1 TRÜBSALMÖRDER HIMMELSFEGER Gedichte zwischen Gott

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1 TRÜBSALMÖRDER HIMMELSFEGER Gedichte zwischen Gott
TRÜBSALMÖRDER
HIMMELSFEGER
Gedichte zwischen Gott und Welt
Aufgelesen von Wolfgang Neumann
INHALT
VOR-WORTE
Friedrich Nietzsche, Zu den höchsten und erlauchtesten Menschenfreuden
William Blake, Es gibt keine natürliche Religion
DIE GEDICHTE
Friedrich Rückert, Eingang
Clemens Brentano, Was reif in diesen Zeilen steht
Friedrich Nietzsche, An den Mistral
Des Knaben Wunderhorn, Die Welt geht im Springen
Friedrich Nietzsche, Der du mit dem Flammenspeere
Joseph von Eichendorff, Frische Fahrt
Friedrich Rückert, Gnosis
Matthias Claudius, Die Liebe
Dschelaleddin Rumi, Komm, der Liebe Sklave sei!
Bhartrihari, Die Stufen der Liebe
Friedrich Rückert, In Gesellschaft
Novalis, Hätten die Nüchternen
Johann Wolfgang von Goethe, Selige Sehnsucht
Hafis, Gestern zechend traumverloren
Friedrich Nietzsche, An Hafis
Hafis, Ich, und dem Wein entsagen!
August von Platen, Wenn ich hoch den Becher schwenke
Hafis, Gib mir jenen Wein, den alten
Hafis, Jetzt, da wie Paradieses Hauch
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Hafis, Schilt nicht weinbefleckte Zecher
Des Knaben Wunderhorn, Urlicht
Friedrich Rückert, In der natürlichen Religion geboren
Friedrich Rückert, Gar viele Wege gehn zu Gott
Friedrich Rückert , Ich sah empor, und sah in allen Räumen Eines
Johann Wolfgang von Goethe, Eins und alles
Johann Wolfgang von Goethe, Alles Vergängliche
Friedrich Nietzsche, An Goethe
Matthias Claudius, Der Mensch
Johann Wolfgang von Goethe, Genialisch Treiben
Quirinus Kuhlmann, Der Wechsel menschlicher Sachen
Friedrich Rückert, Chidher
Eduard Mörike, Früh im Wagen
Ludwig Tieck, Abreise
Friedrich Nietzsche, Der Wanderer
Joseph von Eichendorff, Auf einer Burg
Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Lied auf dem Wasser zu singen
Friedrich Rückert, Fahrt auf dem Strom am Herbstabend
Friedrich Rückert, Herbsthauch
Friedrich Nietzsche, Vereinsamt
Friedrich Rückert, Abendlied
Matthias Claudius, Die Sternseherin Lise
Eduard Mörike, Um Mitternacht
Johann Wolfgang von Goethe, Um Mitternacht
Friedrich Nietzsche, Um Mitternacht
Friedrich Rückert, Um Mitternacht
Matthias Claudius, Ein Lied für Schwindsüchtige
Matthias Claudius, Nach der Krankheit 1777
Matthias Claudius, Der Tod
Des Knaben Wunderhorn, Todesahndung einer Wöchnerin
Des Knaben Wunderhorn, Wo die schönen Trompeten blasen
Matthias Claudius, Kriegslied
August von Platen, Ist’s möglich, ein Geschöpf in der Natur zu sein
August von Platen, Es liegt an eines Menschen Schmerz
Matthias Claudius, Auf einen Selbstmörder
August von Platen, Hab ich doch Verlust in allem
Dschelaleddin Rumi, Er hat’s gemacht, was soll ich machen?
Friedrich Rückert, Ein Obdach
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Matthias Claudius, Osterlied
Dschelaleddin Rumi, Mit deiner Seele hat sich meine
August von Platen, Die Sterne scheinen, und alles ist gut
Barthold Hinrich Brockes, Gefährliche Verachtung der Welt
William Blake, Der Preis der Erfahrung
Friedrich Nietzsche, Der geheimnisvolle Nachen
Des Knaben Wunderhorn, Gedankenstille
Friedrich Nietzsche, Im Süden
Friedrich Nietzsche, Mein Glück
Friedrich Nietzsche, Unter Feinden
Friedrich Nietzsche, Diesen ungewissen Seelen
Matthias Claudius, Der Mann im Lehnstuhl
Barthold Hinrich Brockes, Die Herde Kühe
Matthias Claudius, Als der Hund tot war
Friedrich Gottlieb Klopstock, Die frühen Gräber
Eduard Mörike, Waldplage
Des Knaben Wunderhorn, Des Antonius von Padua Fischpredigt
Des Knaben Wunderhorn, Übersichtigkeit
Des Knaben Wunderhorn, Verlorene Mühe
Eduard Mörike, Nimmersatte Liebe
Eduard Mörike, Erstes Liebeslied eines Mädchens
Johann Wolfgang von Goethe, Die Liebende schreibt
Johann Wolfgang von Goethe, Warnung
Friedrich Nietzsche, Das Wort
Friedrich Nietzsche, Nach neuen Meeren
August von Platen, Wohl mit Hafis darf ich sagen
Des Knaben Wunderhorn, Steh auf, Nordwind
Alphabetisches Verzeichnis der Dichter und ihrer Gedichte
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VOR-WORTE
Friedrich Nietzsche
Zu den höchsten und erlauchtesten Menschen-Freuden, in denen das Dasein
seine eigene Verklärung feiert, kommen, wie billig, nur die Allerseltesten und
Bestgeratenen... der Geist ist dann ebenso in den Sinnen heimisch und zu Hause,
wie die Sinne in dem Geiste zu Hause und heimisch sind; und alles, was nur in
diesem sich abspielt, muss auch in jenen ein feines, außerordentliches Glück und
Spiel auslösen.
Und ebenfalls umgekehrt! – Man denke über diese Umkehrung bei Gelegenheit
von Hafis nach; selbst Goethe, wie sehr auch schon im abgeschwächten Bilde,
gibt von diesem Vorgange eine Ahnung. Es ist wahrscheinlich, dass bei solchen
vollkommenen und wohlgeratenen Menschen zuletzt die allersinnlichsten
Verrichtungen von einem Gleichnis-Rausche der höchsten Geistigkeit verklärt
werden.
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Willliam Blake
ES GIBT KEINE NATÜRLICHE RELIGION
Die menschliche Wahrnehmung ist nicht durch Sinnesorgane beschränkt. Sie
nimmt mehr wahr als die Sinne (selbst die schärfsten) entdecken können.
Die Vernunft, oder das Maß all dessen, was wir wissen, wäre anders, wenn wir
mehr wüssten.
Wer einer Beschränkung unterworfen ist, verabscheut sie. Der immergleiche öde
Kreislauf, selbst einer ganzen Welt, wird bald zu einer Tretmühle mit einem
unüberschaubaren Räderwerk.
Wenn das Viele dem Wenigen gleich wird, sobald man es besitzt, dann ist: Mehr!
Mehr! der Schrei der irregeleiteten Seele. Weniger als Alles kann den Menschen
nicht befriedigen.
Wenn jemand etwas begehren könnte, was er unfähig wäre zu besitzen, wäre
Verzweiflung sein ewiges Los.
Das menschliche Begehren ist unendlich, seine Erfüllung ist unendlich, der
Mensch selbst ist unendlich.
Folglich: Wer das Unendliche in allen Dingen sieht, sieht Gott. Wer nur
Maßverhältnisse sieht, sieht nur sich selbst.
Gott ist wie wir geworden, damit wir wie er werden.
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DIE GEDICHTE
Friedrich Rückert
EINGANG
Was du verstehest, reizt dich wenig; was du nicht
Verstehst, spricht dich nicht an; was willst du vom Gedicht?
Du willst mit Recht, es sei verständlich-unverständlich,
Vollendet an Gestalt, doch an Gehalt unendlich.
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Clemens Brentano
Was reif in diesen Zeilen steht,
Was lächelnd winkt und sinnend fleht,
Das soll kein Kind betrüben;
Die Einfalt hat es ausgesät,
Die Schwermut hat hindurch geweht,
Die Sehnsucht hat’s getrieben.
Und ist das Feld einst abgemäht,
Die Armut durch die Stoppeln geht,
Sucht Ähren die geblieben;
Sucht Lieb’, die für sie untergeht,
Sucht Lieb’, die mit ihr aufersteht,
Sucht Lieb’, die sie kann lieben.
Und hat sie einsam und verschmäht
Die Nacht durch, dankend in Gebet,
Die Körner ausgerieben,
Liest sie, als früh der Hahn gekräht,
Was Lieb’ erhielt, was Leid verweht,
Ans Feldkreuz angeschrieben:
„O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb’, Leid und Zeit und Ewigkeit!“
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Friedrich Nietzsche
AN DEN MISTRAL
Ein Tanzlied
Mistral-Wind, du Wolken-Jäger,
Trübsal-Mörder, Himmels-Feger,
Brausender, wie lieb ich dich!
Sind wir zwei nicht eines Schoßes
Erstlingsgabe, eines Loses
Vorbestimmte ewiglich?
Hier auf glatten Felsenwegen
Lauf ich tanzend dir entgegen,
Tanzend, wie du pfeifst und singst:
Der du ohne Schiff und Ruder
Als der Freiheit freister Bruder
Über wilde Meere springst.
Kaum erwacht, hört ich dein Rufen,
Stürmte zu den Felsenstufen,
Hin zur gelben Wand am Meer.
Heil! Da kamst du schon gleich hellen
Diamantnen Stromesschnellen
Sieghaft von den Bergen her.
Auf den ebnen Himmels-Tennen
Sah ich deine Rosse rennen,
Sah den Wagen, der dich trägt,
Sah die Hand dir selber zücken,
Wenn sie auf der Rosse Rücken
Blitzesgleich die Geißel schlägt, -
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Sah dich aus dem Wagen springen,
Schneller dich hinabzuschwingen,
Sah dich wie zum Pfeil verkürzt
Senkrecht in die Tiefe stoßen, Wie ein Goldstrahl durch die Rosen
Erster Morgenröten stürzt.
Tanze nun auf tausend Rücken,
Wellen-Rücken, Wellen-Tücken –
Heil, wer neue Tänze schafft!
