Tellermeister. - CONBOOK Verlag

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Tellermeister. - CONBOOK Verlag
Tellermeister.
Gut gezielt und doch daneben.
Ich musste dringend meine Tagesstrategie ändern.
Nur wie? Im Park konnte ich nicht bleiben, und
um direkt zu den »DeeJays« zu fahren, war es
immer noch viel zu früh. Schnell war ein neuer
– ich möchte fast sagen – schocktherapeutischer
Plan ausgedacht. Er war wirklich kontrapunktisch: Ich wollte für
eine Stunde zurück ins Haus fahren und mich sozusagen ins dortige
Getümmel stürzen, um ganz bewusst am lärmenden, rauchenden,
stinkenden und verschwenderischen Sonntagsleben teilzunehmen.
Die Idee beflügelte mich zusehends, und freie Straßen machten eine
flotte Rückfahrt möglich. Ich spuckte im Geiste in die Hände und
sah mich vor meinem inneren Auge schon die Grillzange schwingen
(Hunger hatte ich durchaus). Doch als ich am Haus ankam, waren
alle Vögel ausgeflogen. Nur Lene wischte weit vornüber gebeugt die
letzten Wasserperlen vom Lack der Motorhaube.
Dieser Sonntag war nicht mein Tag. Ich ging ins Zimmer und
nahm wie mechanisch einen gefalteten Zettel vom Boden auf, den
jemand unter der Tür durchgeschoben hatte. In klarer Handschrift
stand zu lesen: »Ich hätte dich gern vernascht, während sich mein
Freund und sein Kumpel draußen betrunken haben. Love Nora.« Die
Nachricht faszinierte und amüsierte mich so sehr, dass ich Lene, die
plötzlich hinter mir stand, zunächst gar nicht bemerkte. Ich erschrak
fürchterlich, als sie mich von hinten antippte. Ich knüllte das Blättchen hektisch zusammen und ließ es einfach zu Boden fallen. Die
Autowäscherin stand hinter mir mit einem Teller, auf dem ein Steak
und ein paar Kartoffeln lagen, in der einen Hand und einem exakten
Duplikat dieses Menüs in der anderen. Sie fragte, ob wir vielleicht
gemeinsam diese Kleinigkeit einnehmen wollten. Natürlich wollte
ich; der Snack kam wie gerufen.
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AUSZUG AUS FETTNÄPFCHENFÜHRER NEUSEELAND ISBN 978-3-934918-58-0
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Info zwischen den Zeilen von
Liebesbriefverfasser K.I.W.I. Love
Ein einfaches »Love« am Ende eines Briefes oder
einer ähnlichen schriftlichen Nachricht bedeutet:
»herzlichst« oder »mit herzlichem Gruß«. Keinesfalls drückt es aus, dass der Schreiber den Adressaten im beziehungstechnischen Sinne liebt. Das Gefühl der Liebe wird mit der klaren Aussage »I love you« schriftlich ausgedrückt.
Unter dem irritierenden Einfluss des bis dahin völlig verqueren
Tages erschien mir die kleine Engländerin von Bissen zu Bissen
immer reizvoller. Dazu passte das von ihr gewählte Gesprächsthema
wie ein guter Roter zum Grillfleisch: Laut eigener Aussage litt sie
sehr darunter, noch nie von einem objektiv betrachtet attraktiven
Mann begehrt worden zu sein. Immer hätte es nur mich solchen
Schmuddeltypen wie Noras mittäglichen Begleitern geklappt. Es
entwickelte sich eine launige Spaßdiskussion zwischen uns und mit
einem Schlückchen Sekt als Katalysator durfte ich wenig später als
Ausnahme die Lenesche Regel bestätigen. Lene war sehr bemüht,
locker und cool zu wirken, aber heraus kam dabei das krasse Gegenteil. Ich ließ sie das nicht spüren, doch es kostete mich viel Kraft,
der beziehungsgeschädigten jungen Frau die schlimmste Anspannung zu nehmen und ihr ein warmes, inniges Liebeserlebnis zu
vermitteln. Dann schlief sie tief und fest in meinem Zimmer ein.
Ich weckte sie nicht, als ich mich auf den Weg zu den »DeeJays«
machte.
Das Haus der Steuerberater lag am Ende einer Straße mit culde-sac. Es war eine auffallend gepflegte Wohngegend, die mich ein
bisschen an die Wisteria Lane erinnerte, in der diese ganzen überdrehten aber »verzweifelten Hausfrauen« aus der Fernsehserie leben.
Ich stellte »Bertie« aufgrund einer schwierigen Parksituation weiter
oben in der Hyde Road ab.
Allmählich fühlte ich mich besser und war zufrieden darüber, an
diesem die Sinne strapazierenden Sonntag wenigstens Lene mit dem
Bilderbuchbeispiel einer pfadfinderisch guten täglichen Tat zum tiefen Schlaf verholfen zu haben.
