteilen, dass der Kindergarten das Kind krank macht. Sie würde ja wieder einnässen. Meine Hinweise, dass möglicherweise die unterschiedlichen Ansichten und Anforderungen ihrer Bezugspersonen Sandrinas Symptome beeinflusst haben könnten, wurden ignoriert. Es wurde dann ein anderer Kindergarten ausgesucht, und nachdem auch dort die Enuresis aufgetreten ist, habe ich mit den Eltern ein Gespräch geführt und ihnen zu einer Familientherapie geraten. In die Familientherapie sind sie nicht gegangen, obwohl jedes einzelne Familienmitglied gesagt hat, wie schwierig die familiäre Situation zu Hause wäre. Mit Sandrinas Problem „hat das aber nichts zu tun, denn sie hat ja alles, was sich ein Kind nur wünschen kann“. In Fällen, wo Kinder auf diese Weise vernachlässigt werden, ist es sehr schwierig einzugreifen, auch wenn man als Kinderarzt in der Praxis an erster Stelle für eine Prävention steht, da diese Eltern meist sehr „symptomorientiert“ sind. Eine Hilfe von außen kann jedoch von den Bezugspersonen nicht angenommen werden, da sie nicht erkennen, was dem Kind „wirklich fehlt“. „Es hat ja alles! Es ist ja alles da! Es ist das schönste Mädchen von der ganzen Welt, es wird ihm alles gegeben! Es hat alles, was es will!“ „Ein Häuflein Asche bleibt allein und beide Schuh’, so hübsch und fein.“ 16 „Sei hübsch ordentlich und fromm, bis nach Haus ich wieder komm“ „Elternbildung – wie wollen Kinder erzogen werden?“ Referentin: Dr. Luitgard Derschmidt Ich bin in der Elternbildung tätig, ich bin aber auch Mutter dreier erwachsener Kinder und habe auch als Mutter so meine Erfahrungen mit psychischer Gewalt. Mein heutiges Thema ist die „normale“, die alltägliche psychische Gewalt, die auch heute noch in der Erziehung immer wieder vorkommt. Der Begriff „psychische Gewalt“ ist sehr schwer zu definieren. Bei physischer Gewalt sieht man Wunden, bei psychischer Gewalt sind die Verletzungen nicht sichtbar. Psychische Gewalt kommt im ganz normalen Erziehungsalltag oft vor, wobei sie vielfach nicht bewusst, meist auch nicht absichtlich angewendet wird. Was ist psychische Gewalt? Ich möchte die Liste dessen, was psychische Gewalt ist, noch ergänzen. Psychische Gewalt ist Vernachlässigung, es kann aber auch ein Übermaß an erstickender Liebe sein. Psychische Gewalt ist auch das Wechselbad zwischen das Kind einmal an sich ziehen und übermäßig lieben und es dann wieder zurückweisen. Psychische Gewalt kommt auch im Zusammenhang mit der Problematik der Strafe vor. Wenn Strafe zu einem Zeitpunkt vollzogen wird, wo das Kind gar nicht mehr weiß, was es getan hat, kann das Kind die Strafe nicht als Konsequenz seiner Handlungen erkennen. Wenn keine Grenzen gesetzt werden, leiden Kinder genau so, wie wenn sie zu sehr eingeengt werden. Wenn keine Grenzen gesetzt werden, leiden Kinder genau so, wie wenn sie zu sehr eingeengt werden. Psychische Gewalt ist auch, wenn Eltern ihren Kindern Orientierung verweigern und sich ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kindern entziehen. Psychische Gewalt kann auch sein, wenn Kinder das tun müssen, was die Eltern immer gerne selbst tun wollten. Wenn sie das werden sollen, lernen sollen, das bekommen sollen, was eigentlich die Eltern haben wollten, wenn sozusagen das Leben der Eltern den Kindern auferlegt wird. Psychische Gewalt ist immer dort, wo Angst als Erziehungsmittel eingesetzt wird, wenn mit Druck, mit Unterdrückung erzogen wird, wenn Kinder klein gemacht, klein gehalten und abgewertet werden. Sie alle kennen Aussagen, die dafür typisch sind. Ich möchte nur ein paar erwähnen – Sie können die Liste ja dann beliebig ergänzen: „Ich werd’ dir schon zeigen, wer der Stärkere ist“, „In meinem Haus wird gemacht, was ich sage“, „So lange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, tust Du, was ich will.“ Psychische Gewalt ist auch, wenn Eltern ihren Kindern Orientierung verweigern und sich ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kindern entziehen. Aber auch: „Ich habe um deinetwillen so viel aufgegeben, die vielen Nächte, die Liebe, meinen Beruf, mein Leben ...“, „Ich hab’ ja nur dich“, „Ich weiß am besten, was für dich gut ist.“ Auch in der religiösen Erziehung, das sage ich ganz bewusst als kirchliche Mitarbeiterin, ist sehr viel mit psychischer Gewalt gearbeitet worden. Leider. „Der Himmelvater ist böse, wenn Du ...“ – ich glaub’, Sie können diese Liste ergänzen. 17 Warum wird geliebten Kindern von liebenden Eltern Gewalt angetan? Warum verhalten sich Eltern so? Warum setzen Eltern psychische Gewalt bei der Erziehung ein? Eltern lieben ihre Kinder und wollen sie gut erziehen. Ich behaupte einmal, Eltern lieben ihre Kinder und wollen sie gut erziehen. Ich möchte diese These so in den Raum stellen. Ich behaupte, dass die meisten Eltern ihre Kinder grundsätzlich lieben und ihnen nichts Böses wollen. Und etwas Zweites: Ich glaube, dass Eltern elterliche Kompetenzen haben, auch wenn sie mit diesen oft sehr schlecht umgehen. Wenn wir, wie gesagt, davon ausgehen, dass Eltern ihre Kinder lieben und das Beste für sie wollen, dann müssen wir uns schon fragen: Warum wird geliebten Kindern von liebenden Eltern Gewalt angetan? Ich möchte da dreierlei besonders zu bedenken geben: Weil Eltern selbst mit psychischer Gewalt erzogen wurden Eltern üben psychische Gewalt meist unbewusst und unwillentlich aus, und sie erkennen sie oft nicht einmal als solche, weil sie selbst mit psychischer Gewalt erzogen worden sind. Sie haben ihre eigenen Verletzungen vergessen oder verdrängt und übernehmen einfach die Verhaltensweisen ihrer Eltern. Oder: auch wenn sie sich der psychischen Gewalt in der eigenen Erziehung bewusst sind und ihren Kindern auf keinen Fall das antun wollen, worunter sie selber gelitten haben, fallen sie oft automatisch in diese Verhaltensweisen zurück. Es gibt auch so etwas wie eine Fixierung: Genau das, was ich absolut vermeiden will, mach ich dann gerade selbst. Aus meiner eigenen Erfahrung als Mutter kann ich, ja muss ich das leider auch bestätigen. Einengen, Angst machen, Willen brechen, damit etwas Neues, Gutes wachsen kann Manche Eltern meinen, ihre Kinder würden am besten lernen, wenn mit besonderem Nachdruck vorgegangen wird – das Wort spricht wohl für sich ... Manche Eltern jedoch setzen psychische Gewalt bewusst als Erziehungsmittel ein, weil sie der Meinung sind, man müsse so erziehen. Auch sie wollen für ihre Kinder das Beste, und sie sind eben der Meinung, dass ihre Kinder so am besten lernen würden und es sich so auch am besten merken würden, wenn mit besonderem Nachdruck – das Wort spricht schon für sich – vorgegangen wird. Hier geht es natürlich um Erziehungsstile, um verschiedene Erziehungstheorien oder grundsätzliche Überzeugungen. Im puritanischen England des 17. Jahrhundert, zur Zeit Cromwells, wurde die grundsätzliche Überzeugung vertreten, dass Kinder von Natur aus schlecht sind. Ihr Wille müsse gebrochen werden, damit sie zu guten und sozialen Menschen gemacht werden können. Bei „David Copperfield“ oder im „Struwwelpeter“ ist das zu spüren. Diese Überzeugung muss natürlich ein bestimmtes Erziehungsverhalten bewirken, gerade wenn man seine Kinder liebt. Einengen, Angst machen, Willen brechen, damit etwas neues Gutes wachsen kann. Wenn man nun aber der Meinung ist, dass Kinder von Natur aus gut sind und Erziehung eigentlich bedeutet, für Kinder Bedingungen zu schaffen, in denen sie sich gut entfalten und entwickeln können, so muss das natürlich zu einem völlig anderen Erziehungsverhalten führen. 18 Auch überholte Erziehungstheorien wirken sehr viel länger nach, wenn auch nicht bewusst in den Köpfen der Menschen, so doch oft unterschwellig in spontanen Verhaltensweisen in Situationen von Unsicherheit und Überforderung – und nicht, weil Eltern es so wollen. Druck erzeugt Druck – Eltern in schwierigen Situationen Es gibt Situationen, in denen Eltern unter Stress, außergewöhnlichen Belastungen und besonderem Druck stehen. Und dann geben sie diesen Druck weiter. Als Beispiel könnte ich hier die Situation im Supermarkt anbieten, die jede Mutter eines kleinen Kindes sehr gut kennt: Das Kind schreit, strampelt, will etwas Bestimmtes haben. Alle, Kunden, Verkäufer und Verkäuferinnen etc. schauen her. Sie alle – so schießt es der Mutter durch den Kopf – haben natürlich viel bravere Kinder und wissen auch viel besser, was man jetzt tun sollte. Nur man selbst wird mit dieser Situation nicht fertig. Als Mutter denkt man in Panik nur das Eine: So schnell wie möglich „das Geschrei“ abstellen. Stresssituation: schreiendes Kind in der Öffentlichkeit Stress, Hektik und Schwierigkeiten, in denen Eltern stecken, werden oft an den Kindern ausgelassen. Das reicht von materiellen bis zu beruflichen Schwierigkeiten, z.B. Arbeitslosigkeit. Das gilt aber auch für persönliche Schwierigkeiten und besonders für die Situation der Scheidung der Eltern. In solchen überfordernden Situationen verhalten sich Eltern ihren Kindern gegenüber oft völlig atypisch. Auf Grund ihrer eigenen Schwierigkeiten, ihrer eigenen Verletzungen und Schmerzen fügen sie ihren Kindern Verletzungen zu. Kinder haben mit der Scheidung ihrer Eltern Probleme. Wie sie diese Probleme in ihrem Leben bewältigen können, hängt sehr davon ab, wie ihre Eltern sich ihnen gegenüber in dieser Phase verhalten. Wenn Eltern hier Bescheid wüssten, wäre ihnen das in dieser Problemsituation hilfreich, denn schaden, so behaupte ich noch einmal, wollen Eltern ihren Kindern nicht. Vieles geschieht unabsichtlich, unbewusst, wenn Eltern in Situationen stecken, wo sie einfach reagieren und nicht kontrolliert handeln. Wir müssen uns bewusst machen: Elterliche Erziehung findet bewusst durch beabsichtigtes Handeln und unbewusst durch das Zusammenleben von Eltern und Kindern statt. Wir können unsere Kinder noch so gut erziehen – sie machen uns doch alles nach. Die Bedeutung der Elternbildung Ich glaube, genau in diesem Punkt muss/kann Elternbildung ansetzen. Also zum Beispiel im Bewusst-Machen der Folgen der verschiedenen Verhaltensweisen. Hier kann Elternbildung hilfreich sein, besonders in der Prävention, weil Eltern dann mit ihren eigenen Handlungen bewusster umgehen können. Beratung und Therapie und auch Mediation haben ihren eigenen Stellenwert, sind wichtig und notwendig. Doch Bildung setzt meiner Meinung nach niederschwelliger und präventiv an. Verunsicherung der Eltern Bildung als Prävention ist gerade heute wichtiger denn je, weil es auf Grund der starken und schnellen Veränderungen unserer Gesellschaft für Eltern ungemein schwierig ist, sich zurechtzufinden. Man muss sich nur vergegenwärtigen, wie sehr Erziehungsbücher boomen. Offensichtlich, weil die Not und die Verunsicherung der Eltern in diesen Fragen sehr groß sind. Verunsicherte Eltern ziehen sich aus ihrer Erziehungsverantwortung zurück. Überkommene Traditionen und die Art, wie man selbst erzogen worden ist, sind heute nicht mehr immer „passend“ und müssen hinterfragt werden. Bei Bildungsveranstaltungen, vor allem am Land, höre ich sehr oft: „Ich möcht’ meine Kinder nicht so erziehen, wie ich selbst erzogen worden bin. Aber wie soll ich’s dann machen? Einiges war ja ganz gut, aber manches war für mich eher katastrophal.“ Auf Grund dieser Verunsicherung ziehen sich manche Eltern aus ihrer Erziehungsverantwortung zurück. 19 Eltern werden auch verunsichert, weil die Kinder heute sehr oft viel mehr wissen als ihre Eltern gelernt haben. Das erlebt man in den Dörfern am Land immer wieder: „Der weiß ja schon alles, was soll ich ihm noch sagen?“ Und so verweigern die Eltern ihren Kinder das Lebenswissen, das sie ihnen doch schuldig sind. Dafür reagieren die Eltern aber dann in Situationen, wo sie das Gefühl haben, „Jetzt muss ich was tun“, zu heftig und meist falsch. Sie erkennen dann selbst, dass sie da falsch reagiert haben. Dies verunsichert sie nun noch mehr, und sie ziehen sich weiter zurück. Das ist ein Teufelskreis, in den Eltern manchmal geraten. Elternbildung soll den Eltern ihre Stärken und Kompetenzen bewusst machen. Hier kann Elternbildung auf vielfältige Weise helfen. Die grundsätzliche Aufgabe der Elternbildung ist, den Eltern bewusst zu machen, dass sie Stärken haben und dass sie auch kompetent sind. Zusätzlich muss Elternbildung aber auch Information geben. Denn vieles wissen Eltern einfach nicht, ob es nun auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie oder in einem anderen Bereich ist. Wichtig ist die Weitergabe von fachlich richtiger, also auf dem neuesten Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse basierender Information. Bewusstsein durch Wissen Aber um mehr Bewusstsein zu erreichen, muss Wissen vermittelt werden. Information ist nicht schon Wissen. Wissen ist angeeignete, persönliche Information, die mit dem eigenen Leben, mit der eigenen persönlichen Situation, mit der eigenen Wirklichkeit in Beziehung gebracht werden muss. Damit die Information, die man bekommt, auch verarbeitet werden kann, braucht es sinnvolle methodische Angebote, um die Inhalte in das eigene Bewusstsein aufnehmen zu können. Auch da gibt es klare wissenschaftliche Erkenntnisse, unter welchen Umständen Erwachsene am besten lernen, welche Sinneskanäle angesprochen werden müssen, welche Vermittlungstechniken am zielführendsten sind und so weiter. Gute Bildungsangebote müssen auf diesen Erkenntnissen basieren, damit Eltern das, was sie in den Elternbildungskursen hören, auch wirklich verarbeiten, in ihr Bewusstsein aufnehmen und später umsetzen können. Ein weiterer wichtiger Bereich guter Angebote ist der Austausch zwischen den Eltern. Eltern sind Betroffene, wie man heute so schön sagt, das heißt, sie sind auch Fachleute für ihre eigene Situation. Und der Austausch zwischen Fachleuten bringt sehr viel an Entlastung, an Wissenszuwachs und Erkenntnissen. Ein weiterer notwendiger Schritt wäre dann, dass die auf Grund der erworbenen Kenntnisse zu verändernden Verhaltensweisen ein Stück weit auch eingeübt werden können, damit sie dann in schwierigen Situationen spontan zur Verfügung stehen. Elternbildung ist: ð Information – Wissen ð ð Interaktion – Methoden – Austausch ð ð ð Einüben neuer, veränderter Verhaltensweisen – Training Kinder sind keine Knetmasse Sie sehen schon, das sind anspruchsvolle und auf eine gewisse Weise aufwändige Bildungsangebote, die hier verlangt sind. Eltern brauchen die Stärkung ihrer Kompetenzen und dürfen nicht durch falsch verstandene Angebote noch weiter verunsichert werden. Rezepte aber, so wie manche es wünschen, die gibt es nicht und kann es nicht geben, weil unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen verschieden reagieren und einfach auch Verschiedenes brauchen. 20 „Es gibt keine Sicherheit, aber ungemein viel Angst, sie zu verlieren.“ (Phil Bosmann) „Rezepte“ können in der Elternbildung nicht gegeben werden. Es kann keine Rezepte geben, weil Kinder keine Knetmasse sind, die man nach Anleitung formen kann. Würde man das versuchen, würde man ihnen Gewalt antun, psychische, aber auch physische, weil sie in ihrem Menschsein nicht ernst genommen und übergangen werden. Das Gelingen der Erziehung hängt auch vom guten Willen der Kinder ab. Und ich glaube, das muss man sich, vor allem als Elternteil, immer wieder vor Augen halten. In der Elternbildung geht es um mehr Verständnis, um mehr Klarheit, um mehr „Echtheit“ (Erik H. Erikson). Die Eltern in ihrer elterlichen Kompetenz zu stärken, die eigenen Fähigkeiten und Stärken den Eltern bewusst zu machen und sie zu unterstützen ist nötig. Was soll in der Elternbildung noch vermittelt werden: wertschätzendes Verhalten, die Achtung vor der Person des Kindes, der sensible, behutsame Umgang mit Schwierigkeiten, aber auch das sinnvolle Setzen von hilfreichen Grenzen. Wie Eltern-Kind-Gespräche gelingen können, wie Auseinandersetzungen, die immer wieder notwendig sind, konstruktiv ausgetragen werden können, soll in Elternbildungsseminaren erarbeitet und – das ist, glaub’ ich, ganz besonders wichtig – erlebt werden können, denn das ist es, was Eltern im Umgang mit ihren Kindern brauchen, um psychische Gewalt zu vermeiden. Eltern brauchen die Stärkung ihrer Kompetenzen und dürfen nicht durch falsch verstandene Angebote noch weiter verunsichert werden. Eltern sind heute in einer schwierigen Situation Natürlich muss Elternbildung bei der Situation und Befindlichkeit der Eltern ansetzen. Eltern müssen in ihrer Situation ernst genommen werden. „Alles Lernen beginnt bei mir und mit mir“, sagt Xaver Fiederle, Professor für Erwachsenbildung in Freiburg. Und: „Ich weiß nur, was ich wissen will.“ (Jean Piaget) Eltern müssen in ihrer Situation ernst genommen, in ihrer Sprache informiert werden, und sie müssen die sanfte Pädagogik, die notwendig ist, um psychische Gewalt zu vermeiden, selbst erleben und erfahren, damit sie diese im Umgang mit ihren Kindern anwenden können. Genauso wie mit Kindern umgegangen werden soll, muss in der Elternbildung auch mit den Eltern umgegangen werden. Denn nur durch das Vor- und Er leben können Eltern den richtigen „Umgang“ lernen und verstehen. „Kinder können nur so glücklich oder unglücklich werden wie es die Erwachsenen sind, in deren Welt sie aufwachsen müssen.“ (Johanna Romberg) Und in diesem Zusammenhang müssen wir uns aber auch bewusst machen, dass die Situation der Eltern heute wirklich eine schwierige ist. „Ich weiß nur, was ich wissen will.“ Jean Piaget. Kinder können nur so glücklich oder unglücklich werden wie es die Erwachsenen sind, in deren Welt sie aufwachsen müssen. (Johanna Romberg) Im Beruf, in der Gesellschaft, in der Öffentlichkeit ist teilweise ein völlig anderes Verhalten gefragt als in der Familie. Familien- und Berufsverhalten klaffen auseinander. In einer zunehmend kälter werdenden Gesellschaft herrscht Leistungsdruck, Konkurrenzkampf, gibt es Ängste, gibt es Ausgrenzung, gibt es Mobbing. In dieser Welt sind auch Erwachsene, Eltern, jeder Menge psychischer Gewalt ausgesetzt. Solidarität geht verloren, wir leben in einer gewalttätigen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist Elternbildung wichtig, weil sie Raum geben kann, diese Erfahrungen aus der persönlichen Betroffenheit zur Sprache zu bringen und andere Verhaltensweisen anzusprechen und auszuprobieren. Und genau diese sanfte Art ist es auch, wie Referenten und Referentinnen mit ihren Teilnehmern und Teilnehmerinnen umgehen müssen. Sie müssen darauf achten, dass auch diese so miteinander umgehen, denn Eltern sind in Bildungsveranstaltungen nicht Publikum. Eltern sind Teilnehmer und Teilnehmerinnen, sie sind Lernpartner und Lernpartnerinnen. 21 Elternbildung soll helfen, Schwächen nicht gewalttätig auszumerzen, sondern Stärken zu verstärken und dadurch die Schwächen abzubauen. Für diese Elternbildung braucht es aber speziell ausgebildete Ausbildner und Ausbildnerinnen und Angebote guter Aus- und Weiterbildungen. Es braucht Referenten und Referentinnen, die gelernt haben, die einzelnen Wissensgebiete zusammenzuführen und zu vernetzen, gemeinsam zu betrachten und anzubieten. Nur so ist die Elternbildung für Eltern hilfreich und kann auch in ihre Alltagsrealität einfließen. Es braucht Referenten und Referentinnen, die Übersetzungsarbeit leisten können, die die wissenschaftlichen oder fachspezifischen Formulierungen so „übersetzen“, dass die Menschen die Botschaft auch verstehen und mit ihrem eigenen Leben in Berührung bringen können. Es braucht Referenten und Referentinnen, die gelernt haben, nicht Schwächen gewalttätig auszumerzen, sondern Stärken zu verstärken und dadurch die Schwächen abzubauen. Nur so können Eltern erfahren, wie sie dann daheim mit ihren Kindern umgehen sollen. Elternbildung soll helfen, Schwächen nicht gewalttätig auszumerzen, sondern Stärken zu verstärken und dadurch die Schwächen abzubauen. Kinder wollen bedingungslos geliebt werden. Kinder wollen, dass verantwortlich mit ihnen umgegangen wird, damit sie lernen können, selbst Verantwortung zu übernehmen. Kinder wollen hilfreich begleitet werden, damit sie später selbstständig ein glückliches Leben führen können. 22 Zum Abschluss: Wie wollen Kinder denn erzogen werden? Sie wollen zuallererst geliebt werden, so wie sie eben sind. Und diese Zuneigung darf nicht an Bedingungen geknüpft werden. Kinder wollen frei agieren können, wollen lieben lernen, damit sie auch später selbst in Beziehung treten können. Sie wollen wertschätzend behandelt werden, in der Würde ihrer eigenen Person geachtet und ernst genommen werden, damit sie ihren eigenen Wert erkennen und ihren Selbstwert aufbauen können. Kinder wollen Orientierung und Halt finden, hilfreiche Grenzen erfahren, damit sie auch später erkennen und entscheiden können, was für ihr Leben Sinn macht und was keinen Sinn macht. Und: Kinder wollen, dass man verantwortlich mit ihnen umgeht, damit sie auch fähig werden, Verantwortung zu übernehmen, für sich selbst, für die Menschen, mit denen sie zu tun haben, für die Gesellschaft und die Umwelt. Sie wollen einfach, dass Eltern, Erzieher und Erzieherinnen oder Lehrer und Lehrerinnen sie hilfreich begleiten, sodass sie später selbstständig ein glückliches Leben führen können. „Also sprach in ernstem Ton der Papa zu seinem Sohn“ „Väter im Erziehungsalltag“ Referent: Dr. Harald Werneck Ich möchte speziell auf die Rolle der Väter als Urheber der psychischen Gewalt an den Kindern eingehen. Im Zuge dessen möchte ich auch (nochmals) auf die verschiedenen Formen der psychischen Gewalt im Erziehungsalltag eingehen und auf die Frage, wo die Grenze liegt zwischen sinnvollen und notwendigen Erziehungsmaßnahmen einerseits und Maßnahmen, die bereits – mehr oder weniger – als psychische Gewalt zu klassifizieren sind, andererseits. Schließlich sollen auch Anregungen für einen gewaltfreieren Erziehungsalltag gegeben werden. Was ist psychische Gewalt? Um sich zum Themenbereich psychische Gewalt systematisch Gedanken zu machen, scheint es mir aber vorerst angemessen, in Ergänzung zu den bereits vorangegangenen Definitionen zu deklarieren, auf welchem Verständnis von psychischer Gewalt meine Ausführungen beruhen. Der Misshandlungsbegriff kann ja (wie bereits gehört) insbesondere im Bereich der psychischen Gewalt enger und weiter gefasst werden. Im Gegensatz zu strafrechtlichen Entscheidungskontexten etwa scheint es im Zusammenhang mit präventiven Überlegungen sinnvoll, sich an breiten Gewaltdefinitionen zu orientieren. Ich lege meinen Ausführungen zuerst einmal eine Definition in Anlehnung an das Konzept von Garbarino, Guttmann und Seeley (1986) zu Grunde, wo unter psychischer Gewalt alle Handlungen und Unterlassungen von Eltern und Bezugspersonen verstanden werden, die Kinder ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit übermitteln und sie in ihrer psychischen und/oder körperlichen Entwicklung beeinträchtigen können. Dazu zählen grundsätzlich nicht nur die extremen Formen seelischer Grausamkeit, sondern auch auf den ersten Blick vielleicht harmlosere Varianten elterlichen Verhaltens, wie zum Beispiel ständiges Schimpfen oder das demonstrative Bevorzugen eines Geschwisterkindes; auf diese Formen möchte ich dann später noch eingehen. Alle Handlungen und Unterlassungen von Eltern und Bezugspersonen, die Kinder ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit vermitteln und sie in ihrer psychischen und/oder körperlichen Entwicklung beeinträchtigen, können als psychische Gewalt verstanden werden. Aus dieser breiten Definition wird aber zugleich deutlich, wie schwierig es ist, eine Grenze zwischen üblichen, weitgehend tolerierten Erziehungspraktiken und psychisch schädigendem Elternverhalten zu ziehen. Hier geht es also vor allem um die Frage des geeigneten Erziehungsstils. Erziehung – eine Frage des Stils? Schon in den 30er-Jahren wurden die verschiedenen Erziehungsstile einer Dreiteilung unterworfen, die sich mit leichten Modifikationen im Wesentlichen bis heute bewährt hat. Diese drei „Grund-Erziehungsstile“ sind der autoritäre, der demokratische und der Laissez-faire-Stil. Zumindest die Namen dieser Erziehungsstile haben mittlerweile auch den Einzug ins Allgemeinwissen geschafft. Sie unterscheiden sich vor allem hinsichtlich des Grades der Lenkung einerseits und des Grades der emotionalen Wertschätzung durch die Erziehungspersonen andererseits. Diese mehr oder weniger bewusst gewählten Stile, die den Erziehungsalltag wesentlich 23 prägen, variieren in ihrer Anwendungshäufigkeit sehr stark – in Abhängigkeit von der Kultur, von individuellen Einstellungen, von Überzeugungen, vom gesellschaftlichen Kontext und nicht zuletzt auch von der Zeit. Der autoritäre Erziehungsstil Der autoritäre Erziehungsstil führt auf der einen Seite zwar kurzfristig oft zum erwünschten Resultat, längerfristig aber zu einer Verschlechterung der Beziehung der Kinder zu den Erziehenden. Bezeichnend ist, dass 1845 im „Zappelphilipp“, daraus stammt das Zitat meines Referattitels, der Vater seinen Sohn in ernstem Ton ermahnt. Dies ist bezeichnend einerseits für die Rollenaufteilung damals, aber auch bezeichnend für den früher wohl vorherrschenden Erziehungsstil, nämlich den autoritären. Dieser Erziehungsstil kann allgemein gekennzeichnet werden durch erhöhte Unfreundlichkeit, häufigeres Befehlen in der Erziehung, durch Pessimismus, Erregung, vermehrte Strafandrohungen und natürlich auch vermehrte Straferteilungen. Das führt auf der einen Seite bei den Kindern zwar kurzfristig oft zum erwünschten Resultat, andererseits aber längerfristig doch eher zu einer Verschlechterung der Beziehung zu den Erziehenden. Der autoritäre Stil provoziert in der Regel vermehrt ablehnende Reaktionen der Kinder, verstärkte Unfreiheit im Handeln, unmittelbare Angepasstheit – interessanterweise gepaart mit späterer Unangepasstheit – und natürlich eine Behinderung der seelischen Reifung allgemein. Dieser Umgang zwischen Erziehenden und Kindern wird in seiner Reinkultur als „schwarze Pädagogik“ bezeichnet. Diese Erziehungsform wird zwar von der Gesellschaft, vom „common sense“ mittlerweile nur mehr sehr bedingt akzeptiert, ist aber trotzdem zumindest immer noch eine potenzielle Quelle psychischer Gewalt am Kind. Dieser Erziehungsstil ist noch immer zumindest in den Hinterköpfen vieler verankert und somit häufiger im Erziehungsalltag präsent, als uns lieb ist. Der Laissez-faire-Stil Laissez faire führt zwar kurzfristig zu einer verbesserten Beziehung zu den Erziehenden, langfristig jedoch zu Desorganisation und Unangepasstheit. Abgelöst als weit verbreitetes Erziehungsideal wurde dieser autoritäre Stil in den späten 60er- und 70er-Jahren – Stichwort „antiautoritäre Erziehung“ – immer mehr durch das Ideal des „Laissez faire“. Hier legen die Erziehenden grundsätzlich Wert auf Ruhe, Verständnis und Höflichkeit im Erziehungsalltag, ansonsten vertrauen sie aber im Wesentlichen auf Selbstregulationsmechanismen der Kinder. Bei den so erzogenen Kindern führt dies zwar vermehrt zu Freiheit im Handeln, einer zumindest kurzfristig (oft nur vordergründig) verbesserten Beziehung zu den Erziehenden, zu positiveren Gefühlen den Erziehenden gegenüber, andererseits aber natürlich vor allem zu Desorganisation, im Endeffekt dann auch zu schlechteren Erziehungsergebnissen sowie zu einer unmittelbaren und auch späteren Unangepasstheit. Der demokratische Erziehungsstil Dieser Erziehungsstil wird oft auch als „sozialintegrativer Stil“ bezeichnet und sollte zumindest theoretisch im Wesentlichen die Vorteile der beiden vorher Genannten integrieren: nämlich das weit gehende Erreichen des Erziehungszieles (vom autoritären Erziehungsstil) und die relativ gute emotionale Beziehung zwischen Eltern und Kind (vom Laissez-faire-Stil). Von der grauen Theorie zur Praxis 24 Wie lässt sich das nun – zumindest annähernd – im Alltag umsetzen? Was gibt es für Ansätze, das tatsächlich auch im Alltag umzusetzen, wo ja vieles anders ist als in der grauen Theorie? Wie kann also ein Kind ohne Anwendung körperlicher und auch psychischer Gewalt dazu gebracht werden, entsprechend dem Willen der Erziehungsperson etwas zu tun, was es spontan nicht tun würde, oder etwas zu unterlassen, was es im Moment zwar gerne tun würde, aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht tun sollte? Wichtig dabei erscheint mir aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie vor allen Dingen, den Entwicklungsstand des jeweiligen Kindes verstärkt zu beachten. Aus der Forschung über die Entwicklung des moralischen Urteilvermögens wissen wir, dass sich Kleinkinder bei ihrer Einschätzung von Handlungen als gut oder böse, richtig oder falsch im Wesentlichen daran orientieren, ob sie von den Erwachsenen für diese Handlungen belohnt oder bestraft werden. Dementsprechend schwierig und aussichtslos wird es daher in den meisten Fällen sein, etwa einem 2-Jährigen den tieferen Sinn der verschiedenen Erziehungsinterventionen darzulegen, in der Hoffnung auf Einsicht und Vernunft. Ein Kind dieses Alters richtet sein Verhalten einfach noch nahezu ausschließlich nach den Konsequenzen beziehungsweise den Reaktionen der Eltern aus. Selbst noch so gut gemeinte Erklärungen werden auf Grund der einfach unrealistischen Erwartungshaltung kontraproduktiv wirken, nämlich dann, wenn die elterlichen Forderungen im Endeffekt doch, dann allerdings gegen den bewusst gemachten Willen der Kinder durchgesetzt werden. Sinnvoller und effizienter wäre in solchen Fällen, von vornherein in ruhigem Ton klare Anweisungen zu geben beziehungsweise Grenzen zu setzen, die vom Kind in dieser Situation möglicherweise noch nicht verstanden, aber doch akzeptiert werden können. Auf diese Weise kann ein ruhiges, aber bestimmtes „Nein“ in vielen Situationen nicht nur klärend, sondern auch psychisch entlastend wirken – für das betroffene Kind und auch für den das „Nein“ aussprechenden Elternteil. Wichtig ist, den jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes zu beachten. Je älter die Kinder sind, desto sinnvoller wird es, Erziehungsmaßnahmen zu erklären und, statt starre Grenzen zu setzen, zunehmend flexiblere Verhaltensregeln zu erklären und zu vereinbaren. Je älter die Kinder dann sind, desto sinnvoller ist es, Erziehungsmaßnahmen doch zu erklären und, statt starre Grenzen zu setzen, zunehmend flexiblere Verhaltensregeln zu erklären und zu vereinbaren. Vor allem Väter begehen oft den Fehler, dass sie lange Zeit das Verhalten ihres Sprösslings tolerieren, ohne ein Wort zu sagen, bis ihnen dann sozusagen der Geduldfaden reißt. Dann „explodieren“ sie, was für das Kind völlig unnachvollziehbar ist. Für das Kind reagiert der Vater unverhältnismäßig stark, da zumeist dann gleich sanktionierend. Erst relativ spät, interessanterweise erst nach dem Volksschulalter, sind Kinder dann wirklich in der Lage zu begreifen, dass man von Regeln auch Ausnahmen machen kann, ohne dabei die Regel selbst grundsätzlich in Frage zu stellen. Ich denke, das ist auch in der alltäglichen Erziehung wichtig zu berücksichtigen. Dennoch ist eine klare und konsequente Erziehungslinie bei Kindern beziehungsweise Jugendlichen unheimlich wichtig. Die Kinder müssen einmal wissen, worauf sie sich einstellen und worauf sie sich verlassen können. Das setzt natürlich auch voraus, dass sich die Eltern beziehungsweise die Erziehungspersonen selbst über diese Erziehungsziele und auch die Erziehungsstile im Klaren sind. Dennoch ist eine klare und konsequente Erziehungslinie ausgesprochen wichtig. Väter im Aufbruch Speziell die Väter sind heute mehr denn je über die an sie gestellten Erwartungen und Anforderungen als Erzieher verunsichert. Schwankend so etwa irgendwo zwischen dem Bild des am Abend nach Hause kommenden und die Kinder für die Sünden des Tages bestrafenden Vaters einerseits und dem alles tolerierenden Spielkameraden, mit dem man alles machen kann, andererseits. Grundsätzlich geht speziell auch bei den Vätern der Trend in Richtung einer deutlichen Abnahme autoritärer Aspekte in der Erziehung, wie in einer Generationen vergleichenden Studie von Eitler (1984) gezeigt wurde, in der Erziehungsstile und Erziehungspraktiken der jetzigen Vätergeneration mit jenen der Großväter verglichen wurden. Auch in einem eigenen Forschungsprojekt zur Familienentwicklung im Lebenslauf gaben uns 58 Prozent der jungen Väter an, ihre Kinder milder zu erziehen als sie selbst erzogen wurden (z.B. Werneck, 1998). Nicht einmal 1 Prozent der Väter erziehen ihre Kinder strenger, als sie selber erzogen wurden. Besonders interessant erscheint auch, dass Väter, die selbst sehr streng erzogen worden sind, sich in der Regel zumindest vornehmen, mit ihren eigenen Kindern besonders mild umzugehen. Väter erziehen heute milder als ihre eigenen Väter. 25 „Neue Väter“ zeichnen sich durch geringe Gewaltbereitschaft, hohe Befürwortung der Emanzipation der Frau, starke Gefühlsbetontheit und hohes Engagement in der Kindererziehung aus. Die „neuen“ Väter Das deckt sich auch mit Resultaten einer kürzlich durchgeführten deutschen Untersuchung von Zulehner und Volz (1999) mit Daten aus Deutschland. Danach ist die Gewaltbereitschaft bei den so genannten „neuen Vätern“, die sich vor allem durch hohe Befürwortung der Emanzipation der Frauen, starke Gefühlsbetontheit und hohes Engagement in der Kindererziehung auszeichnen, generell gering: 91 Prozent dieser neuen Männer lehnen männliche Gewalt grundsätzlich stark ab. Das passt auch gut zu den Wünschen und Ansprüchen an den idealen Vater, der einer eigenen Umfrage unter Studentinnen und Studenten zur Folge vor allem verständnisvoll, liebevoll, fürsorglich, gesprächsbereit und verantwortungsvoll sein sollte. Erziehungsalltag der Väter Wie sieht nun der konkrete Erziehungsalltag für Väter in der Regel aus? Die Zeit, die Väter mit ihren Kindern verbringen, wird vor allem dem gemeinsamen Spiel gewidmet. Versorgende Tätigkeiten spielen, natürlich abhängig vom Lebensalter des Kindes, grundsätzlich eine untergeordnete Rolle. Die alltägliche Erziehungsarbeit aber wird, wie wir aus verschiedenen Studien wissen, im Wesentlichen noch immer von den Müttern geleistet. Was die angegebene Strenge in der Erziehung betrifft, so gibt es etwa in unserer Längsschnittstudie, aber auch anderen Erhebungen zur Folge keine bedeutenden Unterschiede zwischen Vätern und Müttern, statistisch gesehen – was für den Einzelfall nicht unbedingt gültig ist. Die Qualität insbesondere der Vater-Kind-Beziehung und, damit zusammenhängend, die Neigung zur Anwendung diverser Formen psychischer Gewalt im Erziehungsalltag hängt aber auch stark von der Qualität der Beziehung zwischen den Eltern ab. Auch das wird interessanterweise erst seit ein paar Jahren übereinstimmend in mehreren Studien immer wieder betont. Während Väter zu ihren Töchtern oft bessere emotionale Beziehungen als zu ihren Söhnen haben, stimulieren sie ihre Söhne intellektuell mehr als ihre Töchter. Diese geschlechtsspezifischen Unterlassungen können auch als Form psychischer Gewalt betrachtet werden, da sie zu Entwicklungsbeeinträchtigungen führen können. Der kleine Unterschied Abgesehen von der negativen Vorbildwirkung sich streitender Eltern, die, glaube ich, relativ evident ist, fand etwa das Forscherehepaar Cowan und Cowan Anfang der 90erJahre (1994) in einer groß angelegten amerikanischen Studie, dass Väter bei Partnerschaftsproblemen vor allem die Töchter schlechter behandeln. Das weist einmal mehr auf Unterschiede im Erziehungsverhalten je nach Geschlecht des Kindes hin. Auch hiezu gibt es eine Fülle von Untersuchungsergebnissen, die einander allerdings teilweise widersprechen. Man könnte sie dahingehend zusammenfassen, dass seitens der Väter die emotionale Beziehung zu den Töchtern oft besser ist als zu den Söhnen, dass die Söhne dafür aber intellektuell mehr stimuliert werden. Betrachtet man jetzt die Befunde sozusagen von hintenherum, hinsichtlich der Frage, was bei den Töchtern beziehungsweise den Söhnen zu wenig gefördert wird, so ließen sich im Sinne der eingangs erwähnten breiten Definition zu präventiven Zwecken die geschlechtsspezifischen Unterlassungen durchaus als Form der psychischen Gewalt klassifizieren, die dann natürlich in weiterer Folge auch den Keim für spätere Entwicklungsbeeinträchtigungen in sich bergen. Vernachlässigung der väterlichen Pflichten Damit wäre ich auch schon bei einer Kernthese meines Vortrages: 26 Die häufigste Form psychischer Gewalt, die zurzeit von Vätern in Österreich praktiziert wird (im Sinn der eingangs angeführten breiten Definition), besteht wohl weniger in den verschiedensten Varianten aktiver Gewaltanwendung, sondern eher in der Vernachlässigung ihrer väterlichen Pflichten, im Unterlassen einer optimalen und maximalen Entwicklungsförderung der Kinder, die ja sozusagen Kraft ihrer Existenz eigentlich ein Anrecht auch auf väterliche Unterstützung hätten. Die Abwesenheit beziehungsweise die – selbst bei Anwesenheit – oft nicht vorhandene emotionale Verfügbarkeit, aus welchen Gründen auch immer, wird mehrfach als einer der Hauptgründe für das bedenkliche Ansteigen diversester Verhaltensstörungen angeführt. Es geht hier in erster Linie um Störungen im Sozialverhalten, um aggressive Verhaltenstörungen – vor allem Buben werden immer aggressiver. Ein Hauptgrund hierfür wird wohl in der eben beschriebenen „Unterväterung“ zu finden sein. Viele dieser Buben und Mädchen würden sich vielleicht wünschen, dass der „Papa“ ab und zu einmal, wenn auch „in ernstem Ton“, aber doch zu ihnen spricht. Pointiert formuliert: Besser in ernstem Ton als gar nicht! Unterlassungen – die häufigste Form väterlicher Gewalt In zu vielen Fällen fehlt der Vater entweder ganz oder weitgehend in der Erziehung. Vor allem aus der Perspektive der Kinder fehlt er als Ansprechpartner. Er fehlt als positives Identifikationsmodell, als eine die Mutter ergänzende Erziehungsinstanz oder einfach – scheinbar banal – als interessanter Freizeitpartner; wobei die Gründe, warum sich die Väter nicht eingehender mit ihren Kindern befassen, in vielen Fällen weniger in der grundsätzlich fehlenden oder mangelnden Bereitschaft oder sogar fehlenden Fähigkeit, sich mit den Kindern zu beschäftigen, zu suchen sind, als vielmehr in externen Ursachen, die mit der Vater-Kind-Beziehung an sich nicht unmittelbar direkt zusammenhängen. Dazu gehören typischerweise eine Trennung der Eltern oder natürlich auch der hohe berufliche Zeitaufwand. Oder beides zusammen: Trennung und Beruf. Diese mittelbaren Formen psychischer Gewalt wären der Vollständigkeit halber noch zu ergänzen durch Formen struktureller, ja gesamtgesellschaftlich bedingter Gewalt: etwa mangelnde Einräumung von kindgerechten Spielmöglichkeiten, von Bewegungsmöglichkeiten und ähnlichem. Neben diesen strukturellen Komponenten ist aber nicht zu vergessen, dass es nach wie vor Formen der unmittelbaren, aktiven psychischen Gewalt gibt, die im Erziehungsalltag mehr oder weniger deutlich zu beobachten sind. Art und Ausmaß dieser Gewaltformen haben sich bei Vätern und Müttern in den letzten Jahrzehnten in Summe einander angenähert und lassen sich im Durchschnitt nicht mehr wesentlich voneinander unterscheiden. Psychische Gewalt: fällt weniger auf, ist gesellschaftlich eher akzeptiert als physische Gewalt Obwohl eine umfassende, objektive, methodisch korrekte Erfassung psychischer Gewalt letztendlich nahezu unmöglich ist – das ist ja das Dilemma! – und somit die harten Daten fehlen, stelle ich jetzt eine weitere Hypothese auf: Parallel zum Rückgang der physischen Gewalt, der natürlich sehr zu begrüßen ist, hat die psychische Gewalt in der Erziehung als Mittel zur Konfliktaustragung und als alltägliches Erziehungsmittel eher zugenommen. Die physische Gewalt wird gesellschaftlich immer mehr geächtet, während die psychische eher gerechtfertigt wird. Gemessen an den zu erwartenden Spätfolgen, die im Extremfall bis zu Suizidversuchen gehen können, wird die psychische Gewalt im Vergleich zur physischen Gewalt in der Regel unterbewertet. Die Gründe dafür: Einerseits ist das gewaltsame Verhalten als solches schwer identifizierbar, andererseits sind die Konsequenzen, die psychischer Missbrauch nach sich ziehen kann, häufig unklar und unabsehbar. Gemessen an den zu erwartenden Spätfolgen, die im Extremfall bis zu Suizidversuchen gehen können, wird die psychische Gewalt im Vergleich zur physischen Gewalt in der Regel unterbewertet. Psychische Gewalt ist eher Ausdruck einer Grundhaltung, Ausdruck einer Einstellung, die den Erziehungsalltag aber wirklich maßgebend und auch nachhaltig prägt (und wahrscheinlich nachhaltiger prägt als der fallweise Einsatz physischer Bestrafung). 