Tanzen wir in tausend Weisen,
Frei - sei unsre Kunst geheißen,
Fröhlich – unsre Wissenschaft!
Raffen wir von jeder Blume
Eine Blüte uns zum Ruhme
Und zwei Blätter noch zum Kranz!
Tanzen wir gleich Troubadouren
Zwischen Heiligen und Huren,
Zwischen Gott und Welt den Tanz!
Wer nicht tanzen kann mit Winden,
Wer sich wickeln muss mit Binden,
Angebunden, Krüppel-Greis,
Wer da gleicht den Heuchel-Hänsen,
Ehren-Tölpeln, Tugend-Gänsen,
Fort aus unsrem Paradeis!
Wirbeln wir den Staub der Straßen
Allen Kranken in die Nasen,
Scheuchen wir die Kranken-Brut!
Lösen wir die ganze Küste
Von dem Odem dürrer Brüste,
Von den Augen ohne Mut!
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Jagen wir die Himmels-Trüber,
Welten-Schwärzer, Wolken-Schieber,
Hellen wir das Himmelreich!
Brausen wir...o aller freien
Geister Geist, mit dir zu zweien
Braust mein Glück dem Sturme gleich. – Und dass ewig das Gedächtnis
Solchen Glücks, nimm sein Vermächtnis,
Nimm den Kranz hier mit hinauf!
Wirf ihn höher, ferner, weiter,
Stürm empor die Himmelsleiter,
Häng ihn – an den Sternen auf!
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Des Knaben Wunderhorn
DIE WELT GEHT IM SPRINGEN
Die Sonne rennt mit Prangen
Durch ihre Frühlingsbahn
Und lacht mit ihren Wangen
Den runden Weltkreis an.
Der Himmel kommt zur Erden,
Erwärmt und macht sie nass,
Drum muss sie schwanger werden,
Gebieret Laub und Gras.
Der Westwind lässt sich hören,
Die Flora, seine Braut,
Aus Liebe zu verehren
Mit Blumen, Gras und Kraut.
Die Vögel kommen nisten
Aus fremden Ländern her
Und hängen nach den Lüsten,
Die Schiffe gehn ins Meer.
Der Schäfer hebt zu singen
Von seiner Phyllis an,
Die Welt geht wie im Springen,
Es freut sich, was nur kann.
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Friedrich Nietzsche
Der du mit dem Flammenspeere
Meiner Seele Eis zerteilt,
Dass sie brausend nun zum Meere
Ihrer höchsten Hoffnung eilt:
Heller stets und stets gesunder,
Frei im liebevollsten Muss: Also preist sie deine Wunder,
Schönster Januarius!
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Joseph von Eichendorff
FRISCHE FAHRT
Laue Luft kommt blau geflossen,
Frühling, Frühling soll es sein!
Waldwärts Hörnerklang geschossen
Mutger Augen lichter Schein;
Und das Wirren bunt und bunter
Wird ein magisch wilder Fluss,
In die schöne Welt hinunter
Lockt dich dieses Stromes Gruß.
Und ich mag mich nicht bewahren!
Weit von euch treibt mich der Wind,
Auf dem Strome will ich fahren,
Von dem Glanze selig blind!
Tausend Stimmen lockend schlagen,
Hoch Aurora flammend weht,
Fahre zu! Ich mag nicht fragen,
Wo die Fahrt zu Ende geht!
13
Friedrich Rückert
GNOSIS
Kommt, dass ihr im Frühlingshauch
Lernt die rechte Gnosis.
Seht es brennt der Rosenstrauch
Mit dem Feuer Mosis.
Glut! in der die Schöpfung brennt,
Ohne zu verbrennen;
Tauch dich, Herz! in’s Element,
Lieb’ und lern’ erkennen.
Winter Ahriman gedämpft
Hielt das Sonnenfeuer,
Doch der lichte Frühling kämpft
Nun als Welterneuer.
Wisset, dass ihr allesamt
Ihm Mitkämpfer werdet,
Wenn, von Lieb’ und Rausch entflammt,
Ihr euch froh gebärdet.
Ob die Welt gespalten sei
In die große Zweiheit?
Hat doch jedes kleine Zwei
Sich zu einen Freiheit!
Zieh du dich zurücke klug
Aus der Allgemeinheit,
Liebespaar! dir selb genug
In die All- und Einheit.
14
Matthias Claudius
DIE LIEBE
Die Liebe hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel,
Und dringt durch alles sich;
Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel,
Und schlägt sie ewiglich.
15
Dschelaleddin Rumi
Komm, der Liebe Sklave sei!
Denn die Lieb’ ist Sklaverei.
Lass den Sklavendienst der Welt,
Liebe macht die Sklaven frei.
Aus der Welt bin ich geschlüpft
Wie der Vogel aus dem Ei.
Mach mich von der Schale, die
Mir noch anklebt, mach mich frei!
Lieb’, im Sommersaatfeld dankt
Dir der Wachtel Freudenschrei.
16
Bhartrihari
DIE STUFEN DER LIEBE
1
Was ist Edlen gut zu sehen? Liebchens klares Angesicht.
Was zu atmen? dessen Mundhauch. Was zu hören? dessen Wort.
Was zu kosten? dessen Lippe. Was zu fühlen? dessen Leid.
Was zu denken? dessen Anmut. Reizend ist es allerwärts.
2
Sagen denn nicht unsre Dichter etwas sehr Verkehrtes
Von den Frauen, wenn sie stets von schwachen Frauen reden?
Die, von deren schwanker Augensterne Blitz getroffen
Himmelsgötter selbst erliegen, sind die schwach zu nennen?
3
Ohne dass die Locken flattern und sich weit das Aug auftut,
Ohne dass die Lippen aufgehn mit der reinen Zähne Glanz,
Ohne dass die Perlenschnur schwankt auf des Busens Doppelhöhn,
Auch in völl’ger Ruh setzt in Unruh uns ein schöner Leib.
4
Scheine Lampe, glänze Feuer, leuchte Sonne, Mond und Stern;
Fern von euch, Gazellenaugen, ist die Welt mir Finsternis.
5
Sieht man sie nicht, begehrt man sie zu sehen nur,
Und sieht man sie, wünscht man sie bloß zu küssen,
Und wenn man dann sie küsst, die Großgeaugte,
Verlangt man völlig mit ihr zu verwachsen.
17
6
Der an die Brust gesunkenen mit aufgelösten Locken,
Der noch ein wenig blinzenden mit zugeknosptem Auge,
Der von des Liebeskampfes Schweiß am Wangensaum betrieften
Geliebten Frauen Lippenseim, ihn trinken Hochbeglückte.
7
Wenn der Freund im Regengusse nicht das Haus verlassen kann,
Und des Frostes wegen fester ihn die Schöne drückt ans Herz,
Dann der Wind mit kalten Tropfen ihre Lustermattung kühlt,
Wird das schlechte Wetter gutes für beglückte Liebende.
8
Ihr wählt euch eure Meister von den frommen Schriftgelehrten,
Doch wir, anmutig redender Poeten Jünger sind wir.
Denn nicht in jenem Leben gibt’s ein höhres Glück als Tugend,
Doch keine Lust in dieser Welt als klargeaugte Frauen!
9
Sich selbst und uns betrügt der Schriftgelehrte,
Der ungebührlich schöne Mädchen schimpft.
Zwar ist das Paradies die Frucht der Buße,
Doch Mädchen sind die Paradiesesfrucht.
10
Nenne nur das Weib! und weder Gift noch Nektar gibt es sonst;
Abgeneigt ist sie ein Giftbaum, zugeneigt ein Nektarzweig.
11
Mit dem einen kost sie traulich, nach dem andern blickt sie hold,
Denkt im stillen an den dritten; wen denn liebt sie eigentlich?
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12
Als uns umgab Unwissenheit verliebter Finsternisse,
War in Gestalt des Weibes uns die ganze Welt erschienen.
Nun unser Aug’ erhellet ist von bessrer Einsicht Salben,
Erkennt der einsgewordne Blick die ganze Welt als Brahma.
19
Friedrich Rückert
IN GESELLSCHAFT
Die schönste Ros’ im Rosenbeet
hat hell ins Auge mir geblitzt;
Mein Herz in süßem Blute steht,
Von eines Blickes Dorn geritzt.
Wer mir ins Auge könnte sehn
Mit einem Blick von Liebe scharf,
Der sähe drin den Schatten stehn,
Den drein mir eine Sonne warf.
Wo ist sie denn? sie ist nicht hier.
Wo bin ich denn? ich bin nicht dort.
Und wär’ ihr Schatten nicht bei mir.
So wär’ kein Licht an diesem Ort.
Hier trag’ ich unerkannt ihr Bild
An mir, wo die Gesellschaft rauscht;
Die stille Blum’ nur im Gefild’
Hat mein Geheimnis abgelauscht.
Mir ungewürzt ist dieser Saal;
Wer holt der Rose Duft mir bei?
Es schäumt kein Wein bei diesem Mahl;
Dein denk ich, dass ich trunken sei.
Geh, Morgenwind! ich dulde nicht
Hier dieser Rosen Prahlerei;
Bring mir von jenem Angesicht
Nur einen einz’gen Strahl herbei.
Sie fragt: Wo säumst du denn, Hafis
Verlangt dich nicht, dein Lieb zu sehn?
Ja wohl verlangt die Seele dies,
Doch lässt die Welt den Leib nicht gehn.
20
Novalis
Hätten die Nüchternen
Einmal gekostest,
Alles verließen sie
Und setzten sich zu uns
An den Tisch der Sehnsucht,
Der nie leer wird.
Sie erkännten der Liebe
Unendliche Fülle
Und priesen die Nahrung
Von Leib und Blut.
21
Johann Wolfgang von Goethe
SELIGE SEHNSUCHT
Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebendge will ich preisen
Das nach Flammentod sich sehnet.
In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung
Wenn die stille Kerze leuchtet.
Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.
Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
22
Hafis
Gestern zechend traumverloren,
hörte ich es pochen leis:
Klopfend an der Schenke Toren
standen – Engel still im Kreis.
Unsers Vaters Adam Asche
taten sie in den Pokal,
Ihr vermählend aus der Flasche
edlen Weines Purpurstrahl.