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Info zwischen den Zeilen von
Vorstadtstraßenplaner K.I.W.I. Cul-de-Sac
Einen »cul-de-sac« findet man sehr häufig in Neuseelands Wohngebieten. Das Wort kommt, wie man
unschwer erkennt, aus dem Französischen (wörtlich, vulgär: »Arsch des Sacks«). Trotzdem ist es nichts Unanständiges:
Tatsächlich wird damit eine Sackgasse mit Wendeplatte an deren Ende
bezeichnet. Bei längeren Straßen wird es dem Autofahrer per Schild mit
»No Exit« angezeigt.
Viele Häuser liegen hierzulande nicht an Durchgangsstraßen. Vor allem
solche mit der begehrten Cliff-Top- oder Standlage sind nur über Stichstraßen erreichbar, die mit einem solchen »cul-de-sac« enden.
Mit meinen sechs Tellern im Originalkarton lief ich recht gut gelaunt
die Straße hinunter zum Haus der Gastgeber. Ich hatte noch schnell
in einem Blumenladen ein paar orangefarbene Rosen für die Dame
des Hauses besorgt. Im Gehen fragte ich mich, ob wohl die vielen
abgestellten Autos alle zu den Gästen von Don und Joys come together gehörten? Die Antwort war schnell gefunden: Nein, gehörten sie
nicht, denn ich war einer der ersten Gäste, die am Haus der beiden
erschienen.
Die Eingangstür stand halb offen, aber höflichkeitshalber klopfte
ich natürlich an, ohne einzutreten. Es erfolgte keinerlei Reaktion. Ich
hörte, wie angenehme Chillout-Musik in mittlerer Lautstärke aus
dem Innern des Hauses drang – wahrscheinlich bemerkte man mich
deshalb nicht. Also trat ich vorsichtig ein.
So war es von den »DeeJays« auch beabsichtigt, denn kaum richtig
drin, hörte ich Joy laut rufen: »Mars, nur rein mit dir. Schön dich zu
sehen.« Sie stand an einem mannshohen Kühlschrank und sortierte
Flaschen und Dosen nach irgendeinem System. Die gut aussehende
und gepflegte Frau um die Fünfzig ließ alles stehen und liegen, um
mich zu umarmen, so als seien wir seit Jahren die dicksten Freunde.
Und als ob das noch viel zu flüchtig gewesen wäre, schob sie mir die
fingerdicke Scheibe einer zuckersüßen Kiwi in den Mund, als ob wir
Flirt und Frühstück »danach« hätten. Ich ließ die Zeremonie gern
über mich ergehen.
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Ich hatte wegen der mir ungeläufigen Eintrittsprozedur meine
Teller gleich hinter der Tür auf einem Tischchen stehen lassen, die
Rosen aber behielt ich die ganze Zeit in der Hand und übergab sie
nun der aufgedrehten Joyce mit einer geschauspielerten – de facto
albernen – mittelalterlichen Verbeugung und kreisender Armbewegung. Das fand die Gastgeberin allerdings besonders originell, und
ich musste nochmals eine Runde Herzen und Kosen über mich ergehen lassen.
Derweil trafen weitere Gäste ein. Große Fröhlichkeit erfüllte
zunehmend das Haus. Mir fiel auf, dass jeder, der neu hereinkam,
eine Platte, Schale oder Schüssel mit etwas Essbarem bei sich hatte:
Manchmal waren es rohe Steaks, Burgers oder Würste, dann wieder
Salate aller Art, aber ab und an auch süße Desserts und Naschereien.
Blanke Teller, wie von den »DeeJays« erbeten, hatte jedoch niemand
dabei!?
Dann schlug mir jemand von hinten auf die Schulter; es war
Donald, der mich kaum weniger überschwänglich als zuvor seine
Frau begrüßte – kein Händedruck natürlich, dafür aber eine zackige
Männerumarmung. Ich vermutete hinter all der Herzlichkeit nun
wirklich eine konzertierte Aktion von Paul und Sarah McNish, doch
plötzlich verspürte ich Siobhans Eltern gegenüber einen Anflug von
schlechtem Gewissen – zum einen, weil ich ihnen sicher zu Unrecht
eine Verschwörung antheoretisieren wollte, zum anderen wegen
der nachmittäglichen Intimität mit Lene. Ich neutralisierte dieses
säuerliche Gefühl sofort wieder mit mentalem Natron, nämlich der
Gewissheit, dass Siobhan die Nächte in Paihia in den Armen irgendwelcher reicher Jachtschnösel verbringen würde. Vertag ist Vertrag.
Aber ich vermisste Shiva ein bisschen und fand es in diesem Moment
sehr schade, dass sie nicht hier bei den »DeeJays« dabei sein konnte.
Don war gerade dabei, im Garten zwei Barbecues vorzubereiten, und nahm mich mit nach draußen. Dort warfen große Ereignisse ihre langen Schatten voraus (es sollte niemand Mangel leiden
müssen): Außer Dons beiden großen Grillgeräten sah ich mehrere
Wannen mit Eiswasser, in denen Weißwein, Sekt, Bier und Alcopops dümpelten, zwei weiß gedeckte Tische mit Rotweinflaschen
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und Sodawasser sowie einen Tisch mit stapelweise Geschirr (nanu?)
und viel Besteck. Doch das echte Partyzentrum bildete eine große,
sehr lange Tafel, die mitten auf dem (vermutlich in der Mittagszeit)
frisch gemähten Rasen stand. Die wuchtige Tafel aus Kauri Massivholz war inzwischen etwa zur Hälfte mit den mitgebrachten Speisen
belegt, und minütlich wurden neue Leckereien von den laufend eintreffenden Gästen dazugestellt.