27 Eine permanente psychische Gewalt als Ausdruck einer Erziehungseinstellung ist wahrscheinlich mittel- und längerfristig noch schädlicher als physische Gewalt. Psychische Gewalt ist auch Ausdruck einer Grundhaltung, einer Einstellung, die den Erziehungsalltag maßgebend und wahrscheinlich nachhaltiger prägt als fallweise physische Bestrafung. Zu den klassischen Varianten psychischer Gewalt zählen etwa: das Kind einschüchtern, isolieren, es übermäßig kontrollieren, mit lang anhaltendem Liebesentzug bestrafen, emotional erpressen, ablehnen, auslachen, blamieren, grundlos misstrauen, ständig über- oder auch unterfordern oder das speziell unter Vätern weit verbreitete Spektrum verbaler Gewaltformen, wie zum Beispiel beleidigen, erniedrigen, sich lustig machen, hänseln, abwerten, ständig Kritik üben, Sarkasmus, Zynismus etc. Diese Liste ließe sich wohl noch lange fortsetzen. Vielleicht sollte sich jede/r als ersten Schritt, im Sinne einer Bewusstmachung und in weiterer Folge zur Vermeidung dieser aggressiven Kommunikationsformen für sich selbst einmal so eine Liste überlegen, um sich zu verdeutlichen, welche Erziehungsmaßnahmen aus subjektiver Perspektive des Kindes eigentlich eine Integritätsverletzung bedeuten müssen. Was die Prävention gerade von psychischer Gewalt so erschwert, ist ja unter anderem, dass psychische Gewalt in vielen Fällen von den Ausübenden gar nicht und auch von den Opfern häufig nur diffus oder gar nicht als solche erkannt wird. Was können wir tun? Bewusstseinsarbeit, Sensibilisierung auf konkreter individueller, aber auch auf gesellschaftliche Makroebene, etwa in Form dieser heutigen Enquete, bilden die Basis, auf welcher dann Strategien überlegt werden müssen und können, um Gewaltaspekte im Erziehungsalltag möglichst zu reduzieren. Auf soziologischer, gesellschaftlicher Ebene sollten die Bemühungen zur Vermeidung psychischer Gewalt grundsätzlich in Richtung einer umfassenderen Entlastung der Familien gehen, vor allem in krisengeförderten Übergangsphasen, also zum Beispiel in der Phase des Übergangs zur Elternschaft oder in der Phase der Pubertät, wo die Familien mehr Unterstützung bräuchten. Familien- und gesellschaftspolitische Maßnahmen, im Sinne einer Stärkung, eines „Empowerments“ des Einzelnen und der Familien als Ganzes, beeinflussen in letzter Konsequenz auch den innerfamiliären Kommunikationsstil positiv, die „Interaktionskultur“. Sie sind im Rahmen einer umfassenderen Strategie – und einer solchen bedarf es – daher wohl unverzichtbar. Parallel zu dieser übergeordneten Ebene obliegt es aber auch vielleicht noch zu einem viel größeren Anteil der Verantwortung des Einzelnen – und den kann man nicht aus dieser Verantwortung entlassen –, sich unmittelbar um eine gewaltfreie Erziehung zu bemühen. Das setzt, wie gesagt, zuerst einmal das Bemühen um die Herstellung beziehungsweise Intensivierung einer tragfähigen, auf gegenseitigem Vertrauen basierenden Gesprächsbasis zwischen Kind und Vater voraus, so dass auch das Kind die subjektive Sicherheit hat, sich mit allen Anliegen an den Vater wenden zu können und damit auch ernst genommen zu werden. Denn wer sich von vornherein ein zynisches Statement erwartet, wird kaum das Gespräch suchen. Vätern fällt es zumeist schwer, am Feierabend oder zum Wochenende in eine kindgerechte Sprache zu wechseln. Männlich-väterliche Sprache hat mehr 28 Sie sprechen oft ein andere Sprache ... Speziell Vätern fällt es – mitbedingt durch die geringe mit den Kindern verbrachte Zeit – wahrscheinlich auch oft schwerer, all die Sorgen und Nöte der Kinder in der ganzen Tragweite, die es für das Kind bedeutet, nachzuvollziehen. Es fällt ihnen schwer, adäquat darauf einzugehen und darauf zu reagieren. Dazu kommt, dass es in der Regel gerade Vätern nach dem Berufsalltag, also wenn sie am Abend nach Hause kommen, oder zum Wochenende, schwerer fällt, sich von der Erwachsenensprache auf die altersgemäße Sprache der Kinder umzustellen, sowohl vom Stil her als auch von den Inhalten. Väter wissen oft nicht, welche Gesprächsthemen gerade für die Kinder relevant sind und was diese gerade wirklich beschäftigt. Ich denke, das hängt auch damit zusammen, dass die männlich-väterliche Gesprächskultur im Durchschnitt betrachtet vielleicht grundsätzlich mehr Barrieren auf dem Weg zu einer kindgerechten Sprache zu überwinden hat als jene der Mütter. Barrieren auf dem Weg zu einer kindgerechten Sprache zu überwinden als die „Muttersprache“. Konklusio Psychische Gewalt im Erziehungsalltag zu vermeiden setzt also vor allem bei Vätern voraus, sich grundsätzlich bereitwillig auf das Kind einzulassen, sich mehr an den kindlichen Bedürfnissen zu orientieren, diese auch ernst zu nehmen, dabei aber gegebenenfalls auch Richtungen vorzugeben und das Kind in liebevoller und zielführender Weise anzuleiten und zu begleiten. Bedingung dafür wäre in erster Linie aber wiederum eines: mehr Zeit der Väter für ihre Kinder. 29 „Niemand hört ihn, wenn er schreit“ „Stadt-Land-Problematik“ Referent: Dr. Reinhard Neumayer Ich habe zwei Einleitungen für Sie vorbereitet. Die erste ist ein wenig naiv. Während der zweiten können Sie sich davon erholen. Erste Einleitung Idyllische Dorfstrukturen gibt es nur mehr im Fremdenverkehrsprospekt. Es treffen sich zwei Idealisten aus dem psychosozialen Feld und besprechen ihre Situation. Der eine arbeitet in der Stadt, der andere auf dem Land. Der vom Land sagt zu seinem Kollegen: „Ja ihr in der Stadt, ihr habt es gut! Das gibt es so viele Angebote. Alles ist leichter erreichbar. Und diese herrliche Anonymität! Wenn man in eine Beratungsstelle geht, ist es unwahrscheinlich, dass der Nachbar im gleichen Wartezimmer sitzt. Da kann man doch wirklich gut und profund arbeiten, und die Klienten nehmen diese Arbeit sicher gerne an.“ Der Kollege aus der Stadt schluckt die spontane Antwort hinunter und sagt: „Aber bei euch am Land, wo noch die Familienbande funktionieren, wo die Großfamilien tragfähig sind, wo Krisen innerhalb des Clans ausgetragen werden, wo die dörfliche Gemeinschaft alles trägt, da braucht man wahrscheinlich gar nicht so viele Beratungsstellen.“ Und dann schluckt der vom Land, und beide haben plötzlich den Eindruck, dass der jeweils andere von einem anderen Kontinent kommt. Jeder von Ihnen arbeitet entweder in der Stadt oder auf dem Land oder – bei besonderem Pech – in einem Bereich einer Bezirkshauptmannschaft, wo es städtische und ländliche Umgebung gibt. Oder Sie arbeiten vielleicht in einer Kleinstadt, die gar nicht weiß, ob sie noch ein Dorf oder schon eine Stadt ist. Die Strukturen sind alle nicht mehr so, wie wir geglaubt haben oder wie es uns Fremdenverkehrsprospekte suggerieren. Das war die naive Einleitung, jetzt kommt die andere. Zweite Einleitung Es war einmal ein Klient, der hat noch gar nicht gewusst, dass er einer ist. Er ist eine „Sie“, eine Lehrerin, die das Gefühl hat, dass mit einem ihrer Schüler etwas nicht in Ordnung ist. Der Bursche ist recht zurückgezogen, ängstlich, wirkt, als sei er unter Druck. Es gibt viel zu wenig Hinweise auf ein stabiles Selbstwertgefühl, und er weicht aus, wann immer es Gelegenheit für ein persönlicheres Gespräch gibt – und so oft gibt es die ja gar nicht. Bei einigen der Leser und Leserinnen beginnt vielleicht jetzt schon die Hypothesenbildung: Was könnte denn mit diesem Schüler wirklich los sein? Andere wiederum erinnern sich jetzt, dass ich mit der Situation einer Lehrerin begonnen habe. Sie fragen sich jetzt also: „Wieso soll die Lehrerin der Klient sein?“ Und wieder andere beschäftigt vielleicht die Idee, dass das Referat etwas mit Stadt und Land zu tun haben sollte. Warten Sie ab! 30 Dank ganz beharrlicher und vielfältiger Versuche von vernetzungsfreudigen Anbietern aus der psychosozialen Szene ist der Lehrerin ja klar: Dieser Schüler braucht Hilfe! Und es gibt auch eine ganze Palette von Angeboten. Die Auswahl zu treffen ist nicht leicht, aber es lohnt sich in den Fall einzusteigen. (Hinweis: Die Lehrerin wird deshalb zur Klientin, weil sie sich zunächst Rat für die geeignete eigene Vorgangsweise sucht. Also zuerst einmal ist sie die Klientin und nicht das Kind, nicht die Familie.) Sie tut viel. Sie holt telefonisch unter Zuhilfenahme einer reichhaltigen Broschürensammlung Auskünfte über Arbeitsschwerpunkte, Öffnungszeiten und Erreichbarkeit von verschiedenen Beratungseinrichtungen mit oder ohne therapeutisches Zusatzangebot ein. Außerdem erkundet sie – nicht unwesentliche – Zugangskriterien wie: Wer darf denn welche Beratungsstelle überhaupt aufsuchen? Und sie informiert sich natürlich über mögliche Kosten. Aber bevor sie wirklich etwas tun kann, bedarf es – das ist der mittlerweile erschöpften Lehrerin inzwischen klar geworden – der Zustimmung der Eltern. Und, was vielleicht noch viel schwieriger ist, auch der Mitwirkung der Eltern. Das bedeutet Motivationsarbeit, Überzeugungsarbeit und so weiter – jedenfalls Arbeit. Die Eltern – entgegen aller statistischen Wahrscheinlichkeit sogar beide Eltern – kommen der „Einladung“ der Lehrerin in die Sprechstunde nach. Sie kommen also und hören sich zunächst einmal geduldig und dann immer verständnisloser an, worum es geht. Offenbar geht es nicht um schlechte Leistungen, nicht um tadelnswertes Benehmen, nicht um überraschend aufgedecktes Schulschwänzen. Was will diese Lehrerin eigentlich? Auszüge aus den (vermuteten) Gedankengängen der Eltern und wie sie versuchen, es selber darzustellen: „Wir haben uns doch so bemüht – nie hat es auch nur eine Ohrfeige gebraucht. Er hat auch so recht bald verstanden, der Bub, was sich gehört. Eigentlich braucht man nur einmal hinschauen, und er gehorcht. Und Zurückreden, das gibt es sowieso nicht, weil erst muss man einmal was leisten, und dann hat man was zu reden.“ Vielleicht hat man aber dann auch nichts mehr zu sagen ... „Ja doch, früher, da war einmal so eine Zeit, da wollte er so auf trotzig machen. Aber da weiß man ja, wenn man sich da nicht durchsetzt, dann wachsen einem diese Kinder gleich über den Kopf. „Wir haben uns doch so bemüht! Ja, es hat Zeiten gegeben, da wollte er trotzig sein. Wenn man sich da nicht durchsetzt, dann wachsen einem die Kinder gleich über den Kopf. Aber schlagen mussten wir ihn nie! Hie und da ein wenig einsperren ins Kinderzimmer – wem schadet das? Und jetzt soll er, sollen wir alle Hilfe brauchen?“ Aber es geht alles ohne Schlagen. Obwohl manchmal, da hätte es einen schon gejuckt. Aber heute, da steht das ja überall, dass das nicht mehr geht mit dem Hinhauen. Nein, wir haben das feiner gemacht. Aufheben – Badezimmer – einmal das Gesicht mit dem Waschlappen abputzen und dann ab ins Kinderzimmer. Dort muss er bleiben, bis er vernünftig ist und bittet – bittet, dass er wieder herauskommen darf. Aber es muss das Bitte schon ernst meinen. Einfach nur „Bitte“ sagen und dann schon heraussausen, und alles ist vergessen – na so geht das natürlich nicht! Das muss schon ehrlich kommen, das muss man spüren, dass das echt ist. Und jetzt soll er Hilfe brauchen? – Was? Wir alle? ... (?) Wieso? Was ist denn nicht in Ordnung?“ Die Realität Steigen wir jetzt aus dieser Szene aus, und fassen wir zusammen: Es gibt ein auffälliges Kind. Das Kind ist jemandem – in diesem Beispiel einer Lehrerin – aufgefallen. Dann hat dieser Jemand – diese Lehrerin – auch noch den Versuch gemacht, einen Hilfeprozess in Gang zu bringen. Aber das war eben nur eine Einleitung. Die Realität sieht zumeist anders aus. Es gibt viele Kinder, an deren Verhalten etwas Auffälliges zu bemerken wäre, würde nur jemand mit geschultem Blick hinschauen. Es gibt Kinder, die haben aufgegeben. Sie resignieren, sie versuchen nicht mehr auf sich und auf ihre Not aufmerksam zu machen. 31 Viel zu oft bleiben die „Schreie“, die verschiedenen Versuche, sich bemerkbar zu machen, auf seine Not aufmerksam zu machen, unbemerkt. Und es gibt Kinder, die immer noch schreien. Doch – ganz im Sinne des Referattitels: „Niemand hört ihn, wenn er schreit“. Die verschiedenen Versuche, sich bemerkbar zu machen, auf seine Not aufmerksam zu machen, bleiben unbemerkt. Wenn ich von geschultem Blick spreche, dann setze ich den Level nicht hoch an. Ich meine damit keine Untersuchungen durch ein mobiles „Psycho-Notfalls-Team“. Ich meine Sensibilisierung der Menschen, ich meine Aus- und Fortbildung möglicher Ersthelfer. Zielgruppenorientierte Information Erziehung sollte dahin führen, die Fähigkeit zu erlangen, sich in einem sozialen Kontext so zu bewegen, dass jeder seine Entwicklungschancen wahrt, ohne die des anderen zu beschädigen. Diese Veranstaltung versucht einen Impuls zur Meinungsbildung zum Thema „Psychische Gewalt“ zu setzen. Aber es hat keinen Sinn, nur Hinweise darauf zu geben, was alles verboten ist. Das wissen inzwischen ohnehin schon viele Leute. Es gehört vielmehr auch gesagt, was in der Entwicklung der Kinder hilfreich ist. Und vielleicht sollte man auch eine Zielrichtung dazu sagen. Also: Wohin soll die Entwicklung zielen? Nützlich ist es, die Fähigkeit zu erlangen, sich in einem sozialen Kontext so zu bewegen, dass jeder seine Entwicklungschancen wahrt, ohne die des anderen zu beschädigen. Für mich geht es in die Richtung „Seelische Gesundheit jetzt und in der Zukunft“. Es geht um Elternbildung. Ich habe viele Jahre lang als Referent in der Elternbildung gewirkt und habe es häufig mit Paaren zu tun gehabt, die ihr erstes Kind erwartet haben und in völliger Euphorie alle Angebote zum „Thema: Kind“ wahrgenommen haben. So kamen diese werdenden Eltern auch zu einem Informations- und Diskussionsabend, an dem man mit einem Psychologen über Kinderentwicklung reden konnte. Das Thema waren die ersten drei Lebensjahre. Die, die auf ihr erstes Kind gewartet haben, haben die Hoffnung gehabt, dort ein Angebot an Sicherheitsmaßnahmen gegen mögliche Fehler zu bekommen. Und wenn sie das dann alles gut befolgen, dann wird das Kind genau das, was sie für den perfekten Familienergänzungsteil auf ihrer Wunschliste haben, der aus irgendeinem biologischen Grund bis jetzt gefehlt hat. Viel spannender war es für mich, wenn Eltern dabei waren, die schon auf ihr zweites Kind gewartet haben. Also genau genommen waren es in diesem Fall fast ausschließlich Mütter. Nur bei denen, die aufs erste Kind warten, kommen meist noch Paare. Also diese paar noch immer neugierigen Mütter, die dann gekommen sind, haben sich die ersten Themen mit diesem gewissen abgeklärten Lächeln angehört und auf die Themen gewartet, die für sie wirklich spannend sind. Sie wussten ja schon, wie das ist mit „Dann wird das Kind gehen lernen“ und „Wo wird es überall dagegen stoßen?“, „Welche Gefahren gibt es überhaupt?“ Diese haben dann erst gefragt: „Wie ist das denn eigentlich mit der Geschwistereifersucht?“ Da haben sich dann die, die noch aufs erste Kind gewartet haben, gelangweilt zurückgelehnt und sich offensichtlich gedacht: „Bis das bei uns soweit ist, da haben wir ja noch ewig Zeit!“ Ich will damit nur verdeutlichen, dass Elternbildung zielgruppenorientiert sein muss. Wir müssen uns in der Vorbereitung einiges überlegen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, auch über die unangenehmen Themen zu reden. Wir müssen uns überlegen, was wir uns trauen und was die Zuhörer aushalten. Elternbildung muss zielgruppenorientiert sein. 32 Das mit der Geschwistereifersucht ist ja so populär, dass die Laien mehr darüber wissen als die Fachleute. Diesen Teil habe ich genossen. Das war wirklich spannend, weil da hat jeder so seine eigenen Erfahrungen eingebracht. Elternbildung in Stadt und Land Sie werden sich jetzt wieder fragen: „Was hat das mit Stadt-Land zu tun?“ Ich habe Elternbildungsveranstaltungen in einem kleinstädtischen Kurort in der Thermenregion südlich von Wien, aber auch im hügeligen karstigen Land an der nördlichen Grenze von Niederösterreich gehalten. Wissen Sie, was da immer die allererste Frage an mich war? „Haben Sie selber Kinder?“ Der Kompetenznachweis war (und ist) gefragt – biologisch und erzieherisch. Diese Frage wurde mir übrigens am Land – vor allem im nördlichen Waldviertel – sehr oft gestellt. Ich habe mit den Elternbildungsveranstaltungen als Kinder- und Jugendpsychologe, der ich bin, zu einer Zeit angefangen, in der ich diesen geforderten biologischen Nachweis noch nicht erbringen konnte. Aber ich habe das als Auftrag aufgefasst und habe mittlerweile zwei gar nicht mehr so junge Kinder. Und erst als die beiden herangewachsen sind, habe ich verstanden, warum mich die Eltern das damals gefragt haben. Sie haben das nicht so formuliert, aber sie haben eigentlich herausfinden wollen, ob ich das alles ernst meine, was ich ihnen erzähle, und wie Kinder auf solche „psychologischen Tipps“ reagieren. Ich glaube, dass der Unterschied zwischen Stadt und Land in diesem Bereich nicht so groß ist, wie manche von Ihnen vermuten. Die Fragen und Sorgen der (werdenden) Eltern gleichen sich sehr stark. „Waffenlose“ Eltern Viele Eltern fragen sich: „Was mache ich denn, wenn mein Kind mir nicht folgt?“ Da geht es nicht darum zu sagen „Das kann Ihnen nicht passieren, Sie als perfekter Elternteil werden das schon schaffen“, sondern sich damit auseinander zu setzen. Es geht also um die grundsätzliche Hilflosigkeit der Anfrager. Es sind uns die „Waffen der Erziehung“, wie Rohrstaberln und ähnliches, ja aus der Hand genommen worden. Sie gelten als überholt – allerdings weniger wegen der Vernunft und Einsicht der Eltern. Vielmehr sind sie wie das über Generation praktizierte „Scheitelknien“ nur durch den technischen Fortschritt aus der Mode gekommen. Wer heizt heute noch mit Holzscheiteln? Auf der Zentralheizung knien ist, na ja, schwieriger. Eltern, die in Not geraten sind, reagieren oft mit psychischer Gewalt Aber denken Sie auch an andere Erziehungsmethoden: Früher hat es wirklich geheißen: „Schlimme Kinder in den Keller!“. Sie wurde also an einen Ort verbannt, wo noch dazu vorher jahrelang darauf hingewiesen wurde, dass genau dort der „schwarze Mann“ haust. Der Keller war ja nicht nur Lebensmittelvorratskammer, oft auch Aufbewahrungsort für Alkohol. So gesehen war es für manche in der Familie dann vielleicht sogar angenehm, in den Keller zu gehen, aber sicher nicht für die Kinder! Was ich zeigen möchte, ist diese Hilflosigkeit der Eltern mit dem Gefühl: „Das Kind stellt mich bloß, und ich weiß einfach nicht, was ich dagegen tun soll.“ Eltern verlieren nicht gerne das Gesicht Eltern, die quasi in Not geraten sind, reagieren eben oft mit psychischer Gewalt. Nehmen Sie das Beispiel von der Supermarktkassa, wenn ein Kind etwas von den Lockangeboten haben möchte: im Blick der Öffentlichkeit, im Blick der Familie, im Blick der Partnerin, der Schwiegermutter, der anderen Kinder – wenn ich dem einen das durchgehen lasse, was machen dann die anderen mit mir? Wie oft reagieren hier Eltern auf quengelnde oder fordernde Kinder mit übermäßiger psychischer Gewalt bis zu der Androhung: „Wenn du nicht gleich Ruhe gibst, aufhörst usw., dann gehe ich ohne dich nach Hause!“ 33 Bei diesem Szenario fühlen sich sicher auch die hauptberuflichen Pädagogen angesprochen, die sich statt dem Supermarkt eine Gruppensituation vorstellen im Kindergarten, in der Schule, bei Nachmittagsbetreuungsformen. Das Kind stellt mich bloß! Vielen Eltern ist, als sie selbst noch Kinder waren, eingehämmert worden, dass sie nie respektlos mit den Eltern umgehen dürfen. Dahinter verbarg sich ein Versprechen, nämlich: „Wenn ihr euch als Kinder euren Eltern unterworfen habt, dann wird euch das dadurch vergolten, dass ihr dann, wenn ihr endlich selber Eltern seid, genauso mit euren Kindern umgehen könnt.“ Dieses Versprechen kann jedoch heute – ich sage Gott-sei-Dank – nicht mehr zwangsläufig eingelöst werden. Aber machen wir uns bitte in einem Fachleutegremium nicht vor, dass sich dieser Gesinnungswandel schon überall durchgesetzt hat. In vielen sitzt tief innerlich noch die Hoffnung, dass das Versprechen von anno dazumal doch noch eingelöst wird, und so wird es de facto von den Kindern eingefordert. „Wir haben es nicht leicht gehabt, und darum sollen die Jungen erst einmal zeigen, ob sie unserer Nachfolge würdig und wert sind.“ Ich habe – basierend auf den zahlreichen Gesprächen und Erfahrungen in meiner Arbeit – so den Eindruck und Verdacht, dass es in der öffentlichen Meinung und in der veröffentlichten Meinung eine Art unausgesprochenen Konsens unter den Erwachsenen gibt, der in etwa so lauten könnte: „Ja, ja, besser gehen soll es den Jungen schon als uns. Aber wir haben es nicht leicht gehabt, und darum sollen die Jungen erst einmal zeigen, ob sie unserer Nachfolge würdig und wert sind.“ Aber wie soll man denn diesen Respekt bekommen, wenn nicht mit den überkommenen erprobten Mitteln? Notwendige Unterschiede des Angebots in Stadt und Land Wir können viel über Prophylaxe reden, aber es geht auch um „Reparaturen“. Wir benötigen also eine notwendige Dichte von qualifizierten Hilfsangeboten, die den regionalen Gegebenheiten adäquat gestaltet sind. Sie werden verstehen, dass sich die Situation ändert, je nachdem, ob ich eine zentrale Stelle in einem Ballungsraum habe oder ob ich eine Fläche versorgen muss. Im städtischen Bereich mag es sinnvoll sein, wenn mehrere spezialisierte und trotzdem leicht erreichbare Angebote parallel und auch an verschiedenen Adressen zur Verfügung stehen. Hier ist es sinnvoll, Öffnungszeiten bis in den Abend hineinzuziehen oder die Frequenzen bei den Beratungs- und Behandlungsformen so zu setzen, dass die Klienten möglichst häufig wiederkommen. Das Stichwort heißt hier: Straßenbahn. Wenn die Erreichbarkeit innerhalb von einer Viertel- oder halben Stunde liegt – Straßenbahn im Großraum ist ein Beispiel, dichte Frequenz, dichtes Netz – dann kann man so etwas anbieten. Sinnvolle Angebote müssen die Besonderheiten von Stadt und Land, wie z.B. regionale Erreichbarkeit, berücksichtigen. Am Land schaut es anders aus. Da ist eine große Fläche zu versorgen, und ich meine jetzt wirklich Fläche. Das hat nichts mit Steilheit des Geländes, mit Schneekettenpflicht und dergleichen zu tun, aber Anreisezeiten und Kosten für das Transportmittel kosten eben Geld. Es hat noch nicht jeder ein Auto, und die Buslinie hält nicht vor der Türe. Mir hat eine Waldviertler Bäuerin einmal gesagt: „Das ist sehr gut, was Sie da vorschlagen, und wir hören eh zu. Ja, aber da muss ich mir jedes Mal ein Auto aufnehmen für jede Fahrt“, und dann relativieren sich bestimmte Angebotsformen durch Nichterreichbarkeit. Da wird es eher multifunktionale Angebote geben müssen im Vorfeld, also Stellen, die für sehr viele Erstanfragen kompetent sind, aber dann auch in der Lage sind, eine qualifizierte Weiterverweisung von den komplexen und hochkomplizierten Fällen zu leisten. Klienten mit an sich schon strapazierter Motivation nehmen nämlich nicht viele „Anläufe“. Wenn sie sich beim ersten Mal fehlgeleitet fühlen, geben sie einfach auf. 34 Sie sagen: „Hilft eh nix“. Und wir dürfen dann nicht überrascht sein, wenn sich in dieser Familie eine Dramatik entwickelt, wo wir dann überhaupt nicht mehr helfen können – weder mit Angeboten vor Ort noch mit spezialisierten Angeboten, weil der Kontakt nicht mehr hergestellt werden kann. Flächendeckung versus Mindeststandard Ich bin in dieser Situation in Niederösterreich für die sozialen Dienste freier Träger in der Jugendwohlfahrt zuständig. Da gibt es das mehr oder weniger schöne Wort von „flächendeckenden Angeboten“. Das ist ein Wort, das mich sehr beunruhigt, weil wenn irgendein neues Angebot kommt, sagen wir mal Mediation, sagen wir einmal Scheidungsberatung, sagen wir einmal Besuchsbegleitungsformen, kommt es zum gleiche Ablauf: Es geht dann nicht um die Einrichtung des Angebots an einer Zentralstelle, sondern wir haben 21 Bezirke und 4 Städte mit eigenen Jugendabteilungen, also mindestens 25 Stellen (die übrigens alle nicht mit der Straßenbahn erreichbar sind). Das Installieren (etwa durch freie Träger), aber auch die notwendige finanzielle Bedeckung dauert dann relativ lange und blockiert möglicherweise andere, ebenfalls notwendige neue Angebote. Das, was wir in diesem Zusammenhang versuchen, ist – ganz neu seit 2000 – eine groß angelegte Jugendwohlfahrtsplanung, die den Mindeststandard an Versorgung gewährleisten soll. Es wird also für Niederösterreich vorgegeben werden, was an Versorgungsangebot am psychosozialen Sektor vorhanden sein muss. „Muss“ im Sinne von „darauf sollen sich die Klienten verlassen können“. Was wir dadurch erreichen wollen ist, dass die Kinder, die im Sinne des Referattitels „schreien“, aber auch Rat suchende Erwachsene, die wissen wollen, wohin sie sich wenden sollen, auch wirklich eine qualifizierte, erreichbare Beratungs- oder Hilfestellungsmöglichkeit vorfinden. Dann braucht es eigentlich nur mehr Ohren – Ohren allerdings mit Menschen dran – Ohren, die hören. 35 „Der Vater hat’s verboten“ „Ohnmacht der Helfer“ Referent: Dr. Stefan Allgäuer Ich bin selber ein „Helfer“. Ich bin Psychologe und Therapeut. Jetzt arbeite ich als Geschäftsführer im Management und in der Organisation von sozialen Diensten. Meine Perspektive zum Thema „Psychische Gewalt am Kind“ ist diejenige aus Sicht der Helfer, der Helfersysteme und der Intervention der Helfer. Deshalb habe ich den Untertitel „Ohnmacht der Helfer“ gewählt. Ich habe mir die Frage gestellt: Worauf kommt es an, dass wir in einer Situation gut und effektiv reagieren können? Was bräuchte es, damit wir noch besser reagieren könnten? Beim Beschäftigen mit dem Thema „psychische Gewalt“ ist mir etwas immer deutlicher geworden: Entweder lernen wir, damit zu arbeiten, dass (fast) alles, womit wir uns in der JWF (Jugendwohlfahrt) zu beschäftigen haben, auch psychische Gewalt beinhaltet. Oder aber wir versuchen, psychische Gewalt auf ein klares, diagnostizierbares Symptom zu beschränken, das beschreibbar/abgrenzbar/identifizierbar ist und von dem dann auch entsprechende Handlungsstrategien ableitbar sind. Ich habe versucht, diesen Bogen zu spannen; im Wissen, dass natürlich in vielen Alltagssituationen und in fast allen krisen- und konflikthaften pädagogischen Situationen psychische Wirkungen zu beobachten sind, die – subjektiv – als Gewalt des jeweils anderen erlebt werden. Ich habe meine Überlegungen in Thesen gefasst – es sind deren sieben –, mit der Hoffnung und Aufforderung, diese und mit diesen das Thema weiter zu diskutieren. Ich habe diesen Thesen vier – zusammenfassende – Aussagen zum Verständnis von psychischer Gewalt vorangestellt. Sie dienen der Eingrenzung des Themas. Die sieben Thesen skizzieren dann Konsequenzen für die Helfer. Und hier sei gleich angemerkt: Unter Helfer verstehe ich in diesem Fall alle, also auch die Eltern und alle anderen an der Erziehung, an der Begleitung eines Kindes oder Jugendlichen Beteiligten. 1) Psychische Gewalt ist subjektiv zu verstehen und zu betrachten. Das subjektive Erleben des Kindes, sein emotionales, existenzielles Empfinden steht im Vordergrund. Da das Erlebte von den Betroffenen sehr unterschiedlich empfunden und beurteilt werden kann, müssen wir uns mit der „Diagnose psychische Gewalt“ nach dem subjektiven Befinden der betroffenen Person richten. 36 Wenn wir uns mit dem Thema psychische Gewalt auseinandersetzen, muss uns klar sein, dass hierbei das subjektive Empfinden des Kindes/des Jugendlichen im Vordergrund stehen muss. Nicht wir sind diejenigen, die quasi die Diagnose stellen und sagen, das ist psychische Gewalt. Da das Erlebte von den Betroffenen sehr unterschiedlich empfunden und beurteilt wird, müssen wir uns danach richten. Wir müssen die jeweilige Situation in ihrer Wirkung auf Kinder betrachten (durchaus im Gegensatz zur körperlichen Gewalt, sexuellen Gewalt, wo der Maßstab eindeutig ist und es eine beschreibbare, messbare Grenze gibt). Verschiedene Kinder werden ein und dieselbe Situation unterschiedlich empfinden und bewerten. Und ein und dieselbe Situation kann sogar bei ein und demselben Kind in unterschiedlichen Momenten völlig unterschiedlich wirken. In Ergänzung zu dem, was wir im Umgang mit körperlicher und sexualisierter Gewalt gelernt haben, ist offensichtlich: l Nicht allein der strafrechtlich relevante Tatbestand steht im Vordergrund. l Nicht die Intention des „Täters“ ist das Primäre, l sondern eben die erlebte subjektive Welt des Kindes. 2) Psychische Gewalt muss in ihrem Kontext gesehen und verstanden werden. Subjektivität hat zur Konsequenz, dass wir jede Situation differenziert betrachten müssen. Aussagen wie: „Gewalt gehört gestoppt“, „Kinder sind zu schützen“, „Gewalt gehört geahndet“, und Arbeitsaufträge wie Meldepflicht, Beweissicherung usw. – all das ist möglicherweise nicht das genügend geeignete Konzept zum Umgang mit psychischer Gewalt, vor allem dann, wenn wir im Kontinuum weg von den eindeutigen, massiven und existenzbedrohenden Gewalt-Erfahrungen kommen. 3) Psychische Gewalt entsteht und besteht dort, wo Kinder und Jugendliche einer Dynamik von „zu viel“ oder „zu wenig“ ausgesetzt sind und die existenziellen Bedürfnisse der Kinder keinen Platz haben. Ursachen von psychischer Gewalt sind auf den Polen von „zu wenig und/oder zu viel“ zu finden. Im folgenden Diagramm sind beispielhaft einige Bereiche dieser Polarität angeführt. Zu viel zu wenig Nähe Distanz Emotion Forderung Schutz und Sicherheit (neue) Erfahrungen/Reize Annahme etc. Eine Dynamik des „Zuviel“ braucht: Entlastung Wurzeln Schutz etc. Eine Dynamik des „Zuwenig“ braucht: Förderung Reifung Wachstum etc. 4) Psychische Gewalt manifestiert sich dort, wo Kinder bei für sie schwierigen Erfahrungen/Erlebnissen keine Sprache bzw. keine Ausdrucksform finden können oder dürfen. Wenn Kinder etwas erleben, für das sie keine Sprache, keine Ausdrucksform finden (dürfen oder können), wenn sie so also quasi ein Opfer der Situation werden, dann – würde ich sagen – ist psychische Gewalt vorhanden. Um ein Beispiel zu bringen: Wenn Eltern ihrem Kind eine „heile Welt“ vorspielen, das Kind aber ganz genau spürt, dass es zwischen seinen Eltern „nicht mehr stimmt“, dann ist das psychische Gewalt. 37 Wie Sie alle wissen, neigen Kinder hier zu Ambivalenzen. Sie neigen dazu, Widersprüchliches in ihrer Umwelt so zu interpretieren, dass sie sich selbst die „Schuld“ dafür geben. So halten sie sich auch dafür verantwortlich, wenn die Eltern trotz Schwierigkeiten beisammen bleiben. Soweit zu vier Aspekten der psychischen Gewalt. In den folgenden sieben Thesen möchte ich dieses Verständnis von psychischer Gewalt nun auf die Situation der Helfer und der möglichen Hilfestellungen umsetzen. Anna, 10 Jahre alt, hört böse Stimmen im Kopf. Diese Stimmen, eine männliche und eine weibliche, tyrannisieren sie aufs Äußerste. Beim Zeichnen spricht Anna von „Gift“ in ihr drin. Die Stimmen und Schreie in ihrem Kopf symbolisieren die verinnerlichten Spannungszustände in der Familie. Die Eltern konstruieren eine doppelte Wirklichkeit: Auf der einen Seite herrschen eisiges Schweigen und familiärer Stillstand, kalter Krieg. Es regiert eine herbe Verbitterung über alle möglichen Enttäuschungen, über die aber nicht gesprochen wird. Auf der anderen Seite entladen sich diese Spannungen in kurzen, heftigen Ausbrüchen. Es kommt – in Abwesenheit von Anna – zu Schreiduellen, Vorwürfen und gegenseitigen Abwertungen. Phänomen der Spiegelung und Übertragung: Könnte es sein, dass sich die Sprachlosigkeit als Phänomen der psychischen Gewalt auch bei uns auf der Helferebene fortsetzt? Etwa dadurch, dass psychische Gewalt bisher zu wenig Thema war? Die Eltern sind sehr bemüht, nicht vor Anna zu streiten. In bester pädagogischer Absicht geht es ihnen darum, ihre Tochter aus allem herauszuhalten. Sie haben vereinbart, vor Anna gute Eltern zu sein und Frieden zu bewahren. Die Ereignisse eskalieren. Herr N. schlägt seine Frau, Anna bekommt das nicht mit, sie schläft. Anna sieht aber am nächsten Morgen eine durch und durch geknickte Mutter, die „irgendwie anders ist als sonst“. Sie traut sich nicht zu fragen, sie versteht die Welt nicht mehr. Färbt die Sprachlosigkeit auf die Helfer ab? In der Dynamik der Helferstrukturen kann man folgendes Phänomen beobachten: Oft wiederholen sich die Symptome der Klienten und Patienten in den Helfersystemen. Sie kennen das vielleicht aus der Supervision: Da entdeckt man gelegentlich, dass man die Symptomatik und Dynamik der Klienten in die eigene Arbeit oder ins eigene Team übernommen hat. Es passiert also immer wieder, dass man das System, mit dem man arbeitet, widerspiegelt. So möchte ich folgende erste These formulieren. These I Sprachlosigkeit als Phänomen psychischer Gewalt setzt sich auch auf der Helferebene fort. Das (unbewusste) Credo scheint zu sein: „Psychische Gewalt ist kein Thema.“ Es ist ja auch leichter, andere Diagnosen bzw. Symptome zu beschreiben, zu behandeln. Es fällt uns leichter, von „sichtbaren“ Symptomen wie Bettnässen, Aggressivität, Verwahrlosung usw. zu reden als von diesen schwer sichtbaren und abgrenzbaren Phänomenen. Man könnte diese Tatsache aber auch von einer anderen Seite betrachten: Könnte es sein, dass sich das Symptom der „psychischen Gewalt“ auch in unseren Arbeitssystemen, in der Art und Weise, wie wir zusammen arbeiten, wiederholt? 38 Manchmal bekommt man fast diesen Eindruck, wenn man die Selbstzerfleischung innerhalb von Teams, die Überarbeitung oder auch die klassisch hierarchischen Organisationskonzepte betrachtet, welche – als subjektive Tatsache – die Erfahrung von Gewalt mit verursachen könnten. Das Hinschauen, wie etwas auf uns abfärbt und was es bei uns Helfern auslöst, wenn wir uns mit dem Thema psychische Gewalt beschäftigen, könnte ein ganz wichtiger Hinweis zum Verständnis eben dieses Bereichs psychischer Gewalt für unsere Hilfsangebote sein. Erklärungskontexte suchen und anbieten Wenn Kinder zu verstehen beginnen, „was läuft“, dann können sie mit der Situation besser umgehen. Wie schon vorher erwähnt, neigen Kinder dazu, immer dann, wenn sie nicht wissen, „was los ist“, es auf sich zu beziehen und zu sagen „Ich selber bin nicht o.k. Bei mir ist was los. Wenn ich nur anders wäre, dann ginge es meinen Eltern besser, dann würden sie sich mehr lieben, würden mich mehr lieben usw.