Huldvoll bot der gotterkornen
lichten Welten sel’ge Schar
Mir, dem niedern Staubgebornen,
den gefüllten Becher dar.
Fassen können Himmelshallen
nicht der Liebe Herrlichkeit,
Und mir ist das Los gefallen,
das mich ihrem Dienst geweiht!
Auf die Kunde von dem Bunde
mit der Gnadensonne Glanz
Schlingen jubelnd in der Runde
Huris den berauschten Tanz.
Soll im Leben nie berühren
eitles Streben diese Brust,
Während Adam hie verführen
konnte eines Apfels Lust?
Zweiundsiebzig Glaubenslehren
klaubten Worte leer und tot;
Ihnen tagt, sie zu bekehren,
nie der Wahrheit Morgenrot.
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Flamme mag ich das nicht nennen,
was auf Kerzen freundlich blinkt;
Flamme ist ein lodernd Brennen,
das den Tod dem Falter bringt.
24
Friedrich Nietzsche
AN HAFIS
(Trinkspruch, Frage eines Wassertrinkers)
Die Schenke, die du dir gebaut,
ist größer als jedes Haus,
Die Tränke, die du drin gebraut,
die trinkt die Welt nicht aus.
Der Vogel, der einst Phönix war,
der wohnt bei dir zu Gast,
Die Maus, die einen Berg gebar,
die – bist du selber fast!
Bist alles und keins, bist Schenke und Wein,
bist Phönix, Berg und Maus,
Fällst ewiglich in dich hinein,
fliegst ewig aus dir hinaus –
Bist aller Höhen Versunkenheit,
Bist aller Tiefen Schein,
Bist aller Trunkenen Trunkenheit
– wozu, wozu dir – Wein?
25
Hafis
Ich, und dem Wein entsagen!
was soll das Sagen sein?
Sollt’ ich so unverständig
in alten Tagen sein?
Der ich mit Pauk’ und Zimbel
den Heilsweg brach bei Nacht,
Sollt’ ich des Wegs nun kriechen?
was soll das Sagen sein?
Ganz schlug ich noch zur Schenke
nicht ein den rechten Weg;
Ganz muss erst in den Wind recht
die Scheu geschlagen sein.
Fehlt dieser Weg dem Frommen,
entschuldigt ihn! Der Weg
Wird ohne Gottes Leitung
nicht einzuschlagen sein.
Ich bin der Knecht des Wirtes,
der mich von Wahn befreit;
Was unser Herr uns auflegt,
das wird zu tragen sein.
Der Frömmling und sein Beten,
ich und mein Rausch, wer weiß,
Wem Gnade wird zu schenken,
wem zu versagen sein!
Nachts ließ es mich nicht schlafen,
dass ein Gelehrter sprach:
„Wenn Hafis wieder zechet,
wird Grund zu klagen sein.“
26
August von Platen
Wenn ich hoch den Becher schwenke, süßberauscht,
Fühl ich erst, wie tief ich denke süßberauscht;
Mir wie Perlen runden lieblich Verse sich,
Die ich schnüreweise verschenke, süßberauscht;
Voll des Weines knüpf ich kühn des Zornes Dolch
An der Liebe Wehrgehenke, süßberauscht;
Hoffen darf ich, überhoben meiner selbst,
Dass ein fremder Schritt mich lenke süßberauscht;
Staunend hören mich die Freunde, weil ich tief
in Mysterien mich senke süßberauscht;
Weil mein Ich sich ganz entfaltet, wenn ich frei
Keiner Vorsicht mehr gedenke, süßberauscht;
Wehe, wer sich hinzugeben nie vermocht,
Wer dich nie geküsst, o Schenke! süßberauscht.
27
Hafis
Gib mir jenen Wein, den alten,
der dem Landmann Kraft verleiht,
Denn ich will mit neuem Saume
zieren mir des Lebens Kleid.
Mach mich trunken und entfremde
mich der Welt, auf dass ich dann
Dieser Welt verborgne Dinge
dir berichte, edler Mann!
28
Hafis
Jetzt, da wie Paradieses Hauch
die Luft vom Garten mich umfächelt,
Freu ich des Weins mich, da mir auch
der Liebsten Auge wieder lächelt.
Der ärmste Bettler in der Welt
steht heute keinem König nach:
Der Wolke Schatten ist sein Zelt,
der Saatenrain sein Prunkgemach.
Die grüne Flut erzählt vom Fest
des Frühlings wunderholde Mären –
Ein Tor, wer Sichres fahren lässt,
um bloß von Hoffnung sich zu nähren.
Erbaue ich am Weine, Freund –
wirst du der Moderwelt zum Raube,
So backt sie Ziegelsteine, Freund,
nach deinem Tod aus deinem Staube.
Zähl auf des Feindes Treue nicht:
nie wird’s in deinem Kopfe helle,
Suchst du bei einem Kirchenlicht
Erleuchtung deiner Klausnerzelle.
Und droh mir nicht mit ew’gem Fluch,
weil ich’s ein wenig weit getrieben:
Wer weiß denn, was im Schicksalsbuch
und auf der Stirn uns steht geschrieben?
Oh, lenkt nicht von Hafisens Grab
die Schritte: ob sich’s auch erwiese,
Dass er voll Stünden sank hinab:
Er geht doch ein zum Paradiese!
29
Hafis
Schilt nicht weinbefleckte Zecher,
du mit Reinheit angetan!
Denn es werden fremde Sünden
dir ja nicht geschrieben an.
Ob ich fromm sei oder gottlos,
geh und sorge für dich selbst.
Weil am Ende jeder nur, was
er gesät hat, ernten kann.
Schneide du die Hoffnung auf die
ew’ge Gnade mir nicht ab!
Weißt du denn, wer hinterm Vorhang
hässlich oder schön, o Mann?
Nicht zuerst bin ich gefallen
aus der Heiligkeit Gemach,
Denn aus seinen Händen ließ das
Paradies bereits mein Ahn.
Jeder sucht den Freund hier, ob er
nüchtern oder trunken sei,
Und der Liebe sind Moscheen wie
Christenkirchen aufgetan.
Reizend ist der Garten Edens,
aber mach, ich bitte dich,
Dir zu Nutz’ der Weide Schatten
und den grünen Wiesenplan!
Hafis, wenn am Sterbetage
du zur Hand den Becher nimmst,
Tragen sie vom Gau der Schenke
graden Weg dich himmelan.
30
Des Knaben Wunderhorn
URLICHT
O Röschen rot,
Der Mensch liegt in größter Not,
Der Mensch liegt in größter Pein,
Je lieber möcht’ ich im Himmel sein.
Da kam ich auf einen breiten Weg:
Da kam ein Engelein und wollt’ mich abweisen.
Ach, nein, ich ließ mich nicht abweisen.
Ich bin von Gott und will wieder zu Gott!
Der liebe Gott wird mir ein Lichtlein geben,
Wird leuchten mir bis in das ewig’ selig’ Leben!
31
Friedrich Rückert
In der natürlichen Religion geboren
Wird jeder Mensch, und nie geht sie ihm ganz verloren.
Ihm angezogen wird ein äuß’res Glaubentum,
Das nimmt im Leben er wie einen Mantel um.
Er trag’ es, weil er lebt; im Tode legt er’s ab,
Da bleibt der Glauben ihm, den Gott ihm selber gab.
32
Friedrich Rückert
Gar viele Wege gehn zu Gott, auch deiner geht
zu Gott, geh ihn getrost mit Preisen und Gebet.
Und lass dich nicht darin von denen irre machen,
die andre Wege gehn, und mach nicht irr die Schwachen.
Wer mit auf meinem Weg will gehn, der sei willkommen;
und geh’ ich auch allein, doch geh’ ich unbeklommen.
33
Friedrich Rückert
Ich sah empor, und sah in allen Räumen Eines;
Hinab ins Meer, und sah in allen Wellenschäumen Eines.
Ich sah ins Herz, es war ein Meer, ein Raum der Welten,
Voll tausend Träum’; ich sah in allen Träumen Eines.
Du bist das Erste, Letzte, Äußre, Innre, Ganze;
Es strahlt dein Licht in allen Farbensäumen Eines.
Du schaust von Ostens Grenze bis zur Grenz im Westen,
Dir blüht das Laub an allen grünen Bäumen Eines.
Vier widerspenst’ge Tiere ziehn den Weltenwagen;
Du zügelst sie, sie sind an deinen Zäumen Eines.
Luft Feuer Erd und Wasser sind in Eins geschmolzen
In deiner Furcht, dass dir nicht wagt zu bäumen Eines.
Der Herzen alles Lebens zwischen Erd und Himmel,
Anbetung dir zu schlagen soll nicht säumen Eines!
34
Johann Wolfgang von Goethe
EINS UNS ALLES
Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruss!
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt lästgem Fordern, strengem Sollen
Sich aufzugeben ist Genuss.
Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend höchste Meister
Zu dem, der alles schafft und schuf.
Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sichs nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden!
In keinem Falle darf es ruhn.
Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln!
Nur scheinbar stehts Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muss in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
35
Johann Wolfgang von Goethe
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist’s getan;
Das Ewigweibliche
Zieht uns hinan.
36
Friedrich Nietzsche
AN GOETHE
Das Unvergängliche
Ist nur dein Gleichnis!
Gott, der Verfängliche
Ist Dichter-Erschleichnis ...
Welt-Rad, das rollende,
Streift Ziel auf Ziel:
Not – nennt’s der Grollende,
Der Narr nennt’s – Spiel ...
Welt-Spiel, das herrische
Mischt Sein und Schein: –
Das Ewig-Närrische
Mischt uns – hinein! ...
37
Matthias Claudius
DER MENSCH
Empfangen und genähret
Vom Weibe wunderbar
Kömmt er und sieht und höret,
Und nimmt des Trugs nicht wahr;
Gelüstet und begehret,
Und bringt sein Tränlein dar;
Verachtet, und verehret;
Hat Freude, und Gefahr;
Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,
Hält nichts, und alles wahr;
Erbauet und zerstöret;
Und quält sich immerdar;
Schläft, wachet, wächst, und zehret;
Trägt braun’ und graues Haar etc.
Und alles dieses währet,
Wenn’s hoch kommt, achtzig Jahr.
Denn legt er sich zu seinen Vätern nieder,
Und er kömmt nimmer wieder.