Info zwischen den Zeilen von
Holzhacker K.I.W.I. Kauri-Tree
Kauri ist die größte heimische Baumart Neuseelands (auch Neuseeländische Kauri-Fichte oder
Kauri-Kiefer genannt) und gehört zur Ordnung der
Koniferen. Man findet diese Bäume hauptsächlich im nördlichen Teil der
Nordinsel.
Der Bestand der Kauri wurde mit der Ankunft der europäischen Siedler
(wegen der hervorragenden Eignung des Holzes im Schiffbau) stark
dezimiert. Der Kauribaum steht heute unter Naturschutz und darf nur
noch von den Maoris zu bestimmten traditionellen bzw. rituellen Anlässen gefällt werden.
Dennoch sind aktuell viele Produkte aus dem äußerst festen Kauriholz
erhältlich. Diese werden jedoch aus Kauristämmen hergestellt, die im
Sumpf versunken sind und heute für die Verarbeitung zu exklusiven und
dementsprechend teuren Möbelstücken aus dem Kaurisumpf gegraben werden.
Der größte Kauribaum ist der »Tane Mahuta« (»Der Herr des Waldes«)
und etwa 52 Meter hoch bei einem Stammumfang von 14 Metern. Er
wird auf ein Alter von 2.000 Jahren geschätzt.
»Mars, Martin, kiwi fruit picker«, rief Joyce quer durch Haus und
Garten (es muss sich um einen ersten Zwischenhöhepunkt der guten
Laune gehandelt haben, denn einige der Gäste lachten jäh auf ),
»Mars, darling, wenn Du eine plate dabei hast, stell’ sie doch einfach
zu den anderen dazu!«
Ich hatte derer sogar sechs dabei, aber mir schwante Fürchterliches. Mit stetig weicher werdenden Knien holte ich meinen Karton mit den Tellern vom Tischchen am Eingang ab und trug ihn
wie benebelt nach draußen, wo ich das 6-Teller-Set roboterartig (es
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funktionierten nur noch eine Handvoll kleinhirngesteuerter Reflexe)
auf der zentralen Kauriholztafel abstellte. Dann empfahl ich mich
auf »französisch«, schlich leicht geduckt, den Blick stur nach vorne
gerichtet, nach draußen, wo mein Mini bereits auf mich wartete, und
fuhr von Scham zu Tränen gerührt nach Hause...
Man muss kein Elefant sein, um sich im
Porzellanladen völlig auf dem Holzweg
zu befinden. Unser Kiwipflücker hat
es leider erst geahnt, als der Tritt ins
feinste Meissner Fettnäpfchen bereits
unvermeidbar war. Was lief hier schief?
Statt im blinden Eifer Teller kaufen zu gehen,
hätte Martin besser jemanden fragen sollen,
der sich mit Kiwi Life Style auskennt: »Bring a plate«
gehört zu einer der häufigsten Einladungsvarianten zu neuseeländischen (Grill-)Partys und Feiern.
Natürlich bedeutet »plate« in der wörtlichen Übersetzung u. a. auch
»Teller«. Und es soll auch schon Party gegeben haben, auf denen dem
Gastgeber tatsächlich das Essgeschirr ausging. Es wäre aber vermessen, wie Martin Horn es tat, davon als Standard auszugehen.
»Bring a plate« ist Kult in Neuseeland und bedeutet ganz einfach, dass
jeder Gast einen Essensbeitrag zum Fest leisten und ein Gericht zum
Teilen für alle mitbringen soll. Der entstehungsgeschichtliche Grundgedanke ist – ähnlich wie bei der deutschen Buddelparty – Kosten und
Aufwand für den Gastgeber zu reduzieren. Dabei muss es sich bei den
»plates« nicht unbedingt um fertig zubereitete Speisen handeln; auch
Rohprodukte wie Steaks, Hühnerteile usw. eignen sich bestens zum Mitbringen. Dieses Prinzip hat auch den Vorteil, dass man bei der Wahl
des Menüs eigene Präferenzen optimal berücksichtigen kann, falls man
zum Beispiel Vegetarier oder Meeresfrüchteallergiker ist.
Bei Feiern unter dem Motto »bring a plate« stellt der Gastgeber in der
Regel die Getränke und das Grillgerät bereit, aber, um auf Nummer
sicher zu gehen, sollte man im Zweifelsfalle immer rückfragen. Es ist
eben nicht nur peinlich, mit leeren Händen, sondern auch mit leeren
Tellern zu einer solchen Party zu erscheinen...
Das Nanumeter zeigt den subjektiv empfundenen Grad der Peinlichkeit und/oder Verlegenheit, der man in einer solchen Situation ausgesetzt sein kann. Auf einer Skala von 1 bis 10 bedeutet 10 die größtmögliche Verwunderung oder sogar Blamage.
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