“ Primäre Aufgabe von Eltern und Helfer/-innen im Kontext psychischer Gewalt ist es, dem betroffenen Kind/Jugendlichen in seiner Situation behilflich zu sein, sein Erleben zuzulassen, ihm Ausdruck zu geben und sein Erleben zur Sprache zu bringen. Nicht der Schutz vor, nicht das Ahnden von, nicht die Wertung (richtig/falsch) usw. ist primäres Ziel, sondern die Hilfestellung, Sprache zu finden und das Kind als Subjekt zu stärken. Das können Eltern und Bezugspersonen vielfach und idealerweise selbst tun (etwa wenn sie ganz unbewusst im Alltag eine Deutung anbieten, die für das Kind/die Situation stimmt). Dazu bedarf es zuweilen der behutsamen Information, Beratung und Begleitung von Eltern, damit diese lernen, nicht nur ihre Erwartungen und Aufträge an die Kinder zu formulieren, sondern auch einen entsprechenden Kontext der Erklärung dafür anzubieten. Das ist – immer noch – ein großes Feld für die Elternbildung. Je mehr im Gespräch in Familien versucht wird, einen Erklärungskontext herzustellen, umso weniger psychische Gewalt wird ausgeübt. Eine gute Auflösung solcher Situationen ist immer noch die „gute alte Gordonsche IchBotschaft“ (vgl. dazu Thomas Gordon: „Familienkonferenz“). Dazu bedarf es in manchen Fällen auch der psychologischen und/oder kinderpsychiatrischen Abklärung und Behandlung, nämlich überall dort, wo die Sprachlosigkeit sich schon in Symptomen verfestigt hat oder sich zu verfestigen droht. Eltern sollten dort miteinbezogen werden, wo dies möglich ist, z.B. in Settings wie dem der Familientherapie. These II Primäre Hilfe für Kinder und Jugendliche – „Erste Hilfe“ aus dem Blickwinkel der psychischen Gewalt – ist es, einen Erklärungskontext herzustellen. Ein kleines Beispiel hiefür: Der Vater geht mit seinem Kind immer wieder in der Stadt spazieren. Und da kommen sie auf ihrem Weg regelmäßig bei einem Nachtklub vorbei. Der vierjährige Bub sieht die roten Lampen. Der Vater erklärt das mit „das ist ein Geschäft“, oder „das ist ein Gasthaus“ – nichts weiter. Das Kind ist mit dieser Erklärung zufrieden. Das Kind wird sieben, beginnt zu lesen und fragt den Vater „Du Papa, was ist das, ein Nachtklub?“ Der Vater antwortet dem Kind: „Das ist nix für dich.“ Noch gibt sich das Kind mit dieser Interpretation zufrieden. Zwei Jahre später fragt das Kind immer wieder und wieder, und dann sagt der Vater „Du, da darfst aber wirklich nie hineingehen, da siehst du Dinge, die du besser nicht sehen sollst.“ 39 Der Neunjährige ist nicht zufrieden mit der Interpretation, fragt dann noch etwas weiter, bekommt vom Vater aber keine angemessene Erklärung. Eines Tages, als die Gelegenheit günstig ist, schummelt er sich in den Nachtklub. Am nächsten Tag erzählt er seinen Freunden davon, und die fragen ganz aufgeregt: „Und hast du gesehen, was du nicht sehen solltest?“ Er antwortete „Ja. Ich habe meinen Vater gesehen.“ Wir können unseren Kindern keine heile Welt vormachen, wir können ihnen aber helfen, solange sie es annehmen von uns. Wir können ihnen einen entsprechenden Erklärungskontext anzubieten, der ihnen hilft, Situationen nicht als psychische Gewalt, sondern als Realität, als Konflikt, als Schwierigkeit, als mehr oder weniger gut zu sehen und dann ein Stück weiter zu verarbeiten. Nicht nur „gegen Gewalt“, sondern für starke Kinder Die Ohnmacht der Helfer/innen – nicht wir können entscheiden, was ein hilfreicher Erklärungskontext ist – kann nicht über mehr Macht (z.B. Ordnungsmacht, Bestrafung, Verfolgung der Täter usw.) erfolgen, sondern nur darüber, dem Kind mehr Macht (zur Interpretation, zur Subjektivität, zum Ausdruck) zu vermitteln. Das Ziel ist das Empowerment der Kinder. Wir müssen lernen, zielgerichtete Öffentlichkeitsarbeit und Bewusstseinsbildung über Medien zu leisten. In diesem Sinne sind alle jene Ansätze sehr wichtig, die präventiv schon dort beginnen, bevor Gewaltsituationen entstehen. Das beste Mittel gegen psychische Gewalt sind starke gesunde Kinder und starke gesunde Eltern. Die Maßnahmen der Gesundheitsförderung und der Öffentlichkeitsarbeit in diesem Bereich sind hier anzusetzen und gefragt. Wir haben bei uns in Vorarlberg seit drei Jahren eine sehr intensive Kampagne zum Thema „Kinder stark machen“ laufen, mit sehr viel medialer Präsenz und mit sehr viel Aktivität und Aktionen. Ich glaube, wir im psychosozialen Feld müssen noch lernen, dass die Bewusstseinsbildung auch über mediale Formen von enormer Bedeutung ist. Wir sollten die Medien nicht nur verteufeln, sondern uns ihrer auch bedienen. Ziel ist es, Vertrauen aufzubauen und zu stärken. Wie ist das bei uns Helfern, wenn Kinder NEIN sagen usw. und ihre Stärke zeigen? These III Das beste Mittel gegen psychische Gewalt sind starke Kinder. Gesundheitsförderungsprogramme sind angesagt. Schließlich stellt sich auch die Frage, auf welche Welt wir, die Pädagogen usw., unsere Kinder vorbereiten: auf eine idealisierte, gewaltfreie Welt (wie wir sie uns alle wünschen)? Dann sagen wir aber gleichzeitig: Gewalt ist ein Betriebsunfall. Oder bereiten wir sie auf eine Welt vor, in der Gewalt ein Teil der Realität ist genau so, wie das Sich-Wehren. Niederschwellige Soziale Dienste als Anlaufstellen Wo psychische Gewalt als solche gesehen und verstanden wird und bereits gehandelt wird, hat der Verarbeitungsprozess schon begonnen. Wo versucht wird, psychische Gewalt subjektiv zu verarbeiten (in der Projektion auf sich selbst), wo Symptome sich verhärten – dort sollten die Angebote der Jugendwohlfahrt verstärkt einsetzen. 40 Das bedeutet: Die im JWG (Jugendwohlfahrtsgesetz) vorgesehenen Sozialen Dienste möglichst niederschwellig anlegen, die Akzeptanz steigern und den Zugang erleichtern. Ganz entgegen den Bestrebungen heute: Sparen durch Erschweren der Zugänge und Erhöhung der Schwellen. In Vorarlberg versuchen wir durch das Angebot privater Träger (höhere Akzeptanz bei persönlichen Problemen), durch eine dezentrale, regionale Streuung, durch kurze Wege und niedere Schwellen (in öffentlich zugänglichen Gebäuden) usw. diesen Weg zu schaffen. Ein wichtiger Punkt ist hier auch PR und Werbung! Diese Angebote an Hilfen müssen auch für Eltern/Erwachsene zugänglich sein. These IV Psychische Gewalt erfordert präventive, niederschwellige soziale Dienste mit hoher Akzeptanz. Es gehört zu meiner Arbeit als Geschäftsführer, unseren Geldgebern jedes Jahr genau auseinander zu setzen, was das, was wir machen, kostet. Das Institut für Sozialdienste ist eine private soziale Organisation, die in sehr vielen unterschiedlichen Bereichen tätig ist. Wenn ich mit einem potenziellen Sponsor spreche, da schildere ich immer die drastischen Situationen, erzähle von den schlimmsten Dingen und massivsten Problemen. Und ich merke, wie schwer es mir fällt, zu erklären, wie wichtig es ist, auch soziale Dienste für Kinder und Jugendliche anzubieten, die vielleicht noch gar kein massives, kein sichtbares ausgeprägtes Problem haben. Aber es braucht eine präventive, niederschwelllige, soziale Angebotspalette mit hoher Akzeptanz. Das „niederschwellig“ geht in Richtung Stadt-Land, in Richtung gute Erreichbarkeit, Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, in Richtung Kunden- und Klientenfreundlichkeit und all dessen, was es in diesem Bereich gibt. Ist es ein Armutszeugnis, dass so viele Menschen unsere Angebote in Anspruch nehmen? Wir haben pro Jahr allein im Institut für Sozialdienste etwa 18.000 Klientinnen und Klienten. Das ist mehr als 5 Prozent der Bevölkerung von Vorarlberg. Davon sind etwas mehr als die Hälfte direkte Beziehungs-, Familienerziehungsprobleme und alles, was hier dazugehört. Man könnte sagen, dass es ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft ist, dass so viele Menschen unser Angebot in Anspruch nehmen müssen. Man könnte aber auch sagen, es ist ein Kompliment, dass so viele Menschen hier leben, denen ihre Beziehungen zu ihren Kindern, ihren Familien so wichtig sind, dass sie unsere Hilfe zu einem Zeitpunkt in Anspruch nehmen, wo noch nicht alles zusammengebrochen ist, oder um Veränderungen und Übergänge nicht-destruktiv zu gestalten. Sensible Kooperation der Helfer These V Hilfe oder Handeln der Helfer muss, um nicht ebenfalls in den Kontext von psychischer Gewalt zu geraten, koordiniert und im Lebenskontext des Kindes kalkulierbar, verstehbar und kritisierbar sein. Wir müssen hier ganz sensibel vorgehen. Sie alle wissen, dass wir als Helfer nicht einfach irgendwelche Dinge inszenieren und dann sagen können „Ich weiß schon, was für dich gut ist“. Das muss koordiniert und dem Lebenskontext des Kind angepasst, verstehbar und gestaltbar sein. Und ein wichtiger Parameter ist hier eben auch das Alter des Kindes. 41 Wenn die Helfer dasselbe tun, was z.B. im Elternsystem passiert, nämlich neben- oder gegeneinander zu agieren, dann passiert auf der nächsten Ebene dem Kind nochmals dasselbe. Etwa: Wenn jemand nach dem Prinzip „Gewalt gehört geahndet“ zu agieren beginnt, jemand anderer mit dem Kind zu arbeiten bzw. klären beginnt, was es erlebt und wieder jemand anderer den Eltern bestätigt, dass die erzieherische Klarheit (Wer ist auf der Elternebene? Wer bestimmt? usw.) für das Kind ganz wichtig ist. Das kann man ja alles nebeneinander haben, und noch viel mehr (Schlagwort: Die eine Hand weiß nicht, was die andere tut). Dazu wieder eine Geschichte. Hüte dich vor den Buben! Ein Vater wollte seine Tochter vor den Gefahren des Lebens bewahren. Als die Zeit gekommen war und seine Tochter zu einer wahren Schönheit erblüht war, nahm er sie zur Seite und klärte sie über die Gemeinheit und Hinterhältigkeit der Welt auf. Er sagte: „Liebe Tochter, denk an das, was ich dir sage. Alle Männer wollen nur das eine. Die Männer sind raffiniert und stellen Fallen, wo sie nur können. Du merkst gar nicht, wie du immer tiefer in den Sumpf ihrer Begierden versinkst. Ich will dir den Weg des Unglücks zeigen. Erst schwärmt der Mann von deinen Vorzügen und bewundert dich. Dann lädt er dich ein, um mit ihm auszugehen. Dann kommt ihr an seinem Haus vorbei, und er sagt dir, dass er nur schnell seinen Mantel holen wolle. Er fragt dich, ob du ihn nicht in seine Wohnung begleiten möchtest. Oben lädt er dich zum Sitzen ein, bietet dir Tee an, ihr hört gemeinsam Musik, und wenn die Stunde dann gekommen ist, wirft er sich plötzlich auf dich. Damit bist du geschändet, wir sind geschändet, deine Mutter und ich, unsere Familie ist geschändet. Unser Ansehen ist dahin.“ Die Tochter nahm sich die Worte des Vaters zu Herzen. Einige Zeit später kam sie stolz lächelnd auf ihren Vater zu und sagte „Vati, bist du ein Prophet? Woher hast du bloß gewusst, dass sich alles so abspielt? Es war genauso, wie du es beschrieben hast. Erst hat er meine Schönheit bewundert, dann hat mich eingeladen. Wie durch Zufall kamen wir bei seinem Haus vorbei und da merkte der Ärmste, dass er seinen Mantel vergessen hatte. Um mich nicht allein zu lassen, bat er mich, ihn in seine Wohnung zu begleiten. Wie es der Anstand befiehlt, machte er mir Tee, verschönte mir die Zeit mit herrlicher Musik. Nun dachte ich an deine Worte und ich wusste daher genau, was auf mich zukommen sollte. Aber du wirst sehen, ich bin würdig, deine Tochter zu sein. Als ich den Augenblick nahen fühlte, warf ich mich auf ihn und schändete ihn, seine Eltern, seine Familie, sein Ansehen und seinen Ruf.“ Ich denke, was wir können, ist Kindern/Jugendlichen einen Erklärungskontext anbieten. Wie sie ihn dann verwenden, liegt in ihrer Macht. Mehrere solcher Erklärungskontexte, vielleicht auch verschiedene, sind oft Realität. Sie sind dann gefährlich, wenn das Kind diese nicht integrieren kann. Mehrperspektivität statt Reduktion Psychische Gewalt ist ein interdisziplinäres Phänomen – es kann nicht eindeutig einer Berufsgruppe zugeordnet werden. Sei es der/die Sozialarbeiter/in des Jugendamtes, der/die Psycholog/in, der/die Lehrer/in, der Arzt, die Ärztin, seien es die Eltern, Angehörige oder wer auch immer – jeder, der die Sprachlosigkeit sieht und/oder spürt, ist aufgerufen, im System des Kindes mitzuhelfen, die Erfahrungen zur Sprache zu bringen l durch Gespräche 42 l durch kreative Medien l durch pädagogische Situationen l durch Ermutigung zum Ausdruck und zum Fühlen l durch das Vor-Leben l usw. Erklärungen von psychischer Gewalt sind vielseitig und fordern interdisziplinäres Arbeiten. Nicht die Reduktion darauf, wem das Thema „gehört“, ist sinnvoll, sondern die Mehrperspektivität. Vernetztes Handeln ist hilfreich, gerade für die Kinder, die hier Hilfe brauchen. Wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie viele unterschiedliche Akteure unter Umständen in einer einzigen Situation integriert sind und handeln (Hinweis: Siehe Referat Dr. Neumayer, S 82), einschreiten und helfen, dann ist das ganz typisch für das Thema. These VI (Er-)Klärungen von psychischer Gewalt sind vielseitig und legen interdisziplinäres Arbeiten nahe. Nicht Reduktion, sondern Mehrperspektivität ist hilfreich. Der Vater hat’s verboten ... der Übertitel meines Referates entstammt natürlich auch dem Struwwelpeter, und zwar aus der „gar traurigen Geschichte mit dem Feuerzug“. Ein Kind spielt mit dem Feuerzug und verbrennt dann. Am Anfang dieser Geschichte gibt es zwei Katzen. Und als die Eltern ausgegangen sind, „... heben die Katzen ihre Tatzen ...“ und sagen der daheim gebliebenen, zündelnden Tochter immer wieder: „Das darfst du nicht.“ Sie drohen mit den Pfoten, „der Vater hat’s verboten! Miau, Mio, Miau, Mio, lass stehn, sonst brennst du lichterloh“. Die zwei Katzen sind die Symbole für die Helfer/innen. Ich glaube, das ist gar kein so schlechtes Symbol. Wir können schnurren, wir können herumstreichen, wir können mit den Pfoten kratzen, wir können ihnen – unseren Kindern – verschiedene Dinge raten, erlauben oder verbieten. Das Kind hier hat die Botschaft der Katzen nicht verstanden, hat einen anderen Weg eingeschlagen. Wir können – zumindest längerfristig gesehen – nicht mehr tun, als verschiedene Dinge anzubieten. Eben darum denke ich, dass die unterschiedlichen Zugänge und interdisziplinäre Ansätze sehr hilfreich sind, denn möglicherweise kommt ein Helfer/eine Helferin von einem anderen Feld besser an das Kind heran. Ein 10-jähriger Bub, dessen Eltern sich unter ganz dramatischen Umständen scheiden ließen, hat in der Erziehungsberatung in der Kindertherapie mit Puppen gespielt. Da lässt er die eine Puppe die andere fragen: „Du was ist denn das – Scheidung?“ Sagt die andere Puppe: „Scheidung, das ist wie der Untergang der Titanic. Die beiden brechen auseinander, nur dass sie nicht ertrinken.“ Interdisziplinäre Ansätze, unterschiedliche Zugänge und die Kooperation der verschiedenen Berufsgruppen sind in der Prävention und Aufarbeitung psychischer Gewalt unumgänglich. Ich weiß nicht, ob es gescheit ist, dass 7-jährige Kinder den Film „Titanic“ sehen, aber wenn der Bub das verstanden hat und das Bild ihm eine Hilfe gibt, dann war es trotzdem sinnvoll. Und es war eine Erklärung, auf die ich nie gekommen wäre. 43 Gewalt, was sonst? Ich frage mich bei der Beschäftigung mit solchen Themen immer: Was ist das Gegenteil von psychischer Gewalt? Ich denke, wir sollten als Helfer/innen darauf achten, dass wir nicht immer nur dagegen rennen, um zu verhindern, was es zu verhindern gilt, sondern den Blick darauf werfen, was wir denn eigentlich aufbauen und stärken wollen. These VII Reduktion von psychischer Gewalt setzt voraus, dass wir lernen, lebendige Vielfältigkeit gegenseitig auszuhalten. Ich denke, zwischen dem Pol psychische Gewalt und dem, was das Gegenteil davon ist – vielleicht können Sie diese Frage einmal für sich selber anschauen und beantworten –, kann man kann nur subjektive Antworten finden. Ich glaube nicht, dass Gewaltlosigkeit der Gegenpol ist. Ich würde heute sagen: Der Gegenpol von psychischer Gewalt ist das Aushalten von Vielfältigkeit und Lebendigkeit, von Unterschiedlichkeit, von Vielfältigkeit. Das gilt für die Familien, für die Kinder, für die Beziehungen mit und in denen wir arbeiten. Wenn es gelingt, ein bisschen etwas davon entstehen zu lassen, dass Menschen, die miteinander leben und aufwachsen, ein bisschen mehr an Vielfältigkeit, Lebendigkeit, Unterschiedlichkeit gegenseitig aushalten – was ja nicht immer so lustig ist –, dann haben wir viel erreicht. Und ich glaube, das ist auch ein gutes Bild für uns als Helfer/innen. Wenn es uns gelingt, uns in unseren Unterschiedlichkeiten auszuhalten und uns in unseren Unterschiedlichkeiten leben zu lassen, dann können wir einen Beitrag dazu leisten, dass wir Kindern helfen, sich in solchen Situationen besser zurechtzufinden. Züngelnde Helfer Zum Schluss noch eine ganz kleine Geschichte, um die Vielfältigkeit noch in ein Bild zu packen. Da gibt es in einem Dorf eine Schlange, die beißt ständig die Einwohner. Und eines Tages gehen die Menschen – wie es in den Geschichten so ist – zu einem heiligen Meister und sagen zu ihm: „Du bist so heilig und so weise. Könntest du nicht die Schlange zähmen, sodass sie uns nicht ständig beißt?“ Der Meister willigt ein und tut, wie ihm geheißen. Die Schlange beißt also nicht mehr. Die Dorfbewohner merken bald, dass die Schlange harmlos geworden ist. Bald beginnen sie Steine nach ihr zu werfen, sie am Schwanz hinter sich herzuziehen und sie ständig zu belästigen. Eines Nachts hält die Schlage das nicht mehr aus und kriecht übel zugerichtet in des Meisters Haus, um sich zu beschweren. Der Meister sagte: „Mein Freund, du jagst den Menschen keine Angst mehr ein, das ist schlecht“. „Aber du hast mich doch gelehrt, gewaltlos zu sein“ antwortete die Schlange. Sagte der Meister: „Ich habe dir gesagt, du sollst aufhören zu beißen, nicht aber zu züngeln und zu zischen.“ Ich denke, auch wir müssen in unserem Beruf manchmal züngeln und zischen. Auch Kinder und Eltern dürfen züngeln und zischen. Das ist was anderes als Gewalt, auch als psychische Gewalt auszuüben, und diesen Unterschied herauszufinden, dazu wünsche ich uns allen sehr viel Erfolg! 44 „Die Buben aber folgten nicht“ „Sorgerechtsproblematik/Strafrechtsproblematik!“ Referentin: Dr. Beate Matschnig: Ich arbeite am Jugendgericht in Wien. Wir sind zuständig für sämtliche Straftaten Jugendlicher bis zum 19. Lebensjahr, die im Bereich Wien verübt werden. Außerdem sind wir Pflegschaftsgericht für sämtliche Erziehungsnotstände von ganz Wien, unabhängig vom Bezirk. Wie reagiert die Justiz auf Gewalt? Primär sind wir immer spät dran. Das ist nicht die Schuld der Justiz allein, sondern das ergibt sich aus der Situation. Denn in dem Moment, wo ein Fall bei uns anhängig ist, ist ja bereits etwas passiert. Wir arbeiten nicht in der Prävention, sondern wir werden mit Tatsachen konfrontiert. Wir können dann nur noch im Nachhinein versuchen, den Schaden möglichst gering zu halten, regulierend oder ordnend einzugreifen. Was passiert, wenn es sich um kleine Kinder handelt? Wir haben sämtliche Fälle des sexuellen Missbrauchs bei uns, der Gewalt an Kindern, der groben Vernachlässigung, die ja genauso auch ein Gewaltfaktum darstellen. Ich beginne mit dem einfachsten und gelindesten Eingreifen unsererseits: das ist die Unterstützung zur Erziehung. Dieser Fall ist allerdings auch der seltenste bei uns und deckt maximal knapp 10 Prozent meiner Arbeit ab. Unterstützung zur Erziehung ... kann dann angewandt werden, wenn die Eltern zumindest noch ein bisschen kooperationsbereit sind, wenn z.B. das Jugendamt sagt: „Mit uns arbeiten sie zwar nicht zusammen, aber wenn sie einen Gerichtsbeschluss in der Hand haben, dann könnte man ihnen vielleicht gewisse Auflagen auftragen.“ Diese Auflagen können mannigfaltig sein: Das kann eine intensivere Zusammenarbeit mit dem Jugendamt sein oder eine Kontrolle durch das Jugendamt. Sehr häufig ist es eine Kindergartenunterbringung oder Hortunterbringung, damit eine gewisse kontinuierliche Beobachtung der Kinder gewährleistet ist. Weiters: Kontrolltermine bei Ärzt/innen, logopädische Behandlungen, Familienintensivbetreuungen – Sie sehen schon, der Bogen ist weit gespannt. In der Praxis sieht das so aus, dass ich mich in so einem Fall mit den Eltern zusammensetze und die möglichen Maßnahmen mit ihnen durchspreche. Im Idealfall können sie die Auflage akzeptieren, da sie einsehen, dass etwas passieren muss, weil das Kind sonst aus der Familie genommen wird. Doch wie gesagt, das sind die seltensten Fälle bei uns. Denn entweder arbeiten die Eltern so und so schon mit dem Jugendamt zusammen oder sie lehnen alles strikt ab. Dann hilft auch unser Einschreiten kaum, denn wenn ich einen Antrag bekomme, und ich muss ja die Eltern zu jedem Antrag des Jugendamtes laden, und die Eltern kommen schon nicht einmal zu mir, dann ist ein Beschluss mit Unterstützung auf Erziehungshilfe völlig sinnlos. Ich kann Eltern im Pflegschaftsverfahren nicht zwangsweise bei mir vorführen lassen. Das heißt, wenn sie den Kontakt ablehnen, ist diese Maßnahme auch nicht durchführbar. Unterstützung zur Erziehung bedeutet zum Beispiel Kontrollen durch das Jugendamt, Kindergartenunterbringung oder Hortunterbringung, damit eine gewisse kontinuierliche Beobachtung der Kinder gewährleistet ist, sowie Kontrolltermine bei Ärzt/innen, logopädische Behandlungen oder Familienintensivbetreuungen. 45 Entzug der Obsorge In den meisten Fällen, die bei uns anhängig sind, kommt es zu einer Abnahme des Kindes, zu einem Entzug der Obsorge der Eltern. Wobei Obsorge teilbar ist. Es gibt die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung – das wird in 90 Prozent aller Fälle entzogen. Das heißt, sie dürfen das Kind nicht mehr bei sich haben, sie sind nicht mehr zuständig für Pflege und Erziehung. Man belässt ihnen aber noch die gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung. Das wird in 90 Prozent aller Fälle bei den Eltern belassen. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass auch eine Herausnahme der Kinder aus ihrer Familie Gewalt an den Kindern ist. Nur ist in den meisten Fällen keine andere Lösung denkbar. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass auch eine Herausnahme der Kinder aus ihrer Familie Gewalt an den Kindern ist. Auch wir erleben das zum Teil sehr dramatisch. Wenn die Eltern die Kinder nicht „herausgeben“ und dann Polizei, Feuerwehr, Vollzugsbeamter und Jugendamt auftreten, um die Kinder quasi gewaltsam aus der Familie zu reißen, dann ist das pure Gewalt, die bei den Kindern einen Schock verursacht. Nur ist in den meisten Fällen keine andere Lösung denkbar. Es ist nicht so, dass das Jugendamt leichtfertig einen Antrag bei uns stellt oder dass irgendeiner von uns eine solche Maßnahme leichtfertig genehmigt. Es wird von uns intensivst recherchiert, bevor wir uns zu so einem Schritt entschließen. Wir haben die Jugendgerichtshilfe im Haus, mit Psychologen und Sozialarbeitern, die zusätzlich zum Jugendamt nochmals sämtliche Erhebungen im Umfeld durchführen, die mit Nachbarn, in den Schulen, Kindergärten und mit den Ärzten und Ärztinnen sprechen. Die Jugendgerichtshilfe nimmt uns Richtern diese Erhebungen ab, denn das würde unser Zeitbudget bei weitem überschreiten. Nach diesen Recherchen folgen Gespräche von uns mit den Eltern. Daraufhin wird meistens auch noch ein Sachverständigengutachten über die Erziehungsfähigkeit der Eltern und die Möglichkeit, das Kind aus der Familie herauszunehmen, eingeholt, und erst dann wird der Beschluss getroffen, dass das Kind der Familie abgenommen wird. Für das Kind ist die Sache damit aber noch keineswegs durchgestanden, und das macht die Sache auch immer so schwierig. Denn dann kommen die Besuchsregelungen. Die Eltern können oder wollen diese Regelung zumeist nicht akzeptieren. Dass dadurch auch das Kind immer wieder involviert wird, dessen muss man sich bewusst sein. Das Kind hat keine Ruhe mit der Abnahme, nur haben wir bisher noch keine bessere Lösung gefunden. „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“ Was passiert a la longe mit dem Kindern? Da kommen wir nun zum Titel dieser Tagung „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“. Über 80 Prozent unserer straffällig gewordenen Jugendlichen kommen aus „belasteten“ Familien. Es wurde ihnen in ihrer Familie Gewalt angetan, sie wurden misshandelt oder vernachlässigt. 46 Verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, ich möchte nicht sagen, dass jeder, der eine gewaltsame Kindheit durchgemacht hat, kriminell wird. Das stimmt sicher nicht. Aber es gibt einen Umkehrschluss. Jeder einzelne Fall, jeder einzelne Strafakt wird von uns an die Jugendgerichtshilfe weitergeleitet, die umfangreiche Erhebungen über das ganze Umfeld, über die Familie, die Schule des Betroffenen usw. im Zuge des Pflegschaftsverfahrens macht. Und von dort her gibt es eine grobe Statistik, die besagt, dass über 80 Prozent unserer straffällig gewordenen Jugendlichen aus „belasteten“ Familien kommen, sei es, dass ihnen dort Gewalt angetan wurde, dass sie misshandelt oder vernachlässigt wurden. Und etliche von unseren Straftätern haben auch einen Pflegschaftsakt bei uns anhängig. Das sind dann die 14-, 15-, 16-Jährigen, bei denen wir uns zwar auch bemühen, noch irgendwelche hilfreichen Maßnahmen zu setzen, wo es aber natürlich immer schwieriger wird. Jeder wird für ein 2-, 3-, 4-, 5-jähriges Kind Verständnis haben, dem Gewalt angetan wurde. Jeder sagt „Dieses arme Kind“ und „Was ist nur mit diesem Kind passiert? Das ist ja furchtbar.“ Jeder hat hier Verständnis und wird jeder Maßnahme zustimmen. Wenn es aber einen 15-, 16-Jährigen betrifft, der pappig und rotzig ist und etwas angestellt hat, der sich alles andere als positiv präsentiert, der keine Goldlocken mehr hat, sondern eine Punkerfrisur, dann hört sich das Verständnis schlagartig auf. Kein Mensch zerbricht sich dann den Kopf darüber, was der Jugendliche schon alles mitgemacht hat, was mit ihm passiert ist und was wir jetzt eigentlich schonenderweise mit ihm tun sollen. Da ist der Ruf nach Strafe sehr, sehr laut. Und er wird immer lauter. „Alles einsperren“ versus Bewährungshilfe Es gibt kein Verständnis mehr für Therapien und andere Maßnahmen. Die Devise geht immer stärker in Richtung „Einsperren“. Was wir versuchen, ist im Rahmen von Probezeiten Maßnahmen zu setzen, um doch noch irgendeine Hilfestellung zu geben. Die Möglichkeiten dazu haben wir noch, angefangen von der Bewährungshilfe. Die Jugendlichen sind meistens auf sich allein gestellt. Unter Umständen gibt es irgendwo noch eine Mutter – wenn, dann ist es in aller Regel eine Mutter, die da vielleicht noch dahinter steht. Bewährungshilfe ist eine Möglichkeit, die ich dem Klienten drei Jahre lang vermitteln kann. Das soll eine Unterstützung sein. Das hat mit Strafe absolut nichts zu tun. Das ist eine rein positive Maßnahme für ihn. Ich sage jetzt immer „ihn“, weil 95 Prozent aller Straftäter Burschen sind. Wir können im Rahmen der Probezeit zum Beispiel anordnen „Du musst regelmäßig in die Schule gehen. Du musst dir eine Lehre suchen oder musst beim Arbeitsamt gemeldet sein.“ Dann geht es weiter mit Therapien. Wir können unseren Süchtigen, und das sind sehr, sehr viele, Weisung geben, sich einer Therapie zu unterziehen, sei es ambulant, sei es stationär. Wir haben bei uns im Haus bei der Jugendgerichtshilfe auch das Antiaggressionstraining, das diesen Jugendlichen helfen soll, ihre eigenen Aggressionen, die sie letztendlich alle aus ihrer Kindheit mitgenommen haben, aufzuarbeiten und zu verbessern. Letzte Maßnahme: Haft Letztendlich bleibt dann die Haft. Das ist dann gar nicht mehr erquicklich, wobei es bei uns im Haus noch zumindest eine sehr dichte Betreuung gibt. Es werden schulische Weiterbildung und verschiedene Kurse angeboten, und die Jugendgerichtshilfe betreut die Häftlinge sowohl psychologisch als auch sozialarbeiterisch. Sind längere Haftstrafen zu verbüßen, dann schaut es schon schlechter aus. Ich glaube, es gibt jetzt in Gerasdorf eineinhalb Psychologen für 90 auffällige Burschen, die eigentlich eine Therapie erhalten sollen. Das ist so faktisch nicht machbar. Aber es gibt kein Geld für eine Aufstockung des Personals. Eineinhalb Psychologen sollen 90 verhaltensauffällige Burschen therapieren. Es gibt kein Geld für eine Aufstockung des Personals, denn diese Burschen haben keine Lobby. Und für diese Burschen haben wir keine Lobby! Schwierige Teenager Gerade jene Jugendlichen, die uns am meisten am Herzen liegen, „bleiben“ bei den Institutionen letztendlich irgendwo „über“. Es sind diese schwierigen 13- bis 16-Jährigen. 47 Sie passen in keine Wohngemeinschaft, es gibt zu wenig Heime, und auch eine Pflegschaftsfamilie hält diese Jugendlichen kaum aus. Sie passen in keine Wohngemeinschaft hinein, weil dort würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach alles „umdrehen“ und die Nachbarn so verärgern, dass sie ausziehen müssten. Heime gibt es keine mehr in diesem Ausmaß. Eine Familie – eine Pflegschaftsfamilie – hält einen solchen Burschen oder eine solches Mädchen auch nicht aus. Wir haben versucht, eine Lösung für diese Jugendlichen in einer interdisziplinären Kommission zu finden. Wir haben versucht, niederschwellige Einrichtungen zu schaffen. Wir werden aber mit der Mitteilung „Das geht nicht. Das ist zu schwierig. Wer haftet und wer tut und wer macht und wer zahlt vor allem?“ konsequent abgeblockt. Ich kann Ihnen keine Lösung dafür anbieten. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es schwierig geworden ist. Viel schwieriger, als es früher war. Es ist viel schwieriger, sie unterzubringen, das Echo in der Öffentlichkeit wird schlechter, wir haben mehr Probleme, damit umzugehen. Alles kann nicht von uns aufgefangen werden. Ich frage mich manchmal, ob man nicht dazu übergehen sollte, Kinder früher aus dem Familienverband herauszunehmen. Obwohl ich mir bewusst bin, dass das ein zweischneidiges Schwert ist. Denn einerseits arbeiten wir am Gericht ja letztendlich auch nur mit Druck, Macht und Gewalt. Wie schon gesagt, ein Kind aus seiner Familie herauszureißen ist Gewalt, und deswegen versuchen wir, ein Kind so lang wie nur irgendwie möglich zu Hause zu lassen. Je älter die Kinder, desto schlechter sind ihre Chancen. Andererseits sehe ich oft Fälle, wo man die Situation zu Hause schon seit Jahren beobachtet, und es wird nicht besser, sondern immer schlechter. Wir wissen, dass es Gewalt in dieser Familie gibt. Wir wissen, dass es Vernachlässigung gibt, und wir versuchen trotzdem mit noch einer Weisung, mit einer anderen Schule, mit einem andern Hort, einem anderen Familienintensivbetreuer usw. der Situation beizukommen, bis es letztendlich dann so weit ist, dass wir das Kind dann doch aus der Familie herausnehmen müssen. Nur – je älter die Kinder sind, desto schlechter sind ihre Chancen! Wenn die Kinder einmal fünf, sechs sind, ist es viel schwieriger, als wenn sie ein Jahr oder noch kleiner sind. Dass das ein zweischneidiges Schwert ist, weiß ich, und dass es juristisch schwierig ist, weiß ich auch. Ich habe das sozusagen oft genug am eigenen Leib erfahren. Elternwohl vor Kindeswohl? Zum Abschluss noch eine Geschichte. Da ist eine Mutter, die durchaus in der Lage ist, ein Baby zu haben. Die Grundversorgung des Babys, also das Füttern und Wickeln und Streicheln und alles, was dazu gehört, ist kein Problem für sie. Doch in dem Moment, wo ihr Kind anfängt, mobil zu werden, wo es aufsteht und geht, wird sie mit der Situation nicht mehr fertig. Sie begann ihren Sohn zu schlagen, weil sie seiner nicht mehr Herr wurde. Sie konnte ihm keine Grenzen setzen. Sie hat nicht mehr gewusst, was sie mit ihm machen soll. Sie war einfach von ihrer ganzen Konstellation her nicht fähig, mit dem Kind irgendetwas anzufangen. Diese Frau bekam wieder ein Kind. Um dieses neue Baby hat sie sich aber sehr wohl gekümmert. Als wir den „Großen“ aus der Familie genommen haben, war dieser drei Jahre, der Kleine war zu diesem Zeitpunkt fünf Monate alt. Der Große kam zu Pflegeeltern. 48 Zu diesem Zeitpunkt habe ich mit der zuständigen Sozialarbeitern beim Jugendamt gesprochen und gesagt „Was machen wir jetzt? Warten wir, bis der Kleine auch anfängt zu gehen und „schwieriger“ wird für die Mutter? Nehmen wir ihr das Kind dann ab? Dann ist der Bub aber immerhin wahrscheinlich auch eineinhalb oder zwei Jahre alt.“ Die Pflegeeltern, die den älteren Buben übernommen hatten, waren bereit, auch den Kleinen zu nehmen. Und wir entschlossen uns, ihr auch das kleine Kind schon jetzt abzunehmen und haben das dann das erste Mal durch alle Instanzen durchgezogen. Wir haben mit einem Sachverständigengutachter gearbeitet, der gesagt hat, dass die Mutter sehr wohl in der Lage ist, ein Baby zu versorgen, nicht aber ein größeres Kind. Und so haben wir das Kind mit fünfeinhalb Monaten abgenommen. Aber das war eine Ausnahmesituation. Ich kann nicht sagen, dass das immer so funktioniert. Ich bin ausschließlich für das Wohl des Kindes zuständig, ausschließlich! Ob es der Mutter dabei gut geht oder den Pflegeeltern oder den Großeltern oder wem auch immer in diesem ganzen Familienverband, ist für uns nicht entscheidend. Für das Kind ist diese Situation sicher leichter gewesen, denn ein Einschnitt mit fünfeinhalb Monaten ist leichter zu verkraften als mit zwei oder drei Jahren. Ob das in Zukunft so gehen wird, das kann ich nicht versprechen. Ich weiß es nicht, weil die Instanz sehr konservativ ist. Auch der Oberste Gerichtshof stellt immer zuerst fest, dass die Elternrechte eigentlich schwerer wiegen als die Kinderrechte. Das steht auch definitiv in den Entscheidungen des OGH. Scheinbar ist es also eher dem Kind zuzumuten, etwas auf sich zu nehmen, wenn es den Elternrechten entgegenkommt. Das beginnt sich jetzt zu ändern. Wünsche für die Zukunft Was wir uns wünschen würden – und was jetzt zum Teil auch schon funktioniert –, ist eine sehr intensive Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. Insofern, dass wir die einzelnen Fälle vorher besprechen, weil man sich leichter tut, wenn man „gleichgeschaltet“ läuft. Das Zweite, das wir uns wünschen, ist eine Verbesserung der Situation für unsere schwierigen Teenager. Wir bräuchten da sehr dringend eine Möglichkeit, auch diese schwierigen Jugendlichen adäquat unterzubringen. Es sollte einfach nicht mehr vorkommen, was leider immer wieder passiert, dass wir einen 14-Jährigen in Haft haben, weil wir nicht wissen, wo wir ihn eigentlich „hintun“ sollen. Wir können ihn ja nicht auf die Straße stellen. Ich kann nur hoffen, dass Tagungen wie diese dazu führen, dass sich nicht nur die Situation für die kleinen Kindern verbessert, sondern dass es eben auch bei jenen eine Verbesserung der Situation gibt, die quasi schon am Ende eines Leidensweges stehen, den sie von Klein auf an mitmachen mussten. 49 „Zu Hilf’, Ihr Leut’, zu Hilf’, Ihr Leut’!“ „Extrembelastungen im Kindesalter“ Referentin: Dr. Gertrude Bogyi Sowohl der Titel der Enquete „Wehe, wehe, wenn ich an das Ende sehe“ als auch der Titel meines Beitrages „Zu Hilf’ ihr Leut’, zu Hilf’ ihr Leut’“ weisen darauf hin, worum es in meinem Beitrag gehen wird. Das Zitat „Zu Hilf’ ihr Leut’, zu Hilf’ ihr Leut’“ ist jener Geschichte im Struwwelpeter entnommen, wo der Jäger den Hasen erschießen möchte. Letztendlich geht diese Geschichte aber dann doch noch gut aus. Aber wovon ich Ihnen jetzt berichten werde, da ist leider nichts gut ausgegangen. Es geht um Kinder, die Zeuge eines Mordes geworden sind. Ich bin seit siebenundzwanzig Jahren an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters am AKH tätig, beschäftige mich seit langem auch mit dieser Thematik und habe bis jetzt zweiundvierzig Kinder betreut, die Zeugen eines Mordes geworden sind. Man kann jetzt sagen, dass das eigentlich eine kleine Gruppe ist. Für mich jedoch ist das eine wahnsinnig große Gruppe, denn bei dieser Gruppe sind zum Beispiel all die Flüchtlingskinder, die schreckliche Kriegserlebnisse zu verarbeiten haben, nicht dabei. (Es wäre übrigens ein wesentlicher Bestandteil der Integration, diesen Kindern eine lang währende Aufarbeitung ihrer schrecklichen Erfahrungen zu ermöglichen.) Martin So schwer traumatisierte Kinder können nie geheilt werden. Aber es ist unsere Pflicht, sie zu begleiten. Ich möchte mit der Geschichte von Martin beginnen, der zum Zeitpunkt des Traumas sechs Jahre alt war. Ich betreue ihn auch heute noch. Und es ist auch sehr wichtig, dass ich ihn noch immer betreue, denn es dauert sehr lange, bis solche seelischen Traumen auch nur halbwegs verarbeitet werden. Wirklich geheilt können diese Kinder nie werden. Auch nicht mit der besten Therapie. Wir sind jedoch verpflichtet, diese Kinder zu begleiten. Wir müssen sie in den verschiedensten Lebensphasen begleiten und wirklich für sie da sein, da das Trauma in den verschiedenen Altersstufen reaktiviert wird und dann neu bearbeitet werden muss. Doch davon später. Der sechsjährige Bub war der einziger Zeuge, als sein Vater die Lebensgefährtin erschossen hat. Diese Lebensgefährtin des Vaters war Mutterersatzperson, und zwar schon seit vier Jahren. Seine leibliche Mutter hatte die Familie verlassen, als das Kind zwei Jahre alt war. Dann kamen die verschiedensten Tanten und Omas, bis der Bub schließlich beim Vater und dessen Lebensgefährtin lebte. Bis zu dem Tag, als der Vater sie im Streit erschoss. Sprachlosigkeit – ein Verarbeitungssyndrom Üblicherweise ist es so, dass Kinder knapp nach einem so schrecklichen Ereignis wie automatisiert einzelne Daten und Fakten erzählen können. Doch bereits ein paar Stunden, ein paar Tage später tritt eine aktive Verdrängung ein. Die Kinder erzählen das Erlebte dann anders, können sich an vieles, das sie vorher genau gewusst haben, nicht mehr erinnern. Das ist immer auch das große Problem, wenn Kinder vor Gericht als Zeugen aussagen sollen. 