38
Johann Wolfgang von Goethe
GENIALISCH TREIBEN
So wälz’ ich ohne Unterlass,
Wie Sankt Diogenes, mein Fass.
Bald ist es Ernst, bald ist es Spaß;
Bald ist es Lieb, bald ist es Hass;
Bald ist es dies, bald ist es das;
Es ist ein Nichts und ist ein Was.
So wälz’ ich ohne Unterlass,
Wie Sankt Diogenes, mein Fass.
39
Quirinus Kuhlmann
DER WECHSEL MENSCHLICHER SACHEN
Auf Nacht, Dunst, Schlacht, Frost, Wind, See,
Hitz, Süd, Ost, West, Nord, Sonn, Feur und Plagen,
Folgt Tag, Glanz, Blut, Schnee, Still, Land, Blitz,
Wärm, Hitz, Lust, Kält, Licht, Brand und Not:
Auf Leid, Pein, Schmach, Angst, Krieg, Ach, Kreuz,
Streit, Hohn, Schmerz, Qual, Tück, Schimpf als Spott
Will Freud, Zier, Ehr, Trost, Sieg, Rat, Nutz, Fried,
Lohn, Scherz, Ruh, Glück, Glimpf stets tagen.
Der Mond, Glunst, Rauch, Gems, Fisch, Gold, Perl,
Baum, Flamm, Storch, Frosch, Lamm, Ochs und Magen
Liebt Schein, Stroh, Dampf, Berg, Flut, Glut,
Schaum, Frucht, Asch, Dach, Teich, Feld, Wies und Brot:
Der Schütz, Mensch, Fleiß, Müh, Kunst, Spiel,
Schiff, Mund, Prinz, Rach, Sorg, Geiz, Treu und Gott
Suchts Ziel, Schlaf, Preis, Lob, Gunst, Zank, Port,
Kuss, Thron, Mord, Sarg, Geld, Hold, Danksagen.
Was gut, stark, schwer, recht, lang, groß, weiß, eins,
ja, Luft, Feur, hoch, weit genennt,
Pflegt bös, schwach, leicht, krumm, breit, klein, schwarz,
drei, nein, Erd, Flut, tief, nah zu meiden.
Auch Mut, Lieb, klug, Witz Geist, Seel, Freund,
Lust, Zier, Ruhm, Fried, Scherz, Lob muss scheiden,
Wo Furcht, Hass, Trug, Wein, Fleisch, Leib, Feind,
Weh, Schmach, Angst, Streit, Schmerz, Hohn schon rennt.
40
Friedrich Rückert
CHIDHER
Chidher, der ewig junge, sprach:
Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
Ein Mann im Garten Früchte brach;
Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei?
Er sprach und pflückte die Früchte fort:
Die Stadt steht ewig an diesem Ort
Und wird so stehen ewig fort.
Und aber nach fünfhundet Jahren
Kam ich desselbigen Weg’s gefahren.
Da fand ich keine Spur der Stadt;
Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,
Die Herde weidete Laub und Blatt;
Ich fragte: Wie lang ist die Stadt vorbei?
Er sprach und blies auf dem Rohre fort:
Das eine wächst und das andere dorrt;
Das ist mein ewiger Weideort.
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Weg’s gefahren.
Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
Ein Fischer warf die Netze frei,
Und als er ruhte vom schweren Zug,
Fragt ich, seit wann das Meer hier sei?
Er sprach und lachte meinem Wort:
Solang als schäumen die Wellen dort,
Fischt man und fischt man an diesem Port.
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Weg’s gefahren.
41
Da fand ich einen waldigen Raum
Und einen Mann in der Siedelei,
Er fällte mit der Axt den Baum;
Ich fragte, wie alt der Wald hier sei?
Er sprach: Der Wald ist ein ewiger Hort;
Schon ewig wohn ich an diesem Ort,
Und ewig wachsen die Bäum hier fort.
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Weg’s gefahren.
Da fand ich eine Stadt, und laut
Erschallet der Markt vom Volksgeschrei.
Ich fragte: Seit wann ist die Stadt erbaut?
Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?
Sie schrien und hörten nicht mein Wort:
So ging es ewig an diesem Ort
Und wird so gehen ewig fort.
Und aber nach fünfhundert Jahren
Will ich desselbigen Weges fahren.
42
Eduard Mörike
FRÜH IM WAGEN
Es graut vom Morgenreif
In Dämmerung das Feld,
Da schon ein blasser Streif
Den fernen Ost erhellt;
Man sieht im Lichte bald
Den Morgenstern vergehn,
Und doch am Fichtenwald
Den vollen Mond noch stehn:
So ist mein scheuer Blick,
Den schon die Ferne drängt,
Noch in das Schmerzensglück
Der Abschiedsnacht versenkt.
Dein blaues Auge steht,
Ein dunkler See, vor mir,
Dein Kuss, dein Hauch umweht,
Dein Flüstern mich noch hier.
An deinem Hals begräbt
Sich weinend mein Gesicht,
Und Purpurschwärze webt
Mir vor dem Auge dicht.
Die Sonne kommt; – sie scheucht
Den Traum hinweg im Nu,
Und von den Bergen streicht
Ein Schauer auf mich zu.
43
Ludwig Tieck
ABREISE
Endlich ist der Tag gekommen,
Endlich ist die Stunde da,
Die ich stets unmöglich glaubte,
Weil der Schmerz die Kraft genommen,
Weil der Wahn den Entschluss raubte,
Da ich nur mein Leiden sah.
Welcher heitre Sommertag!
Diese Häuser, diese Gassen,
Die ich nun seit vielen Wochen
Täglich sah mit Zorn und Hassen,
Sollen mir entschwinden,
Und mein Blick die sonnbeglänzten Fluren finden.
Einmal noch betracht’ ich mir die alten
Häuser dort, bemerke die Gestalten
An den Fenstern drüben; wie ein Vorhang
fällt es zu, der liebste Freund
Sitzt schon neben mir im Wagen,
Abschiedsworte, – und es jagen
Häuser, Gassen, Tore schwindelnd mir vorüber.
Welch Entzücken, welche Wehmut!
Bin ich’s noch, der wie an Ketten
Dort in trüben Mauern saß?
Ja, der Schmerz ist mir gefolgt
Und spannt über Feld und Wald
Einen schwarzen Schleier aus.
44
Friedrich Nietzsche
DER WANDERER
Es geht ein Wandrer durch die Nacht
Mit gutem Schritt;
Und krummes Tal und lange Höhn –
Er nimmt sie mit.
Die Nacht ist schön –
Er schreitet zu und steht nicht still,
Weiß nicht, wohin sein Weg noch will.
Da singt ein Vogel durch die Nacht:
„Ach Vogel, was hast du gemacht!
Was hemmst du meinen Sinn und Fuß
Und gießest süßen Herz-Verdruss
Ins Ohr mir, dass ich stehen muss
Und lauschen muss –
Was lockst du mich mit Ton und Gruß?“ –
Der gute Vogel schweigt und spricht:
„Nein, Wandrer, nein! Dich lock ich nicht
Mit dem Getön –
Ein Weibchen lock ich von den Höhn –
Was geht’s dich an?
Allein ist mir die Nacht nicht schön –
Was geht’s dich an? Denn du sollst gehn
Und nimmer, nimmer stillestehn!
Was stehst du noch?
Was tat mein Flötenlied dir an,
Du Wandersmann?“
Der gute Vogel schwieg und sann:
„Was tat mein Flötenlied ihm an?
Was steht er noch? –
Der arme, arme Wandersmann!“
45
Joseph von Eichendorff
AUF EINER BURG
Eingeschlafen auf der Lauer
Oben ist der alte Ritter;
Drüber gehen Regenschauer,
Und der Wald rauscht durch das Gitter,
Eingewachsen Bart und Haare
Und versteinert Brust und Krause,
Sitzt er viele hundert Jahre
Oben in der stillen Klause.
Draußen ist es still und friedlich,
Alle sind ins Tal gezogen,
Waldesvögel einsam singen
In den leeren Fensterbogen.
Eine Hochzeit fährt da unten
Auf dem Rhein im Sonnenscheine,
Musikanten spielen munter,
Und die schöne Braut, sie weinet.
46
Friedrich Leopold Graf zu Stolberg
LIED AUF DEM WASSER ZU SINGEN, FÜR MEINE AGNES
Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen
Gleitet wie Schwäne der wankende Kahn;
Ach, auf der Freude sanftschimmernden Wellen
Gleitet die Seele dahin wie der Kahn;
Denn von dem Himmel herab auf die Wellen
Tanzet das Abendrot rund um den Kahn.
Über den Wipfeln des westlichen Haines
Winket uns freundlich der rötliche Schein;
Unter den Zweigen des östlichen Haines
Säuselt der Kalmus im rötlichen Schein;
Freude des Himmels und Ruhe des Haines
Atmet die Seele im errötenden Schein.
Ach es entschwindet mit tauigem Flügel
Mir auf den wiegenden Wellen die Zeit.
Morgen entschwinde mit schimmerndem Flügel
Wieder wie gestern und heute die Zeit,
Bis ich auf höherem strahlenden Flügel
Selber entschwinde der wechselnden Zeit.
47
Friedrich Rückert
FAHRT AUF DEM STROM AM HERBSTABEND
Fuhren wir herab den Main,
Still und frohgemut,
Lag des Abends heller Schein
Vor uns auf der Flut.
Immer auf den hellen Schein
Geht der Nachen zu,
Treten wird er nun hinein
In dem nächsten Nu.
Aber weiter rückt der Schein
Stets von Ort zu Ort,
Und die Fahrt ihm hinterdrein
Geht im Dunkel fort.
48
Friedrich Rückert
HERBSTHAUCH
Herz, nun so alt und noch immer nicht klug,
Hoffst du von Tagen zu Tagen,
Was dir der blühende Frühling nicht trug,
Werde der Herbst dir noch tragen!
Lässt doch der spielende Wind nicht vom Strauch,
Immer zu schmeicheln, zu kosen.
Rosen entfaltet am Morgen sein Hauch,
Abends verstreut er die Rosen.
Lässt doch der spielende Wind nicht vom Strauch,
Bis er ihn völlig gelichtet.
Alles, o Herz, ist ein Wind und ein Hauch,
Was wir geliebt und gedichtet.