50 Diese Sprachlosigkeit gehört zu einem Verarbeitungssyndrom, das ich Ihnen nun näher schildern möchte. Auch dieser Kleine hatte mir am Anfang die verheerenden Geschehnisse genauestens geschildert. Ein paar Wochen später war er plötzlich stumm und sprachlos geworden. Ich fragte ihn, ob er nicht vielleicht zeichnen möchte. Er bejahte und begann zu überlegen, was er denn eigentlich zeichnen wolle. Und dann hat er selbst gemeint, er werde zeichnen, wie es ihm geht. Auf einem der Bilder, die er zeichnete, fand ich auch mich. Ich sollte gerade erschossen werden. Aber da das natürlich auch für ihn sehr schlimm gewesen wäre, hat er mir eine kugelsichere Weste „umgehängt“, sodass ich nicht erschossen werden kann. Mittlerweile ist das eineinhalb Jahre her, doch das Kind gerät noch immer bei jedem Blutfleck in Panik. Sieht es Blut, bekommt es eine Wahnsinnsangst. Der kleinste Blutfleck genügt, um alles sofort zu reaktivieren. Wir wissen heute, dass bei schweren psychischen Traumatisierungen jede Kleinigkeit genügt, um ein Wiedererleben auszulösen. Eine für uns gar nicht sichtbare, nicht erkennbare Kleinigkeit genügt, und das Kind muss die Geschehnisse in den verschiedensten Facetten wieder erleben. Mit einem Mal ist die gesamte Problematik wieder da ist. Sieht er Blut, bekommt er eine Wahnsinnsangst. Der kleinste Blutfleck genügt, um die schrecklichen Erlebnisse zu reaktivieren. Psychische Traumatisierung ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationen und individuellen Bewältigungsmechanismen. Charakteristischer Weise ruft dies sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ein extremes Gefühl der Hilflosigkeit und schutzlosen Preisgabe hervor. Das betroffene Kind fühlt sich ohnmächtig, und es kommt zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Bei einem psychischen Trauma handelt es sich um ein subjektives Erleben, und deswegen stellt es sich auch nicht für jeden gleich dar. Betroffene Kinder fühlen sich hilflos, schutzlos und ohnmächtig. Zumeist fühlen sie sich auch noch schuldig an dem, was sie miterleben mussten. Es gibt also keine objektive Skala mit Schweregraden der psychischen Traumatisierung. Meistens treten nach dem Ereignis auch noch ganz massive Schuldgefühle bei den betroffenen Kinder auf. Schuldgefühle, nichts „dagegen“ getan zu haben. Zum Beispiel hat mir ein Kind, das Zeuge war, als der Vater die Mutter ermordet hat, gesagt: „Weißt du, sie haben so oft gestritten, und ich hab’ immer wieder gesagt, hört auf zu streiten. Aber wenn ich sie hätte ausstreiten lassen, dann hätte der Papa die Mama nicht erschießen müssen.“ Dieses Sich-schuldig-, Sich-mitbeteiligt-Fühlen ist natürlich auch ein sehr wesentlicher Punkt bei der Traumatisierung. Professor Friedrich sagt immer, wir müssten wieder eine Streitkultur entwickeln. Ich nehme das sehr ernst, und ich glaube sogar, es wäre eine präventive Maßnahme. Ein Kind soll keinesfalls von allem, von jedem Streit fern gehalten werden. Denn es ist ja nicht der Streit an sich, es ist viel mehr die Art und Weise, wie gestritten wird. Wenn der Vater der Mörder ist Ich arbeite mit Kindern, die Traumen der verschiedensten Art erlebt haben. Aber das Schlimmste, was einem Kind passieren kann, ist fraglos, wenn der Vater die Mutter oder auch umgekehrt, die Mutter den Vater ermordet. Da kommt es zu schwersten Erschütterung vom Selbst- und Weltverständnis des Kindes. Es ist wesentlich leichter, wenn der Mörder ein Außenfeind ist. Denn wenn Vater oder Mutter Täter sind, kann das Kind ja seine negativen Gefühle nicht voll auf diese „Person“ richten. Vater oder Mutter werden vom Kind geliebt, und das Gefühlschaos, in das ein Kind stürzt, das miterleben musste, wie der eine liebe Mensch den anderen geliebten Menschen ermordet hat, ist grauenvoll. Diesen Kindern wird regelrecht der Boden unter den Füßen weggezogen. Jegliches Urvertrauen in die Welt ist „Weißt du, sie haben so oft gestritten, und ich hab’ immer wieder gesagt, hört auf zu streiten. Aber wenn ich sie hätte ausstreiten lassen, dann hätte der Papa die Mama nicht erschießen müssen.“ Diesen Kindern wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Diese Kinder haben jegliches Urvertrauen in die Welt auf immer verloren. Diese Kinder wissen wirklich nicht mehr ein und aus. 51 diesen Kindern auf immer genommen worden. Diese Kinder wissen wirklich nicht mehr ein und aus. Wie verunsichert diese Kinder sind, sieht man an Martin, der auch heute noch, nach zwei Jahren Therapie bei mir, sagt: „Ich weiß ja nicht, ob du mich nicht auch erschießen willst.“ Martin ist derzeit wieder stationär bei uns aufgenommen. Seine Verunsicherung ist so tief, dass er sich ununterbrochen absichern muss, ob die Schwester in der Nacht munter ist, damit da ja jemand aufpasst, dass ihm nichts passiert. Das psychogene Schocksyndrom Walter Spiel, der langjährigen Leiter und Gründer unserer Klinik, hat 1974 ein psychogenes Schocksyndrom an Hand von Kindern und Jugendlichen beschrieben, an denen ein Mordversuch verübt worden ist. Bei diesen Kindern ist quasi im letzten Moment alles noch gut gegangen, sie wurden nicht einmal – körperlich – verletzt. Dennoch bleibt die Tatsache, dass ein Elternteil versucht hat, das Kind zu ermorden. Psychogenes Schocksyndrom: Es äußert sich als Reaktion auf ein traumatisches Ereignis in der ersten Phase durch Panikreaktion, Fluchttendenzen, Angstreaktionen bis hin zur Apathie. Es erfolgt dann eine aktive Verdrängung gegen die Bewusstmachung der Ereignisse und eine Bearbeitung in der Fantasie. Erst 6 Monate bis 1 Jahr danach, manchmal auch noch später, kommt es zu Symptombildungen, und erst danach ist eine Bearbeitung der Realität möglich. Spiel hat hier vier Phasen beschrieben, die ich dann auch bei diesen extrem traumatisierten Kindern, die Zeugen eines Mordes geworden sind, erlebt habe. Diese Phasen sind: 1.) Panikreaktion, Fluchttendenzen, Angstreaktionen, Apathie 2.) Aktive Verdrängung des Erlebten 3.) Bearbeitung der Erlebnisse in der Fantasie 4.) Symptombildung (6 Monate bis 1 Jahr nach dem Trauma) Und dazu jetzt ein Beispiel. Jürgens Geschichte Jürgen war sechs Jahre alt, als er miterleben musste, wie sein Vater seine Mutter und die Großmutter ermordet hat. Die Tatwaffe war eine Glasscherbe. Mit dieser hat er ihnen die Kehle durchgeschnitten. Der Vater versuchte auch Jürgen zu ermorden. Doch offensichtlich hatte der Mann dann eine Tötungshemmung und somit blieben nur leichte Kratzspuren. Im Anschluss daran hat der Vater dann Selbstmord begangen, indem er mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler gefahren ist. Laut Auskunft der Gerichtsmedizin war Jürgen stundenlang mit den Leichen von Mutter und Großmutter allein. Die Tat passierte in den Abendstunden, und erst am nächsten Tag verließ er die Wohnung. Er packte seinen Rucksack, gab eine Haarbürste, ein Scherzerl Brot und Papiertaschentücher hinein, nahm dann den Hund an die Leine und ging zur Nachbarin. Er läutete bei ihr an und sagte: „Ich muss jetzt auswandern, weil alle meine Leute sind gestorben.“ Diese Botschaft konnte er noch überbringen, dann brach er ohnmächtig zusammen. Dann wurde er mit der Rettung zu uns gebracht. Jürgen hat abgesehen vom Miterleben der Tat noch weiteres Schreckliches miterlebt. Wie wir nachher rekonstruiert haben, hat er die Leichen seiner Mutter und Großmutter ins Badezimmer geschleppt und siebeneinhalb Stunden lang versucht, sie abzuspülen, damit sie zu bluten aufhören. Natürlich hat er das Blut nicht stoppen können, hat sie so nicht retten können. Sie können sich sein Entsetzen vorstellen, als das Blut durch die Verdünnung mit dem Wasser sogar noch mehr geworden ist! Das hat ihm am Schluss enorme Schuldgefühle bereitet, weil er der fixen Überzeugung war, dass es seine Schuld war, dass sie so geblutet haben. 52 Als er dann zu uns gebracht wurde, war er apathisch, war am Anfang sprachlos, konnte nichts sagen. Er hat das Erlebnis also schon am Anfang verdrängt. Das wäre also die erste Phase des psychogenen Schocksyndroms, die Apathie. Nach und nach bin ich dann dem Jürgen ein Stückchen näher gekommen, denn dass solche Kinder auch ein Schutzschild an Abwehr aufbauen, das können Sie sicherlich leicht verstehen. Er malte sein erstes Bild in der Therapie, und das war ganz in Schwarz gehalten. So schaute also seine Welt aus. Auf diesem Bild war ein Erhängter auf einem Schiff zu sehen. Jürgen hat sich dann ganz massiv gegen die Bewusstmachung der Tatsache gewehrt, dass der Vater der Mörder ist. Er hat mir in den Therapie-Stunden gesagt: „Weißt du, der Mörder war zwar so groß wie mein Papa, und er hat so ausgeschaut wie mein Papa, und er hat so eine Stimme gehabt wie mein Papa, aber es war nicht mein Papa.“ Also dieser Schmerz, dass der Täter auch noch der Vater ist, war für dieses Kind zu diesem Zeitpunkt einfach zu viel. Genau das meinte Spiel mit der „aktiven Verdrängung“. Die Wahrheit nicht verleugnen Auch für Helfer und Helferinnen ist es entsetzlich, so etwas auszuhalten zu müssen. Natürlich wäre es hier sehr verführerisch zu vertrösten und dem Kind zu sagen: Ja, Du hast Recht, die Polizei hat sich geirrt. Der Mörder ist nicht Dein Papa. Aber hier ein Appell an alle Helfer/innen: Tun Sie das nie! Das wäre der größte Fehler. Sie würden damit vielleicht sogar auch psychische Gewalt am Kind verüben, auch wenn Ihnen das jetzt ganz komisch erscheinen mag. Aber wenn wir die Wahrheit leugnen, geben wir dem Kind eigentlich keine Möglichkeit mehr, mit uns darüber zu reden. Wir würden dann ja diese Lüge aufrecht erhalten. Natürlich hab ich dem Kind auch nicht jeden Tag gesagt: „Du, der Mörder war Dein Papa!“ Aber am Anfang hab ich dem Kind gesagt: „Weißt Du, es wäre schön, wenn sich die Polizei geirrt hätte, aber es war der Papa.“ Ganz wichtig ist, dass jemand dem Kind beisteht, das Ganze gemeinsam mit dem Kind aushält und gemeinsam mit ihm trägt. Verarbeitung in der Fantasie In der Regel erfolgt dann die dritte Phase, in der es zu einer Bearbeitung des Falles in der Fantasie kommt. Und dann, oft ein halbes bis zu eineinhalb Jahre später, wenn die Menschen aus der Umgebung des Kindes glauben, jetzt hat es ohnehin schon alles verkraftet, weil es auch nicht mehr darüber spricht, dann kommt es zu massiven Symptombildungen. Die Symptome können die ganze Bandbreite der Palette der kinderpsychiatrischen Auffälligkeiten umfassen, von Einnässen über Leistungsstörungen, bis hin zum Stottern. Die Erkrankungen sind dann noch einmal das Zeichen einer Bearbeitungssituation, und erst in der vierten Phase beginnt der lange, lange Prozess der Bearbeitung der Realität. Der Trauerprozess kommt überhaupt noch viel, viel später. Am Beginn der vierten Phase muss die ganze Gewalt, die ganze Schuld, all das, was da passiert ist, zunächst einmal Schritt für Schritt verarbeitet werden. Was sich dann in den verschiedensten Entwicklungsphasen eben auch wiederholt. Angenommen, ein Trauma passiert einem kleinen Kind, dann muss dieses Kind dieses Trauma in allen Entwicklungsstufen neu und auf einem anderen Entwicklungsniveau bearbeiten. Zu den Symptomen zählen: Tick-Erkrankungen, Angststörungen, aggressive Tendenzen, Bettnässen, Lernund Leistungsstörungen, motorische Störungen, Kontaktstörungen, Stottern. 53 Die heikle Frage der Unterbringung In Jürgens Fall kam dann natürlich auch noch die Frage der Unterbringung auf. Hier ein Appell an alle Sozialarbeiter/innen: Überlegen Sie bitte immer sehr gut, wo Sie solche Kinder unterbringen. In der ersten Minute sind natürlich sofort alle Verwandten zur Stelle. Die sagen, selbstverständlich nehmen wir das Kind zu uns, keine Frage, das bin ich meiner Schwester schuldig, oder Ähnliches. Das hört sich zwar sehr gut an, aber oft ist eine andere Lösung besser. Und manchmal ist es auch meine Aufgabe gewesen, diesen Menschen zu sagen, sie dürfen Tante oder sie dürfen Oma bleiben, aber es ist gescheiter, das Kind kommt ins Kinderdorf. Ich hatte da zum Beispiel eine Frau, die selbst vier kleine Kinder hatte und dann drei kleine dazu nehmen hätte wollen! Es geht ja nicht „nur“ darum, dieses Kind bei sich aufzunehmen. Es geht vor allem auch darum, es zu begleiten. Jürgen kam zur Schwester seiner toten Mutter und musste noch eine Reihe von Trennungen (Schulwechsel, Scheidung von Onkel und Tante etc.) und weiteren psychische Traumen durch die Gesellschaft erleben. (Mehr über Jürgens Geschichte lesen Sie im zweiten Teil der Dokumentation, Seite 63). Zeichnungen von Kindern dürfen zwar nicht überbewertet werden, trotzdem geben sie uns oft einen guten Einblick in den momentanen Sinneszustand. Deshalb möchte ich Ihnen zum Abschluss noch erzählen, was Jürgen gezeichnet hat. Waren seine Zeichnungen am Anfang eigentlich nur ein schwarzes Bild, so zeichnete er nach einem Jahr einen Kaiseradler. Warum? – Weil er sich in einen Kaiseradler verwandeln lassen will, denn der steht unter Naturschutz, und dann kann ihm nie wieder etwas passieren! Bei richtiger Begleitung können die Ressourcen und Stärken eines Kindes auch bei den ärgsten Traumen wieder geweckt werden. Und in diesem Sinne wollen wir weiter arbeiten! 54 2. Enquete ES IRRT DER MENSCH, SOLANG ER STREBT Psychische Gewalt am Kind Moderation: Barbara Urban, ORF 6. Oktober 2000, 10 Uhr Hofburg, Großer Redoutensaal 1010 Wien, Josefsplatz Psychische Gewalt ist sicherlich jene Gewaltform, die am häufigsten auftritt. Zum einen tritt sie immer als Begleiterscheinung bei jeder Form körperlicher und sexueller Gewalt auf; zum anderen haben zusätzlich viele Kinder – ohne körperlich betroffen zu sein – unter psychischer Gewalt, sei es im Elternhaus, sei es im sozialen Umfeld, zu leiden. Psychische Gewalt hinterlässt keine körperlichen Spuren und ist daher schwer festzustellen und zu beweisen. Oftmals werden extrem „brave“ Kinder nicht als „Opfer“ wahr genommen, sondern finden sogar noch die Anerkennung der erzieherischen Leistung ihrer Eltern in einer immer noch autoritär denkenden Gesellschaft. Auch das Verhalten der Eltern in Scheidungssituationen kann zu psychischer Misshandlung führen, wenn z.B. Kinder zum Mittelpunkt juristischer Auseinandersetzungen werden, um elterliche Machtinteressen durchzusetzen. Psychische Gewalt kommt aber auch in Institutionen vor oder kann durch institutionelles Handeln ausgelöst werden. Auch zwischen Kindern/Jugendlichen gibt es diese Form der Gewalt – Schlagworte, wie „Bullying“ oder „Mobbing“ sind in letzter Zeit laut geworden. Ziel der Enquete war es, das Spannungsfeld Schutz bzw. Gefahr durch die Familie versus Schutz bzw. Gefahr durch Institutionen bei psychischer Gewalt am Kind zu beleuchten. Titel und Überschrift in Anlehnung an: Johann Wolfgang von Goethe: Faust Inhaltsverzeichnis Enquetes 2 „Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an“ „Psychische Gewalt aus der Gesellschaft: Der Kreis wird enger“ Dr. Werner Leixnering Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie an der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz Seite 158 „Heinrich! Mir graut’s vor dir!“ „Traumatisierung und Gesellschaft“ Dr. Gertrude Bogyi Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters, Wien Seite 162 „Erbarme dich und lass’ mich leben“ „Scheidung – psychische Gewalt an Kindern?“ Dr. Harald Werneck Institut für Entwicklungspsychologie, Universität Wien Seite 168 „Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein“ „Eltern als Begleiter in schwierigen Zeiten“ Dr. Luitgard Derschmidt Forum Beziehung, Ehe und Familie der Katholischen Aktion Österreich Seite 175 „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ „Der Eingriff von Außen – ein zusätzliches Trauma?“ Dr. Reinhard Neumayer Amt der NÖ Landesregierung, Abt. Jugendwohlfahrt Seite 182 „Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“ „Schule – ein Ort der Tat“ Dir. Gertraud Schimak/Mag. Dagmar Friedl Rudolf-Ekstein-Zentrum, Wien Seite 190 „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor“ „Entlastungsstrukturen“ Dr. Stefan Allgäuer Institut für Sozialdienste, Vorarlberg Seite 196 „Das Gute liegt uns oft so fern“ „Prognose versus Vorurteil: Stolperstein der Prävention“ 2 Fallbeispiele Dr. Eva Traindl Niedergelassene Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde, Wien Seite 104 „Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an“ „Psychische Gewalt aus der Gesellschaft: Der Kreis wird enger“ Referent: Dr. Werner Leixnering Wir dürfen ruhig hinschauen, wenn wir uns irren. „Es irrt der Mensch, solang er strebt“, so lautet der Übertitel dieser Enquete. Wenn wir diesen Satz genauer betrachten, ein wenig umdrehen, dann heißt das ja eigentlich auch: Wir dürfen uns irren. Und das heißt wiederum auch: Wir dürfen ruhig hinschauen, wenn wir uns irren. Dass wir also hinschauen dürfen, ja sogar sollen, scheint ein Faktum zu sein, das uns gerade beim Phänomen der psychischen Gewalt an Kindern (übrigens auch an Erwachsenen) durchaus verfolgen sollte. Ich sage bewusst „verfolgen“ sollte, weil verfolgen kann auch bedeuten, etwas immer im Fokus zu haben. Ich würde aber auch sagen, es ist eine Tatsache, die uns immer „begleiten“ darf. Denn, wenn wir wirklich hinschauen und dadurch erkennen, dass wir uns irren, haben wir möglicherweise schon einen Ansatz der Veränderung in der Hand. Der zweite Titel, den ich hier ansprechen möchte, lautet: „Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an“. Und auch dieses berühmte Zitat möchte ich ein wenig näher betrachten. „Der Menschheit ganzer Jammer fasst uns an.“ Da steht nicht, der „sieht“ uns an oder der „ruft“ uns etwas zu, nein „fasst“ uns an. Und alle, die mit Kindern arbeiten, wissen, welch wesentliche Bedeutung wir in den letzten Jahren all dem geschenkt haben, was etwas mit dem unmittelbaren Berühren von Kindern zu tun hat. Das heißt, wenn uns dieser Jammer gleichsam bewegen soll, dann muss er uns anfassen. Das heißt aber auch – und das wissen auch wieder alle, die mit dem taktilen und sensomotorischen Bereich zu tun haben –, dass man bereit und imstande sein muss, sich anfassen zu lassen. Psychosomatik: Wenn psychische Gewalt ausgeübt wird, kann sie sich bei Kindern körperlich äußern. Können wir uns also körperliche Symptome organisch nicht erklären, müssen wir an die Möglichkeit erlittener psychischer Gewalt denken. Aber „der Menschheit ganzer Jammer“ fasst auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen an, wenn es um psychische Gewalt geht. Denn wenn psychische Gewalt ausgeübt wird, egal ob sie jetzt von unmittelbaren Bezugspersonen oder aus der Gesellschaft kommt, kann sie sich bei Kindern körperlich äußern. Die Psychosomatik spielt hier also eine große Rolle. Deshalb müssen wir bei Kindern, die an körperlichen Phänomenen leiden, die wir uns organisch nicht gut erklären können, an die Möglichkeit erlittener psychische Gewalt denken, wie in der ersten Enquete zu diesem Thema schon kurz dargestellt wurde. (ð Hinweis auf Seite 9) Wir haben bei der letzten Enquete schon darüber gesprochen, dass die Grenzen zwischen Erziehungspraktiken, die sich des Prinzips der Strafe bedienen, und psychischer Gewalt oftmals fließend sind. Das ist ein Problem, mit dem wir uns immer wieder befassen und auseinandersetzen müssen. Und genau das Problem dieser fließenden Grenzen sollte uns wahrscheinlich besonders dazu anregen, immer daran zu denken, dass wir uns auch irren können. Eine Erziehungsmaßnahme kann eben auch irrtümlich erfolgt sein, und das müssen und können wir auch zugeben und uns eingestehen – als Eltern, als Lehrer, als Bezugspersonen. Die Wurzel des Übels 58 Wenn wir uns nicht nur mit dem Phänomen der psychischen Gewalt innerhalb der Familie befassen, sondern die Problematik etwas weiter beleuchten, dann müssen wir uns die Frage stellen: Wie geht die Gesellschaft mit Eltern um, die dann wieder mit Kindern „umgehen“? Oder: Wie geht die Gesellschaft überhaupt mit jenen Personen – das müssen ja gar nicht immer nur die Eltern sein – um, die dann wieder mit Kindern „umgehen“? Müssen wir nicht dort ein wenig nachforschen, wenn wir uns die Wurzeln der psychischen Gewalt ansehen möchten? Ist nicht auch ein wesentlicher Punkt, wie Erwachsene mit Erwachsenen umgehen, was Kinder dann natürlich miterleben, mitbekommen? Und ist dieses Mitbekommen nicht wesentlich mehr also nur das Sehen, das Hören, das Spüren? Ist das nicht auch etwas Seelisches an sich, ein psychischer, ein emotionaler Akt? Ein wesentlicher Punkt ist, wie Erwachsene mit Erwachsenen umgehen, denn Kinder lernen davon. Noch ein Punkt scheint mir besonders beachtenswert zu sein: der Umgang von Kindern mit Kindern! Wenn man sich in der Literatur umschaut und Beschreibungen, Bemerkungen und Erfahrungen sammelt, so sieht man, dass wir in einer Zeit leben, in der wir sehr darauf achten, Kindern rechtzeitig Autonomie zu geben, Kindern rechtzeitig Selbstständigkeit zu geben, Kindern rechtzeitig zu ihrem Recht zu verhelfen. Das bedeutet natürlich auch, dass Kinder relativ früh selbstständig miteinander „umgehen“, also in Interaktion treten. Kinder gehen heute auch vielleicht autonomer miteinander um, als das früher der Fall war, da nicht so schnell jemand von Außen eingreift. Das bedeutet aber auch, dass wir viel früher darauf achten müssen, wie die Kinder miteinander umgehen. Also nicht nur Erwachsene gehen mit Kindern um, sondern auch Kinder, auch junge Menschen gehen miteinander um. Phänomen Bullying In diesem Zusammenhang ist leider das Phänomen des „Bullying“ anzusprechen, jenes Phänomen, das man vielleicht mit schikanieren, quälen, sekkieren, malträtieren usw. übersetzen kann. Und dazu gibt es seit den 80er Jahren erste Untersuchungen, die dann in verschiedenen Ländern in verschiedenen Formen repliziert wurden. Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass Bullying weit verbreitet ist. Es gibt Daten, die darauf hinweisen, dass in Schulklassen – dort wurden die ersten Untersuchungen durchgeführt – im internationalen Mittel etwa 5 bis 10 % der Kinder und Jugendlichen von diesem Phänomen betroffen sind. Und zwar nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass sich die Relation Täter – Opfer etwa deckt; es gibt andere Ergebnisse, die mehr Täter und weniger Opfer ausweisen. Das methodische Problem all dieser Untersuchungen ist, dass man auf Befragungen angewiesen ist und dadurch natürlich auch subjektive Momente der Antworten berücksichtigen muss, die das Ergebnis sehr stark beeinflussen können. Faktum ist aber, dass wir uns mit diesem Phänomen auseinander setzen müssen. Faktum ist weiters, dass wir es vor allem deshalb mit diesem Phänomen zu tun haben, weil die Methoden, mit denen heute Gewalt, auch psychische Gewalt, ausgeübt wird, viel subtiler werden. Und subtiler werden bedeutet, dass wir in Zukunft genauer hinsehen müssen. Bullying: „Eine Person wird „gebulliet“ oder viktimisiert, wenn sie wiederholt und über längere Zeit hinweg negativen Handlungen durch eine oder mehrere Personen ausgesetzt ist. Eine negative Handlung findet statt, wenn jemand absichtlich einer anderen Person Verletzungen oder Unannehmlichkeiten zufügt oder zuzufügen versucht. „Bullying“ oder Viktimisierung ist nicht gegeben, wenn zwei Personen vergleichbarer Stärke streiten oder kämpfen“ (nach OLWEUS, 1992 und SCHUSTER, 1999). „Psychische Gewalt aus der Gesellschaft – der Kreis wird enger“ Nun noch ein paar Worte zur Entstehung psychischer Gewalt. Stellen wir uns jetzt dem Titel: Wann wird denn der Kreis enger? Wodurch wird er enger? Durch Verrohung! Verrohung der Sprache ist dabei ein sehr wichtiges Phänomen. Er wird auch enger durch Verherrlichung von Gewalt in jeder Art. Er wird aber auch enger durch Einschränkung basaler Lebensbedürfnisse, durch Einschränkung der Entwicklungschancen, durch Einschränkung des Rechts auf einen Platz in der Gesellschaft. Da geht es bei Kindern um Plätze in Gruppen. Da geht es bei Jugendlichen schon zunehmend um Arbeitsplätze, da geht es um Fragen der Existenzsicherung für das ganze Leben. Die Verrohung der Sprache ist im Zusammenhang mit psychischer Gewalt ein sehr wichtiges Phänomen. 59 Es geht aber auch darum, dass der Kreis enger wird, wenn man sich emotional nicht mehr Luft machen kann. Was in der Einzelpsychotherapie gewünscht ist, muss auch – in adäquater Weise – in Gemeinschaften möglich sein. Wir sprechen so gern von diesem Schlagwort „den Gürtel enger schnallen“. Ich frage Sie einmal: Wie würde es Ihnen mit einem Gürtel gehen, bei dem Sie überhaupt kein Loch mehr finden, an dem Sie die Schnalle einklinken könnten? Da ist man dann sehr hilflos in der einen, aber auch in der anderen Richtung. Wie schaut es also mit der Orientierung aus, mit den Zielen, mit den Schritten, wenn Gürtel enger geschnallt werden müssen? Transportieren wir sie? Ist das nicht auch psychische Gewalt, wenn wir „Gürtel ohne Löcher“ produzieren? Der Kreis wird auch enger, wenn man sich emotional nicht mehr Luft machen kann. Was in der Einzelpsychotherapie gewünscht ist, muss auch – in adäquater Weise – in Gemeinschaften möglich sein. Und das spielt für Kinder, die sich viel schwerer tun, Perspektiven zu erfassen, zu erkennen, eine sehr große Rolle. Wir sind hier also in einem gewissen Sinn wieder auch beim Problem der Grenzenlosigkeit. Sie wissen alle, dass wir vor 20, 30 Jahren Begriffe wie „die totale Institution“ sehr stark frequentiert haben. Wir haben daraus sehr viel gelernt. Wir haben sehr viel verändert, und wir haben erfasst, welche Handlungsräume Menschen brauchen. Heute, glaube ich, müssen wir uns zunehmend mehr auch bei Kindern und Jugendlichen mit der Frage auseinander setzen, ob unterschiedliche Individuen, unterschiedliche Kinder und Jugendliche vielleicht auch unterschiedliche Handlungs- und Erlebnisräume brauchen. Ich glaube, wir müssen lernen, mehr als bisher unterschiedliche Stile in der Erziehung, im Umgang mit Kindern und Jugendlichen anzuwenden. Die Folgen psychischer Gewalt aus der Gesellschaft Was sind denn die Folgen? Kinder können Druck nicht adäquat verarbeiten. Sie geben den Druck weiter – an Gleichaltrige, an Jüngere und auch an Erwachsene. Erstens: Kinder können Druck nicht adäquat verarbeiten. Das führt zu Verdrängung. Das führt zu Verleugnung. Das führt zu einer Reihe von psychopathologischen Phänomenen, die sich zum Teil in psychosomatischen Symptomen äußern können. Es geht da oft um einen Teufelskreis, der entsteht, wenn Kinder primär schon beeinträchtigt sind. Das Phänomen der psychischen Gewalt aus der Gesellschaft wird vor allem auch bedrohlich für Kinder, die von sich aus ungünstigere Voraussetzungen haben. Zweitens: Psychische Gewalt in der Gesellschaft führt dazu, dass Kinder diese psychische Gewalt unter Erwachsenen miterleben. Zumeist imitieren sie dieses Verhalten dann unkritisch und unreflektiert, ohne genau zu verstehen, was da überhaupt passiert. Und letztens: Kinder geben Druck weiter, und das müssen wir uns immer vergegenwärtigen. Sie geben den Druck an Gleichaltrige, an Jüngere, aber unter Umständen auch an Erwachsene weiter. Und das ist ein Phänomen, dem wir in der klinischen Psychologie und in der Psychopathologie immer mehr ausgesetzt sind, dass Kinder, die sehr stark traumatisiert wurden, ihrerseits nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene wieder psychisch traumatisieren können – natürlich nicht bewusst, aber es entsteht ein Teufelskreis. Das sind also neue Phänomene, mit denen wir uns auseinander setzen müssen! Schnelllebigkeit und Leistungsdruck Zum Schluss möchte ich ein wenig zusammenfassen: Wir leben in einer Zeit, die durch Schnelllebigkeit, Komplexität und Veränderungsdruck gekennzeichnet ist, und dies stellt an junge Menschen generell hohe Anforderungen. Sie müssen sich sehr rasch auf Neues, Anderes, Unerwartetes einstellen, ebenso wie wir weiterhin von ihnen oft Verständnis für Gehütetes und Geschütztes erwarten. 60 Die Kindern zwar im besonderen Maße eigene Fähigkeit zu Entwicklung und Anpassung – und damit zur Änderung des eigenen Verhaltens – droht auf diese Weise dennoch oft überfordert zu werden, und dann kann Veränderungslust in Veränderungsfrust enden. Die Methoden, mit denen Erwachsene die ihnen anvertrauten jungen Menschen sich und den anderen anpassen wollen, anpassen müssen – vielleicht manchmal auch anpassen dürfen oder zu dürfen glauben –, werden immer subtiler. Dieser Tatsache müssen wir uns stellen. Phänomene des seelisch überfordernden, ja schadenden Gruppendrucks lassen sich heute mehr und mehr beobachten und stehen zunehmend im Widerspruch zu den in unseren Tagen als selbstverständlich anerkannten erzieherischen Werten der Toleranz und Akzeptanz. Die Gefahr des „Überbordens“ psychischer Gewalt ist also allgegenwärtig in einer Zeit, in der Leistung nicht nur gefordert, sondern mehr noch evaluiert, taxiert und relativiert wird. Die Angst, selbst in diesem Prozess unter die Räder zu kommen, mobilisiert in oft erschreckend hohem Ausmaß Kräfte seelischer Gewalt, deren Folgen erst viel später zu erfassen und schwer zu mildern sind. Wir alle, meine Damen und Herren, sind fähig, psychischer Gewalt entgegenzuwirken, sofern wir ihrer nicht nur schaudernd harren, sondern frühen Anfängen und frühen Gefahren des Psychoterrors klug und konsequent entgegentreten. Die Kindern im besonderen Maße eigene Fähigkeit zu Entwicklung und Anpassung droht überfordert zu werden, und dann kann Veränderungslust in Veränderungsfrust enden. 61 „Heinrich! Mir graut’s vor Dir!“ „Traumatisierung und Gesellschaft“ Referentin: Dr. Gertrude Bogyi Das Gretchen sagt in der Kerkerszene zu Faust: „Heinrich, mir graut’s vor dir“. Wer ist der Faust? Wer ist das Gretchen, und wovor graut’s? Ich hoffe, dass meine Ausführungen Ihnen das ein wenig klarer machen können. Was ist psychische Traumatisierung? Unter psychischer Traumatisierung verstehen wir eine seelische Verwundung, und zwar einerseits durch ein plötzliches und unerwartetes Ereignis, das unvorhersehbar ist und außerhalb der normalen Lebenserfahrung geschieht, also z.B. Missbrauch, Misshandlung, plötzlicher Verlust, Unfall, Katastrophen. Charakteristisch, dass dies sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ein extremes Gefühl der Hilflosigkeit hervorruft. Andererseits sprechen wir auch von Traumatisierungen, wenn es sich um lang andauernde, chronische traumatische Erfahrungen handelt, die die gesamte Entwicklung des Kindes von früh an beeinflussen. Walter Spiel hat dazu den Begriff „Persönlichkeitsentwicklungsstörungen“ geprägt. Das kann etwa eine Vernachlässigung oder aber auch eine psychische oder psychiatrisch schwere Erkrankung der Elternteile sein, die sich auf die Entwicklung der Kinder auswirken. Nun noch einmal kurz zur Definition „psychische Traumatisierung“. Es geht um ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Gefühle von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe werden ausgelöst, und es kommt zu einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Freilich gibt es eben, wie schon genannt, eine große Bandbreite traumatischer Situationen und Situationskonstellationen, sodass sich kein einheitliches Trauma-Syndrom feststellen lässt. Dennoch hat Walter Spiel bereits im Jahre 1974 vom so genannten „Psychogenen Schocksyndrom“ gesprochen. Es äußert sich als Reaktion auf ein traumatisches Ereignis durch Panikreaktion, Fluchttendenzen, Angstreaktionen bis hin zur Apathie. Es erfolgt dann eine Phase der aktiven Verdrängung gegen die Bewusstmachung der Ereignisse und eine Bearbeitung in der Fantasie. Erst 6 Monate bis 1 Jahr danach, manchmal auch noch später, kommt es zur Symptombildungen und erst danach ist eine Bearbeitung der Realität möglich. (ð Siehe auch Seite 52, 53) Heute spricht man einerseits von der „akuten Belastungsreaktion“, andererseits von der „posttraumatischen Belastungsstörung“. Akute Belastungsreaktion: vorübergehende Störung, meist bis 3 Tage nach dem Ereignis. Nach anfänglichem Zustand der Betäubung werden Depression, Angst, Ärger, Verzweiflung, Überaktivität und Rückzug beobachtet. Kein Symptom ist längere Zeit vorherrschend. Posttraumatische Belastungsstörung: verzögerte Reaktion auf belastendes Ereignis, selten mehr als 6 Monate nach dem Ereignis. Gekennzeichnet durch Symptomtrias: sich aufdrängende Erinnerungen, Vermeidung von Situationen, die an das Trauma erinnern, vegetative Übererregtheit. 62 Die posttraumatische Belastungsstörung und ihre Erscheinungsformen bei Kindern Eine Vielfalt von Symptomen kann auftreten, die auf eine Traumabelastung zurückführen sind: Rückzug, Angst, Misstrauen, aber auch Konzentrationsstörungen, Leistungsstörungen, Schlafstörungen, immer wiederkehrende Albträume, psychosomatische Störungen aller Art und vor allem auch selbstschädigende Verhaltensweisen. Das heißt, oft wird das aggressive Trauma dann eben gegen sich selbst gerichtet. Bei Jugendlichen kommen noch oftmals eine Drogenproblematik, sehr häufig auch Selbstmordversuche, sexuelle Straftaten und vor allem soziale Anpassungsstörungen dazu. Eine psychische Traumatisierung ist eine das Kind in seiner psychischen Entwicklung überfordernde Lebenserfahrung, der es wehrlos, hilflos und unentrinnbar ausgeliefert ist. Starke innere und äußere Eindrücke überfluten die innere Wahrnehmung des Kindes und führen zu einer massiven Entwicklungsbeeinträchtigung, und das – dies sei jetzt nochmals betont – auf jeder Entwicklungsstufe. Angenommen, ein Trauma passiert einem kleinen Kind, dann muss dieses Kind dieses Trauma in allen Entwicklungsstufen neu und auf einem anderen Entwicklungsniveau bearbeiten. Wie wird nun die Entwicklung weiterverlaufen? Dies hängt einerseits von der Gesamtpersönlichkeit des Kindes ab, von der Persönlichkeitsstruktur, von den vorhandenen Abwehrmechanismen, von der Art und den Begleitumständen des Traumas, von der Reaktivierung des Traumas, aber vor allem – und damit bin ich beim heutigen Thema – vom sozialen Umfeld und damit auch von der Reaktion der Gesellschaft. Jürgen Eine psychische Traumatisierung ist eine das Kind in seiner psychischen Entwicklung überfordernde Lebenserfahrung, der es wehrlos, hilflos und unentrinnbar ausgeliefert ist. Starke innere und äußere Eindrücke überfluten die innere Wahrnehmung des Kindes und führen zu einer massiven Entwicklungsbeeinträchtigung auf jeder Entwicklungsstufe. Die Reaktion der Gesellschaft nimmt massiven Einfluss auf die Entwicklung traumatisierter Kinder. Ich möchte Ihnen nun anhand eines Extrembeispieles erläutern, was ich meine. Sie erinnern an die Geschichte von Jürgen (Siehe S. 52), der als 6-Jähriger miterleben musste, wie sein Vater seine Mutter und seine Großmutter ermordete, indem er ihnen mit einer Glasscherbe die Kehle durchgeschnitten hat. Der Vater versuchte auch Jürgen zu töten, hatte aber dann offensichtlich eine Tötungshemmung, und somit blieben nur leichte Kratzspuren. Anschließend beging der Vater Selbstmord. Jürgen war drei Jahre bei uns in Therapie und wurde dann nach und nach auch von uns entlassen. Er wurde bei der Schwester seiner Mutter und deren Mann untergebracht. Und er blieb natürlich auch an der Klinik in Weiterbehandlung. Und jetzt komme ich dazu, warum ich den Titel eigentlich gewählt habe. Zwei Jahre nach der Entlassung bei uns kam Jürgen plötzlich wieder zu mir. Er war in einer höchsten Paniksituation, denn er war nochmals in eine massive Schocksituation geraten. Er war mittlerweile in der 2. Volksschulklasse, und es hatte sich dort herumgesprochen, dass sein Vater ein Mörder war. Die Eltern einiger Mitschüler von Jürgen gingen daraufhin in die Schule und verlangten von der Lehrerin darauf zu achten, dass ihr Kind keinesfalls neben Jürgen sitzt. Denn es wollte niemand, dass sein Kind neben dem „Mörderkind“ zu sitzen kommt. Die Lehrerin hat nun, obwohl sie eigentlich eine wirklich bemühte, engagierte Lehrerin war, Jürgen tatsächlich allein in die letzte Reihe gesetzt. Jürgen saß jetzt also alleine in der letzten Bank, und was glauben Sie, was er getan hat? Er begann mit allem möglichen wie Radiergummi, Bleistift, Zirkel usw. nach vorne zu schießen. Es war seine einzige Möglichkeit, mit den Anderen in Interaktion zu treten, auf sich aufmerksam zu machen. Und dann ist er zusammengebrochen. Bei mir in der Therapie hat er auf meine Frage „Jürgen, wie geht es dir?“ Tränen gezeichnet. Er hat mir gesagt: „So wie der Himmel weint, wein auch ich.