49
Friedrich Nietzsche
VEREINSAMT
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein –
Wohl dem ,der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?
Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
– bald wird es schnein,
Weh dem, der keine Heimat hat!
50
Friedrich Rückert
ABENDLIED
Ich stand auf Berges Halde,
Als Sonn hinunterging,
Und sah wie überm Walde
Des Abends Goldnetz hing.
Des Himmels Wolken tauten
Der Erde Frieden zu,
Bei Abendglockenlauten
Ging die Natur zur Ruh.
Ich sprach: O Herz, empfinde
Der Schöpfung Stille nun,
Und schick mit jedem Kinde
Der Flur dich auch, zu ruhn.
Die Blumen alle schließen
Die Augen allgemach,
Und alle Wellen fließen
Besänftiget im Bach.
Nun hat der müde Silfe
Sich unters Blatt gesetzt,
Und die Libell am Schilfe
Entschlummert taubenetzt.
Es war dem goldnen Käfer
Zur Wieg ein Rosenblatt;
Die Herde mit dem Schäfer
Sucht ihre Lagerstatt.
51
Die Lerche sucht aus Lüften
Ihr feuchtes Nest im Klee,
Und in des Waldes Schlüften
Ihr Lager Hirsch und Reh.
Wer sein ein Hüttchen nennet,
Ruht nun darin sich aus;
Und wen die Fremde trennet,
Den trägt ein Traum nach Haus.
Mich fasset ein Verlangen,
Dass ich zu dieser Frist
Hinauf nicht kann gelangen,
Wo meine Heimat ist.
52
Matthias Claudius
DIE STERNSEHERIN LISE
Ich sehe oft um Mitternacht,
Wenn ich mein Werk getan
Und niemand mehr im Hause wacht,
Die Stern am Himmel an.
Sie gehn da, hin und her zerstreut
Als Lämmer auf der Flur;
In Rudeln auch, und aufgereiht
Wie Perlen an der Schnur
Und funkeln alle weit und breit,
Und funkeln rein und schön;
Ich seh die große Herrlichkeit,
Und kann mich satt nicht sehn...
Dann saget, unterm Himmelszelt,
Mein Herz mir in der Brust:
„Es gibt was Bessers in der Welt
Als all ihr Schmerz und Lust.“
Ich werf mich auf mein Lager hin,
Und liege lange wach,
Und suche es in meinem Sinn,
Und sehne mich darnach.
53
Eduard Mörike
UM MITTERNACHT
Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand;
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn.
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.
Das uralt alte Schlummerlied –
Sie achtet’s nicht, sie ist es müd’;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flücht’gen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
Vom Tage
Vom heute gewesenen Tage.
54
Johann Wolfgang von Goethe
UM MITTERNACHT
Um Mitternacht ging ich, nicht eben gerne,
Klein-kleiner Knabe, jenen Kirchhof hin
Zu Vaters Haus, des Pfarrers; Stern am Sterne,
Sie leuchteten doch alle gar zu schön:
Um Mitternacht.
Wenn ich dann ferner in des Lebens Weite
Zur Liebsten musste, musste, weil sie zog,
Gestirn und Nordschein über mir im Streite,
Ich gehend, kommend Seligkeiten sog:
Um Mitternacht.
Bis dann zuletzt des vollen Mondes Helle
So klar und deutlich mir ins Finstere drang,
Auch der Gedanke willig, sinnig, schnelle
Such ums Vergangne wie ums Künftige schlang:
Um Mitternacht.
55
Friedrich Nietzsche
UM MITTERNACHT
Eins!
O Mensch! Gib acht!
Zwei!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Drei!
„Ich schlief, ich schlief –,
Vier!
„Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Fünf!
„Die Welt ist tief,
Sechs!
„Und tiefer als der Tag gedacht.
Sieben!
„Tief ist ihr Weh –,
Acht!
„Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Neun!
„Weh spricht: Vergeh!
Zehn!
„Doch alle Lust will Ewigkeit –,
Elf!
„ – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Zwölf!
56
Friedrich Rückert
UM MITTERNACHT
Um Mitternacht
Hab ich gewacht
Und aufgeblickt zum Himmel;
Kein Stern vom Sterngewimmel
Hat mir gelacht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Hab ich gedacht
Hinaus in dunkle Schranken;
Es hat kein Lichtgedanken
Mir Trost gebracht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Nahm ich in acht
Die Schläge meines Herzens;
Ein einz’ger Puls des Schmerzens
War angefacht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Kämpft ich die Schlacht,
O Menschheit, deiner Leiden;
Nicht konnt ich sie entscheiden
Mit meiner Macht
Um Mitternacht.
57
Um Mitternacht
Hab ich die Macht
In deine Hand gegeben:
Herr über Tod und Leben,
Du hälst die Wacht
Um Mitternacht.
58
Matthias Claudius
EIN LIED FÜR SCHWINDSÜCHTIGE
Weh mir! Es sitzt mir in der Brust,
Und drückt und nagt mich sehr;
Mein Leben ist mir keine Lust
Und keine Freude mehr.
Ich bin mir selber nicht mehr gleich,
Bin recht ein Bild der Not,
Bin Haut und Knochen, blass und bleich,
Und huste mich fast tot.
Die Luft, drein herrlich von Natur
Gott seinen Segen senkt,
Und daraus alle Kreatur
Mit Heil und Leben tränkt;
Die ist für mich nicht frei, nicht Heil.
Mein Atem geht schwer ein;
Ich muss um mein bescheiden Teil
Mich martern und kastein.
Und doch labt’s und erquickt’s mich nicht,
Macht’s mir nicht frischen Sinn;
Die Blume, die der Wurm zersticht,
Welkt jämmerlich dahin!
Auch Schlaf, der alle glücklich macht,
Will nicht mein Freund mehr sein,
Und lässet mich die ganze Nacht
Mit meiner Not allein.
59
Die Ärzte tun zwar ihre Pflicht,
Und fuschern drum und dran;
Allein sie haben leider nicht
Das, was mir helfen kann.
Mein Hülf allein bleibt Sarg und Grab,
O sängen an der Tür
Sie schon, und senkten mich hinab!
Wie leicht und wohl wär’s mir!
O sängen doch an meiner Tür
Sie laut: „Ich hab mein Sach etc.“
Und trügen mich, und folgten mir
In langer Reihe nach,
Rund um die Kirch ans Grab heran,
Und senkten mich hinein! –
Ich läg und hätte Ruhe dann,
Und fühlte keine Pein.
Doch ich will leiden, bis Gott ruft,
Gern leiden bis ans Ziel.
Nur deinen Trost! und etwas Luft!
Du hast der Luft so viel.
60
Matthias Claudius
NACH DER KRANKHEIT 1777
Ich lag und schlief! da fiel ein böses Fieber
Im Schlaf auf mich daher,
Und stach mir in der Brust und nach dem Rücken über,
Und wütete fast sehr.
Es sprachen Trost, die um mein Bette saßen;
Lieb Weibel grämte sich,
Ging auf und ab, wollt sich nicht trösten lassen,
Und weinte bitterlich.
Da kam Freund Hain: „Lieb Weib, musst nicht so grämen,
Ich bring ihn sanft zur Ruh“:
Und trat ans Bett, mich in den Arm zu nehmen,
Und lächelte dazu.
Sei mir willkommen, sei gesegnet, Lieber!
Weil du so lächelst; doch
Doch, guter Hain, hör an, darfst du vorüber,
So geh und lass mich noch!
„Bist bange, Asmus? – Darf vorübergehen
Auf dein Gebet und Wort.
Leb also wohl, und bis auf Wiedersehen!“
Und damit ging er fort.
Und ich genas! Wie sollt ich Gott nicht loben!
Die Erde ist doch schön,
Ist herrlich doch wie seine Himmel oben,
Und lustig drauf zu gehn!
61
Will mich denn freun noch, wenn auch Lebensmühe
Mein wartet, will mich freun!
Und wenn du wiederkömmst, spät oder frühe,
So lächle wieder, Hain!
62
Matthias Claudius
DER TOD
Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,
Tönt so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer
Und die Stunde schlägt.
63
Des Knaben Wunderhorn
TODESAHNDUNG EINER WÖCHNERIN
Mein Auge wankt,
Am Mond erkrankt,
Er möchte mir beispringen,
Mir drohn des Todes Klingen.
Muss Sichelschein
Den Zirkel rund
Zur Todesfackel füllen,
Ich bild mir’s ein,
Ich sterb zur Stund,
Helft weinen, ihr Gespielen!
Vergönnt es mir,
Das Grün hinfür
Allhier noch anzuschauen
Auf Bergen, Tal und Auen.
Was Laub und Blüt
Ins Auge trägt
An Buchen, Eichen, Tannen,
Und was nur hie
Der Frühling pflegt
Für Teppich aufzuspannen.
Die Wasserflüss
Bezeugen dies,
Die rauschend weiterfließen,
Die Büsche grün begießen,
Nie stehn sie still,
Sind ohne Ruh,
Die Reis mir anzudeuten,
Wenn ich erfüllt
Mein Werk dazu
Nach den erkannten Zeiten.
64
Ein Monat Licht
Von hinnen flücht.
Das Trauern in dem Hirne
Treibts Uhrwerk der Gestirne.
Wohlan, so lauf,
O Trän den Weg,
Zur Wanderschaft musst fließen.
Verlobt zum Kauf
Dich niederleg,
Den Jüngsten Tag zu grüßen.
Wenn ich schon klag,
So viel ich mag,
Mein schwache Stimm zu heben,
Weil ich möcht länger leben,
Mein Herz vernimmt
In gleichem Schall,
Umsonst ist mein Bewerben.
Es bringt die Stimm
Im Widerhall,
Ich müsse leider sterben!
65
Des Knaben Wunderhorn
WO DIE SCHÖNEN TROMPETEN BLASEN
Wer ist denn draußen und wer klopfet an,
Der mich so leise, so leise wecken kann?
Das ist der Herzallerliebste dein,
Steh auf und lass mich zu dir ein!
Was soll ich hier noch länger stehn?
Ich seh die Morgenröt aufgehn,
Die Morgenröt, zwei helle Stern,
Bei meinem Schatz, da wär ich gern!
Bei meiner Herzallerliebsten!
Das Mädchen stand auf und ließ ihn ein,
Sie heißt ihn auch willkommen sein:
Willkommen, lieber Knabe mein!
So lang hast du gestanden!
Sie reicht ihm auch die schneeweiße Hand.
Von ferne sang die Nachtigall,
Das Mädchen fing zu weinen an.
Ach weine nicht, du Liebste mein,
Ach weine nicht, du Liebste mein,
Aufs Jahr sollst du mein eigen sein.
Mein eigen sollst du werden gewiss,
Wie’s keine sonst auf Erden ist!
O Lieb auf grünen Erden.
Ich zieh in Krieg auf grüne Heid;
Die grüne Heid, die ist so weit!
Allwo die schönen Trompeten blasen,
Da ist mein Haus, mein Haus von grünem Rasen!
66
Matthias Claudius
KRIEGSLIED
‘s ist Krieg! ‘s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede du darein!
‘s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!
Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blass,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?
Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten
In ihrer Todesnot?
Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?
Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten, und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?
Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
‘s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!
67
August von Platen
Ist’s möglich, ein Geschöpf in der Natur zu sein,
Und stets und wiederum auf falscher Spur zu sein?
Ward nicht dieselbe Kraft, die dort im Sterne flammt,
Bestimmt, als Rose hier die Zier der Flur zu sein?
Was seufzt ihr euch zurück ins sonst’ge Paradies,
Um, wie das Sonnenlicht, verklärt und pur zu sein?
Was wünscht ihr schmerzbewegt euch bald im Erdenschoß,
Und über Wolken bald und im Azur zu sein?
Was forscht ihr früh und spat dem Quell des Übels nach,
Das doch kein andres ist, als – Kreatur zu sein?
Sich selbst zu schaun erschuf der Ewige das All,
Das ist der Schmerz des Alls, ein Spiegel nur zu sein!
In Gott allein ist Ruh’, doch wir vermögen nichts,
Als bloß ein Pendelschwung der ew’gen Uhr zu sein.
68
August von Platen
Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts,
Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nichts,
Und wäre nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen erbt,
So gäb’s Beklagenswerteres auf diesem weiten Runde nichts.
Einförmig stellt Natur sich her, doch tausendförmig ist ihr Tod,
Es fragt die Welt nach meinem Ziel, nach deiner letzten Stunde nichts.
Und wer sich willig nicht ergibt dem ehrnen Lose, das ihm dräut,
Der zürnt ins Grab sich rettungslos und fühlt in dessen Schlunde nichts.
Dies wissen alle, doch vergisst es jeder gerne jeden Tag.
So komme denn, in diesem Sinne, hinfort aus meinem Munde nichts!
Vergesst, dass euch die Welt betrügt, und dass ihr Wunsch nur Wünsche zeugt,
Lasst eurer Liebe nichts entgehn, entschlüpfen eurer Kunde nichts!
Es hoffe jeder, dass die Zeit ihm gebe, was sie keinem gab,
Denn jeder sucht ein All zu sein und jeder ist im Grunde nichts.
69
Matthias Claudius
AUF EINEN SELBSTMÖRDER
Videre verum, atque uti res est dicere
Er glaubte sich und seine Not
Zu lösen durch den Tod.
Wie hat er sich betrogen!
Hier stand er hinterm Busch versteckt; –
Dort steht er bloß und unbedeckt,
Und alles, was ihn hier geschreckt,
Ist mit ihm hingezogen –
Wie hat er sich betrogen!
70
August von Platen
Hab ich doch Verlust in allem, was ich je gewann, ertragen;
Aber, glaubet mir, das Leben lässt sich dann und wann ertragen!
Zwar der ganze Druck des Leidens riss mich oft schon halb zu Boden,
Doch ich hab ihn immer wieder, wenn ich mich besann, ertragen:
Mir geziemt der volle Becher, mir der volle Klang der Lauten,
Denn den vollen Schmerz des Lebens hab ich als ein Mann ertragen!
Trennungsqual, verschmähte Liebe, Freundes Hass und Widersacher
Hab ich, und was sonst der Faden des Geschicks mir spann, ertragen;
Doch nun fühl ich, wie auf Fitt’gen, bis zum Himmel mich gehoben,
Denn es lehrte mich das Leben, dass man alles kann ertragen!
Und es öffnet gegen alle sich das Herz in reiner Liebe,
Und ich will so gern mit allen dieses Lebens Bann ertragen;
Schließt den Kreis und leert die Flaschen, diese Sommernächte feiernd,
Schlimmre Zeiten werden kommen, die wir auch sodann ertragen.
71
Dschelaleddin Rumi
Er hat’s gemacht, was soll ich machen?
Er ist, der wacht, was soll ich wachen?
Ich will in seinem Frieden schlafen,
Er sitzt und lenket meinen Nachen.
Er lenkt ihn durch der Meere Brausen
Und durch der Krokodile Rachen,
Durch das Gezisch der Wasserschlangen
Und durchs Gebell der Flammendrachen.
Fahrlos mit dir bin ich gefahren
Schon in Gefahren tausendfachen.
Mag unter mir der Abgrund gähnen
Und über mir die Feste krachen.
Dein Hauch ist stark, um auszublasen
Das Feur, und lind, es anzufachen.
Was sollt ich fremde Sachen führen?
Du führest deine, meine Sachen.
Du wirst mein Haupt vorm Mittagsbrande
Mit einem Schattendach bedachen,
Und wirst mir, wo in Nacht ich gehe,
Entgegen wie der Morgen lachen.
72
Friedrich Rückert
EIN OBDACH
Ein Obdach gegen Sturm und Regen
Der Winterzeit
Sucht ich, und fand den Himmelssegen
Der Ewigkeit.
O Wort, wie du bewährt dich hast:
Wer wenig sucht, der findet viel.
Ich suchte eine Wanderrast,
Und fand mein Reiseziel.
73
Matthias Claudius
OSTERLIED
Das Grab ist leer, das Grab ist leer!
Erstanden ist der Held!
Das Leben ist des Todes Herr,
Gerettet ist die Welt!
Gerettet ist die Welt!
Die Schriftgelehrten hatten’s Müh’
Und wollten Weise sein;
Sie hüteten das Grab, und sie
Versiegelten den Stein,
Versiegelten den Stein.
Doch ihre Weisheit, ihre List
Zu Spott’ und Schande ward;
Denn Gottes Weisheit höher ist
Und einer andern Art,
Und einer andern Art.
Sie kannten nicht den Weg, den Gott
In seinen Werken geht;
Und dass nach Marter und nach Tod
Das Leben aufersteht,
Das Leben aufersteht.
74
Dschelaladdin Rumi
Mit deiner Seele hat sich meine
Gemischt, wie Wasser mit dem Weine.
Wer kann den Wein vom Wasser trennen,
Wer dich und mich aus dem Vereine?
Du bist mein großes Ich geworden,
Und nie mehr will ich sein dies kleine.
Du hast mein Wesen angenommen,
Sollt ich nicht nehmen an das deine?
Auf ewig hast du mich bejahet,
Dass ich dich ewig nie verneine.
Dein Liebesduft der mich durchdrungen,
Geht nie aus meinem Mark und Beine.
Ich ruh als Flöt an deinem Munde,
Als Laut in deinem Schoß alleine.
Gib einen Hauch mir, dass ich seufze,
Gib einen Schlag mir, dass ich weine.
Süß ist mein Weinen und mein Seufzen,
Dass ich der Welt zu jauchzen scheine.
Du ruhst in meiner Seele Tiefen
Mit deines Himmels Widerscheine.
O Edelstein in meinen Schachten,
O Perl in meinem Muschelschreine.
Mein Zucker ist in dir zerschmolzen,
O Milch des Lebens, milde, reine;
75
Und unsre beiden Süßigkeiten
Genießet Kindermund als eine.
Du pressest mich zu Rosenwasser,
Nicht seufzt ich unter deinem Steine.
In deiner süßen Qual vergaß ich,
Dass ich die Rose war am Raine.
Da brachtest du an deinen Kleidern
Mich mitten unter die Gemeine;
Und als du auf die Welt mich gossest,
Ward sie zu einem Rosenhaine.
76
August von Platen
Die Sterne scheinen, und alles ist gut,
Sie tadeln keinen, und alles ist gut;
Drum keck, o Schenke, kredenze mir Wein,
Purpurnen, reinen, und alles ist gut;
Die Sonnenaugen entflammen den Stern,
Und mich die deinen, und alles ist gut;
Dein Schmeicheln, Zürnen und Trotzen und Flehn,
Dein Lachen, Weinen und alles ist gut;
Die Welt im Großen, und du mir in ihr
Die Welt im Kleinen und alles ist gut;
Noch einen Kuss, ich begehre nur dies,
Versprich noch einen, und alles ist gut;
Des Hafis Lieder, ich rühme sie laut,
Du rühmst die meinen, und alles ist gut.
77
Barthold Hinrich Brockes
GEFÄHRLICHE VERACHTUNG DER WELT
Man saget, unser Leben sei
Hier bloß ein Durchgang, eine Reise,
Wohin? Der Zweck ist zweierlei,
Zur Höllen, und zum Paradeise.
So reist man hier denn, ohne Zweifel,
Zum Schöpfer oder auch zum Teufel.
Dies klingt wahrhaftig hart, die Welt,
Die so viel Wunder in sich hält,
Verächtlich einen Postweg nennen,
Und, sonder Ohr, Gefühl, Gesicht,
Den schönen Bau der Welt durchrennen,
Den Gott so herrlich zugericht.
Sind uns die Sinnen, hier im Leben,
Denn nur fürs Künftige gegeben?
Sind sie und diese Welt nicht wert,
Dass man denjenigen verehrt,
Der sie so herrlich schaffen wollen,
Nebst uns, damit wir, im Genuss,
Bei einem solchen Überfluss,
Uns freuen und ihm danken sollen?
Allein man hält uns, bis ins Grab,
Ach leider! so zu denken ab.
Und, bei dem Handel, glaubet man,
Dass man doch selig werden kann.