“ Wir haben uns darauf hin die alten Zeichnungen, die er zwei Jahre zuvor gezeichnet hatte, angesehen und mit den jetzigen verglichen. Als Jürgen acht Jahre war, musste er die Schule wechseln. Der Grund dafür: Niemand wollte neben dem „Mörderkind“ sitzen. Hier ist es wieder zu psychischer Gewalt gekommen. Die Umwelt hat Jürgens neue Familie gemieden, die Lehrerin hat ihn in die letzte Bank gesetzt. Es war eine so verfahrene Situation, dass er die Schule wechseln musste. Dabei wäre es gerade in so einer Situation ganz besonders wichtig, dass es nicht noch zu weiteren Trennungen kommt. 63 Als wir die Differenziertheit der alten Zeichnungen und sein neues Stimmungsbild verglichen haben, kamen wir zu dem Schluss, dass Jürgen einfach nicht in seiner jetzigen Schulklasse verbleiben kann. Der emotionale und gesellschaftliche Druck war dort einfach zu groß für ihn. Er hätte dort keine Chance mehr gehabt, obwohl ich sonst immer der Meinung bin, dass bei so schweren Verlusterlebnissen und Trennungserlebnissen wenigstens irgend etwas stabil gehalten werden muss, aber in diesem Fall war es zu spät. Wir konnten ihn dann in eine neue Klasse eingliedern. Wir bemühten uns, noch bessere Vorbereitungsarbeit zu leisten, wir sprachen im Vorhinein mit den Eltern und Lehrer/innen. Dass unsere Arbeit schlussendlich Früchte getragen hat, zeigt sich auch an den Zeichnungen, die Jürgen dann im Lauf der Zeit noch angefertigt hat. Es waren zwar nach wie vor infantile, nicht so differenzierte Zeichnungen wie vor dieser neuen Traumatisierung. Trotzdem haben die Bilder dann irgendwann wieder lebendiger ausgesehen, und somit war es auch in Jürgen wieder lebendiger. Mit fünfzehn haben sich dann Jürgens Tante und Onkel scheiden lassen, und dann „konnte“ Jürgen nur mehr Mistkübel anzünden, konnte nur mehr so rebellieren. Er ist kriminell auffällig geworden, hatte also sehr viel mit der Polizei zu tun und hat dann sogar ein Moped gestohlen. Zum Glück sagte er damals bei der Polizei: „Ich will jetzt zur Bogyi und nirgendwo anders hin“, und er wurde auch tatsächlich zu mir gebracht. So konnte das dann noch aufgefangen werden. An diesem Beispiel sieht man einerseits deutlich, welch schreckliche Traumen Kinder verarbeiten können. Andererseits zeigt es, wie schwer die Gesellschaft es diesen Kindern macht. Grausame oder unwissende Gesellschaft? Ich möchte Ihnen weitere Beispiele dafür bringen, was die Gesellschaft – zum Großteil wohl aus Unwissenheit und Uninformiertheit heraus – Kindern antut. Wie der Vater so der Sohn? Ein 8-jähriger Bub, dessen Vater seine kleine Schwester und die Mutter umgebracht hat, darf plötzlich nicht mehr seinen Freund besuchen. Die Mutter des Freundes sagt zu ihm: „Ich habe ja auch drei kleine Mädchen, und ich habe Angst, dass du sie umbringst.“ Diese Frau hatte sicherlich einfach große Angst, Angst um ihre Töchter, so mag ich ihr auch keinen Vorwurf machen. Dennoch: Es zeigt deutlich, wie wichtig hier Aufklärung gewesen wäre. Väter in Haft Martin sagt: „Wir sind eine schlechte Familie“ und hat ununterbrochen Angst, bereits wegen einer nicht gemachten Hausübung auch ins Gefängnis zu müssen. 64 Martin (ð Siehe auch S 50) wiederum war sechs Jahre alt, als er mitansehen musste, wie der Vater seine Lebensgefährtin erschossen hat. Diese Lebensgefährtin war für das Kind eine Ersatzmutter gewesen. Wenn Martin heute von Schulkollegen gehänselt wird, weil er immer wieder zu seinem Vater ins Gefängnis fahren muss, dann sagt er: „Wartet’s nur, bis der Papa herauskommt aus dem Gefängnis, der schlägt euch dann alle nieder.“ Oder er sagt: „Wir sind eine schlechte Familie“ und hat ununterbrochen Angst, Angst z.B., bereits wegen einer nicht gemachten Hausübung auch ins Gefängnis zu müssen. Ein anderer kleiner Bub, ebenfalls knapp sechs Jahre alt, fürchtet sich wahnsinnig vorm Schulbesuch, vorm Schuleintritt, weil er nicht weiß, was er der Lehrerin und den anderen Kindern auf die Frage nach seinem Vater antworten soll, denn der sitzt im Gefängnis. Dabei hatte er sich so sehr auf die Schule gefreut. Anfangs schwindelte er sich irgendwie über die Antwort drüber, doch eines Tages kommt die Wahrheit zu Tage. Die Reaktion darauf ist, dass ihn die anderen Kinder nicht mehr einladen (dürfen), dass sie nicht mehr neben ihm sitzen wollen. Wenn es die anderen wissen ... Ich brauche vor diesem Fachgremium nicht zu erläutern, wie es sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen geht, wenn sie irgendwo einmal über ihren Missbrauch erzählt haben. Sie alle wissen, wie schwer es ihnen dann oft gemacht wird, wie leichtfertig die Gesellschaft sagt: „Das Kind hat sich halt so verhalten, dass das passieren musste“ oder „Die Jugendliche hat sich ja so angezogen, dass sie ja praktisch selber Schuld ist, dass das passiert ist.“ Und wie oft es trotz – und da hat ja mein Chef, Professor Friedrich, ja sehr viel dazugeholfen – kontradiktorischer Befragungen zu für die Kinder unmöglichen Fragen kommt, ist haarsträubend. Die Kinder sitzen dann zwar im geschützten Kämmerchen, sind aber trotzdem zusätzlich einer extremen seelischen Gewalt ausgesetzt. „Die Jugendliche hat sich ja so angezogen, dass sie ja praktisch selber Schuld ist, dass das passiert ist.“ Sie bekommen außerdem noch von der Gesellschaft den Vorwurf, dass sie ihre Familie zerstört haben, und, und, und. Ich glaube, ich brauche da keine weiteren Beispiele aufzuzählen, denn das ist Ihnen alles bekannt. Ebenfalls schwere Traumatisierungen erleiden Kinder, wenn sich ihre Eltern suizidieren. Da wird oft viel verheimlicht, den Kindern wird nichts oder nicht alles gesagt, und auch diese Vorenthaltung der Wahrheit ist eigentlich psychische Gewalt am Kind. Diese Kinder können, wenn sie dann ins Jugendlichenalter kommen, also etwa mit 13, 14 Jahren, dann nur mehr gegen diese Welt rebellieren. Wenn die Eltern anders sind Nun noch einmal kurz – wie eingangs erwähnt – zur Situation von Kindern psychisch und psychiatrisch kranker Eltern. Solche Kinder sind oft Äußerungen wie: „Dein Vater ist ja ein Narr“ oder „Dein Vater ist ja in der Klapsmühle“ ausgesetzt. Was macht das mit den Kindern, die ohnehin schon konstant traumatisiert sind und – wie wir alle wissen – Rollen übernehmen, die eigentlich die Rollenumkehr darstellen? Kinder alkoholkranker Eltern, schizophrener Eltern, ganz zu schweigen von Kindern von Eltern mit Drogenproblemen oder aber an Aids erkrankten Eltern – da gibt es ganz massive Berührungsängste der Gesellschaft, womit die Traumatisierung durch die Gesellschaft beinhart weitergeht. Ebenso beinhart ist das Verhalten der Gesellschaft gegen oft schwerst traumatisierten und noch dazu andersfarbigen Kindern. Kürzlich erst hatte ich einen 13-jähriger Buben aus Ruanda bei mir, der lange, schwerste Kriegserfahrung mitgemacht hat. Die Mutter wurde direkt neben ihm auf der Flucht erschossen. Er wurde dann vom Vater, der schon längere Zeit zwecks Studium in Österreich weilte, irgendwie nach Österreich gebracht. Und dann ist auch der Vater verstorben. Kinder, deren Eltern z.B. alkoholkrank, drogenabhängig, an AIDS erkrankt oder deren Eltern psychisch krank sind, aber auch Kinder, deren Eltern eine andere Hautfarbe haben, werden von der Gesellschaft oft beinhart traumatisiert. Wir haben in der Therapie über all das geredet, und plötzlich erzählt er mir, wie er in der U-Bahn verspottet wurde, weil er ein Schwarzer ist! „Das passiert mir immer wieder“, sagt das Kind. Und wissen Sie, was dieser 13-Jährige Junge darauf weiter gesagt hat? – „Das muss man überhören“, sagte er mit ganz steinerner Miene, um sich abzuschotten. Oder ein 4-jähriges Mädchen aus Nigeria, das bei einer Pflegemutter untergebracht ist fährt mit dieser in der U-Bahn. Da wird die Pflegemutter vor dem Kind als „Dealer-Hure“ beschimpft! Das Kind beginnt zu weinen, und niemand der Passagiere stellt sich schützend davor. Ich selber hatte einmal so ein ähnliches Erlebnis. Da ging es allerdings um eine türkische Familie, wo ein Mann auf ein kleines Mädchen und eine hochschwangere Frau losgegangen ist, sie furchtbar beschimpft hat. Ich stand dann auf, um mich schützend vor das Kind zu stellen. Ich wurde daraufhin aufs Ärgste beschimpft und war eigentlich auch darauf gefasst, eine „drüberzukriegen“. 65 Oder aber ich sitze im Taxi, und Kinder spielen auf der Straße. Sie flitzen mit diesen modernen Rollern über die Straße, und der Taxifahrer sagt: „Na eigentlich tät’ ich sie am liebsten gleich niederführen, die brauchen wir eh nicht.“ Er sagte dies, weil es sich um ausländische Kinder handelte. Ich bin sofort an der nächsten Ecke ausgestiegen. Wenn wir gegen psychische Gewalt in der Gesellschaft ankämpfen wollen, dann liegt es auch an jedem einzelnen von uns, dann müssen wir eben auch Zivilcourage zeigen! Wenn Kinder anders sind Die Gesellschaft verübt aber auch dort psychische Gewalt, wo es um die Verspottung und Ablehnung von Kindern mit körperlichen Mängeln geht. Denken wir an Kinder, die unter Minderwuchs leiden, denken wir an all die „bösen“ Kinder, denken wir an Kinder, die z.B. zu uns an die Klinik kommen und die oft befürchten, wenn sie dann wieder in die Schule gehen, als „Psycherl“ oder „Behinderte/r“ bezeichnet zu werden. In einer Gesellschaft, wo Worte wie „Behinderte/r“ als Schimpfworte verwendet werden, führt das zu einer weiteren Traumatisierung der Betroffenen. Denken wir an fremd untergebrachte Kinder, in WGs zum Beispiel. Es gibt viele, sagen wir einmal „schlimme“ Jugendliche, die irgendwo Wände beschmieren oder irgendwas kaputt machen; wenn aber in diesem Wohnblock eine WG ist, dann sagen alle Bewohner des Wohnblocks: „Das waren sicher diese acht Kinder aus dieser WG-Wohnung.“ Traumatisierung durch Hilflosigkeit Denken wir aber jetzt noch an die Reaktion der Gesellschaft bei rein natürlichen Ereignissen, natürlichen Verlusten. Unlängst war eine Mutter bei mir, deren kleines Kind gestorben ist. Sie musste erleben, dass die Gesellschaft, ihre Umgebung darauf mit Rückzug reagierte. Und das ist kein bösartiges, sondern das ist ein hilfloses Sichzurückziehen. Am Tag nachdem ihr Kind gestorben war, waren plötzlich keine Kinder mehr im Hof. „Es herrschte Totenstille.“ Diese Mutter erzählt mir, genauso wie auch andere Mütter, die ihr Kind verloren haben, dass sie kaum noch durch das Wohnhaus gehen will, weil dann plötzlich überall die Türen zugehen und sie sich so ganz einsam und alleine fühlt. Die Türen gehen zu, weil sich keiner traut, mit der Problematik umzugehen. Auch das ist eine Form von psychischer Gewalt. Und als diese Mutter dann einmal von anderen Eltern gefragt wurde, wie sie ihr helfen könnten, hat sie nur mehr gebeten: „Bitte seid ganz normal zu mir und lasst die Kinder wieder in den Hof.“ Hier sieht man deutlich, wie oft gut Gemeintes und unsere Angst vor dem Trauma, unsere Angst vor dem Anderssein, dazu führen, das Trauma zu prolongieren. Mir graut’s vor Dir! Was ich damit aufzeigen wollte war, auf welch vielfältige Weise die Gesellschaft Menschen, Kinder zu traumatisieren vermag. Welchen Platz haben diese Kinder in der Gesellschaft, wenn man mehr oder weniger einem „Mörderkind“ das „Mörderische“ schon voraussagt? Was, wenn so ein Kind dann wie alle anderen gleichaltrigen Kinder einmal in der Schulpause rauft und dann sofort zum „kleinen Mörder“ gestempelt wird? Was macht also die Gesellschaft mit traumatisierten Kindern, bzw. was müssen dann oft Kinder mit dieser Gesellschaft machen? 66 Wir alle sind die Gesellschaft, und wir alle müssen unermüdlich gegen diese Formen der psychischen Gewalt, der Traumatisierung kämpfen. Wenn wir jetzt zum Beispiel auch an jugendliche Banden denken. Da hat sich einiges verändert; sie kämpfen teilweise schon mit Waffen gegeneinander. Warum nur? Eine konstruktive Auseinandersetzung ist immer seltener geworden. Abgrenzung dominiert das Miteinander. Wo früher manchmal noch in kritischen Diskursen neue Wege gesucht wurden, gilt es mehr den je andere zu entwerten und niederzumachen. Beispiele dafür sind Skins und Hooligans, bei denen idealisierender Zusammenschluss innerhalb der Gruppe und entwertende Ausgrenzung anderer Hand in Hand gehen. Keine Gesellschaft hat je auf Dauer existiert, die unberücksichtigt ließ, dass jede Kette nur so stark sein kann wie ihr schwächstes Glied. Die größte Gefahr der heutigen Gesellschaft liegt in einer emotionalen Entdifferenzierung, die durch noch so große kognitive Bildung und Ausbildung nicht kompensiert werden kann. Die Herausforderung an uns alle liegt in der Ausdifferenzierung von Bewertungs- und Entscheidungsstrukturen, in der Verbesserung von sozialen Verständigungsprozessen, in der verbesserten Abstimmung eigener Erlebniswelten mit anderen, also einer Verbesserung der sozialen Wahrnehmung und Erkenntnis, beschreibbar im Begriff einer emotionalen Differenzierung. Die emotionale Bedeutung der Dinge lässt uns handeln. Viele Beispiele zeigen das. Wir werden nicht durch unser Wissen zu Grunde gehen oder überleben, unsere Werte und Haltungen werden darüber entscheiden. Eine emotionale Kultivierung, emotionale Differenzierung und Erziehung, d.h. die Entwicklung eines Verständnisses für die eigene Befindlichkeit und die der anderen ist angesagt. Wir werden nicht durch unser Wissen zu Grunde gehen oder überleben, unsere Werte und Haltungen werden darüber entscheiden. Wer ist das Gretchen? Wer ist der Faust? Wovor graut’s? Ich danke für die Aufmerksamkeit! 67 „Erbarme dich und lass’ mich leben“ „Scheidung – psychische Gewalt an Kindern?“ Referent: Dr. Harald Werneck Der Titel meines Referates ist natürlich bewusst provokant. Korrekter müsste die Frage etwa lauten: „Wann und unter welchen Bedingungen kann eine Trennung der Eltern negative Auswirkungen auf die psychische Entwicklung der betroffenen Kinder haben?“ Oder vielleicht noch neutraler formuliert: „Welche möglichen Nachteile – aber auch: welche möglichen Vorteile – hat denn eine Trennung der Eltern für das betroffene Kind, und unter welchen Bedingungen überwiegen für welches Kind die Vorteile und unter welchen Bedingungen die Nachteile?“ Zu diesem ganzen Fragenkomplex möchte ich Ihnen nun im Folgenden ein paar Antworten und Anregungen aus der aktuellen Scheidungsforschung vorstellen. Zahlen und Fakten Zuerst aber ein paar demografische Kennzahlen dazu von der Statistik Österreich bzw. Statistik Austria, ehemals Statistisches Zentralamt, damit Sie sich die Dimension oder die Relevanz der Problematik und des Themas ein bisschen bewusst machen können: Auf zwei geschlossene kommt im Moment ca. eine geschiedene Ehe. Hochgerechnet erlebt mittlerweile ungefähr jedes dritte Kind die Trennung seiner Eltern mit. 1999 lagen die Scheidungsquoten bundesweit bei 40,5 %, in Wien bei 51,4 %. In den 70er Jahren war es nicht einmal die Hälfte davon. Auf zwei geschlossene kommt im Moment ca. eine geschiedene Ehe. Die Zahl der von der Scheidung ihrer Eltern betroffenen Kinder betrug 1999 österreichweit insgesamt ungefähr 21.000, davon waren rund 17.000 Minderjährige, unter 19 Jahren, mit einem Durchschnittsalter von ungefähr 9 Jahren. Aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen beträgt die Wahrscheinlichkeit, die Scheidung der Eltern mitzuerleben, 25 %. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass das Trennungsrisiko bei Lebensgemeinschaften, vor allem auf Grund der geringeren Abhängigkeiten der Partner voneinander, wahrscheinlich noch um mindestens 50 % höher als bei Ehegemeinschaften ist. Das heißt, die Zahl der von der Trennung der Eltern betroffenen Kinder liegt de facto noch bedeutend über diesen 25 %; hochgerechnet erlebt momentan mittlerweile also ungefähr jedes dritte Kind die Trennung der Eltern mit. Die entwicklungs- und familienpsychologischen Konsequenzen von Trennungen sind daher nicht nur für die betroffenen Kinder von nachhaltiger Bedeutung, sondern enthalten durchaus eine soziologische, fast schon gesellschaftspolitische Komponente. Bedeutung der Trennung für das Kind Das Defizitmodell: Zu einer gelungen Sozialisation braucht das Kind beide Elternteile. Ist dies nicht der Fall, hat das negative Konsequenzen für die kindliche Entwicklung. 68 Was kann nun die elterliche Trennung für das Kind bedeuten? Am Beginn einer jeden seriösen Auseinandersetzung mit der Trennungsproblematik muss fast – entsprechend einem differenziellen Ansatz – die Feststellung stehen, dass es „die Scheidungsfamilie“ oder „das Trennungskind“ natürlich nicht gibt. Es erscheint mir weiters wichtig, auf die Notwendigkeit eines perspektivischen Zugangs hinzuweisen, d.h. es ist zu beachten, dass das Scheidungsgeschehen in der Regel von allen Involvierten sehr unterschiedlich gesehen und beurteilt wird. Mavis Hetherington (1989), eine der Pionierinnen der Scheidungsforschung, sprach in diesem Zusammenhang daher immer von der Scheidung der Frau, von der Scheidung des Mannes und von der Scheidung des Kindes – was ausdrücken soll, dass man sich dieser perspektivischen Zugangsweise stets bewusst sein sollte. Die noch immer mancherorts anzutreffende Auffassung, dass die Trennung der Eltern in jedem Fall eine Form psychischer Gewalt bedeutet, geht wissenschaftshistorisch auf das so genannte „Defizitmodell“ zurück, wonach die Verfügbarkeit beider Elternteile die Voraussetzung für eine gelungene Sozialisation darstellt. Die Abwesenheit eines Elternteiles bedingt laut diesem Modell automatisch negative Konsequenzen für die kindliche Entwicklung. Dieses Forschungsparadigma wurde ungefähr in den 80er Jahren von einem „Reorganisationsmodell“ abgelöst, wonach eine Familie durch die Trennung der Eltern nur neu organisiert wird. Die familiären Beziehungen hören selbstverständlich nicht auf. Die alte Kernfamilie bleibt kognitiv präsent, und vor allem überdauern die emotionalen Bindungen der betroffenen Kinder an beide Elternteile, zumindest in den allermeisten Fällen, deren Trennung. Parallel zu diesem Paradigmen-Wechsel begann auch zunehmend ein Wechsel von einer klinischen Perspektive des Scheidungsgeschehens hin zu einer Sichtweise von Scheidung als eine neutral zu bewertende Übergangsphase, eine „Transition“ im Familienentwicklungsprozess. Man kann, wie die Zahlen ja gezeigt haben, mittlerweile fast schon von normativem Charakter reden, wenn Sie bedenken: 50 % Scheidungsquote. An dieser Stelle möchte ich aber zur Relativierung des Problems klarstellen: Die Mehrzahl der Kinder bewältigt das Ereignis der Trennung ihrer Eltern ohne wirklich gravierende mittel- und längerfristige Beeinträchtigungen der Entwicklung und wird nicht bis kaum klinisch auffällig. Wenn das doch der Fall ist, dann meist als Folge multipler Belastungen für das Kind, wobei die Trennung dann meist nur das auslösende Moment darstellt. Bedenkt man, dass ein wichtiger Aspekt von psychischer Gewalt im Ausgeliefertsein liegt, in der Machtlosigkeit und in der Unkontrollierbarkeit eines nicht erwünschten Ereignisses, das einem widerfährt, so hat die Trennung der Eltern aber natürlich schon auch immer etwas mit Gewalt am Kind zu tun. Das Reorganisationsmodell: Eine Familie wird durch die Trennung der Eltern schlichtweg nur neu organisiert. Emotionale Bindungen bleiben erhalten. Denn die Kinder wollen in der Regel ja, dass sich ihre Eltern vertragen und beisammen bleiben. So gesehen wird die Trennung letztendlich ohne echte Einflussmöglichkeit und gegen den Willen des Kindes vollzogen. Keine Scheidung – Gewalt an Kindern? Andererseits muss aber auch einmal die Frage gestellt werden: „Können Kinder denn fallweise nicht vielleicht sogar mehr darunter leiden, wenn sich die Eltern nicht trennen?“ – Sei es durch die anhaltend feindselige familiäre Atmosphäre, geprägt von permanenten Streitigkeiten zwischen den Eltern oder auch durch den mehr oder weniger ausgesprochenen Vorwurf, dass die elterliche Partnerschaft nur wegen der Kinder – zumindest formell – aufrecht erhalten werden muss? Die einleitende Titelfrage müsste dann ebenso provokant ergänzt werden durch „Keine Scheidung – psychische Gewalt an Kindern?” Sie sehen schon an der Umkehrbarkeit des Titels meines Referates die ganze Differenziertheit. Es muss also der jeweilige Einzelfall beurteilt werden. Außerdem bin ich der Meinung, es sollte weniger das Ereignis Scheidung bzw. Trennung der Eltern an sich Gegenstand des eigentlichen Interesses sein, sondern vielmehr die vielfältigen Rahmenbedingungen, vor der Trennung, während der Trennung und natürlich vor allem auch nach der Trennung – im Sinne eines „kontextualistischen Prozessmodelles“, wie es so schön genannt wird. 69 Die Wichtigkeit der Rahmenbedingungen Zustände und Umstände Neuere Studien aus der Scheidungs- und Trennungsforschung konzentrieren sich daher auch weniger auf das eigentlich kritische Ereignis der Trennung an sich (wobei immer die Unterscheidung zwischen dem Zeitpunkt der rechtlichen, emotionalen oder ökonomischen Trennung getroffen werden müsste). Sie konzentrieren sich vielmehr auf die Untersuchung der spezifischen familiären Verhältnisse oder einer Reihe von Faktoren, die mehr oder weniger mit der Trennung assoziiert sind und die über die psychische Entwicklung der Kinder Aufschluss geben können. Ich möchte Ihnen jetzt nur exemplarisch einige aktuelle Resultate aus einer größer angelegten Studie aus Deutschland vorstellen, nämlich der Kölner Längsschnittstudie von Ulrich Schmidt-Denter und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: Hier wurde über insgesamt 6 Jahre hinweg untersucht, unter welchen Bedingungen das Kindeswohl trotz einer elterliche Trennung noch am ehesten gewahrt bleibt. Besonders kleine Kinder im Vorschulalter fühlen sich auf Grund ihres egozentrischen Denkens zumeist schuldig an der Trennung der Eltern. Eine Aussage dieser Studie deckt sich mit nahezu allen einschlägigen Studienergebnissen: Die möglichen Folgen einer Scheidung variieren von Fall zu Fall sehr stark für die betroffenen Kinder, und zwar vor allem in Abhängigkeit vom Alter, Geschlecht und Temperament des Kindes. Weiters von Wichtigkeit sind die Eltern-Kind-Beziehung vor und nach der Scheidung, die sozioökonomische Situation und das gesamte soziale Umfeld. Ebenso sind der Verlauf der Trennung, die Qualität der Nach-ScheidungsBeziehungen der Eltern, das Wohlbefinden der Eltern usw. von großer Bedeutung. Um ein Beispiel herauszugreifen: Bezüglich des Alters ist etwa sicher erwähnenswert, auch für mich als Entwicklungspsychologe, dass Vorschulkinder und jüngere Volksschulkinder in der Regel von Trennungsfolgen stärker betroffen sind als ältere, weil sie auf Grund des durch ihr Alter bedingten egozentrischen Denkens oft geneigt sind, das Fernbleiben eines Elternteiles auf sich zu beziehen und sich dafür sozusagen schuldig oder verantwortlich zu fühlen. Ergebnisse: Die Verlaufstypen Bei dieser deutschen Längsschnittstudie konnten nun hinsichtlich der kindlichen Belastungen durch die elterliche Trennung insgesamt drei Verlaufstypen identifiziert werden: Das waren einmal die hochbelasteten Kinder, die durchwegs über den gesamten Untersuchungszeitraum von 6 Jahren hinweg relativ deutliche und markante Verhaltensauffälligkeiten gezeigt haben. Eine zweite Gruppe, die so genannten „Belastungsbewältiger“, sind gekennzeichnet durch anfangs hohe, dann aber stetig abnehmende Symptombelastung. Und drittens, die so genannten „gering Belasteten“, die durchgängig gering belastet, wenig verhaltensauffällig waren und sozusagen ein bisschen „immun“ schienen. Interessant sind jetzt in weiterer Folge die Beschreibungen dieser drei Verlaufsformen über die Zeit hinweg und vor allem die daraus ableitbaren Risikofaktoren auf der einen Seite und die protektiven Faktoren für Verhaltensauffälligkeiten von Kindern nach der elterlichen Trennung auf der anderen Seite. Risikofaktoren 70 Der mit Abstand markanteste Risikofaktor war eine negativ erlebte Beziehung zum getrennt lebenden Vater. Weitere Risikofaktoren, die zu Verhaltensauffälligkeiten der Kinder führten, waren ungelöste Partnerschafts- und Trennungsprobleme, eine misslungene Redefinition der Beziehung zwischen den Elternteilen sowie ein sich verändernder bzw. verschlechternder elterlicher Erziehungsstil. Also in erster Linie Probleme auf der Elternebene. Die finanzielle Ausstattung der betroffenen Familie hingegen hat in dieser Studie nicht so eine große Rolle gespielt. Interessant ist auch, dass die soziale Stigmatisierung von Scheidungskindern offensichtlich auch nicht mehr so stark ist, wie es vielleicht vor 10, 20 Jahren oder vor einer Generation noch der Fall war. Protektive Faktoren Als protektiv erwiesen sich in erster Linie, analog zum wichtigsten Risikofaktor, eine positiv erlebte Beziehung zum Vater, eine positive Beziehung zu den Geschwistern, Stabilität und Unterstützung in der Mutter-Kind-Beziehung und eine Konsensbildung zwischen den nunmehr getrennt lebenden Eltern. Wichtig sind natürlich auch noch individuelle Kompetenzen, personale Ressourcen der Kinder, aber auch das Lebensalter der Kinder, sozusagen als Trägervariable für Entwicklungsschritte, welche die Bewältigung der Trennungsproblematik erleichtern, wie etwa die hilfreiche Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, ein gesichertes Selbstkonzept oder auch Temperaments- und Persönlichkeitseigenschaften. Ergebnisse aus der Resilienzforschung bestätigen, dass es – wie die Gruppe der gering Belasteten aus der Longitudinalstudie – offenbar Kinder gibt, die trotz ungünstigster familiärer Verhältnisse und Lebensumstände über ein erstaunlich hohes Maß an Widerstandsfähigkeit verfügen, was vor allem durch eine besonders gute, sichere Bindung zu den Eltern in den ersten Lebensjahren erklärt werden kann. Häufige Scheidungsfolgen An dieser Stelle sei erwähnt, dass es natürlich mittlerweile eine Fülle an Studien über Scheidungsfolgen für die Kinder gibt. Ich möchte hier in diesem Rahmen nur kurz die Metaanalyse von Amato und Keith (1991) erwähnen, die bei insgesamt 92 Studien zu den Scheidungsfolgen gehäuft Hinweise für folgende Beeinträchtigungen der betroffenen Kinder fanden: Das waren 1) externalisierende Verhaltensweisen, wie z.B. Aggressivität, 2) internalisierende Verhaltensauffälligkeiten wie Ängste, Depressionen, 3) Schul- und Leistungsprobleme, 4) Auffälligkeiten im Sozialverhalten, vor allem in Richtung verminderter sozialer Aktivitäten, 5) langfristige Beeinträchtigungen im psychischen und physischen Wohlbefinden – das heißt, diese Menschen hatten dann später im Erwachsenenalter auch mehr Gesundheitsprobleme. Ebenso resultierten daraus 6) negativere Einstellungen zur Ehe und als Erwachsene ein höheres Scheidungsrisiko. In diesem Zusammenhang will ich schon einschränkend festhalten, dass manche dieser Resultate methodisch durchaus anzweifelbar sind, vor allem weil Scheidungsfolgen eben nie ausschließlich auf die Veränderungen in der Familienstruktur zurückgeführt werden können, sondern immer auch im gesamten Lebenskontext der Familie und ihrer Mitglieder zu sehen sind. Nicht erst die Scheidung macht einen Unterschied für die Kinder Weiters gilt es natürlich nicht nur, die mutmaßlichen Effekte einer Scheidung auf die Entwicklung der Kinder zu berücksichtigen, sondern auch die negativen familiären Umstände und Entwicklungen, die möglicherweise schon lange vor der eigentlichen Trennung der Eltern die Kinder beeinträchtigten. 71 Streng genommen stellen elterliche Konflikte immer auch eine Form zumindest indirekter psychischer Gewalt am Kind dar. Etwas allgemeiner und offener ließe sich dann formulieren, dass elterliche Konflikte das psychische Wohlergehen von Kindern beeinflussen sowie ihre Fähigkeiten, im Erwachsenenalter intime Beziehungen aufzubauen, familiale gesellschaftliche Verbindungen aufrecht zu erhalten, im sozioökonomischen Bereich Leistungen zu erbringen und positive Elternbeziehungen zu etablieren. So gesehen stellen elterliche Konflikte natürlich immer auch eine Form zumindest indirekter psychischer Gewalt am Kind dar. Direktere Formen der psychischen Gewalt häufen sich allerdings im Zuge der elterlichen Trennung. So kann bei einer Trennung z.B. sehr oft eine temporäre Bevorzugung des gleichgeschlechtlichen Kindes beobachtet werden. Dies ist vor allem während der Trennungszeit erklärbar, etwa durch die Theorie des „kollusiven Partnersubstituts“, wonach das andersgeschlechtliche Kind gewissermaßen den nunmehr ungeliebten oder vielleicht sogar verhassten Partner repräsentiert. Kinder im Spannungsfeld der Eltern Das führt mich jetzt zu einem der Hauptprobleme für Kinder im Zuge elterlicher Trennungen, nämlich dass es Erwachsenen offensichtlich selten gelingt – und wahrscheinlich nur zu einem gewissen Ausmaß gelingen kann –, zwischen gestörter Partnerbeziehung und Eltern-Kind-Verhältnis entsprechend zu differenzieren. Eine wirklich strenge kognitive Trennung der gescheiterten Paarebene von der weiterhin bestehenden Elternebene gelingt in den allerseltensten Fällen. Beide sozialen Subsysteme beeinflussen sich einfach wechselseitig zu sehr; rationale Einsicht in eine notwendige Trennung dieser beiden Ebenen und emotionale Vorbehalte befinden sich oft in einem Widerspruch, was sich in irrationalen Ängsten um das Kind äußern kann. So wird zum Beispiel dem anderen Partner zwar grundsätzlich eine Kompetenz zugesprochen, aber man hat doch immer ein ungutes Gefühl, wenn sich das Kind längere Zeit bei diesem aufhält. Wenn das Kind als Spielball der Interessen des jeweiligen Elternteils missbraucht wird, wird psychische Gewalt ausgeübt. Vor allem dann, wenn das Kind und das Kindeswohl vorsätzlich und bewusst vorgeschützt werden, um eigene Interessen durchzusetzen oder zu fördern 72 Besonders krass und deutlich wird diese Vermischung der Partner- mit der Eltern-KindEbene, wenn Kinder im Zuge des Trennungsprozesses mehr oder weniger bewusst instrumentalisiert werden, also als Spielball der jeweiligen Interessen beider Elternteile missbraucht werden. Hier scheint es mir in vielen Fällen tatsächlich berechtigt, von einer Form psychischer Gewalt zu sprechen, vor allem dann, wenn das Kind und das Kindeswohl vorsätzlich und bewusst vorgeschützt werden, um eigene Interessen durchzusetzen oder zu fördern. Und ich denke, dass hier der Punkt ist, wo wirklich alle, ohne Ausnahme, Mütter, Väter, alle am Trennungsprozess Beteiligten, also gegebenenfalls auch alle in irgendeiner Form professionell damit Befassten, sich laufend fragen müssen, wie sehr denn bei den Vorgangsweisen bzw. Ratschlägen oder Entscheidungen tatsächlich das Kindeswohl im Vordergrund steht. Denn oft geht es – gar nicht unbedingt in böser Absicht – um ganz andere Interessen. Bedenken Sie, dass das Kind durch die angespannte familiäre Situation ohnehin schon stark belastet ist. Ich meine, alle Beteiligten – und ich betone: alle Beteiligten – täten gut daran, bei Entscheidungen, die Kinder betreffen, etwa im Zuge eines Scheidungsprozesses, zuallererst die eigenen Motive gründlich und ehrlich vor sich selbst zu hinterfragen. Nur so kann verhindert werden, dass die psychische Gewalt am Kind, die durch die angespannte familiäre Situation ohnehin in den meisten Fällen bereits Platz gegriffen hat, sich noch weiter ausbreitet und mutwillig potenziert wird, das Kind also noch einmal psychisch „vergewaltigt“ wird. Die Obsorgefrage Erlauben Sie mir an dieser Stelle, vor allem auch aufgrund der Aktualität durch die geplante Kindschaftsrechtsreform, kurz ein paar Sätze aus psychologischer Sicht zur Obsorgefrage. Mir geht es primär um die Beziehungsgestaltung innerhalb der Ursprungsfamilie und erst sekundär um die juristische Kategorie des gemeinsamen Sorgerechtes. Aus psychologischer Sicht scheinen mir jedenfalls für eine vernünftige Regelung zum Wohl der betroffenen Kinder einige Voraussetzungen förderlich, wenn nicht teilweise unabdingbar: l Da wäre vorerst ein Mindestmaß an Willen aller Beteiligten zu konstruktiven Lösungen, gegebenenfalls unter Inanspruchnahme von externen Hilfestellungen wie etwa im Zuge des Scheidungsmediationsprojektes. l Eine weitere Voraussetzung wäre eine Unterstützung der psychischen Stabilität des Kindes durch eine gewisse Kontinuität und Verlässlichkeit der Eltern-Kind-Kontakte, aber auch durch einen Grundkonsens in den Erziehungskonzepten beider Elternteile. Auch die Großeltern sollten hier eingebunden werden, wenn sie beteiligt sind. l Der nächste Punkt: Vermeidung von Loyalitätskonflikten – also das Kind keinen Loyalitätskonflikten aussetzen, keine exklusiven Bündnisse mit dem Kind anstreben. l Feindbildprojektionen so weit wie möglich vermeiden. l Aber auch keine Überfrachtung der Beziehung mit dem Kind anstreben, keine übertriebene Nähe, was oft aus Schuldgefühlen, etwas Versäumtes nachzuholen, resultiert. Das klingt einfach, ist aber in der Praxis natürlich sehr schwer umzusetzen. l Weiters keine Konkurrenzkämpfe der Eltern um die Gunst der Kinder. Eine sinnvolle gemeinsame Obsorge beider Elternteile setzt zweifellos einen beträchtlichen psychischen Reifegrad der Eltern voraus und auch die Fähigkeit, konsensual zumindest eine gewisse Struktur der Alltagsabläufe für das betroffene Kind zu entwickeln. Davon hängt es im Wesentlichen ab, ob die gemeinsame Obsorge im Einzelfall ein geeignetes Mittel darstellen kann, um die motivationale Bereitschaft beider Eltern auch nach der Trennung zu erhöhen, die elterliche Verantwortungsgemeinschaft jetzt unter geänderten Bedingungen aufrecht zu erhalten. Unter all den genannten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen – und nur unter diesen – kann sich diese gesetzliche Regelung über das Gefühl der geteilten Verantwortung auch psychologisch positiv auf die Eltern-Kind-Beziehungen und auf die Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft der Eltern untereinander sowie deren Motivation zur eigenständigen Umsetzung vernünftiger Regelungen auswirken. Aber, wie gesagt: nur unter diesen Bedingungen. Gemeinsame Obsorge kann sicher nicht funktionieren, wenn es nur als formale Regelung verstanden wird oder sogar als Plattform für eine neue Runde im Machtkampf der Eltern, etwa für Unterhaltsforderungen, missbraucht wird. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich vor der Gefahr einer neuerlichen, zusätzlichen Instrumentalisierung des Kindeswohls durch eine ideologisch geführte politische Debatte warnen. Denn hier entwickelt sich sehr leicht eine gewisse Eigendynamik, bei welcher es in Wirklichkeit nur vordergründig um eine optimale Regelung im Sinne der Kinder geht. Dadurch würde den Kindern in Wirklichkeit nur doppelt und dreifach psychische Gewalt angetan. Hier darf es ausschließlich um die Durchsetzung der Interessen der betroffenen Kinder gehen und nicht um die Durchsetzung der Interessen irgendwelcher Parteien, irgendwelcher Interessenvertretungen, sonstiger Institutionen und auch nicht um jene der Eltern. Gemeinsame Obsorge ist u.a. nur dann sinnvoll, wenn: ein Mindestmaß an Willen aller Beteiligten zu konstruktiven Lösungen vorhanden ist; eine gewisse Kontinuität und Verlässlichkeit der Eltern-Kind-Kontakte gegeben ist; ein Grundkonsens über das Erziehungskonzept besteht; das Kind in keinen Loyalitätskonflikt gebracht wird; es keine Konkurrenzkämpfe der Eltern um die Gunst der Kinder gibt. Gemeinsame Obsorge kann sicher nicht funktionieren, wenn sie nur als formale Regelung verstanden wird oder sogar als Plattform für eine neue Runde im Machtkampf der Eltern, etwa für Unterhaltsforderungen, missbraucht wird. 73 Konklusio Abschließend lassen Sie mich noch einige mir wichtig erscheinende Aspekte kurz zusammenfassen und daraus Schlussfolgerungen ziehen. Zahlreiche Studien weisen eine positive Beziehungsgestaltung auch nach der Trennung der Eltern als herausragendes Kriterium für die Qualität der Scheidungsbewältigung durch die betroffenen Kinder aus. Die Gestaltung der elterlichen Paarbeziehung nach der Scheidung, nach der Trennung kann als wirkungsvollster Ansatzpunkt zur Wahrung des Kindeswohls und der kindlichen Gesundheit dienen. Dies ist sozusagen ein Schlüssel zur Sicherung kindlicher Entwicklungsmöglichkeiten nach der Scheidung. Basierend auf den empirischen Ergebnissen der genannten Längsschnittstudie erweisen sich folgende Punkte für die psychische Entwicklung von Kindern aus Trennungsfamilien günstig: l wenn es hilfreiche Gespräche gibt zwischen – in der Regel – der Mutter mit dem Kind über den abwesenden Vater, aber auch mit dem Vater über die Situation mit der Mutter l wenn die Mutter der Auffassung ist, dass der Vater dem Kind auch wirklich geben kann, was es gefühlsmäßig braucht l wenn die Mutter keine Angst um das Kind fühlt, wenn es sich beim Vater aufhält l wenn die Eltern – und zwar beide Eltern – meinen, dass die Trennung die richtige Entscheidung war l und wenn vor allem die Väter mit der Zahl der Kontakte bzw. mit der Sorgerechtsregelung zufrieden sind. Unter all diesen Voraussetzungen sind die Chancen relativ groß, dass negative Konsequenzen einer elterlichen Trennung auf die psychische Entwicklung der betroffenen Kinder weitgehend hintangehalten werden können oder vielleicht sogar durch mögliche positive Effekte kompensiert werden können. Das singuläre Ereignis Scheidung an sich allgemein als Form psychischer Gewalt zu bezeichnen wäre jedenfalls eine unzulässige Vereinfachung. 