Ist es vernünftig, so zu denken:
„Ich hab, o Schöpfer, deine Macht,
Und Lieb und Weisheit nichts geacht,
Drum wirst du mir den Himmel schenken?“
78
Wohl aber würd es besser klingen:
„Mein Gott, ich hab in allen Dingen,
Die deine Huld hervorgebracht,
Die Macht und Weisheit, mit Bedacht,
Betrachtet, und mit Lust besehen,
Und, um dich würdig zu erhöhen,
Den mir gegebenen Verstand
Aus allen Kräften angewandt,
Nach den Gesetzen meiner Pflicht,
Dein im Geschöpf verhülltes Licht,
Und in den wunderbaren Werken,
Herr! Deine Weisheit zu bemerken.
Du wirst demnach nach diesem Leben,
Da ich nach Möglichkeit gelebt, wie ich gesollt,
Und das dabei geglaubt, was du gewollt,
Aus Gnaden mir den Himmel geben.
Damit ich auch, nach dieser Zeit,
In jener selgen Ewigkeit,
An deinen nie erschöpften Schätzen,
Mich, sonder Ende, mög ergötzen.“
79
William Blake
DER PREIS DER ERFAHRUNG
„Was ist der Preis der Erfahrung? Kauft man sie für ein Lied?
Oder Weisheit für einen Tanz auf der Straße? Nein, sie wird erkauft mit
allem, was einer hat, seinem Haus, Weib, Kindern.
Weisheit wird verkauft auf jenem einsamen Markt, wo niemand
zum Kaufen kommt,
und auf dem verdorrten Acker, wo der Bauer vergeblich um sein Brot pflügt.
Es ist ein leichtes zu frohlocken in der Sommersonne
und zur Ernte & zu singen auf einem Wagen voller Korn.
Es ist ein leichtes, den Notleidenden zur Geduld zu raten,
den Heimatlosen weise Voraussicht zu predigen,
das Kreischen der hungernden Raben im Winter zu hören,
wenn man selbst wohlgefüllt ist mit Wein & gutem Lamm.
Es ist ein leichtes über die stürmischen Elemente zu lachen,
den Hund zu hören, wie er heult an der winterlichen Tür,
den Ochsen, wie er stöhnt im Schlachthaus;
einen Gott zu sehen in jedem Wind & einen Segen in jedem Lüftchen;
den Klang der Liebe im Gewittersturm zu vernehmen,
der das Haus unserers Feindes zerstört;
sich zu erfreuen am Mehltau, der seine Felder überdeckt, & an der Krankheit,
die ihm die Kinder hinwegrafft;
während der Ölbaum & der Weinstock vor unserer Tür prächtig gedeihen, &
unsere Kinder Früchte & Blumen bringen.
Dann sind Schmerz & Pein leicht vergessen & der Sklave in der Tretmühle;
und der Gefangene in Ketten & der Arme im Gefängnis & der Soldat im Feld,
wenn seine zertrümmerten Knochen ihn zu den
glücklicheren Toten gelegt haben;
es ist ein leichtes sich zu freuen in den Zelten des Überflusses;
so könnte man singen & sich freuen: aber nicht ich.“
80
Friedrich Nietzsche
DER GEHEIMNISVOLLE NACHEN
Gestern nachts, als alles schlief,
Kaum der Wind mit ungewissen
Seufzern durch die Gassen lief,
Gab mir Ruhe nicht das Kissen,
Noch der Mohn, noch, was sonst tief
Schlafen macht, – ein gut Gewissen.
Endlich schlug ich mir den Schlaf
Aus dem Sinn und lief zum Strande.
Mondhell war’s und mild, ich traf
Mann und Kahn auf warmem Sande,
Schläfrig beide, Hirt und Schaf: –
Schläfrig stieß der Kahn vom Lande.
Eine Stunde, leicht auch zwei,
Oder war’s ein Jahr? – da sanken
Plötzlich mir Sinn und Gedanken
In ein ewges Einerlei,
Und ein Abgrund ohne Schranken
Tat sich auf: – da war’s vorbei!
– Morgen kam: auf schwarzen Tiefen
steht ein Kahn und ruht und ruht...
Was geschah? so rief’s, so riefen
Hundert bald: was gab es? Blut? – –
Nichts geschah! Wir schliefen, schliefen
Alle – ach, so gut! so gut!
81
Des Knaben Wunderhorn
GEDANKENSTILLE
Vögel, tut euch nicht verweilen,
Kommet, eilet schnell herzu,
Wölfe, höret auf zu heulen,
Denn ihr störet meine Ruh.
Götter, kommt und helft mir klagen,
Ihr sollt alle Zeugen sein,
Dürft ich es den Lüften sagen
Und entdecken meine Pein.
Wehet nur, ihr sanften Winde,
Bächlein rauschet nicht so sehr,
Fließt und wehet jetzt gelinde,
Gebt doch meinem Lied Gehör.
Äst und Zweige tut nicht wanken,
Bäum und Blätter, haltet still,
Weil ich jetzo in Gedanken
Euch mein Lied entdecken will.
82
Friedrich Nietzsche
IM SÜDEN
So häng ich denn auf krummem Aste
Und schaukle meine Müdigkeit.
Ein Vogel lud mich her zu Gaste,
Ein Vogelnest ist’s, drin ich raste.
Wo bin ich doch? Ach, weit! Ach, weit!
Das weiße Meer liegt eingeschlafen,
Und purpurn steht ein Segel drauf.
Fels, Feigenbäume, Turm und Hafen,
Idylle rings, Geblök von Schafen, –
Unschuld des Südens, nimm mich auf!
Nur Schritt für Schritt – das ist kein Leben,
Stets Bein vor Bein macht deutsch und schwer.
Ich hieß den Wind mich aufwärts heben,
Ich lernte mit den Vögeln schweben, –
Nach Süden flog ich übers Meer.
Vernunft! Verdrießliches Geschäfte!
Das bringt uns allzubald ans Ziel!
Im Fliegen lernt ich, was mich äffte, –
Schon fühl ich Mut und Blut und Säfte
Zu neuem Leben, neuem Spiel ...
Einsam zu denken nenn ich weise,
Doch einsam singen – wäre dumm!
So hört ein Lied zu eurem Preise
Und setzt euch still um mich im Kreise,
Ihr schlimmen Vögelchen, herum!
83
So jung, so falsch, so umgetrieben
Scheint ganz ihr mir gemacht zum Lieben
Und jedem schönen Zeitvertreib?
Im Norden – ich gesteh’s mit Zaudern –
Liebt ich ein Weibchen, alt zum Schaudern:
„Die Wahrheit“ hieß dies alte Weib...
84
Friedrich Nietzsche
MEIN GLÜCK
Die Tauben von San Marco seh ich wieder:
Still ist der Platz, Vormittag ruht darauf.
In sanfter Kühle schick ich müßig Lieder
Gleich Taubenschwärmen in das Blau hinauf –
Und locke sie zurück,
Noch einen Reim zu hängen ins Gefieder
– mein Glück! Mein Glück!
Du stilles Himmels-Dach, blau-licht, von Seide,
Wie schwebst du schirmend ob des bunten Bau’s,
Den ich – was sag ich? – liebe, fürchte, neide ...
Die Seele wahrlich tränk' ich gern ihm aus!
Gäb’ ich sie je zurück? –
Nein, still davon, du Augen-Wunderweide!
– mein Glück! Mein Glück!
Du strenger Turm, mit welchem Löwendrange
Stiegst du empor hier, siegreich, sonder Müh!
Du überklingst den Platz mit tiefem Klange –:
Französische wärst du sein accent aigu?
Blieb ich gleich dir zurück,
Ich wüsste, aus welch seidenweichem Zwange ...
– mein Glück! Mein Glück!
85
Fort, fort Musik! Lass erst die Schatten dunkeln
Und wachsen bis zur braunen lauen Nacht!
Zum Tone ist’s zu früh am Tag, noch funkeln
Die Gold-Zierarten nicht in Rosen-Pracht,
Noch blieb viel Tag zurück,
Viel Tag für Dichten, Schleichen, Einsam-Munkeln
– mein Glück! Mein Glück!
86
Friedrich Nietzsche
UNTER FEINDEN
(Nach einem Zigeuner-Sprichwort)
Dort der Galgen, hier die Stricke
Und des Henkers roter Bart,
Volk herum und giftge Blicke –
Nichts ist neu dran meiner Art!
Kenne dies aus hundert Gängen,
Schrei’s euch lachend ins Gesicht:
„Unnütz, unnütz, mich zu hängen!
Sterben? Sterben kann ich nicht!“
Bettler ihr! Denn euch zum Neide
Ward mir, was ihr – nie erwerbt:
Zwar ich leide, zwar ich leide –
Aber ihr – ihr sterbt, ihr sterbt!
Auch nach hundert Todesgängen
Bin ich Atem, Dunst und Licht –
„Unnütz, unnütz, mich zu hängen!
Sterben? Sterben kann ich nicht!“
87
Friedrich Nietzsche
DIESEN UNGEWISSEN SEELEN
Diesen ungewissen Seelen
Bin ich grimmig gram.
All ihr Ehren ist ein Quälen,
All ihr Lob ist Selbstverdruss und Scham.
Dass ich nicht an ihrem Stricke
Ziehe durch die Zeit,
Dafür grüßt mich ihrer Blicke
Giftig-süßer, hoffnungsloser Neid.
Möchten sie mir herzhaft fluchen
Und die Nase drehn!
Dieser Augen hilflos Suchen
Soll bei mir auf ewig irregehn.
88
Matthias Claudius
DER MANN IM LEHNSTUHL
Saß einst in einem Lehnstuhl still
Ein vielgelehrter Mann,
Und um ihn trieben Knaben Spiel
Und sahn ihn gar nicht an.
Sie spielten aber Steckenpferd,
Und ritten hin und her:
Hopp, hopp! und peitschten unerhört,
Und trieben’s Wesen sehr.
Der Alte dacht in seinem Sinn:
„Die Knaben machen’s kraus!
Muss sehen lassen wer ich bin.“
Und damit kramt’ er aus;
Und machte ein gestreng Gesicht,
Und sagte weise Lehr.
Sie spielten fort, als ob da nicht
Mann, Lehr, noch Lehnstuhl wär.
Da kam die Laus und überlief
Die Lung und Leber ihm.
Er sprang vom Lehnstuhl auf, und rief
Und schalt mit Ungestüm:
„Mit dem verwünschten Steckenpferd!
Was doch die Unart tut!
Still da! ihr Jungens, still, und hört!