74 „Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein“ „Eltern als Begleiter in schwierigen Zeiten“ Referentin: Dr. Luitgard Derschmidt „Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein“ – das zeigt die Situation der Erwachsenenbildung, besonders der Elternbildung, und als Erwachsenenbildnerin spreche ich heute zu ihnen. Mein Anliegen als Elternbildnerin ist nicht nur das Wohl des Kindes, sondern auch das seiner Eltern, weil ich meine, wir müssen das vernetzt sehen. Denn geht es den Eltern nicht gut, so geht es auch dem Kind nicht gut und umgekehrt. Unsere Teilnehmer und Teilnehmerinnen in der Elternbildung sind die Eltern. In der Elternbildung geht es um die Vermittlung von Wissen an die Eltern, es geht aber noch mehr darum, für sie die Möglichkeit, Bewusstsein zu gewinnen und den Handlungsspielraum zu erweitern, anzubieten, und es geht auch im Letzten darum, dass sie Haltungen erkennen und diese gegebenenfalls auch bei sich verändern. Welche Rollen spielen nun die Eltern beim Thema „Psychische Gewalt“ am Kind im Zusammenhang mit Institutionen? Die Rolle der Eltern ist eine zweifache: Zum einen kommt von ihnen ausgehend über ihre Kinder Gewalt in diese Institutionen hinein. Zum anderen sollen sie ihre Kinder hilfreich in schwierigen Situationen begleiten, unterstützen und befähigen, solche zu bewältigen. Und zu diesen schwierigen Situationen gehören eben auch solche, in denen Kinder psychischer Gewalt aus Institutionen ausgesetzt sind. Fließende Grenzen – die „alltägliche“ psychische Gewalt Wir erleben es alle täglich; psychische Gewalt ist ein Phänomen unserer Gesellschaft. Nicht nur Kinder, auch viele Erwachsene sind davon betroffen. Und ein Problem dieser ganz normalen psychischen Gewalt ist es, dass sie so schwer fassbar ist, dass sie individuell erlebt wird und ihre Wirkung von außen oft nicht erkennbar und einschätzbar ist. Menschen sind einfach verschieden. Kinder wie Erwachsene. Sie sind verschieden in der Art ihres Agierens. Es ist auch verschieden, wie Menschen das Agieren anderer erleben. So sind, wie wir selbst im Alltag immer wieder erfahren, die Grenzen zwischen temperamentvollem aktiven Handeln so im Sinn von „hart, aber herzlich“, aggressivem Verhalten und gezielter psychischer Gewalt fließend. Außerdem wird Verhalten unterschiedlich erlebt: Was dem einen Spaß macht, kann für den oder die andere/n schon Verletzung, Abwertung, Verwundung bedeuten. Und das bringt im ganz normalen täglichen Zusammenleben große Schwierigkeiten. So kommt es dort, wo Menschen zusammenleben – Kinder wie Erwachsene – zu Problemen. Und daher gibt es leider auch in Institutionen, die eigentlich zum Wohl der Kinder eingerichtet worden sind, immer wieder psychische Gewalt. Selbst die Organisationsform und die Struktur dieser Einrichtungen wirkt auf manche Kinder gewalttätig. Auch hier kommt es auf das subjektive Empfinden des Kindes an. Auch hier muss die Unterschiedlichkeit von Kindern berücksichtigt werden. Nehmen wir zum Beispiel die Situation in einem Internat: Manche Kinder fühlen sich unter den vorgegebenen Regeln und Verordnungen pudelwohl, für andere ist es einfach eine Zumutung, eine Qual, die sie nicht aushalten. 75 Die Rolle der Eltern Die Rolle der Eltern in Zusammenhang mit psychischer Gewalt in Institutionen ist, wie schon eingangs erwähnt, eine zweifache, und darauf möchte ich jetzt genauer eingehen. Wenn Eltern psychische Gewalt ausüben ... Zum einen üben Eltern gewollt oder ungewollt psychische Gewalt an ihren Kindern aus, und Kinder, die unter solcher Gewalt leiden, geben diese dann an andere weiter. Eltern verhalten sich gewalttätig, weil sie Gewalt als Erziehungsmittel einsetzen, weil sie selbst so erzogen worden sind und weil manche leider auch glauben, dass es so richtig ist und die besten Ergebnisse bringt. „Warum wird geliebten Kindern von liebenden Eltern Gewalt angetan?“ (ð Siehe auch Seite 18) Kinder nehmen sich das Verhalten der Eltern und anderer erwachsener Bezugspersonen zum Vorbild und ahmen es nach. Aber Eltern können auch unter großem Druck stehen, weil sie selbst Opfer solcher Gewalt sind (z.B. Mobbing am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzungen aller Art) oder auch weil sie in einer besonders belastenden Lebenssituation sind (z.B. Scheidung). Eltern können also aus den unterschiedlichsten Gründen unter einem Druck leiden und ihn dann, wenn auch ungewollt, weitergeben. Kinder wiederum nehmen sich das Verhalten ihrer Eltern und natürlich auch der anderen Erwachsenen zum Vorbild und ahmen es nach. Die Verhaltensweise der Eltern, der erwachsenen Bezugspersonen, sollte also so gestaltet sein, dass sie eine Orientierungshilfe für Kinder ist. Denn die Kinder müssen einfach, um sich in einer Welt, die von Erwachsenen geprägt ist, zurechtzufinden, deren Verhaltensweisen imitieren. Eltern erziehen ihre Kinder sowohl bewusst durch beabsichtigtes erzieherisches Handeln als auch unbewusst durch ihr Zusammenleben mit ihren Kindern. Kinder als Sündenbock narzistischer Projektion Ein Punkt noch, der verdeutlichen soll, wie komplex dieses Thema in Wirklichkeit ist: Verhaltensauffällige Kinder befinden sich manchmal auch in so einer Art SündenbockFunktion. Sie übernehmen die Rolle ihrer Eltern. Eltern delegieren an ihre Kinder ihre eigenen aggressiven und destruktiven Anteile, die sie selbst nicht ausleben können, weil sie es sich „in ihrer Situation“ sozial nicht leisten können. Ein Geschäftsmann oder eine Geschäftsfrau kann sich weder zynisch noch aggressiv ihren Klienten und Klientinnen oder Kunden und Kundinnen gegenüber verhalten. Das Kind lebt diese Verhaltensweisen dann stellvertretend für sie aus. Die Not der Eltern schafft Täter. Der Psychoanalytiker und Familientherapeut Horst Eberhard Richter bezeichnet diesen Vorgang als narzistische Projektion, die dazu dient, das Individuum von Selbstvorwürfen zu entlasten. Man kann das Ganze auch noch einmal harmlos formulieren: Wie oft sind Kinder dazu motiviert, Dinge zu tun, die ihre Eltern gerne getan hätten, aber nicht tun durften? Und Sie kennen sicher alle den Spruch: „Meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich.“... Ich möchte darauf nur hinweisen, um aufzuzeigen, wie komplex und vielfältig die Gründe sein können, die Kinder schwierig werden lassen. Ich möchte ebenso darauf hinweisen, dass eine Not bei jenen Eltern dahinter steht, die ihre Kinder so erziehen, dass diese zu Tätern werden, dass sie psychische Gewalt ausüben. Das soll keine Entschuldigung sein, aber Lösungen können nur gefunden werden, wenn die Situationen klar durchschaut und die Ursachen benannt werden können. Daher sind Bewusstseinsbildung und Elternbildung so wichtig, denn komplexe Probleme müssen eben auch komplex und von vielerlei Seiten aus angegangen werden. 76 Bei dem im Interesse der Kinder notwendigen Zusammenspiel von Elternhaus und Institution, wie etwa Schule, kommt es oft eher zu einem Auseinanderspiel oder zu einem Gegeneinanderausspielen. Der „Schwarze Peter“ wird in der Hilflosigkeit schwieriger und komplexer Situationen auch in öffentlichen Diskussionen zwischen den Eltern und der jeweiligen Institution hin- und her geschoben. Die Schuld wird immer dem jeweils anderen zugeteilt. Definition der Rollen als Lösungsansatz Dieses Hin- und Herschieben der Schuld führt naturgemäß zu keiner Lösung. Im Interesse der Kinder wäre es notwendig, zu einer offenen Zusammenarbeit im Wahrnehmen der unterschiedlichen Rollen und Aufgaben zu finden. Welche Aufgabe, welche Verpflichtung, welche Rollen haben Eltern, welche Rolle haben Erzieher, welche Rolle haben Lehrer dem Kind gegenüber? Und wie unterscheiden sich diese Rollen voneinander? In manchem sind sie gleich, in manchem ähnlich, in manchem aber sind sie verschieden, und es ist wichtig, diese Rollen nicht zu verwechseln. In dieser Auseinandersetzung ist es notwendig, auch die unterschiedlichen Fähigkeiten und Haltungen, die ja gerade besonders schwer zu verändern sind und in dieser Diskussion die größten Probleme bereiten, zuerst einmal zu akzeptieren und Unterstellungen und Ängste zu vermeiden. Genau das ist aber sowohl für Eltern als auch für Lehrer oder andere Betreuungspersonen sehr schwierig. Genau das lässt, wie ich aus meinen Gesprächen mit Eltern in der Erwachsenenbildung weiß, oft mutlos werden; sowohl auf der Seite der Eltern als auch auf der Seite der anderen Betreuungspersonen. Dabei muss im Interesse der Kinder eine gute Zusammenarbeit mit gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung immer wieder gesucht werden! Im Interesse der Kinder muss eine gute Zusammenarbeit zwischen den Eltern und den anderen betreuenden Personen und Institutionen mit gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung gesucht werden! Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Druck schaffen Gewalt Im Weiteren muss auch die Rolle des gesellschaftlichen Umfeldes, die Rolle der Medien und der Druck der wirtschaftlichen und Arbeitssituation, unter dem Eltern leiden, im Zusammenhang mit psychischer Gewalt in Augenschein genommen werden. Ich möchte in dem Zusammenhang auf Beck-Gernsheim (in: „Das ganz normale Chaos der Liebe“) hinweisen, die aufzeigt, dass Kinder für Frauen in unserer Gesellschaft nicht nur ein Karriere-Handycap, sondern auch ein berufliches, soziales und finanzielles Existenzrisiko geworden sind. Ich möchte das einmal so stehen lassen. Aber auch die Väter leiden unter diesem Druck (oder sollten darunter leiden). Ich habe dazu einen Cartoon entdeckt, der das sehr pointiert zeigt. Ein kleines Kind schaut zu seiner Mutter auf und fragt, auf den durch die Wohnungstür eintretenden, freundlich lächelnden Mann zeigend: „Pst, Mami, wer ist denn der Mann, der abends immer zum Fernsehen kommt?“ Hier geht es keineswegs darum, Väter gegen Mütter auszuspielen, sondern hier geht es vor allem darum, aufzuzeigen, dass teilweise auch Väter unter sehr starkem Druck stehen und dass in unserer Arbeitswelt auf die familiäre Situation einfach keine Rücksicht genommen wird. Der Unterschied ist nur, dass es für Männer karrierefördernd ist, wenn sie Familie haben, weil sie dann nachweislich einsatzfähiger sind. Wenn die Wirtschaftsentwicklung so weiter geht wie manche Wirtschaftsfachleute prophezeien, wenn die Wichtigkeit von Flexibilität, Mobilität und permanenter Verfügbarkeit immer mehr zunimmt, wenn es irgendwann einmal zu einer Unterscheidung zwischen Gewinnern und Verlierern kommen sollte, dann werden gerade jene Menschen, die Bindungen haben, die sich durch Kinder gebunden fühlen, in Gefahr geraten, auf die Seite der Verlierer zu kommen. 77 Hier müssen Gesellschaft wie auch Politik dagegensteuern. Obwohl es da auch schon verschiedene Überlegungen, Bestrebungen und Maßnahmen gibt, die Lobby der Wirtschaft wird leider immer viel größer sein als die Lobby für Eltern und Kinder. ... Geduld will bei dem Werke sein Und gerade in Stress- und Drucksituationen ist es für liebevolle Eltern schwer, die Geduld aufzubringen, die bei dem „Werke“ sein will, wie es in der Überschrift heißt. Es dürfen die Bedürfnisse der Eltern nicht gegen die Bedürfnisse der Kinder ausgespielt werden – und umgekehrt. Natürlich wird es auch zu einem großen Problem für die Kinder, wenn sich die wirtschaftliche Situation ihrer Eltern im Allgemeinen verschlechtert und diese unter noch größeren Druck kommen. Europaweit ist das auch deutlich sichtbar. Kinder können sich nur in Richtung zufriedener und freundlicher Menschen entwickeln, wenn es ihnen gut geht und ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Dieses „Gutgehen“ darf nicht ausschließlich materiell verstanden, sondern muss umfassender gesehen werden. Kindern kann es aber nur gut gehen, wenn es auch ihren Eltern gut geht. Und Menschen, denen es gut geht, haben es nicht nötig, psychische Gewalt und Druck auf andere auszuüben. Weder Eltern noch Kinder. Nur dann kann die nötige Geduld bei dem Werke sein. Eltern als Begleiter in schwierigen Situationen Wir haben bis jetzt von der Rolle der Eltern zum Thema psychische Gewalt in Institutionen in dem Zusammenhang gesprochen, dass von ihnen ausgehend über ihre Kinder Gewalt in die Institutionen hineingebracht wird. Besonders wichtig ist aber die Rolle der Eltern, die Kinder in diesen schwierigen Situationen begleiten, ihnen zur Seite stehen und ihnen helfen sollen, dass die Wunden, die möglicherweise geschlagen werden, heilen und keine Belastung für ihr ganzes Leben werden. Was tut also eine Mutter oder ein Vater, wenn das Kind von der Schule heimkommt und sich beklagt „Ich werde immer von allen ausgelacht, niemand will mit mir spielen.“ Was tun, wenn sich das Kind ausgegrenzt fühlt und darunter leidet? Wenn ein Kind eine solche belastende Situation von sich aus anspricht, so ist das schon ein großer Vorteil. Meist aber kann das Kind – aus welchen Gründen auch immer – seine Probleme nicht so benennen. Das hängt natürlich auch vom Alter des Kindes ab. Daher ist von Seiten der Erwachsenen sehr viel Aufmerksamkeit nötig, sich auf Kinder so einzustellen, dass man ihre Sprache versteht, die Signale, die sie aussenden, richtig zu deuten weiß. Nur der, der sich wirklich auf das Kind einstellt und dem Kind zugewandt bleibt, erkennt, wie es dem Kind geht. 78 Eltern müssen aufmerksam, einfühlsam sein und Nähe zu ihrem Kind haben, um die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen. Sie müssen Geborgenheit und Zuwendung geben. Das braucht Zeit und Geduld. Geborgenheit erleben wir dann, wenn unsere körperlichen Bedürfnisse befriedigt werden und uns vertraute Menschen ein Gefühl von Nähe geben. Zuwendung erleben wir dann, wenn vertraute Menschen uns ein Gefühl des Angenommenseins geben, wenn vertraute Menschen zu uns als Person stehen. Kinder brauchen Geborgenheit und Zuwendung, um ihre Bedürfnisse sagen, zeigen und signalisieren zu können. Die Sprache der Kinder ist eine vielfältige, je nach Alter und Person des Kindes, wobei sich ältere z.B. in der Pubertät, wie wir ja wissen, oft schwerer tun, ihre Bedürfnisse anzumelden, als jüngere. Und was ganz wichtig ist: Auch die Bedürfnisse sind verschieden, ebenfalls nach Alter und Person. Kinder entwickeln sich aktiv von sich aus. Sie können nicht wie Gefäße beliebig gefüllt werden, sondern sie nehmen nur auf, was ihrem Entwicklungsstand entspricht, betont der Schweizer Arzt Remo H. Largo, der sich über 20 Jahre mit Wachstum und Entwicklung von Kindern beschäftigt hat. Er sagt, ein Angebot, das über seine Entwicklung hinausgeht, bleibt ungenützt oder kann sogar die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen. Deshalb ist es auch unter anderem so wichtig, diese Verschiedenheit von Kindern ganz ernst und wahrzunehmen. Nur der, der sich wirklich auf das Kind einstellt und dem Kind zugewandt bleibt, erkennt, wie es dem Kind geht. Und wir sollten uns auch in Gesprächen mit Kindern in die Situation von Kindern versetzen. Was, wenn ein Kind ein Problem anspricht und nur die Antwort bekommt „Du willst ja immer nur, dass alles nach deinem Kopf geht“ oder „Du bist einfach zu empfindlich“? Was das Problem des Kindes ist und wie schwer das Kind darunter leidet, wie sehr es sich verletzt fühlt, weiß nur das Kind allein. Sensibilität und Empfindlichkeit sind eben – wie schon zuerst erwähnt – von Kind zu Kind oft sehr verschieden. Vielleicht kennen Sie die Zeichnung, wo ein Affe, eine Katze, eine Ente und ein Hund in einer Reihe vor einem hohen Baum stehen und der „Lehrer“ sagt: „Zum Ziele einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich: Klettern Sie auf diesen Baum!“ Gerechtigkeit und adäquate Behandlung müssten anders ausschauen. Die Verschiedenheit von Kindern muss akzeptiert werden. Kinder müssen gerade in so schwierigen Situationen, wo sie sich ohnehin schon abgewertet fühlen, von ihren Eltern in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt und in ihrer Eigenständigkeit unterstützt werden. Ein schönes Beispiel dafür findet sich im Film „Forrest Gump“, wo der junge Mann für sein Leben diesen „Stehsatz“ von seiner Mutter mitbekommt: „Dumm ist, wer Dummes tut“. Und dieser Satz hilft dem leicht beschränkten, naiven jungen Mann auf eine liebevolle Art, sein Leben eigenständig bewältigen zu können. Kinder müssen gerade in schwierigen Situationen, wo sie sich ohnehin schon abgewertet fühlen, von ihren Eltern in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt und in ihrer Eigenständigkeit unterstützt werden. Autonomie entwickeln Eltern müssen ihren Kindern helfen, Autonomie zu entwickeln. Diese Autonomie wird schon von Geburt an aufgebaut, wenn das Baby lernt, dass es seine Bedürfnisse äußern kann und darauf eine Reaktion erlebt. Das Baby schreit, die Mutter kommt mit der Flasche – durch die Kausalitätserfahrung erlebt sich das Baby als Herrscher der Welt und kann so Vertrauen und Sicherheit hinsichtlich der Wirksamkeit des eigenen Handelns entwickeln. Das ermöglicht Autonomie und Selbstständigkeit im Handeln und in den sozialen Beziehungen. Doch nicht nur als Baby sollten Kinder Erfahrungen der eigenen Wirksamkeit und Akzeptenz machen können, sondern auch später. Unser Wohlbefinden und Selbstwertgefühl hängt wesentlich davon ab, ob wir uns von unseren Mitmenschen angenommen fühlen und mit unseren Leistungen uns selbst und unseren Mitmenschen genügen. Wenn die Leistungen des Kindes nicht auch im Zusammenhang mit seinen Fähigkeiten gesehen werden, kann das zwischen Eltern und Kindern zu einem großen Problem werden. Vermindertes Wohlbefinden und Selbstwertgefühl schwächen einfach unsere Beziehungsfähigkeit. Die Mitmenschen spüren unsere Unsicherheit, und wir werden sozial weniger attraktiv. Das kann zu einem Teufelskreis führen, den es zu durchbrechen gilt. Das erleben viele Kinder in ihren Schulklassen. Vermindertes Wohlbefinden und Selbstwertgefühl schwächen unsere Beziehungsfähigkeit. Akzeptanz und Wertschätzung als „Grundbausteine“ des Lebens Das „Fitkonzept“ nach Largo orientiert sich am Wohlgefühl und Selbstwertgefühl des Kindes, weil psychisches und körperliches Wohlbefinden die Grundvoraussetzungen dafür sind, dass sich ein Kind bestmöglich entwickeln kann, und weil ein gutes Selbstwertgefühl entscheidend für seine Beziehungs- und Leistungsfähigkeit ist. Es gilt also von Seiten der Eltern her, die Kinder für das Zusammenleben mit anderen fit zu 79 machen, ohne verletzt zu werden und ohne zu verletzen. Es muss dieser doppelte Aspekt gesehen werden, und Eltern haben dabei eine ganz besondere Aufgabe. Während die Umgebung die soziale Akzeptanz des Kindes oft von seinem Verhalten abhängig macht, sollte für die Eltern das Verhalten des Kindes nicht wichtiger sein als seine Person. Wichtig ist, Person und Verhalten auseinander zu halten – das klingt theoretisch sehr gut, aber im praktischen Alltag ist das, wie alle Erziehenden wissen, oft ganz schön schwierig. Als Person vorbehaltlos akzeptiert zu werden ist eine Erfahrung, die die meisten Kinder nur in den ersten Lebensmonaten machen dürfen. Ein Kind sollte sich aber als Person nie von seinen Eltern in Frage gestellt fühlen und nie auf Grund seines Verhaltens grundsätzlich abgelehnt werden. Das heißt nicht, dass Eltern jegliches Verhalten ihrer Kinder billigen sollten, ganz im Gegenteil, aber die Person als solche darf von Seiten der Eltern nicht in Frage gestellt werden. Wichtig ist, Person und Verhalten auseinander zu halten – das klingt theoretisch sehr gut, aber im praktischen Alltag ist das, wie alle Erziehenden wissen, oft ganz schön schwierig. Einfacher wäre, wenn man Eltern sagen könnte, je mehr Zuwendung, je mehr Liebe, je mehr Fürsorge ein Kind bekommt, desto besser geht es ihm. Aber genauso wie zu wenig Unterstützung die Autonomie des Kindes nicht wachsen lässt, genauso verhindert auch Überfürsorge die Eigenständigkeit und Autonomie. Letztlich sollte unser Ziel sein, dass die Kinder fähig werden, ihre eigenen Probleme selbst zu lösen, dass sie sich im Zusammenhang mit psychischer Gewalt vor Übergriffen schützen lernen, die die Grenzen der eigenen Person verletzen und überschreiten. Grundlage jeder hilfreichen Handlung von Eltern und anderen Begleitern in schwierigen Zeiten muss die Wertschätzung und Achtung der Person des Kindes sein. In dieser Grundhaltung müssen Eltern den Kindern geben, was sie brauchen – und das ist nicht immer das, was Eltern glauben, das die Kinder brauchen. Kinder müssen im Laufe ihres Erwachsenwerdens lernen, in ihren sozialen Beziehungen eine ausgewogene Balance zwischen dem Tun und dem Mit-sich-geschehen-Lassen zu finden. Tun im Sinne von Ursache von Reaktionen anderer zu sein und Mit-sich-geschehenLassen heißt auch, auf andere und ihre Bedürfnisse zu reagieren. Das Mit-sich-geschehen-Lassen birgt die Gefahr, die eigene Identität zu verlieren, wenn man nicht manchmal auch das Tun wahrnimmt. Wer aber meint, immer mit dem Kopf durch die Wand zu müssen, der wird überall anecken und beziehungsunfähig sein. Diese Balance zu finden ist nicht leicht, und Eltern sollten ihren Kindern dabei helfen. Aber genauso wie zu wenig Unterstützung die Autonomie des Kindes nicht wachsen lässt, verhindert Überfürsorge die Eigenständigkeit und Autonomie. Wenn man heute mit Kindergärtnerinnen, vor allem aber auch mit Lehrern und Lehrerinnen spricht, so hört man immer öfter: „Ich habe das Gefühl, vor einer Gruppe von Prinzen und Prinzessinnen zu stehen.“ Einzelkinder haben manchmal Defizite bei sozialen Verhaltensweisen, die sie im Zusammenleben mit Erwachsenen nicht brauchen. Diese Verhaltensweisen müssen dann in der Gruppe der Gleichaltrigen erst nachgelernt werden, und das kann Schwierigkeiten bringen. Auch da müssen Eltern ihre Kinder einfach hilfreich begleiten und auszugleichen versuchen, was an Problemen auftritt. Kunst und Wissenschaft allein ... ... helfen Eltern dabei nur teilweise. Geduld ist gefragt, Sensibilität. Die Eltern müssen erkennen lernen, was bei den Kindern verstärkt und wo eventuell entgegengesteuert werden muss, wo Unterstützung und Bestätigung Not tun oder wo es vielleicht wichtiger wäre, dem Kind zu ermöglichen, die Grenze seiner Frustrationstoleranz zu erhöhen. Geschwister sind dabei hilfreich, denn unter Mehreren lernt man sich zu sich arrangieren. Für das Zusammenleben unter Menschen ist Toleranz notwendig. Wer Geschwister hat, lernt das in der Familie, bei Einzelkindern muss diese Sozialisation dann oft erst im Kindergarten und in der Schule nachgeholt werden. 80 Eltern können und müssen Kinder gerade in schwierigen Zeiten begleiten. Die erzieherische Herausforderung dabei ist, das Kind richtig zu verstehen und im Umgang mit ihm das richtige Maß zu finden. Es gibt viele Elternratgeber, die Hilfe anbieten, auch faktische Tipps, die Eltern tatsächlich ein Stück weiterhelfen. Es gibt Angebote in der Elternbildung. Diese Hilfen werden von vielen Eltern sehr gerne angenommen. Wichtig dabei ist aber, dass Eltern nicht noch mehr verunsichert werden, sondern dass sie in ihrer eigenen Kompetenz gestärkt werden. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass es zu diesen komplexen und schwierigen Aufgaben der Eltern noch viel zu sagen gäbe. In den Grundlinien ist es immer so einfach, doch der Teufel steckt meistens im Detail, und Rezepte kann es nicht geben. Es braucht Geduld und viele kleine Schritte. Konklusio Zusammenfassend möchte ich nur mehr kurz einige Punkte herausheben, die mir besonders wichtig erscheinen: l Wichtig ist die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Institutionen. l Wichtig ist die Lobbyarbeit für Kinder und Familien. l Wichtig ist die Bewusstseinsbildung, vielfältig und auf allen Ebenen. l Wichtig ist Elternbildung. l Wichtig ist es auch, die Autonomie und die Eigenständigkeit des Kindes zu stärken, seine Frustrationstoleranz zu erhöhen und zu lernen, die Sprache des Kindes zu verstehen. Aber eine Aufgabe, die Eltern ganz besonders und hauptsächlich nur sie wahrnehmen können, ist, das Kind als Person bedingungslos zu akzeptieren und ernst zu nehmen. „Du aber liebe mich, auch wenn ich schmutzig bin, denn wenn ich weiß gewaschen wäre, liebten mich doch alle“ (Dostojewski). 81 „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ „Der Eingriff von außen – ein zusätzliches Trauma?“ Referent: Dr. Reinhard Neumayer Gleich am Anfang sei festgestellt: Wir alle handeln immer in bester Absicht. Das, was wir tun, das ist also ohnehin „wunderbar, toll, klasse“ – oder etwa nicht? Wir gehen davon aus, dass, da wir ja immer in bester Absicht handeln, am Schluss auch etwas Gutes herauskommen muss. Wir haben Klienten, die schuldlos in eine Notlage gekommen sind. Wir erleben ihr Leid mit, doch das soll uns nicht persönlich treffen, weil wir ja Profis sind. Wir bemühen uns, in geeigneter Form zu handeln, so dass es unseren Klienten nach unserer Intervention auch tatsächlich besser geht. Wir gehen davon aus, dass, da wir ja immer in bester Absicht handeln, am Schluss auch etwas Gutes herauskommen muss. Wir wollen immer nur das Richtige tun. Das haben wir uns geschworen, als wir uns für diese Berufe entschieden haben. Und das beweist uns auch die tägliche Praxis. Aber vielleicht vor allem deswegen, weil wir am liebsten auf die Fälle hinschauen, bei denen auch wirklich etwas Gutes herausgekommen ist. Denn: „Grau ist alle Theorie“ – das wissen Sie genauso gut wie ich. Es könnte also sein, dass wir heute ein bis zwei Blicke auch auf Fälle werfen müssen, bei denen nicht nur Gutes herausgekommen ist. Wir Zuständigen ... Beginnen wir einmal bei Wir. Wer ist eigentlich Wir? Wir – das sind natürlich die Zuständigen. Aus irgendeinem Grund wird man „zuständig“. Wir werden zu Zuständigen, weil sich Klienten an uns wenden, weil Klienten in der Erwartung zu uns kommen, dass ihnen hier geholfen wird. Sie tragen ihr Anliegen in der Erwartung vor, dass wir ihnen helfen. Für einen Klienten ist immer sehr erstaunlich, dass er sich an jemanden wendet, und plötzlich ist dann wer anderer zuständig. Es könnte aber auch sein, dass sie bei der falschen Tür stehen geblieben sind, dass sie sich im Türschild geirrt haben und dass wir gar nicht zuständig sind. Das ist dann manchmal eine Erleichterung. Dann kann man den Klienten, die Klientin zu einer anderen Tür schicken oder ihm/ihr eine andere Telefonnummern geben ... Aber wahrscheinlich passiert Ihnen so etwas gar nicht, wahrscheinlich passiert so etwas immer nur mir. Aber auch wenn der Klient beim richtigen Türtaferl stehen geblieben ist, hat das nicht für immer Gültigkeit. Für einen Klienten ist immer sehr erstaunlich, dass er sich an jemanden wendet, und plötzlich ist dann wer anderer zuständig. Oder es kommt noch wer dazu, oder es redet in einer bestimmten Phase dann plötzlich noch wer Neuer mit. Der Klient weiß zunächst nichts von diesen Phasen. Er kommt nicht bei der Tür herein und sagt „Bitte, ich bin jetzt in der Anfangsphase meiner Problemdarstellung. Wenn Sie sich als Zuständiger bitte darum kümmern wollen und mir dann sagen, wann der Nächste zuständig ist.“ ... wir handeln ... Wie dem auch sei – sobald ein Klient bei uns ist und wir zuständig sind, handeln wir. Wir alle handeln. Und wenn wir schon handeln, dann geplant und vernetzt. Sie wissen hoffentlich, in wie vielen Netzen Sie hängen. Wir handeln also vernetzt, und wir handeln immer. 82 Handeln – das Wort an sich ist schon eine Drohung. Sollten wir nicht nachdenken, bevor wir handeln? Aber wir handeln immer und bei jedem Schwierigkeitsgrad. Gibt es jemanden unter Ihnen, der das schon öfters mit sich selber ausdiskutiert hat, bei welchem Schwierigkeitsgrad er oder sie eigentlich sagen müsste: „Das ist mir jetzt vielleicht zuviel“? Vielleicht wäre es fairer, zu Ihrem Klienten/Ihrer Klientin zu sagen: „Es ehrt mich, dass Sie zu mir gekommen sind, aber ich muss Ihnen ehrlicher Weise sagen, dass ich davon nichts verstehe. Und bevor ich mich großmächtig aufblase, um vor Ihnen als allwissender Riese dazustehen, der für Alles eine Antwort hat, bin ich lieber ehrlich und sage, dass ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann.“ ... nur in bester Absicht ... Aber wir handeln ja in bester Absicht. Wir wissen, was gut ist. Wir handeln in bester Absicht für das Kindeswohl. Alle, die in der Jugendwohlfahrt tätig sind, wissen über diesen magischen Begriff Bescheid. Und alle, die an der Jugendwohlfahrt auch nur angestreift sind, haben auch schon mit diesem Wort zu tun gehabt. Es geht in der Jugendwohlfahrt um das Wohl des Kindes. Was genau ist bitte das Wohl des Kindes? Ich arbeite seit über 20 Jahren in diesem Bereich, aber ich kann Ihnen das nicht genau sagen. Aber es ist eine Leitschnur für uns. Und deswegen handeln wir in bester Absicht für das Kindeswohl. Oder vielleicht manchmal für das Helferwohl? Passiert es vielleicht doch manchmal, dass wir etwas nicht nur des Kindeswohles wegen tun? Passiert es vielleicht manchmal, dass wir – um ein bisschen besser dazustehen – einfach handeln auf unsere Fahnen schreiben? Passiert es vielleicht manchmal, dass wir Klienten und Klientinnen, die mit einem bestimmten Anliegen kommen, so umbiegen, dass sie zu unserem Angebot passen? Passiert es vielleicht manchmal, dass wir Klient/innen, die mit einem bestimmten Anliegen kommen, so umbiegen, dass sie zu unserem Angebot passen? Das, meine ich, ist das Helferwohl und nicht das Klientenwohl. Und kann es auch sein, dass es die Öffentlichkeitsarbeit ist, die uns manchmal als leitendes Motiv bewegt? Aber wahrscheinlich gibt es bei Ihnen so etwas gar nicht, wahrscheinlich passiert so etwas immer nur mir. Kann also unser Eingreifen von außen ein zusätzliches Trauma für unsere Klientinnen und Klienten sein? Wenn wir mit der Idee, unseren Klienten zu helfen oder ihnen Wege zu zeigen, auf denen vielleicht Hilfe zu bekommen ist, oder ihnen ihre eigenen Ressourcen bewusst machen, um Hilfe in Anspruch nehmen zu können, an unsere Arbeit herangehen, dann werden wir a priori wahrscheinlich nicht gleich daran denken, dass wir ihnen mit unserem Tun, unserem Handeln auch zusätzliches Leid zufügen können. Und trotzdem gibt es das. ... und meinen es immer nur gut Unser heutiges Thema lautet: Psychische Gewalt durch Institutionen. Daher die Frage: Kann es auch durch gut gemeinte Hilfsangebote zur Ausübung von psychischer Gewalt kommen? Schauen wir einmal, was so ein „gut gemeintes Hilfsangebot“ alles bewirken kann. Behalten Sie bitte die Wortfolge „gut gemeintes Hilfsangebot” für die nächsten paar Minuten „eingespeichert“. Ich möchte Ihnen etwas aus meiner Studentenzeit erzählen. Das war in den 70er Jahren. Ich habe damals ein Praktikum an einer Krankenanstalt gemacht, und diese Krankenanstalt hat gewisse Regeln im Umgang mit Kindern gehabt. 83 Streng nach damals gültigen wissenschaftlichen Erkenntnissen lautete die Regel: Kinder aus schwierigen Familien kommen in die Krankenanstalt und werden dort für einige Wochen nicht mit ihrer Familie zusammenkommen. Ganz bewusst. Schädigende Einflüsse sollen so von diesen Kindern fern gehalten werden. Über Wochen hindurch durften die Kinder „zu ihrem eigenen Wohle“ ihre Angehörigen nicht sehen – doch niemand hatte die Absicht, den Kindern psychische Gewalt anzutun. Es wurde eben in bester Absicht nach dem damaligen wissenschaftlichen Stand der Dinge gehandelt. Die Situation war dann so, dass die Kinder vom Fachpersonal gut betreut worden sind, gute therapeutische Angebote bekommen haben und Angehörige – die waren nämlich gemeint mit den schädigenden Einflüssen – nur Auskunft bekommen haben. Heute würde man sagen: durch zertifizierte Auskunftspersonen. Das heißt, die Angehörigen konnten zu bestimmten Sprechstunden kommen und fragen „Wie geht es meinem Kind?“, und haben dann haben sie eine klare Auskunft bekommen und konnten wieder heimgehen. Es war auch noch möglich, ein Brieflein für das Kind zu hinterlassen. Ich habe mich nicht wirklich wohl gefühlt bei der Vorstellung, dass es irgendwann einmal auch meinem Kind so gehen könnte, obwohl ich damals überhaupt noch keine Kinder hatte. Was immer Sie sich heute im Oktober des Jahres 2000 über diese Vorgangsweise denken – damals hatte ganz bestimmt niemand die Absicht, psychische Gewalt an Kindern zu begehen. Es wurde eben in bester Absicht nach dem wissenschaftlichen Stand der Dinge gehandelt. Wahrscheinlich fallen Ihnen selber auch noch andere solcher Beispiele ein. Heute, aus der gebührlichen zeitlichen Distanz, können wir uns natürlich überlegen, was wir damals den Kindern angetan haben. Es ist keinesfalls in böser Absicht, sondern in bester Absicht geschehen. Das Fachpersonal, das die Kinder während der wochenlangen Trennung von ihren Angehörigen betreut hat, wusste genau: „Wir müssen hier Beziehungsarbeit leisten.“ Das waren nicht irgendwelche eiskalten Theoretiker, die an Kindern experimentierten. Nein! Das waren Menschen, die sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit plus ihrem fachlichen Wissen engagiert haben, um für diese Kinder etwas Positives zu bewirken. Sie konnten nicht – vielleicht wollten sie es auch nicht – sehen, dass es zu zusätzlichen Problemen gekommen ist, weil man den Kindern ihr Bezugsnetz gestohlen hat, weil die Kinder natürlich unter Trennungsängsten gelitten haben. Auch ich hätte Trennungsängste in dieser Situation! Kinder, die nicht begreifen konnten, dass sie vor jemandem geschützt werden, den sie lieb haben; Kinder, die erleben mussten, dass draußen jemand bei der Glastür vorbeigeht, mit dem sie gerne reden würden, von dem sie gerne in den Arm genommen worden wären, der aber nicht zu ihnen gelassen wurde – für Wochen! Zum Glück haben sie das mit ihrem kindlichen Verstand gar nicht ganz erfassen können, denn sonst hätten sie sich noch ganz anders „aufgeführt“, als sie es getan haben. Nachdem wir alle schon den Jahrtausendwechsel gefeiert haben, kann ich ja sagen, das passierte im vorigen Jahrhundert. Das klingt vielleicht irgendwie beruhigender. Es ist leicht, für gestern schlau zu sein Ein zweiter Hinweis. Für alle die, die schon etwas länger im Geschäft sind, oder alle die, die manchmal in die Literatur schauen, ist nicht zu übersehen, dass sich in einem Spezialgebiet, nämlich der Adoption, die Geisteshaltung der beteiligten Fachleute in den letzten 15 Jahren wesentlich verändert hat. 84 Der Gedankengang bei Adoptionen war früher, nur ja keinen Kontakt zwischen der Herkunftsfamilie und dem Adoptivwilligen herzustellen. Eine Behörde, zuständigerweise das Jugendamt, war dazwischengeschaltet. Bei der Behörde sind die Informationen zusammengelaufen. Das Kind wurde anonym übergeben. Unterlagen hat es schon gegeben, aber eher nicht für die Adoptiveltern oder das betroffenen Kind. Und dann ist etwas passiert – Menschen sind nicht immer so wie die graue Theorie: Adoptivkinder sind erstaunlicherweise, genauso wie leibliche Kinder, genauso wie Pflegekinder, älter geworden. Und dann haben sie irgendwann einmal begonnen, Fragen zu stellen wie: „Bin ich in deinem Bauch aufgewachsen?“ Menschen sind nicht immer so wie die graue Theorie. Pflegeeltern sind auf solche Fragen trainiert gewesen, Adoptiveltern damals nicht. So blieb ihnen nichts übrig, als die Frage als unzulässig zurückzuweisen. Doch die Adoptivkinder sind beharrlicher geworden – auch das war ja nicht vorhersehbar – und haben die Frage mehr als einmal gestellt ... Heute sind wir soweit, dass die anonyme Adoption die absolute Ausnahme ist. Wir wissen, dass die Heranwachsenden sicher fragen werden, wie ihre persönlichen Verhältnisse sind. Wir wollen zeitgerecht dafür sorgen, dass es diese Information gibt. Wir schulen Adoptiveltern. Wir beraten Adoptivfamilien bei den Problemen ihrer heranwachsenden Kinder. Dennoch: Niemand hatte vor 15, vor 20 Jahren die Absicht, den Kindern psychische Gewalt anzutun. Vielleicht gibt es in 20 Jahren wieder eine Tagung, bei der Leute, die heute noch relativ jung sind, unsereins, die wir dann bereits etwas grau und erschöpft in der vorderen Reihe sitzen, erzählen werden, was es damals bei der Jahrtausendwende für absurde Ideen im Umgang mit Kindern gegeben hat. Erste Fallgeschichte Karli, vier Jahre alt, ist jetzt endlich weg von zu Hause. Er wird in der Nacht nicht mehr so schreien, wenn daheim gestritten wird. Er wird nicht mehr grün und blau im Gesicht sein, oder sonst wo, wie man ja beim Turnen gesehen hat ... Er wird auch nicht mehr die Kinder in diesem Kindergarten beißen und treten. Er ist jetzt weit weg von hier, bei einer anderen Familie. Nein, Freunde hat er wenige gehabt, vielleicht den Peter und die Karin, aber die sieht er jetzt nicht mehr. Nein, seine Eltern soll er jetzt auch nicht mehr sehen, vielleicht später einmal, wenn er sich erst eingewöhnt hat und die Therapie so richtig greift ... Nein, reden tut er jetzt nicht viel, eigentlich sehr wenig ... Ob er jetzt glücklich ist? Na jedenfalls geht es ihm viel besser als vorher, oder? Der Eingriff von außen – Garant, dass es besser wird? Im Allgemeinen haben Institutionen bestimmte Vorstellungen davon, wann Kinder „gerettet“ werden müssen. Institutionen haben aus diesem Behufe oft einen Katalog, in dem genau aufgelistet wird, wann gehandelt werden muss, wann eingegriffen werden muss, wann Kinder offenbar in ihrer Herkunftsfamilie oder im erweiterten Umfeld einer solchen Fülle von Gefahren und Gefährdungen ausgesetzt sind, dass man sie nicht mehr dort belassen kann. Bei der Jugendwohlfahrt gibt es ziemlich klare Richtlinien bzw. ein Auflistung von Hinweisen, ab wann die Gefährdung so akut ist, dass man das Kind aus dieser Situation herausnehmen muss. Es gibt aber auch weniger dramatische Fälle – Gott sei Dank gibt es die auch –, wo man überlegen kann, ob man nicht auch mit langsam greifenden, dafür aber beharrlich angebotenen Hilfeformen zu einer Veränderung der Situation beitragen kann. Stellen Sie sich jetzt Folgendes vor: Eine Institution, eine Behörde, hat nach Durchsicht aller Kataloge festgestellt, „bei diesem bestimmten Kind ist der Pegelstand erreicht, jetzt ist Handlung angesagt“. Und so wird ein gut gemeintes Angebot gemacht. Ein gut gemeintes heißt in solchen Fällen aber: „Das Kind kommt weg“. 85 Was aber, wenn die Pflegefamilie nun genauso mit Schwierigkeiten beladen ist wie die ursprüngliche Familie? Dann hat es sich das Kind aber nicht wirklich verbessert. Das Kind kommt in eine hoffentlich bessere Situation. Wir nehmen natürlich an, dass es das betroffenen Kind bei einer anderen Familie, bei der Pflegefamilie besser haben wird. Was aber, wenn die andere Familie nun genauso mit Schwierigkeiten beladen ist wie die bisherige? Dann hat es sich das Kind aber nicht wirklich verbessert. Es hat lange gedauert, bis den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – und da zähle ich mich auch dazu – (dank intensiver Fortbildung) klar geworden ist, dass die Unterbringung auf einen Pflegeplatz eben nicht einen komplexen Wechsel, nicht ein Streichen der Vorgeschichte bedeuten kann. Wenn man das weiß, wird auch klar, dass es nicht nur trotziges Verhalten von Kindern ist, wenn sie auf einmal anfangen, ihre Herkunftsfamilie zu idealisieren; dass es nicht nur Widerstand gegen die neue Familie ist, wenn sie dort nicht sofort in Dankbarkeit zerfließen, und dass es nicht Fehler in der Angebotsseite der Pflegefamilie sind, wenn das Kind nicht sofort in strahlendem Glück aufgeht. Der Einblick von außen Wir haben fremde Hilfe gebraucht, Supervision mit erlebnisgeleiteten Fortbildungsformen, um zu erkennen, was in einem Kind in dieser Situation vorgehen kann; um zu erkennen, dass das Kind Verluste erleidet. Diese Verluste bemerkt es sogleich, eventuelle Erleichterungen, Verbesserungen wohl erst viel später. Ob es einmal sagen wird „Das hat mir damals wirklich geholfen“, das können wir nicht voraussagen. Ich muss gestehen, in den Jahren, in denen ich jetzt in diesem Bereich tätig bin, habe ich das überhaupt noch von keinem Kind gehört. Ich habe es von Erwachsenen bis jetzt vielleicht drei- oder viermal gehört – aber niemals von einem Kind. Wären also positive Rückmeldung oder Dankbarkeit ein Maß, das uns hilft, unsere Verhaltensweisen zu steuern, dann wäre es besser, wir ließen es ganz. Aber der Umkehrschluss „Schauen wir doch einfach nicht hin“, der verhilft einem auch nur kurz zu gutem Schlaf. Zweite Fallgeschichte Noch eine kleine Geschichte: Fatima, 16 Jahre alt, hat es nicht leicht mit den strengen Vorstellungen ihrer Familie, wenn sie doch gleichzeitig sieht, wie ihre Schulfreundinnen aufwachsen und was für die alles selbstverständlich ist, nicht aber für sie. Nach einem heftigen Streit, bei dem sie auch vom Vater verprügelt wird, wendet sie sich an die Berufsschullehrerin. Diese verspricht zu helfen, wendet sich an das Jugendamt, und es kommt – nicht zuletzt wegen der festgestellten Verletzungen – zu einer Unterbringung des Mädchens in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft. Dort wird das Mädchen betreut, therapeutisch begleitet und unter Beachtung der Multikulturperspektive gestützt. Die Herkunftfamilie hat nicht verstehen können (wollen?), warum sich eine Schule und ein Amt in die Erziehung einmischen und sich dabei genauso wie die Eltern auf das Wohl des Kindes beziehen! Für diese Familie ist Fatima übrigens „gestorben“! Erratum: Das Mädchen heißt nicht Fatima, sondern Monika. Wie passen die Normen, die seitens einer Institution für selbstverständlich erwartet werden, mit denen in der Familie zusammen? l Das kann sich auf den Erziehungsstil beziehen. l Das kann sich auf allgemeine Werthaltung beziehen. l Das kann sich auf kulturelle, religiöse Vorstellungen beziehen. 86 l Das kann sich auf vielerlei beziehen. Offenbar gibt es in den Institutionen Vorstellungen darüber, wie Familien sein sollen, und das weit über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus. Das mag vielleicht daran liegen, dass in diesen Institutionen Menschen arbeiten, die ihre eigene Werthaltung vertreten. Es mag aber vielleicht auch daran liegen, dass dort Menschen ihre eigene Werthaltung nicht immer reflektieren. Und wenn dann in dieser Geschichte ein Mädchen vorkommt mit einem seltsam klingenden Namen, dann haben Sie wahrscheinlich schon ähnliche Erfahrungen gemacht, dann ist Ihnen vielleicht schon einmal so ein konfrontierendes Gespräch in Erinnerung, wo Sie versucht haben, jemandem, der ganz anders denkt als Sie, klar zu machen, dass Sie es sind, die oder der weiß, wie es langgeht. Und wenn die Familie sich nicht daran hält, dann wird eben ein Eingriff notwendig. Wahrscheinlich sind Sie ein wenig zusammengezuckt, als Sie gelesen haben, dass das Mädchen gar nicht Fatima, sondern Monika heißt. So einfach ist es nämlich nicht, dass es nur irgendwelche Minderheiten sind, die man klar auf Grund von Äußerlichkeit, Nationalität, Reisepass, Hautfarbe oder sonst etwas eingrenzen kann und sagen kann: „Das machen ja nur die dort!“ Schauen Sie gut nach, mit welchen Klienten und Klientinnen Sie regelmäßig arbeiten und ob es nicht dort auch eine ganz andere Form von Minderheiten gibt. Dritte Fallgeschichte Letzte Geschichte. „Klein, aber nicht fein” Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch an Jaqueline ist erstmals aufgetaucht, als sie 12 war. Sie hat sich einer Freundin (1) anvertraut, die ist dann mit ihr zur Frau Direktor (2) gegangen, dann wurde die Schulärztin (3) geholt und danach das Jugendamt verständigt. Eine Sozialarbeiterin (4) und eine Psychologin (5) haben mit Jaqueline gesprochen. Dann ist eine Anzeige gemacht worden, wodurch eine Einvernahme durch eine Polizistin (6), den Untersuchungsrichter (7), die Begutachtung durch den Gerichtssachverständigen (8) und die Befragung in der Hauptverhandlung (9) folgten. Mit der ersten Therapeutin (10) kam Jaqueline nicht soo gut zurecht, also wurden noch zwei weitere Versuche (11+12) gemacht, ja und dann noch die Erzieherinnen (13–16) im Jugendheim. Hoffentlich hat Jaqueline niemanden vergessen? Ach ja, die Mutter (17) und die Großmutter väterlicherseits (18), die gar nicht glauben kann, dass ihr Bub so etwas machen könnte („Das bildest du dir doch nur ein, gell!“) wollten die Geschichte auch genau erzählt bekommen. Für eine Verurteilung des Beschuldigten haben die Beweise nicht gereicht. Gut gemeint heißt nicht automatisch gut Sie, verehrte Experten und Expertinnen, wissen natürlich, dass so etwas heute nicht mehr sein muss. Heute kann es nicht mehr vorkommen, dass ein missbrauchtes Kind quasi von Amts wegen 18 (!) mal irgendjemandem seine Geschichte erzählen muss. Sich 18 (!) mal rechtfertigen muss, dass es ein Problem hat; 18 (!) mal zugeben muss, in eine komplett unaushaltbare Situationen geraten zu sein und nicht den Mund gehalten zu haben; 18 (!) mal mit Leuten konfrontiert wird, die sagen: „So, wie du das sagst, kann es doch gar nicht gewesen sein.” Sie werden sagen, das kann man heute alles schon viel besser machen, es gibt doch diese kontradiktorische Befragung. Die soll doch nur einmal stattfinden und nicht beim Untersuchungsrichter und beim Hauptverhandlungsteil und bei insgesamt 18 Personen. Springen Sie jetzt um 20 Jahre zurück. Hat damals jemand gesagt: „So viele Helfer“? Alle Finger hätten Sie sich abgeschleckt, wenn es so viele Helfer gegeben hätte! 87 Man hätte es als einen großartigen Fortschritt gewertet. Lauter hervorragend geschulte Intervenienten und Intervenientinnen. Lauter Professionalistinnen und Professionalisten. Alle wollen nur das Beste vom Kind. Hoffentlich kriegen sie es nicht. Lauter hervorragend geschulte IntervenientInnen. Lauter Professionalistinnen und Professionalisten. Alle wollen nur das Beste vom Kind. (Hoffentlich kriegen sie es nicht!) Wir alle handeln immer in bester Absicht. Na klar. Trotzdem kann es passieren, dass wir damit Schaden anrichten. Auch wenn das wirklich keiner von uns absichtlich tut. In einer ganz interessanten Arbeit in der Zeitschrift „Praxis der Kinderpsychologie“ im vorigen Jahr ist dieser Teufelskreis aufgezeigt worden. Der Teufelskreis: Was passiert, wenn man nicht auf eigene Fehler hinschaut, wenn man nicht eine selbstkritische Perspektive einnimmt, wenn man nicht von Selbstverständlichkeiten abgeht? Vereinfacht zusammengefasst steht dort, dass es dadurch zu einem Klima des gegenseitigen fachlichen und vielleicht auch wissenschaftlichen Schulterklopfens kommt. Gut sind wir, fesch sind wir, wir machen eh alles, was wir können, und außerdem ist die Arbeit immer zu viel. Natürlich! Gut sind wir – das hoffe ich schon für unsere Klienten; fesch sind wir – das überlasse ich jedem selbst; wir machen, was wir können – das kann manchmal gefährlich werden; und die Arbeit wird zu viel – natürlich. Wir sollten uns natürlich auch überlegen, was wir dagegen unternehmen können. Wieder so ein Katalog, werden Sie sagen, und Recht haben Sie. Ich wollte es Ihnen einfach nicht ersparen. Wie könnten wir diese immer wieder drohende sekundäre Traumatisierung weitgehend vermeiden? Wenn wir es wüssten, säßen wir nicht hier, sondern würden schon daran arbeiten. Trotzdem einige Hinweise. Wie machen wir es besser? – Ein Versuch l Zunächst einmal eine ehrliche Sicht auf Nachteile beim noch so gut gemeinten Hilfsangebot. Nur das wird uns in die Lage versetzen, unsere Hilfsangebote zu optimieren. Und wenn Trennungen ein Nachteil sind, dann muss man damit umgehen. Man wird sie aus Aspekten von Kinderschutz nicht automatisch vermeiden können, aber man muss sie in seine Überlegungen einbeziehen. Man muss diesem Aspekt ein zusätzliches Hilfsangebot widmen, inhaltlich, nicht noch einen Trennungshelfer dazu. l Fortbildung und Supervision für Helfer/innen, um sich eigenen Fehlern und Fehlentscheidungen stellen zu können und daraus zu lernen. Das ist ein Aufruf an jede und jeden Einzelnen von Ihnen und natürlich an die Dienstgeber, so etwas zu ermöglichen. Supervision und Fortbildung fallen nicht von allein vom Himmel. l Qualitätsentwicklung aus der Perspektive „Kinderschutz als Konsumentenschutz“. Wieso? – Weil es manchmal hilft, sich vorzustellen, ein Kind, 11, 12 Jahre alt, wäre Klient eines amerikanischen Konsumentenschutzanwaltes und würde sagen „Ist das wirklich das Beste, was Sie für mich tun konnten? Können Sie das beweisen? Haben Sie alle Möglichkeiten gut überlegt und mir wirklich das Beste angeboten, oder haben Sie irgendeine Routine in der Schublade, nach der ich abgehandelt worden bin?“ l Und ein letzter Punkt (und hier schließt sich wieder der Kreis im Bereich Öffentlichkeitsarbeit): Ich habe es ganz am Anfang schon angedeutet. Öffentlichkeitsarbeit nicht nur reaktiv beim Skandal. Das ist eine Situation, in der wir immer wieder sind. Einem Kind geht es so schlecht, dass es auch den Medien auffällt. Es wird berichtet, es wird vorverurteilt, es wird gefragt „Warum habt ihr denn nicht ...?“ 88 l Wenn dann erst mit Öffentlichkeitsarbeit begonnen wird, wird man der Sache nicht wirklich helfen. Da schwankt man zwischen Dementi und „Bin in einer Besprechung“, oder man versucht es mit Ehrlichkeit und hofft, dass etwas Verwandtes davon dann auch in den Medien gebracht wird. Aber tatsächlich geht es um etwas ganz anderes bei der Öffentlichkeitsarbeit. Es geht um eine begleitende Form, aktiv und permanent und nicht nur damit etwas in der Zeitung steht. Öffentlichkeitsarbeit soll ein positiv formuliertes Ziel haben, damit auch Entscheidungsträger rechtzeitig die erforderlichen Mittel bereitzustellen gewillt sind. Diese Entscheidungsträger bedienen sich nämlich in vielerlei Hinsicht nicht unserer fachlichen Hinweise, sondern der Informationen und dem Druck der Medien. Und das sollte uns Mut machen, auch diesen Teil unserer Arbeit zu übernehmen. Zum Schluss nehmen Sie vielleicht einen Satz als Zusammenfassung mit: Wenn wir überall dort, wo wir gut gemeinte Hilfe anbringen, die Aspekte beachten, wie sie aus der Zukunft her kritisch gesehen werden könnten, dann könnten wir doch mit der Verbesserung schon morgen früh beginnen. Dankeschön! 89 „Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“ „Schule – ein Ort der Tat“ Referentinnen: Dir. Gertraud Schimak, Mag. Dagmar Friedl Sehr verehrte Damen und Herren! „Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“ – wir sind Goethes Worten nachgegangen und auf Seneca gestoßen. Dieser hat Aphorismen des Hippokrates übernommen bzw. verschriftlicht. Der Geheimrat benützt lediglich den Beginn eines Hippokratischen Aphorismus, wir wollen Ihnen den vollständigen Text nicht vorenthalten: „Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, die Gelegenheit flüchtig, der Versuch gefährlich, die Entscheidung schwer.“ Wir freuen uns, in der Kürze der Zeit und mit Hilfe Ihrer Aufmerksamkeit über die flüchtige Gelegenheiten, den gefährlichen Versuch und die schwierige Entscheidung in den Dialog treten zu dürfen über ein sehr komplexes Thema: nämlich dem der hohen Kunst des Miteinander in der Institution Schule. Wie dieses Miteinander z.B. auch aussehen kann, zeigt die Entwicklungsgeschichte zum Goethe-Zitat, wie wir sie in der Einleitung dargestellt haben. Vom „Miteinander“ der historischen Persönlichkeiten zum Miteinander der Institution Schule – versuchen wir gemeinsam den Transfer: Ersetzen wir Goethe durch Personen des Lehrkörpers – sie verdichten, sie fassen zusammen, sie entrümpeln; Seneca, der von Hippokrates übernimmt und verschriftlicht, ersetzen wir durch Vertreter/innen der Schulbehörde und Hippokrates durch die Gesellschaft. Und nehmen Sie unser gemeinsames Auftreten, als äußeres Zeichen für unsere Überzeugung, dass Lernen nur im Dialog gelingen kann, aber auch misslingt, wenn dieser verweigert wird. Dazu ein Beispiel aus dem schulischen Alltag: Erste Klasse Volksschule, zweite Stunde, Lerneinheit: Buchstaben-Laut-Zuordnung am Buchstaben P, 24 Schüler/innen, eine Lehrerin, Unterrichtssprache Deutsch. Der Schüler Patrick (P-atrick!) sitzt ganz hinten auf dem Boden, sieht also alle Kinder nur von hinten, die Lehrerin kommentiert erklärend: „Ich halte ihn sonst nicht aus.“ Die Lehrerin bietet zum Buchstaben P verschiedene Gegenstände an, alles beginnt mit P oder enthält diesen Buchstaben: Puppe, Postkasten, Zahnpasta, Papier. Patrick holt sich einen Teil des Angebotes und bemüht sich offensichtlich um Konzentration und Teilnahme. Patrick ergreift eine kleine Puppe, springt selbst freudig auf und ab und schreit laut und begeistert: „Peppo, hopp! Peppo, hopp!“ Lehrerin: „Patrick, jetzt ist aber Schluss!“ Patrick springt weiter auf und ab, die kleine Papierpuppe in seiner Hand. Lehrerin, läuft zu Patrick, nimmt ihm die Papierpuppe weg und fordert ihn nachdrücklich auf: „Patrick! Mach endlich mit!“ Und das Kind mit dem glücklichen Namen P-atrick – es könnte heute seinen besonderen Tag haben, würde sein Name Beachtung finden –, das Kind Patrick, das so einfallsreich seine Puppe Peppo taufte und mit der Aufforderung „Hopp!“ springen ließ, hat nun keine Puppe mehr und setzt sich still und ruhig, wie gefordert, auf seinen Platz zurück. 90 Wir überlassen es Ihrer Fantasie, wie er der Aufforderung „Mach jetzt endlich mit!“ nachkommen wird. Eine unbedeutend scheinende, fast mikroskopisch kleine Momentaufnahme aus dem Schulalltag – und wo ist die Gewalt? Gewalt ist dort, wo nicht hingehört wird, wo nicht aufeinander gehört wird, wo bestehende Erwartungen keine Neugierde zulassen, wo unvorbereitete, also nicht vorausgedachte, spontane Reaktionen keinen Platz haben und Raum und Zeit für Entwicklungsprozesse fehlen. Und wo ist die Gewalt? Gewalt ist dort, wo es nicht um Entwicklung, also prozesshaftes Geschehen gehen darf, sondern in einer vorgegebenen Zeit zu vorgegebenen Bedingungen und mit vorgegebenen, weil vorbereiteten und daher eingeschränkten, fixierten Mitteln ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll. Gewalt ist dort, wo es nicht um die Persönlichkeit von Schüler/innen, nicht um die Wahrnehmung ihrer Ideen und emotionalen Befindlichkeit, sondern um scheinbaren Erfolg von Lehrer/innen geht. Beispiel AHS, Englisch-Stunde: Eine Schülerin kommt erheblich zu spät zum Unterricht und entschuldigt sich mit den Worten: „Ich habe heute nicht geschlafen, meine Oma ist in der Nacht gestorben.“ Darauf die Lehrerin: „It’s O.k. But tell me in English!“ Ein anderes Beispiel. Elternabend, die Klassenlehrerin stellt sich und ihre Arbeitsweise vor: „Ich werde Ihre Kinder mit samtener Faust behandeln!“ Oder dies: Hauptschule, der Klassenvorstand begrüßt die Schüler/innen seiner Klasse mit den Worten: „Das sage ich euch gleich: Ich bin als strengster Lehrer der Schule bekannt!“ Aber auch das: Begrüßung eines neuen Schülers durch einen Klassenlehrer: „Ah, deine Familie kenne ich, ich kenn ja deinen Bruder. Hoffentlich hast du eine andere Arbeitshaltung als er.“ Gewalt ist dort, wo das Gegenüber nicht wahrgenommen wird, wo autoritäre Herrschaft vorbeugend – sicher ist sicher! – Schüler/innen klein, mundtot und leicht lenkbar machen soll. Schule – ein Ort der Tat Psychische Gewalt als Alltagsphänomen – auch wir sind Täter/innen und Opfer. Eine Tatsache, die uns erschrecken darf, aber nicht schockieren, die uns betroffen machen darf, aber nicht handlungsunfähig. Wenn wir in der bisherigen Darstellung den Fokus auf die Täterschaft im Bereich Schule gerichtet haben, wollen wir dennoch nicht vergessen, wie sehr am Schulgeschehen Beteiligte auch Opfer des Phänomens „Psychische Gewalt“ sein können und de facto auch sind. Gestatten Sie uns auch jene Perspektive, die Täterinnen und Tätern überwiegend fehlende Vorsätzlichkeit der Tat unterstellt. Denn welche Personengruppe im Kontext Schule wir auch betrachten – Eltern, Schüler/innen, Lehrer/innen, Schulleiter/innen, Vertreter/innen der Schulbehörde – wir sind überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit der Problembeteiligten sich nicht kollektiv entschlossen hat, Bösewichte und Gewalttäter/innen zu werden und zu sein. Nein! Und das entschieden! Denn das Gegenteil ist der Fall: Was geschieht, firmiert unter lautersten Absichten und bei hohen Erwartungen und Zielen. Aber es geschieht auch – und das ist unsere zweite Hypothese – in Unkenntnis, im Zustand der Kantschen Unmündigkeit bezüglich grundlegender Kenntnisse menschlicher Psychodynamik und Kommunikation. 91 „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit.“ (Kant). Aufklärung versus Schuldzuweisung, Aufklärung im Sinne des Klarstellens, der klärenden Einsicht des Problembewusstseins, der Exploration des eigenen Selbst, der Erkenntnis. Aufklärung im Sinne der Selbst-Erkenntnis. Schule ist aber auch Ort der Tat in anderer Hinsicht: Schule als Institution, die alle Kinder und Jugendlichen durchwandern müssen, birgt unendliche Chancen, all das zu lernen, was andernorts nicht gelernt werden konnte. Schule als Ort der Tat, der Handlung, wo nachgeholt werden darf, wozu es andernorts keine Gelegenheit gab, wo es möglich sein muss, Fehler zu machen, die nicht sanktioniert, sondern als Gelegenheit, neue Lösungsansätze zu finden, begrüßt werden. Schule als Ort, der Probehandeln nicht nur ermöglicht, sondern nachgerade die Bedingungen für dieses bereitstellt, Bedingungen, die da sind: l vielfältige Beziehungsangebote, l Echtheit, l Flexibilität, l Einfühlung, l Erleben der eigenen Fähigkeiten und Grenzen l und ein offenes Angebot von Zeit und Raum. Das Ziel der Bemühungen im Kontext der genannten Bedingungen hieße dann das Erreichen personaler Kompetenz als der Möglichkeit, sich selbst im Umfeld wahrzunehmen, Bedürfnisse und Interessen adäquat zu formulieren und zu vertreten und Sinn im persönlichen und im Gruppen-Leben zu finden. Schule ist auch dieser Ort der Tat. Schuleingangsphase, Sarah, 8 Jahre alt, steht im Klassenzimmer. Non-verbal artikuliert sie Verzweiflung und Hilflosigkeit und teilt der Lehrerin mit: „Meine Oma hat gesagt, der Name Sarah gefällt ihr nicht.“ Die Lehrerin: „Das muss aber ganz schwer für dich sein.“ Sarah setzt sich auf den Schoß der Lehrerin und beginnt zu weinen. Lehrerin, streichelt Sarah: „Das tut aber sehr weh.“ Andere Kinder aus der Gruppe verlassen nach und nach ihre Arbeit und wenden sich Sarah zu: „Hör einfach nicht hin!“ „Wenn sie das sagt, sag ihr, dass dir ihr Name auch nicht gefällt.“ „Sprich einfach einen Tag lang nicht mit ihr!“ Die Kinder sind ganz nah bei Sarah angekommen und bieten ihre jeweils eigenen Lösungen an. Sarah spürt Interesse an ihrem Problem und fühlt die innere Verbundenheit, kann zwar keine dieser Lösungen als die ihre anerkennen, fühlt sich aber angenommen und getröstet, hört zu weinen auf und sagt: „Ich werd’ die Oma anrufen.“ Wie sonst könnte sich personale Kompetenz eines Kindes äußern? Worin äußert sich die personale Kompetenz der Lehrerin? „... die Gelegenheit ist flüchtig ...“ Durch die offene Wahrnehmung und die einfühlende Reaktion der Lehrerin, die sofort Raum und Zeit zur Verfügung stellt, die nicht auf Fortsetzung der Arbeit beharrt, entsteht eine Atmosphäre von Geborgenheit, in der die Kinder unaufgefordert ganz frei und entsprechend ihren Fähigkeiten Handlungsmöglichkeiten anbieten. Bewertungen fehlen. 92 Weil die Lehrerin diesen äußeren Rahmen der Freiheit gibt, ermöglicht sie jedem einzelnen Kind einen angstfreien Zugang zur eigenen kreativen Möglichkeit. Niemand muss überzeugen, niemand muss überzeugt werden. Frei von Bewertung kann Sarah zuhören und gelangt zu der ihr adäquaten eigenen Lösung. Alle angebotenen Lösungswege bedeuten eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der beteiligten Kinder. Das sind Sternminuten der Pädagogik, die sich sogar als Sternstunden herausstellen, da Sarah frei von Bewertung zuhören kann und so zu der ihr eigenen Lösungsmöglichkeit gelangt. Und Sternstunde der Pädagogik auch daher, weil dieses Miteinander beweist, dass alle angebotenen Lösungsmöglichkeiten Sinn machen, nämlich jeweils für den Anbieter bzw. die Anbieterin. Und die Gesamtheit der Lösungswege bedeutet zudem eine Möglichkeit zur Erweiterung des Handlungsspielraumes aller beteiligten Kinder, auch derjenigen, die sich nicht direkt involviert haben, sind sie doch Hörende. Alle Kinder und auch die Lehrerin erleben, dass es zu einem Problem viele Lösungsmöglichkeiten gibt. Und das ist Freiheit: aus dem Angebot wählen dürfen, nicht müssen, und mit dem eigenen Lösungsansatz selbstbestimmt zu entscheiden. Wäre da nur nicht die Angst ... „... der Versuch ist gefährlich, die Entscheidung schwer ...“ Welche Ängste können eine Lehrerin geradezu heimsuchen, wenn sie sich auf einen derartigen Versuch einlässt? – Gedanken wie ... und wenn jetzt alle die Arbeit verlassen?... ... und wenn ein Streit unter den Kindern um die beste/die einzige Lösung ausbricht?... ... und wenn Sarah untröstlich weiterweint?... ... und wenn ich selbst die beste Lösung nicht finde?... ... und wenn meine beste Lösung von Sarah nicht angenommen wird?... ... oder wenn Sarah eine Lösung wählt, die ich nicht für gut halte?... ... und wenn die (schon bekannte) Oma auf einmal vor der Klassentür steht?... ... und wenn ... und wenn ... und aber ... und wenn ... und wenn und aber ... ... und tatsächlich: Manchmal wird alles ganz anders und viel schwieriger als erwartet. Na wunderbar! Jetzt gilt es für die Lehrerin, neue Möglichkeiten in der Schwierigkeit zu entdecken und eine Erweiterung ihres Handlungsspielraumes erfahren zu dürfen. Nannten wir nicht Schule einen Ort des Lernens für alle Beteiligten? „... die Kunst ist lang ...“ In unserem Zitat geht es um die Kunst, und die Kunst der Beziehungsfähigkeit stellt ohne Zweifel hohe Anforderungen an Lehrer/innen. Diese Kunst setzt lebenslanges Lernen an der eigenen Persönlichkeit voraus. Und selbst bei besten Voraussetzungen einer reifen, eigenverantwortlichen LehrerinnenPersönlichkeit besteht die Gültigkeit der aphoristisch zitierten Tat-Sachen: die Kürze der Zeit, die Flüchtigkeit der Gelegenheit, die Gefährlichkeit des Versuches und die Schwierigkeit der Entscheidung. Nochmals: Selbst unter besten Voraussetzungen kann es möglich sein, dass Lehrerinnen ihr eigenes Gefühl der Hilflosigkeit entweder nicht von dem des Kindes unterscheiden können oder es nicht als Ausdruck der Hilflosigkeit des Kindes identifizieren können. Steht das eigene Erleben im Vordergrund, ist der freie Blick auf die psychische Realität des Kindes nicht möglich. Diese Perspektive erst würde die Annahme des Kindes sowie Sympathie und Solidarität für seine Situation ermöglichen. 93 Das Gefühl der Hilflosigkeit im Kind – oft bedingt durch sein bisheriges Erleben und Mangel an Handlungsalternativen – und daraus abgeleitete Inszenierungen zeigen die Verzweiflung fehlender Ich-Stärke. Kann ein Lehrer/eine Lehrerin das eigene Erleben als Übertragung der Gefühlswelt des Kindes erkennen, bleibt seine/ihre Handlungsfähigkeit bestehen. Der/Die Lehrer/in wird in der Beziehung weiterhin bemüht sein, den Selbstwert des Kindes zu erhalten und seine Entwicklung zu fördern. „ Ach Gott! Die Kunst ist lang Und kurz ist unser Leben. Mir wird, Bei meinem kritischen Bestreben, Doch oft um Kopf und Busen bang. Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben, Durch die man zu den Quellen steigt! Und eh man nur den halben Weg erreicht, Muß wohl ein armer Teufel sterben. (Wagner in „Faust“) “ Und wie sind nun „die Mittel zu erwerben, durch die man zu den Quellen steigt“? Lehrer/innen werden im Schulalltag immer wieder mit eigenen Bedürfnissen konfrontiert, in der Person des Schülers/der Schülerin begegnet jeder Lehrer/jede Lehrerin immer auch sich selbst. Gleichzeitig stellen die Bedürfnisse des Kindes höchste Anforderungen an Lehrer/innen, zusätzlich zu den eigenen, meist über-fordernden Erwartungen. Hier ist die Fähigkeit der Lehrer/innen gefordert, die eigenen Gefühle als solche zu erkennen und sie in Bezug zur aktuellen Situation zu setzen. Das bedeutet einen Wechsel der Perspektive: weg vom Verhalten, hin zum Erleben. In unserer Illustration durch die Schülerin Sarah hieße die Perspektive „Verhalten“, dass sich die Lehrerin auf das Weinen konzentriert, auch darauf, dass andere Schüler/innen den Arbeitsplatz unaufgefordert verlassen. Die Lehrerin in unserem Beispiel richtet den Fokus jedoch auf das Erleben und initiiert damit nachhaltige Erfahrungen für alle Beteiligten, Lernen eben. Ohne Kenntnis der jeweils eigenen Persönlichkeitsstruktur, also ohne entsprechende Selbsterfahrung, fehlt in der aktuellen Situation eine tatsächliche Wahlmöglichkeit. Die eigene Befindlichkeit, nämlich die der Lehrerin, geht bevor und bestimmt die Antwort an das Kind. Kehren wir noch einmal zu unserem ersten Beispiel zurück: der Schüler Patrick, der, „Peppo, hopp!“, die Puppe ergreift und in seinem Angebot an die Lehrerin letztendlich nicht wahrgenommen wird. Uns fällt auf, dass die Lehrerin mit der Aussage „Ich halte ihn sonst nicht aus.“ eine Grenze erkennt und dadurch Kompetenz beweist. Die Grenzen wahrzunehmen bedeutet dann Erkenntnis, wenn die Lehrerin daraus die Bereitschaft zu weiteren Fragen entwickeln kann. Nietzsche sagt: „Werde, der du bist!“, und wir denken, diese Aufforderung oder Forderung an den Menschen impliziert als erste Frage diese: Wer bin ich? Und unmittelbar daran anschließend: Was brauche ich, um zu werden, wer ich bin? Für die Lehrerin heißt das: Was brauche ich, um diese Situation bewältigen zu können? Unterstützt werden unsere Thesen durch ein, wie uns scheint, ganz besonderes Zitat von Hartmut von Hentig, der schreibt: „Die Persönlichkeit des Lehrers sei sein bestes Curriculum.“ Persönlichkeitsbildung aber ist ein dynamischer Prozess und durch Aus- und Weiterbildung niemals zu vollenden, sehr wohl aber durch diese anzubieten, zu initiieren, zu begleiten und letztendlich auch immer wieder zu fordern. 94 Bleibt das Vertrauen: das Vertrauen in uns selbst und in die eigenen Fähigkeiten, in die Dynamik der eigenen Entwicklung und in die der uns anvertrauten Kinder. Entwicklung lässt sich nicht verordnen. Sie geschieht zum einzig möglichen und daher richtigen Zeitpunkt. Manchmal wie zur Bestätigung, und manchmal zu unserer Überraschung. Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit! „ An einem dürren Ast Ist eine Blüt’ erblüht Hat sich heut nacht bemüht Und nicht den Mai verpaßt. Ich hatt’ so kein Vertraun Daß ich ihn schon verwarf Für Anblick und Bedarf Hätt ihn fast abgehaun. (Bert Brecht) “ 95 „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor“ „Entlastungsstrukturen“ Referent: Dr. Stefan Allgäuer Was braucht es für Bedingungen, dass wir Hilfsstrukturen anbieten können, die tatsächlich auch bei denjenigen Entlastung erreichen, die von Gewalt, von psychischer und anderer Gewalt betroffen sind? Diesen Fragen will ich nachgehen. Doch dazu müssen wir zuvor sozusagen einen Blick hinter die Kulissen werfen. Im Wechselbad der Gefühle Alle, die wir im psychosozialen Umfeld arbeiten, arbeiten in einem Spannungsfeld: Einerseits müssen wir uns als Profis unserer Schwächen, unserer Unzulänglichkeiten klar sein, müssen uns unser Nicht-Erreichen und manchmal erfolgloses Bemühen offen eingestehen. Andererseits müssen wir immer wieder dokumentieren, nachweisen, begründen, erklären, dass das, was wir tun, auch effektiv ist, Resultate bringt, notwendig ist – denn sonst bekommen wir keine Finanzierung. In diesem Wechselbad der Gefühle befinde auch ich mich oft in meiner Arbeit. Wenn man das Thema psychische Gewalt und andere Gewalt in all seiner Differenziertheit anschaut, dann sieht man vier unterschiedliche Handlungsfelder für alle, die in diesem Bereich tätig sind. Damit meine ich nicht nur Profis, nicht nur jene, die dafür bezahlt werden, sondern alle, die in einen bestimmten Bereich dafür zuständig sind und die entsprechende Kompetenz mitbringen; das sind auch Eltern, das sind natürlich die Pädagogen und Pädagoginnen, sind viele andere mitwirkende Personen auch. Die vier Handlungsfelder von psychischer Gewalt + + subjektive Gewalterfahrung: Behandlung und Unterstützung S U B J. massive, sichtbare Gewalt und Reaktion: Behandlung, Schutz und Maßnahmen 3 E R L E B E N 1 Alltagssituationen: Prävention, Erziehung und Gesellschaft Gewalt mit wenig (sichtbarer) Reaktion: Beobachtung, Begleitung, Sorge und Sicherung 4 2 – 96 – INTENSITÄT ++ Wenn wir das Thema „psychische Gewalt“ und „Gewalt“ anschauen, dann gibt es zwei unterschiedliche Vektoren, die eine Rolle spielen: zum einem (untere waagrechte Linie) der Vektor der Intensität des Erlebens, also wie stark die Intensität der Gewalt ist, wie stark die Gewalt scheinbar oder wirklich ist; auf der anderen Seite die vertikale Linie, wo wir unterscheiden können, wie ein Kind oder ein Jugendlicher jeweils die unterschiedliche Gewalt erlebt, denn das ist ja nicht immer das Gleiche. Wenn man das dann in einem einfachen Schema auflöst, ergeben sich ganz grob und ganz unscharf vier unterschiedliche Handlungsfelder für Entlastungsstrukturen. Und diese vier Handlungsfelder sind: zum einen jener Bereich (1, rechts oben), in dem es eine hohe Intensität von Gewalt gibt (wie auch immer die ausgesehen hat). Und auf der anderen Seite ist jener Bereich, wo ein starkes subjektives Erleben stattgefunden hat, wo Kinder, Jugendliche entsprechend stark reagieren, in welche Richtung auch immer. Das ist der Bereich, den wir uns in den heutigen Referaten schon vielfach angeschaut haben, wo es Behandlung, Schutz, Maßnahmen auf allen Ebenen braucht, wo es sehr intensive Hilfs- und Helfermaßnahmen braucht. Der zweite Bereich (2, rechts unten), in dem viel Gewalt aufscheint und viel Gewalt vorhanden ist, in dem aber Kinder, Jugendliche wenig oder sichtbar nicht besonders darauf reagieren. Das ist jener Bereich, wo wir all jene Maßnahmen und Handlungen setzen müssen, bei denen es darum geht, zu beobachten, zu begleiten, Sorge und Sicherung zu gewährleisten. Hier müssen wir genau schauen, ob diese subjektive Bewältigung nur eine scheinbare oder eine wirkliche ist. Vielleicht wird hier etwas nur versteckt und kommt dann später in einer anderen Form wieder hoch. Das ist jener Bereich, wo gerade auch die Mitarbeit von Pädagogen und Pädagoginnen, Eltern, anderen Berufen wie Kindergärtner/innen usw. gefordert sind, weil wir – die Spezialist/innen – in verschiedenen Situationen nicht anwesend und in vielen Lebensbezügen nicht nahe genug „dran“ sind. Der dritte Bereich (3, links oben) ist jener, in dem Menschen subjektiv sehr intensiv auf irgendwelche Dinge reagieren, die mit Gewalt zusammenhängen, wo aber auf der anderen Seite der Zusammenhang mit der Gewalt – mit dem, was tatsächlich passiert ist – noch nicht oder nicht eindeutig festgestellt werden kann. Auch das kennen Sie wahrscheinlich aus Ihrer Arbeit – und gerade hier ist es wichtig – hier sind vor allem die ambulanten Dienste und Angebote gefragt –, das sehr ernst zu nehmen und den Menschen die Möglichkeit zu geben, in Kontakt mit sich, mit ihrem Erleben und ihrem Erfahren zu kommen; das ist eine ganz andere Form der Unterstützung in diesem Bereich. Und viertens jener Bereich (4, links unten), wo es um die scheinbaren Alltagssituationen geht, wo es darum geht, im präventiven Sinn, im pädagogischen Sinn, im Sinn von Erziehung, im Sinn von Sozial- und Gesellschaftspolitik sensibel zu werden. Sensibel zu werden überhaupt im Umgang mit dem Thema Gewalt mit- und untereinander. Das also sind die vier Handlungsfelder. Ich werde im Folgenden zwei Bereiche zum Thema „Entlastungsstrukturen“ ausführen und dann noch einen kleinen dritten Punkt zum Thema „Alltagssituationen und Prävention“. Auch die Kuh muss ins Zimmer Die erste Frage ist: „Was müssen wir tun, damit wir bei Kindern, Jugendlichen, die im Gewaltkontext mit Gewalt konfrontiert waren, eine Entlastung erreichen?“ Ich möchte diese Frage sehr bewusst immer wieder so stellen, weil wir als Profis nicht nur darauf schauen dürfen „Was ist die richtige Methode? Was muss man tun? Was ist 97 Vorschrift?“ usw., sondern eben immer wieder darauf schauen müssen: „Was können wir tun, damit der oder die Betroffene auch tatsächlich etwas spürt und tatsächlich etwas in ihm/in ihr bewirkt wird?“ Was braucht es, damit Kinder und Jugendliche Entlastung erleben? Wir haben es da mit einem schwierigen und komplexen Thema zu tun, und das möchte ich mit einer kleinen Geschichte noch etwas verdeutlichen. Oft können wir erst helfen, wenn Gewalt eskaliert. Ein Mann kommt zum Meister und sagt: „Meister, ich brauche dringend Hilfe, sonst werde ich verrückt. Ich lebe mit meiner Frau, den Kindern und Schwiegereltern in einem einzigen Raum. Wir sind mit unseren Nerven am Ende, wir brüllen uns an und schreien uns an. Es ist die Hölle. Was soll ich nur tun?“ „Versprichst du alles zu tun, was ich dir sage?”, fragt der Meister. „Ich schwöre, ich werde es tun“, antwortet der verzweifelte Mann. „Gut. Wie viele Haustiere hast du?“ „Eine Kuh, eine Ziege und 10 Hühner.“ „Gut, nimm sie alle zu dir ins Zimmer, dann komm in einer Woche wieder“. Der Hilfesuchende war entsetzt, aber er hatte versprochen zu gehorchen. Also nahm er die Tiere ins Haus. Eine Woche später kam er wieder, ein Bild des Jammers. Er stöhnte: „Ich bin ein Wrack; der Schmutz, der Gestank, der Lärm, wir sind alle am Rand des Wahnsinns.” „Nun geh nach Hause“, sagte der Meister „und bring jetzt die Tiere wieder nach draußen.“ Der Mann rannte den ganzen Heimweg und kam am nächsten Tag freudestrahlend zum Meister zurück. „Wie schön ist das Leben. Die Tiere sind draußen, die Wohnung ein Paradies, so ruhig, so sauber, so viel Platz.“ Ich hab das Beispiel nicht darum gebracht, weil man uns Helfern oft vorwirft, dass wir bestenfalls die Probleme lösen, die wir selber verursachen. Ich habe es deswegen gebracht, weil wir uns oft und gerade bei diesem Thema in der schwierigen Situation befinden, abwarten zu müssen, bis Gewalt eskaliert. Erst dann können wir helfen. Wir müssen wie im Bild dieser Geschichte noch die Kuh und die Ziegen hineinstellen, um überhaupt etwas tun zu können. Das trifft vor allem oft die Helfer im öffentlichen Bereich, aber manchmal auch im freiwilligen Bereich. Die Menschen müssen oft erst so viel Druck, so viel Belastung haben, dass sie dann auch Hilfe suchen und Hilfe annehmen. Im unten stehenden Schaubild sind 4 Dimensionen skizziert, die beschreiben, welche Art von Hilfe bei oder nach Gewalterfahrungen entlastend wirkt: Entlastung bei/nach Gewalt 98 rasch, konkret, spürbar (multi-)professionell klar wertend ganzheitlich 1) Gewalt fordert: rasches konkretes Handeln Entlastung nach Gewalt braucht zum einen rasches, konkretes für den oder die Betroffenen spürbares Handeln. Sie wissen, Gewalt ist häufig etwas, das unmittelbar erfolgt, das unmittelbar erlebt wird, das zumeist ungeplant und unvorbereitet kommt, und Menschen, die deshalb Hilfe suchen, brauchen ganz rasch etwas ganz Konkretes. Um zu entlasten, müssen wir also rasch konkrete Schritte vor- und wahrnehmen. Solche Schritte sind: Überlegen: Was tut wer? Was geschieht als Nächstes? Was mache ich? All das ist auch mit dem betroffenen Kind oder Jugendlichen zu kommunizieren. Auch wenn Kinder das vielleicht noch nicht ganz verstehen, so spüren sie dann doch, dass da jetzt etwas geschieht. Hilfe, Entlastung erfordert also rasches, konkretes, eben für die Betroffenen spürbares Handeln. Ein Beispiel: In einer kleinen Gemeinde wurde eine Missbrauchsituation bekannt. Ein junger Erwachsener lockte immer wieder jugendliche Burschen, die er über seine Arbeit als Jugendführer kennen gelernt hatte, zu sich nach Hause. Dort zeigte er ihnen pornografische Videos usw. und missbrauchte die Jugendlichen zum Teil auch. Um zu entlasten, müssen wir rasch konkrete Schritte vor- und wahrnehmen. Schon als die ersten Erhebungen und Ermittlungen liefen, wurde die „Geschichte“ öffentlich. Medien hatten irgendwie Wind davon bekommen und berichteten darüber. Und das zu einem Zeitpunkt, als ein Teil der betroffenen Eltern noch gar nichts davon wusste. Es wurde öffentlich, bevor einige der betroffenen Kinder und Jugendlichen überhaupt gewusst haben, dass ihre Erfahrungen jetzt an die Öffentlichkeit kommen werden. In dieser Situation war (und ist) es ganz besonders wichtig, so rasch wie möglich alle Beteiligten und Betroffenen zusammenzuholen. Es muss mit den Eltern und soweit möglich mit den Kindern, den Lehrer/innen, mit dem Pfarrer, mit dem Arzt/der Ärztin, also wirklich mit allen Beteiligten darüber gesprochen werden, was jetzt geschehen wird, wer was tun wird etc. Missbrauchsituation in einem kleinen Dorf – Medien üben psychische Gewalt aus. Da geschah plötzlich etwas ganz Interessantes: Am ersten Tag sind die Zeitungen voll mit „Missbrauch in der Gemeinde X“ und „Jugendführer missbraucht Kinder“ usw. Zum Teil wurden in den Zeitungen Bilder gezeigt, die zur Folge hatten, dass sich die Kinder nicht mehr aus dem Haus trauten, auch die, die gar nichts damit zu tun hatten. Es wurde also nochmals und ganz massiv psychische Gewalt ausgeübt. Am nächsten Tag jedoch waren die Medien plötzlich voll von Berichten wie „Hilfe in der Gemeinde X“. Das war der erste Schritt, um die Situation zu deeskalieren. Man sprach nicht mehr nur über die Dramatik der Geschehnisse, sondern über den Weg, wie man jetzt möglichst allen Beteiligten weiterhelfen kann. 2) Gewalt fordert: werten, ohne zu entwerten Ein zweiter Punkt: Im Umgang mit Gewalt sind wir als Helfer gefordert, klar zu werten. Und das ist durchaus etwas anderes als das, was wir in anderen Bereichen lernen; wo wir als Helfer nämlich gefordert sind, neutral, objektiv oder einfach zuhörend zu sein. In der Arbeit mit dem Thema Gewalt sind wir gefordert, klar zu werten, nicht abzuwerten und nicht andere schlecht zu machen, aber doch deutlich annehmend, unterstützend, akzeptierend zu sagen „Das ist falsch. Das ist ein Verhalten, das nicht in Ordnung ist“ und dem Kind, dem Jugendlichen so auch quasi diesen Part zu verstärken oder eine Zeit lang auch abzunehmen. Die schwierigste Arbeit ist diejenige mit Opfern, die sagen: „Da war doch nichts. Der hat doch nix gemacht. Den darf man doch nicht verurteilen.“ Normalerweise sollen Helfer/innen neutral, objektiv oder einfach zuhörend sein. Hier müssen sie klar werten. 99 Ihnen in langer Arbeit deutlich zu machen, dass ihr subjektive Erleben, das vielleicht zwiespältig ist, etwas anderes ist als ein objektives „Richtig“ oder „Falsch“ und dass es eben Situationen gibt, die so nicht richtig sind, die also Übergriffe sind, ist eine schwierige Aufgabe. Ich denke, Entlastung braucht dieses klar Wertende, ohne dass wir dadurch abwerten, ohne dass wir dadurch den Anderen schlecht machen, ohne dass wir dadurch etwas kaputt machen. 3) Gewalt braucht: multiprofessionelles Handeln Wir müssen der skeptischen Öffentlichkeit deutlich machen, dass gerade mit Hilfe unserer Disziplinen Entlastung gebracht werden kann. Ein dritter Punkt: Entlastung bei/nach Gewalt braucht professionelles oder zum Teil multiprofessionelles Handeln. Gerade in einer Zeit, wo das Soziale mehr mit Sozialschmarotzer assoziiert ist als mit Solidarität, sollten wir, die Professionellen in diesem Bereich, auch deutlich machen, dass es hier Fachkompetenz braucht, um Kindern und Jugendlichen zu helfen. Wir machen uns durch unsere – berechtigten – Zweifel oft schlechter, als wir sind. Die professionellen Hickhacks oder die öffentlichen Diskussionen unter verschiedenen Berufsgruppen bzw. Repräsentant/innen von unterschiedlichen Institutionen tun uns keinen guten Dienst. Wir sollten viel mehr einer doch sehr skeptischen Öffentlichkeit deutlich machen, dass unsere Disziplinen – die pädagogischen, die sozialarbeiterischen, die psychologischen und alle anderen – ganz wichtige Bestandteile für eine Entlastung bringen können und müssen. 4) Gewalt braucht: ganzheitliche Betrachtung Das soziale Umfeld, die Beziehung zu den Täter/innen, alles muss mit einbezogen werden. Und schließlich als Viertes: Es ist wichtig, im Sinne der Entlastung auch ganzheitlich hinzusehen. Ganzheitlich meine ich hier in dem besonderen Sinn, dass man sich vergegenwärtigen und wissen muss, dass das Kind in einem spezifischen Umfeld lebt, dass das Kind möglicherweise in ambivalenten Beziehungen mit den Tätern konfrontiert ist, und im Sinn von Entlastung gibt es immer nur eine ganzheitliche Weiterentwicklung und nicht nur einen Teil daraus. Da sind oft Zwischenschritte notwendig, es braucht Zeit und Reifung. So weit zum ersten Teil, zur Entlastung. Als Geschäftsführer frage ich mich weiters: Wie muss ich Organisationen organisieren, Systeme und Arbeitsstrukturen organisieren, damit es uns eher gelingt, Entlastung auch tatsächlich in Bewegung zu bringen? Organisation der Organisation Sie kennen vielleicht folgende Geschichte. Gott betrachtete nach der Erschaffung der Welt zufrieden sein Werk. Und auch der Teufel betrachtet die Schöpfung mit Wohlgefühl, auf seine Weise natürlich. Sichern die Strukturen, dass das, worum es geht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht? 100 Als er ein Wunder nach dem anderen begutachtete, da rief er immer wieder „Wie gelungen ist das alles. Lasst es uns organisieren und damit alle Freude nehmen.” Wir haben mittlerweile ein paar tausend Jahre Erfahrung mit der Frage der Organisation und der Struktur und haben gelernt, wie man auch Strukturen so organisieren kann, dass sie etwas zielorientierter sind und nicht nur destruktiv. Und wenn Sie Ihre eigenen Arbeitsstrukturen – seien es Ihre Organisationen oder das Gesamtsystem anschauen – betrachten Sie diese immer unter zwei Aspekten: l Zum einen nach der Frage „Sichern die Strukturen, dass das, worum es geht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht?” Viele Strukturen sind so konstruiert, dass dem nicht so ist. Da stehen dann Dinge wie, dass richtig abgerechnet ist, dass man keinen Schilling zu viel ausgibt im Mittelpunkt. Also organisieren Sie Strukturen so, dass das im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, was aus unser Perspektive im Zentrum stehen soll: dass es uns gelingt, Kindern und Jugendlichen bei und nach Gewalt zu helfen! Tragen die Strukturen dazu bei, dass es den Mitarbeiter/innen leicht gemacht wird, das zu tun, wofür sie bezahlt werden? l Zweitens. Stellen Sie sich die Frage: „Tragen die Strukturen dazu bei, dass es den Mitarbeiter/innen leicht gemacht wird, das zu tun, wofür sie angestellt sind?“ Auch hier muss ich mich manchmal selbstkritisch fragen und beobachten, dass es oft in Organisationen, in Teams, in Bereichen um ganz andere Dinge geht. Aber eine Organisation hat ausschließlich den Zweck, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass die Menschen, die darin arbeiten, das tun können, wofür sie bezahlt werden. Auch da könnten wir eine ganze Menge weiterentwickeln. Der Teufel steckt – in der Struktur Fragen wir uns weiter: Wo ist der Teufel bei den Strukturen am Werk? Nur zwei Aspekte dazu. Zum einen führen wir immer wieder Ablenkungs- und Dauerbrennerdiskussionen, die nichts bringen. Fragen wie „Was ist besser, privat oder öffentlich, GmbH oder Verein?“ kennen Sie. Ich glaube, aus dem Aspekt der Hilfe heraus sollten wir nur darauf schauen, was sind die Stärken und die spezifischen Bedingungen von einem Bereich, und was kann jemand besonders gut. Diese Fragen kann man auf anderer Ebene diskutieren, wenn man viel Zeit hat. Da gäbe es viel dazu zu sagen, aber im Sinne der Hilfe sollten wir Folgendes in den Mittelpunkt stellen: Was können wir besonders gut im Hinblick auf diese Kinder, Jugendlichen, die uns brauchen? Zum Zweiten achten Sie auf Krisensymptome von Institutionen oder Organisationen. Zum Beispiel, wenn es zu viele Hierarchieebenen gibt, die für einen einzelnen „Fall“ zuständig sind oder wenn es zu viele unterschiedliche Bereiche gibt, die zusammenarbeiten müssen, damit man dann effektiv etwas tun kann; oder auch wenn viele Besprechungen mit vielen Menschen notwendig sind, damit man in einer konkreten Situation etwas tun kann. Das alles sind Hinweise, dass man strukturell im Sinne der Zielsetzung etwas besser machen könnte. Wenn es zu viele Hierarchieebenen gibt, die für einen einzelnen „Fall“ zuständig sind; wenn es zu viele unterschiedliche Bereiche gibt, die zusammenarbeiten müssen, damit man effektiv etwas tun kann; wenn viele Besprechungen mit vielen Menschen notwendig sind, dann sollte strukturell dringend etwas geändert werden. Worum geht es bei den Strukturen? Das folgende Diagramm soll wiederum vier Dimensionen aufzeigen: Strukturen sollen Zugänglichkeit sichern professionelle Arbeit ermöglichen Klienten- und Prozessorientierung ermöglichen Schutz bieten 101 ad 1) Die Tür offen halten Strukturen sollen so wirken, dass sie für alle jene, die Hilfe brauchen – in diesem Fall Kinder und Jugendliche – zugänglich sind. Wir müssen lernen, die Sprache unserer Klienten und Klientinnen zu sprechen. Wie können wir unser Angebot so strukturieren, dass alle jene, die unsere Hilfe brauchen, also die betroffenen Kinder und Jugendlichen, dieses Angebot auch annehmen können? Wie organisieren wir Niederschwelligkeit? Welche Sprache sprechen wir, wenn wir an unsere Klientinnen und Klienten herangehen? Auf viele der Prospekte und Folder, die wir erstellen, können wir zweifelsohne stolz sein. Aber die, die diese Folder eigentlich brauchen, verstehen sie nicht. Wie können wir die Öffentlichkeitsarbeit so gestalten, dass wir so präsent sind, dass die, die uns brauchen, auch wissen, dass es uns gibt? Ich weiß, das kostet Geld. Da müssen wir mit unseren Geldgebern diskutieren, gut argumentieren, denn Geld für Öffentlichkeitsarbeit ist nicht selbstverständlich. Aber unter dem Aspekt der Hilfe ist das ein ganz wichtiger Punkt. Wir müssen so präsent sein, dass alle, die uns brauchen, auch wissen, dass es uns gibt. In diesem Zusammenhang sollten wir uns auch überlegen, mit welchem Image wir arbeiten und uns präsentieren möchten. Ich glaube, das Image „Wir sind arm, krank und haben mit allen Problemen der Welt zu tun“ ist überholt. Wir sollten uns vielmehr selbstbewusst präsentieren und in der Öffentlichkeit transportieren, dass wir verantwortungsbewusst und professionell Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. ad 2) Der Struktur den Teufel austreiben Struktur muss Professionalität sichern. Wie schon oben aufgezeigt, eine Struktur soll Professionalität sichern, soll sichern, dass die Profis, die angestellt sind, die entsprechenden Rahmenbedingungen haben, um auch effektiv arbeiten zu können. Zweitens. Die Struktur soll so sein, dass die Mitarbeiter/innen Reflexionen machen, lernen können, sich weiterentwickeln können. Die Struktur soll die höchste Verantwortung bei den Menschen lassen und belassen, welche die konkrete Arbeit mit Kindern und Jugendlichen machen. Hierarchie kann das nicht sichern. ad 3) Sich an den Klienten orientieren Wir sollten darauf achten, wie wir uns organisieren und an wem (an wessen Zielen und Vorgaben) wir uns orientieren. Wir bieten keine Produkte an. Wenn wir sagen, wir machen Mediation, wir machen Psychotherapie in dieser und dieser Form, so denke ich, ist das eine Überbrückungshilfe, die wir brauchen. Das, was wir in der Arbeit erreichen können, ist das, was in der Interaktion zwischen Klient/Klientin und Helfer/Helferin entsteht. Und alle Methoden, die wir mit einbringen, sind unser Rüstzeug, aber nicht das Produkt, das wir „verkaufen“. Und Kinder/Jugendliche sind die – wichtigsten – Beteiligten an diesem Prozess. Sie gestalten ihn mit und machen ihn einmalig. ad 4) Auch die Helfer/innen schützen Viertens. Schließlich müssen Strukturen Schutz bieten. Schutz heißt auch Zeit, heißt auch Anonymität, Schutz vor Bekanntheit usw., und wir müssen auch darauf achten, dass wir uns selber als Helferinnen und Helfer schützen. Ich glaube, dass das eine wichtige Aufgabe von Organisationen in diesem Bereich ist. Auch Helfer/innen sind immer wieder von Gewalt bedroht, von Diffamierung und dem Öffentlich-verurteilt-Werden. 102 Conklusio Vor etwa 2000 Jahren ist ein Paradigmenwechsel im Umgang mit Gewalt im christlichen Abendland vor sich gegangen. Im Alten Testament lautete die Botschaft „Auge und Auge, Zahn um Zahn“. Das neue Testament brachte dann eine neue Botschaft und verbreitete sie in der Welt: „Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halte ihm auch die rechte Wange hin“. Wir haben es 2000 Jahre mit diesem System probiert. Ich glaube nicht, dass das der Weisheit letzter Schluss ist, und denke, wir sollten das weiterentwickeln. Ich habe bei der letzten Enquete die Frage gestellt, was denn das Gegenteil von Gewalt sei. Ich glaube nicht, dass das die Gewaltlosigkeit und das ewige Glück sind, das können wir höchstens in einer anderen Welt erreichen. Das Gegenteil von Gewalt ist nicht Gewaltlosigkeit. Ich glaube, dass das Gegenteil von Gewalt etwas ganz Banales ist: Wir sollten uns bemühen, unsere Unterschiedlichkeiten, unser Anderssein und unsere Verschiedenheit zu ertragen! Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte schließen: Ein paar Jäger haben zur Büffeljagd ein Flugzeug gechartert. Der Pilot setzt sie ab, und es wird vereinbart, wann er die Jagdgesellschaft wieder abholen wird. Nach den vereinbarten Tagen kommt er mit dem Flugzeug wieder zum Treffpunkt. Der Pilot wirf einen Blick auf die erlegten Büffel und sagt zu den Jägern: „Mit der Maschine kann ich aber nicht mehr als einen Büffel transportieren. Die anderen müssen Sie leider zurücklassen.” Da antworten die Jäger: „Im letzten Jahr erlaubte uns der Pilot, zwei Tiere in einer Maschine dieser Größe mitzunehmen.“ Der Pilot ist zwar skeptisch, sagt aber schließlich: „O.k., wenn Sie es voriges Jahr so gemacht haben, können wir es vermutlich wieder probieren.“ Die Maschine hebt ab, aber mit den Jägern und den zwei Büffeln an Bord kann sie kaum an Höhe gewinnen, und so prallt sie gegen eine nahe gelegenen Berg. Die Männer klettern aus dem Wrack heraus, blicken sich um, und ein Jäger sagt zu den anderen: „Was glaubt ihr, wo wir sind?” Da erwidert einer: „Ich glaube, wir befinden uns ungefähr zwei Kilometer links von der Stelle, an der wir letztes Jahr abgestürzt sind.“ „Da steh ich nun, ich armer Tor“ war der Übertitel meines Referates. Wie können wir erreichen, dass es uns immer ein bisschen mehr gelingt, das Anderssein des Anderen zu ertragen? Ich glaube, wir könnten das erreichen, wenn wir das tun, was der Pilot hätte tun sollen, nämlich den Mut zu haben, am richtigen Ort „ja“ und am richtigen Ort „nein“ zu sagen. Wir könnten das erreichen, wenn wir das tun, was die Jäger hätten tun sollen, nämlich aus der eigenen Erfahrung, aus der Erfahrung der Anderen und aus der Geschichte im Leben und in der Welt zu lernen. Und wir könnten das Aushalten unserer Unterschiedlichkeit und Vielseitigkeit erreichen, wenn wir das tun, was die Büffel hätten tun sollen, nämlich am Leben zu bleiben und uns selber zuzugestehen, dass wir verschieden und anders sein dürfen. Dann halten wir das auch bei den anderen besser aus, und das ist die beste Prävention von Gewalt. Wir müssen den Mut aufbringen, am richtigen Ort „ja“ und am richtigen Ort „nein“ zu sagen. 103 „Das Gute liegt uns oft so fern“ „Prognose versus Vorurteil: Stolperstein der Prävention“ Referentin: Dr. Eva Traindl Kann eine Prognose gleichsam zu einem Vorurteil und so zum Stolperstein der Prävention werden? Die folgenden zwei Fälle sollen Ihnen zeigen, welchen Einfluss Prognosen auf die weitere Entwicklung eines Kindes haben können. Urteilen Sie selbst, ob die Prognose hier zu einem Stolperstein der Prävention geworden ist. Die Geschichten von „Anna“ und „Berta“ Auch wenn ich jetzt von den beiden Fällen parallel berichte, lagen zwischen den beiden Geschichten Jahre. Am Anfang verlaufen die beiden Fälle fast ident, erst im Verlauf entwickeln sie sich dramatisch auseinander. Ein Mädchen wurde im Alter von einem Jahr fremduntergebracht, das andere Mädchen lebt heute noch bei seiner Familie. Ich stelle Ihnen also zwei Familien vor: Familie A. mit ihrer Tochter Anna und Familie B. mit ihrer Tochter Berta. Beide Kinder, Anna und Berta, habe ich von Geburt an betreut. Das eine Mädchen wurde im Alter von einem Jahr fremduntergebracht, das andere Mädchen lebt heute noch bei seiner Familie. Ich werde Ihnen jetzt über das erste Lebensjahr dieser Kinder berichten. Sie haben die Gelegenheit zu überlegen, welche Prognosen sich hier als richtig herausgestellt haben. Welche Vorhersagen – eine Prognose ist eine Vorhersage – wurden möglicherweise durch Vorurteile beeinflusst, wo wäre Prävention möglich gewesen, und wo war sie möglich? Die Vorgeschichte Ich erzähle Ihnen die Vorgeschichte, soweit sie mir damals bei der Geburt der Kinder bekannt war. Familie A. Mutter: 30 Jahre, geistig behindert, hat einen Sachwalter. Vater: 40 Jahre, keine geregelte Arbeit, da er an Depressionen leidet. Anna, das Kind der Familie A., wird nach unauffälliger Schwangerschaft entbunden. Sie ist unmittelbar nach der Entbindung beschwerdefrei. Annas Mutter ist 30 Jahre alt und hat eine geistige Behinderung. Vor ihrer Heirat mit Herrn A. lebte sie in einer Wohngemeinschaft für geistig behinderte Menschen. Sie hat einen Sachwalter, das heißt, sie ist nur unzureichend im Stande, ihre eigenen Belange wahrzunehmen. Ihr Mann, Herr A., ist 40 Jahre alt. Er ist seit längerer Zeit arbeitslos. Er kann keiner geregelten Arbeit nachgehen, weil er seit Jugendjahren an Depressionen und immer wiederkehrenden Angstzuständen leidet. Er wohnt – bis zur Geburt seiner Tochter – bei seiner Mutter. Ich erfahre von dem Fall durch die zuständige Sozialarbeiterin, die mich informiert und bittet, die medizinische Betreuung des Kindes zu übernehmen. Es besteht eine Auflage, welche die Eltern verpflichtet, das Kind regelmäßig zu kinderärztlichen Untersuchungen zu bringen. 104 Familie B. Auch Berta wird nach unauffälliger Schwangerschaft entbunden und ist nach der Entbindung beschwerdefrei. Bertas Mutter ist 30 Jahre alt und hat eine geistige Behinderung. Sie arbeitete in einer geschützten Werkstätte und besuchte die Sonderschule. Sie wohnt bis zur ihrer Heirat bei ihrer Herkunftsfamilie. Auch sie hat einen Sachwalter, da sie nicht im Stande ist, eigene Belange wahrzunehmen. Herr B., ihr Mann, ist 42 Jahre alt. Er ist seit einem Arbeitsunfall Frührentner und leidet seit diesem Unfall an epileptischen Anfällen. Auch in diesem Fall wurde ich vom zuständigen Jugendamt – es war ein anderes Jugendamt als bei der Familie A. – informiert, und die Sozialarbeiterin hat mich gebeten, die medizinische Betreuung zu übernehmen; das vor allem deshalb, weil ich Bertas Mutter schon von einer früheren Schwangerschaft und von einer früheren Geburt her gekannt habe. Sie werden jetzt nach diesen Erstvorstellungen wahrscheinlich nicht wissen, welches Kind in der Folge fremduntergebracht werden musste und welches nicht. Mutter: 30 Jahre, geistig behindert, hat einen Sachwalter. Vater: 42 Jahre, Frührentner, leidet an epileptischen Anfällen. Das erste Gespräch Ich lerne die Eltern von Anna und die Eltern von Berta kennen, als sie zu mir in die Ordination bzw. zu mir in die Elternberatung kommen. Ich gebe Ihnen eine Beschreibung der Eltern, damit Sie sich vorstellen können, wie sie ausgesehen und wie sie sich verhalten haben. Annas Eltern Annas Mutter, Frau A. ist sehr groß. Sie hat auffällige Gesichtsmissbildungen. Sie hat sehr starke Zahnfehlstellungen. Sie kann ihren Mund nicht schließen und speichelt sehr stark beim Sprechen. Ihre Kleidung ist vernachlässigt. Herr A. ist ebenfalls sehr groß. Er wirkt sehr ungepflegt. Er trägt seinen sehr langen Vollbart, der voller Essensreste ist. Im Gespräch macht Herr A. einen sehr höflichen und gebildeten Eindruck. Seine Frau antwortet auf Fragen mit stereotypen Sätzen oder Satzteilen, z.B. Oijoijoi oder Jajaja. Bei der Nachbesprechung mit der Sozialarbeiterin meint diese, dass die Mutter kaum in der Lage sein werde, Anna zu versorgen. Von einer Fremdunterbringung hat das Jugendamt nur deshalb bis jetzt Abstand genommen, weil der Vater sehr ernsthaft versprochen hat, seine Frau zu unterstützen. Außerdem findet die Familie noch Unterstützung durch die väterliche Großmutter, bei der sie einstweilen wohnen können. Die Kinderpflegerin wird bei Bedarf vorbeikommen und den Eltern helfen. Man wird aber – und Sie sehen hier die erste Prognose – um eine Fremdunterbringung nicht herumkommen. Frau A. hat Gesichtsmissbildung, Zahnfehlstellung, speichelt stark beim Sprechen. Herr A. wirkt sehr ungepflegt, jedoch höflich und gebildet Sozialarbeiterin: „Man wird um eine Fremdunterbringung des Kindes nicht herumkommen.“ Nun zur Erstvorstellung von Berta. Bertas Eltern Bertas Mutter ist mir – das habe ich schon erwähnt – von früher her bekannt. Bertas Mutter hat bereits eine Geburt hinter sich. Sie hat ihr Kind einige Jahre großgezogen, bis es fremduntergebracht wurde. Dieses Kind wurde fremduntergebracht, weil es, ebenso wie Frau B., eine Behinderung hatte. Es handelte sich um eine geistige Behinderung, die zunehmend schwer wiegender geworden ist. Weiters bestand bei diesem ersten Kind der Verdacht, dass die mütterliche Großmutter das Kind misshandelt hat. Das war aber nur ein Verdacht. Das Kind wurde 105 Frau B.s erstes Kind wurde fremduntergebracht. Unglücklich über diesen Verlust, will sie unbedingt noch ein Kind: Berta. Herr B. ist sehr aggressiv; hat Angst, dass sein Kind ebenso wie das erste Kind seiner Frau fremduntergebracht werden wird. fremduntergebracht, und Bertas Mutter, Frau B., war sehr unglücklich über den Verlust des ersten Kindes. Bei ihr hat ein sehr starker Kinderwunsch bestanden. Sie hat mehrmals versucht, das Kind aus dem Pflegeheim, in dem es untergebracht war, zu entführen. Als sie gesehen hat, dass das keinen Sinn hat, und da sie zu dieser Zeit Herrn B. kennen gelernt hat, ist sie wieder schwanger geworden – mit Berta. Herr B. wirkt in diesem ersten Kontakt auf mich ängstlich aber auch sehr aggressiv. Sein Arbeitsunfall liegt schon lange zurück. Epileptische Anfälle bekommt er nur dann, wenn er seine Medikamente nicht regelmäßig einnimmt. Bei oder nach diesen epileptischen Anfällen ist es aber auch schon vorgekommen, dass er aggressiv geworden ist. Herr B. äußert sehr aggressiv und sehr ängstlich seine Befürchtungen, dass dieses – sein – Kind so wie das erste Kind seiner Frau in ein Heim kommen könnte. Er hofft aber, dass jetzt alles in Ordnung kommt, weil er steht auf dem Standpunkt, „wozu hätte er denn die Frau überhaupt geheiratet, wenn sich jetzt wieder das Amt in alles einmischt“. Er versteht die Auflage nicht. Die ersten Lebensmonate Beide Kinder bleiben in ihrer Entwicklung zurück Annas Eltern suchen die Entwicklungsambulanz auf. Bertas Eltern lehnen alles, was vom „Amt“ kommt, als Kontrollversuch ab. Beide Mädchen beginnen eine Physiotherapie. Auch Bertas Sozialarbeiterin meint, dass sie um eine Fremdunterbringung nicht herumkommen werde. Ich erzähle Ihnen jetzt von den ersten Monaten im Leben von Anna und Berta. Es ergibt sich ein wesentlicher Punkt bei beiden Kindern. Beide Kinder bleiben in ihrer Entwicklung zurück. Das wird schon in den ersten Lebenswochen auffällig. Beide Kinder zeigen kaum Blickkontakt, sind in ihren Bewegungsmustern auffällig, und ich empfehle bei beiden Kindern – und bespreche das auch mit der Sozialarbeiterin – eine zusätzliche Diagnostik und Therapie in einer Entwicklungsambulanz. Die Eltern gehen mit diesem Problem unterschiedlich um. Annas Eltern sind dem gegenüber positiv eingestellt. Sie suchen die Ambulanz für Entwicklungskontrolle und Therapie auf und beginnen eine Physiotherapie mit Anna. Bertas Eltern haben das Gefühl, dass sie in dieser – es wird in Wien als Sondermutterberatung bezeichnet – Beratungsstelle vom Jugendamt zusätzlich noch kontrolliert werden. Der Vater sagt mir in der Ordination, er werde nichts annehmen, was von irgendwelchen Ämtern ausgeht, da er doch mit Ämtern so schlechte Erfahrungen gemacht hat. Ich bespreche mit der Sozialarbeiterin die Möglichkeit, dass man Bertas Eltern in ein Institut für Entwicklungsdiagnostik und -therapie zuweist, damit sich die Eltern selbst melden können. Und das funktioniert dann auch. Bertas Eltern melden sich selbst dort und beginnen ebenfalls mit Berta eine Physiotherapie. Die Sozialarbeiterin war in diesem Fall der Ansicht, dass auch diese Eltern um eine Trennung von ihrem Kind nicht herumkommen werden, vor allem auf Grund dessen, dass schon ein Kind fremduntergebracht ist und auch, weil sich der Vater den Sozialarbeiterinnen am Jugendamt gegenüber ausgesprochen aggressiv benimmt. Therapieverlauf Annas Eltern freuen sich über jeden Fortschritt. Bertas Eltern brechen den Kontakt zu Ärzte und Ärztinnen, Institut und Jugendamt ab. Annas Therapie Bei Anna wird mit der Physiotherapie begonnen. Die Eltern freuen sich über jeden Fortschritt. Allerdings beginnen sich Herrn A.s Depressionen zu verstärken, und er muss seiner Depressionen und seiner eigenen körperlichen Beschwerden wegen selbst sehr viele ärztliche Termine wahrnehmen. Er wünscht sich daher, dass die Auflage geändert wird, d.h. dass er nicht mehr so oft mit seiner Tochter zur Kontrolle kommen muss bzw. dass sie gelockert wird. Bertas Therapie . 106 Bertas Eltern besuchten freiwillig mehrmals das Institut für Entwicklungsdiagnostik. Auch mit Berta wurde eine Physiotherapie begonnen. Aber dann hat man ihnen vom Amt aus noch zusätzlich eine Intensivbetreuung empfohlen. Auf Grund dieser zusätzlichen Familienintensivbetreuung haben sich Bertas Eltern dazu entschlossen, den Kontakt zu dem behandelnden Arzt und Betreuungspersonal im Institut für Entwicklungsdiagnostik und auch zum Jugendamt überhaupt abzubrechen („Es wird uns zuviel!“). Bertas Vater hat mir noch einmal gesagt, er wäre der Meinung, man würde ihm nur deshalb so viele Therapien aufbrummen, damit man endlich einen Beweis findet, damit man ihm das Kind wegnehmen kann. Ich habe mich sehr bemüht, dass er das nicht so sieht, aber er ist bei seiner Meinung geblieben. Paradoxon Bei Anna konnte die Auflage geändert werden. Anna musste nur mehr einmal monatlich von mir untersucht werden, und jetzt passiert das Paradoxe in Annas Fall. Wir haben ein Übereinkommen getroffen, dass sie nicht mehr so oft zu einer Kontrolle in die Elternberatung und in meine Ordination zu kommen brauchen, sondern dass die Eltern ihre Energien dafür aufwenden sollen, die Physiotherapie im Institut für Entwicklungsdiagnostik mit Anna durchzuziehen. Trotz Lockerung der Auflagen kommen Annas Eltern öfter in Ordination und Beratung. Und da haben die Eltern ganz anders reagiert als erwartet. Sie brachten das Kind sogar öfter zu uns als vorher. Sie suchten uns auf, teilweise, um uns etwas zu erzählen, etwas zu zeigen oder uns um Rat zu fragen. Sie kamen sowohl öfters in die Ordination als auch in die Elternberatung, und ihre Termine im Institut für Entwicklungsdiagnostik hielten sie ebenfalls ein. Wir hatten das Gefühl, ihr Vertrauen gewonnen zu haben. Bertas Weg Bei Berta war es dann so, dass die Eltern wirklich alle Therapien und alle Kontakte abgebrochen haben. Ich sah den Vater noch einmal, als er mich bat, ihm eine Bestätigung zu schreiben, dass ich das Kind regelmäßig gesehen hätte. Damit würde er in der Gerichtsverhandlung einen Beweis haben, dass er die Auflage erfüllt hätte. Berta wird fremduntergebracht. Ich kann die Eltern nicht davon überzeugen, dass das nicht ausreicht, und ich erfahre dann in einem Folgegespräch mit der Sozialarbeiterin, dass den Eltern bereits vor einigen Wochen mitgeteilt worden war, dass sie das Kind nicht behalten können. Annas Weg Bei Anna zeigt sich im 10. und 12. Lebensmonat ein deutlicher Entwicklungsschub. Da die Eltern von Anna nicht in der Lage sind, die Therapien zu Hause durchzuführen – die Physiotherapeutin, die mit Anna arbeitet, sagt, sie hat das Gefühl, die Eltern arbeiten zwar im Institut mit, würden aber die gezeigten Übungen zu Hause nicht anwenden können – wird für Anna zusätzlich eine mobile Frühförderung empfohlen. Annas Eltern sind gegen die mobile Frühförderung. Erstmals sind die Eltern nicht einverstanden. Daraufhin versuchen wir in einem Gespräch ihre Ängste zu besprechen. Dabei zeigt sich, dass die Eltern zum Beispiel Angst davor haben, aus irgendeinem Grund gleichzeitig einen anderen Termin wahrnehmen zu müssen. Dann wären sie womöglich nicht zu Hause, wenn die Frühförderin kommt, und dann würden sie als unverlässlich gelten. Außerdem wollen sie keine Frühförderin ins Haus lassen, da sie sonst regelmäßig „zusammenräumen“ müssten. Wir beschließen Folgendes: Wir vereinbaren mit den Eltern eine Bedenkzeit und sagen, sie sollen selbst entscheiden, so wie andere Eltern auch, ob sie eine zusätzliche Förderung für ihr Kind in Anspruch nehmen wollen oder nicht. Sie haben ja schon einmal eine Förderung in Anspruch genommen. Sie haben sozusagen schon bewiesen, dass sie für ihr Kind etwas tun wollen. Ob sie zusätzlich etwas tun wollen, das überlassen wir ihnen. Nach der Bedenkzeit entscheiden sich Annas Eltern für die Frühförderung. Niemand spricht mehr von Fremdunterbringung. 107 Kurz vor Annas erstem Geburtstag haben sich die Eltern dann entschieden, die mobile Frühförderung für ihre Tochter in Anspruch zu nehmen. Herr A. sagt, er wolle nicht Schuld sein, dass sein Kind sich nicht gut entwickelt, und immerhin wäre er ja der Vater und damit in erster Linie für seine Tochter verantwortlich. Im Schutze des vertrauensvollen Umganges miteinander war er fähig geworden, sich auch selbst Verantwortung zuzutrauen. „Das Gute liegt uns oft so fern“ Das war der Übertitel dieses Referates, in dem es um Prognosen und um Beeinflussung durch Vorurteile gehen sollte. Wo wären Ihre Vorurteile gewesen? Wie hätten Ihre Prognosen ausgeschaut? Wie hätte Ihre Prognose ausgeschaut? Hätten Sie am Anfang der Geschichte gewusst, welches Mädchen fremduntergebracht wurde? Ich habe diese beiden Fälle für Sie ausgewählt, weil ich es so spannend finde, dass sie so ähnlich angefangen haben. Beide Mütter sind geistig behindert. Beide Kinder bleiben in ihrer Entwicklung zurück. Beide Väter sind krank. Es ist eine schlechte Ausgangslage, die es fast unmöglich macht, überhaupt an das Gute zu glauben. Man wird um eine Fremdunterbringung nicht herumkommen, lautet die Prognose nach der Geburt der Kinder. Was ist Prävention? Einfach gesprochen ist Prävention das Verhindern, dass etwas Schlimmeres passiert. Das Schlimme, die weitere Fehlentwicklung des Kindes, aber auch die Trennung des Kindes von den Eltern soll verhindert werden. Und genau das scheint in beiden Fällen am Anfang schwierig zu sein; sowohl bei Anna als auch bei Berta. Conklusio Zusammenfassend glaube ich, dass folgende Punkte hilfreich waren, dass Annas Geschichte gut ausgegangen ist. Auch Therapeuten und Therapeutinnen sind nicht vorurteilsfrei! Wir müssen uns bemühen, für die Sichtweise des Anderen offen zu sein; nicht nur für die Sichtweise der Eltern, sondern auch für die der anderen Therapeuten und Therapeutinnen. Alle mit dem Fall betrauten Personen, die Sozialarbeiterin, die Kinderpflegerin, die Physiotherapeutin, die behandelnden Ärzte/Ärztinnen, und das war nicht nur ich, das waren auch die Ärzte/Ärztinnen im Institut für Entwicklungsdiagnostik, haben ihre Vorgangsweise bei Bedarf miteinander abgesprochen. Das jetzt nicht so sehr im Sinne einer Supervision oder im Sinne einer Helferkonferenz, sondern wenn ein Punkt fraglich war, wenn Fragen aufgetaucht sind, dann haben wir miteinander gesprochen. Wir haben auch mit den Eltern gesprochen und sie über weitere Schritte informiert. Wir waren offen für die Sichtweise des Anderen, nicht nur für die Sichtweise der Eltern, sondern auch offen für die Sichtweise der anderen Therapeuten und Therapeutinnen. Auch Therapeuten und Therapeutinnen sind nicht vorurteilsfrei! Aber wir haben unseren Vorurteilen nicht nachgegeben, weil wir uns und den Eltern vertraut haben. Wir haben nicht an unserer anfänglichen Prognose, d.h. an unserer anfänglichen Vorhersage festgehalten, sondern wir haben uns überraschen lassen. Wir waren neugierig, wir waren erwartungsvoll, ob sie unseren Empfehlungen nachkommen können, und letztendlich sind wir – in Annas Fall – positiv überrascht worden. Dennoch: Was ich für wesentlich halte: Wir haben den Eltern von Anna von Anfang an sicherlich mehr (Kompetenz) zugetraut als Bertas Eltern. 108 Literatur: Amato, P. R. & Keith, B. (1991): Parental divorce and the well-being of children: A meta-analysis. Psychological Bulletin, 110, 26–46. Cowan, C. P. & Cowan, P. (1994): Wenn Partner Eltern werden. Der große Umbruch im Leben des Paares. Piper, München, (Original erschienen 1992: When partners become parents) Eitler, G. (1984): Der Vater – Erzieherverhalten in der Generationenfolge. Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien. Engfer, A. (1998): Kindesmißhandlung und Vernachlässigung. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (4., korrigierte Aufl., S. 960-966). Beltz, Weinheim. Findl, P. (1996): Die demographische Situation Österreichs im Jahr 1995. In Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Demographische Informationen 1995/96 (S. 93–106). 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Präsidentin und Lehranalytikerin im Österreichischen Verein für Individualpsychologie. Lehrbeauftragte an der Universität Wien Derschmidt, Dr. phil. Luitgard Bildungsreferentin des Forums Beziehung, Ehe und Familie der Katholischen Aktion Österreich Erwachsenenbildnerin mit Schwerpunkt Eltern-, Partner- und Familienbildung, verheiratet, Mutter dreier erwachsener Kinder. Friedl, Mag. Dagmar AHS-Lehrerin für Deutsch und Philosophischen Einführungsunterricht; Studium an der Bundesakademie für Sozialarbeit; seit 1995 Lehrerin in Mosaikklassen des Rudolf-Ekstein-Zentrums; Psychagogin in Ausbildung. Leixnering, Dr. med. Werner Facharzt für Psychiatrie und Neurologie/Kinder- und Jugendneuropsychiatrie, Psychotherapeut; Leitender Oberarzt des Bereichs Heilpädagogik und Psychosomatik an der Klinischen Abteilung für Allgemeine Pädiatrie der Universitätsklinik für Kinderund Jugendheilkunde Wien (bis Mai 2001); Seit Juni 2001 Ärztlicher Leiter der Abteilung Jugendpsychiatrie an der OÖ Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, Linz Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien Matschnig, Dr. jur. Beate Richterin des JGH Wien seit April 1978 Befasst mit Pflegschaftssachen und Jugendstrafsachen Neumayer, Dr. phil. Reinhard Klinischer und Gesundheitspsychologe Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Abteilung Jugendwohlfahrt Leiter des mobilen psychologischen Dienstes Psychotherapeut (Individualpsychologie) in freier Praxis. 111 Schimak Gertraud Pflichtschullehrerin, Psychagogische Betreuerin an Pflichtschulen, Psychotherapeutin, systemische Supervisorin; seit 1994 Leiterin des Rudolf-Ekstein-Zentrums, eines Sonderpädagogischen Zentrums für integrative Betreuungsformen in Wien mit den Schwerpunkten Psychagogische Betreuung sowie präventive Hilfestellung für Kinder der Schuleingangsphase (Modell Mosaik) Traindl, Dr. med. Eva niedergelassene Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde in Wien; in der Elternberatung tätig; Gründungsmitglied, Mitarbeiterin und Konsularärztin des Vereines „Unabhängiges Kinderschutzzentrum Wien“. Ärztin für psychotherapeutische Medizin in Ausbildung Werneck, Univ.-Ass. Mag.rer.nat. Dr.phil. Harald Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe seit 1993 Universitätsassistent an der Abteilung für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie (Leiterin: o.Univ.-Prof. Dr. Brigitta Rollett) des Instituts für Psychologie der Universität Wien; Lehrbeauftragter für Entwicklungspsychologie und Familienpsychologie; Leiter des Forschungsprojektes „Familienentwicklung im Lebenslauf (FIL)“; 2 Töchter Nähere Informationen unter: www: http://mailbox.univie.ac.at/harald.werneck 112