Denn meine Lehr ist gut.“
89
„Kann sein“, sprach einer, „weiß es nit,
Geht aber uns nicht an.
Da ist ein Pferd, komm reite mit;
Denn bist du unser Mann.“
90
Barthold Hinrich Brockes
DIE HERDE KÜHE
Auf bunt beblümt und dick begraster Erde
Erblickt ich jüngst in der gehörnten Herde
Ein Bild des Friedens und der Ruh.
Ich sah dem sanften Wieder-Käuen,
Ich höret ihm zugleich mit Anmut zu,
Und musste mich recht herzlich drüber freuen.
Wie lieblich lässt es nicht,
Wenn sie mit halben teils, teils ganz geschlossnen Augen
Den ausgedruckten Saft voll sanfter Wollust saugen,
Mit den beweglichen behaarten Ohren spielen,
Und mit dem schlanken Schweif, sobald sie Fliegen fühlen,
Um sie, zusammt dem Schwarm der Mücken, zu verjagen,
Mit regen Kreisen stets die glatten Seiten schlagen.
Der Farben Unterschied vergnüget das Gesicht.
Wie angenehm, wie lieblich, lässt es nicht,
Wenn man an dieser hier
Ein glattes Schwarz, an der ein glühend Rot, erblicket,
Wenn eine bläulich graue Haut
Dort eine Kuh, und sie die Wiese, schmücket.
Absonderlich wird nicht ohn’ Anmut angeschaut,
Wenn schwarze bald, bald rote Flecken
Von mancher weißen Kuh die hell-bestrahlten Seiten
Mit mancherlei Figuren decken.
Recht herrlich glänzen die, so scheckigt sind, von weiten.
Die schön gehörnte Stirn ist an den meisten weiß,
Wobei das schwarze Maul in seiner feuchten Glätte
Gar oft, als ob man es mit Fleiß
Mit Leib-Farb nett umstrichen hätte,
recht artig anzusehn.
91
Wenn sie das frische Gras
Mit scharfen Zungen mähn,
Erreget jeder Biss ein rauschendes Getön,
Womit sich wechselsweis ein starkes Schnaufen mengt,
Das dem, der sich dabei ins kühle Gras gestreckt,
Ein nicht unangenehm Getös erweckt.
In ihren halb geschlossnen Augen scheint
Die Sanftmut mit der Ruh vereint,
Gelassen, unbesorgt, und recht vergnügt zu wohnen.
Ach dass man euch, mit ruhigem Gemüt,
Nicht oft zu unsrer Lehr’ in solcher Stellung sieht!
Mit hin und her bewegten Kiefern stunden
Verschiedne glatte Küh’ unangebunden,
Und ließen aus der vollen Euter Zitzen
Die fette Milch zu unsrer Nahrung spritzen.
Liebstes Vieh, da ich hier stehe,
Und, wie man dich melket, sehe;
Fällt mir bei,
Auf was Weis’ es möglich sei,
Dass in dir das Gras für mich
Auf so wundersame Weise
So zum Trank als auch zur Speise
Zubereitet werd’, und sich,
Als in lebendigen Öfen, gleichsam destilliere.
Sprich nun, Mensch, ob in der Tat
Dem, der es geordnet hat,
Nicht unendlich Lob gebühre!
92
Matthias Claudius
ALS DER HUND TOT WAR
Alard ist hin, und meine Augen fließen
Mit Tränen der Melancholie!
Da liegt er tot zu meinen Füßen!
Das gute Vieh!
Er tat so freundlich, klebt’ an mich wie Kletten,
Noch als er starb an seiner Gicht.
Ich wollt ihn gern vom Tode retten,
Ich konnte nicht.
Am Eichbaum ist er oft mit mir gesessen,
In stiller Nacht mit mir allein;
Alard, ich will dich nicht vergessen,
Und scharr dich ein,
Wo du mit mir oft saß’st, bei unsrer Eiche,
Der Freundin meiner Schwärmerei.–
Mond, scheine sanft auf seine Leiche!
Er war mir treu.
93
Friedrich Gottlieb Klopstock
DIE FRÜHEN GRÄBER
Willkommen, oh silberner Mond,
Schöner, stiller Gefährt der Nacht!
Du entfliehst? Eile nicht, bleib, Gedankenfreund!
Sehet, er bleibt, das Gewölk wallte nur hin.
Des Maies Erwachen ist nur
Schöner noch wie die Sommernacht,
Wenn ihm Tau, hell wie Licht, aus der Locke träuft,
Und zu dem Hügel herauf rötlich er kömmt.
Ihr Edleren, ach, es bewächst
Eure Male schon ernstes Moos!
O, wie war glücklich ich, als ich noch mit euch
Sahe sich röten den Tag, schimmern die Nacht!
94
Eduard Mörike
WALDPLAGE
Im Walde deucht mir alles miteinander schön,
Und nichts Missliebiges darin, so vielerlei
Er hegen mag; es krieche zwischen Gras und Moos
Am Boden, oder jage reißend durchs Gebüsch,
Es singe oder kreische von den Gipfeln hoch,
Und hacke mit dem Schnabel in der Fichte Stamm,
Dass lieblich sie ertönet durch den ganzen Saal.
Ja machte je sich irgend etwas unbequem,
Verdrießt es nicht, zu suchen einen andern Sitz,
Der schöner bald, der allerschönste, dich bedünkt.
Ein einzig Übel aber hat der Wald für mich,
Ein grausames und unausweichliches beinah.
Sogleich beschreib ich dieses Scheusal, dass ihrs kennt;
Noch kennt ihrs kaum, und merkt es nicht, bis unversehns
Die Hand euch und, noch schrecklicher, die Wange schmerzt.
Geflügelt kommt es, säuselnd, fast unhörbarlich;
Auf Füßen, zweimal dreien, ist es hoch gestellt
(Deswegen ich in Versen es zu schmähen auch
Den klassischen Senarium mit Fug erwählt);
Und wie es anfliegt, augenblicklich lässet es
Den langen Rüssel senkrecht in die zarte Haut;
Erschrocken schlagt ihr schnell darnach, jedoch umsonst,
Denn, graziöser Wendung, schon entschwebet es.
Und alsobald, entzündet von dem raschen Gift,
Schwillt euch die Hand zum ungestalten Kissen auf,
Und juckt und spannt und brennet zum Verzweifeln euch
Viel Stunden, ja zuweilen noch den dritten Tag.
So unter meiner Lieblingsfichte saß ich jüngst –
Zur Lehne wie gedrechselt für den Rücken, steigt
Zwiestämmig, nah dem Boden, sie als Gabel auf –
Den Dichter lesend, den ich jahrelang vergaß:
An Fanny singt er, Cidly und den Züricher See,
Die frühen Gräber und des Rheines goldnen Wein
95
(O sein Gestade brütet jenes Greuels auch
Ein größeres Geschlechte noch und schlimmres aus,
Ich kenn es wohl, doch höflicher dem Gaste wars.) –
Nun aber hatte geigend schon ein kleiner Trupp
Mich ausgewittert, den geruhig Sitzenden;
Mir um die Schläfe tanzet er in Lüsternheit.
Ein Stich! der erste! er empört die Galle schon.
Zerstreuten Sinnes immer schiel ich übers Blatt.
Ein zweiter macht, ein dritter, mich zum Rasenden.
Das holde Zwillings-Nymphenpaar des Fichtenbaums
Vernahm da Worte, die es nicht bei mir gesucht;
Zuletzt geboten sie mir flüsternd Mäßigung:
Wo nicht, so sollt ich meiden ihren Ruhbezirk.
Beschämt gehorcht ich, sinnend still auf Grausamtat.
Ich hielt geöffnet auf der flachen Hand das Buch,
Das schwebende Geziefer, wie sich eines naht’,
Mit raschem Klapp zu töten. Ha! da kommt schon eins!
„Du fliehst! o bleibe, eile nicht, Gedankenfreund!“
(Dem hohen Mond rief jener Dichter zu dies Wort.)
Patsch! Hab ich dich, Canaille, oder hab ich nicht?
Und hastig – denn schon hatte meine Mordbegier
Zum stillen Wahnsinn sich verirrt, zum kleinlichen –
Begierig blättr’ ich: ja, da liegst du plattgedrückt,
Bevor du stachst, nun aber stichst du nimmermehr,
Du zierlich Langgebeinetes, Jungfräuliches!
– Also, nicht ahnend eines schönen Buches Verderb,
Trieb ich erheitert lange noch die schnöde Jagd,
Unglücklich oft, doch öfter glücklichen Erfolgs.
So mag es kommen, dass ein künftiger Leser wohl
Einmal in Klopstocks Oden, nicht ohn einiges
Verwundern, auch etwelcher Schnaken sich erfreut.
96
Des Knaben Wunderhorn
DES ANTONIUS VON PADUA FISCHPREDIGT
Antonius zur Predig
Die Kirche findt ledig.
Er geht zu den Flüssen
Und predigt den Fischen;
Sie schlagen mit den Schwänzen,
Im Sonnenschein glänzen.
Die Karpfen mit Rogen
Sind all hieher zogen,
Haben d’Mäuler aufrissen,
Sich Zuhörens beflissen:
Kein Predigt niemalen
Den Karpfen so gfallen.
Spitzgoschete Hechte
Die immerzu fechten,
Sind eilend herschwommen,
Zu hören den Frommen:
Kein Predig niemalen
Den Hechten so gfallen.
Auch jene Phantasten,
So immer beim Fasten,
Die Stockfisch in meine,
Zur Predig erscheinen:
Kein Predig niemalen
Den Stockfisch so gfallen.
97
Gut Aalen und Hausen,
Die Vornehme schmausen,
Die selber sich bequemen,
Die Predig vernehmen:
Kein Predig niemalen
Den Aalen so gfallen.
Auch Krebsen, Schildkroten,
Sonst langsame Boten,
Steigen eilend vom Grund,
Zu hören diesen Mund:
Kein Predig niemalen,
Den Krebsen so gfallen.
Fisch große, Fisch kleine,
Vornehm und gemeine,
Erheben die Köpfe
Wie verständge Geschöpfe:
Auf Gottes Begehren
Antonium anhören.
Die Predigt geendet,
Ein jedes sich wendet,
Die Hechte bleiben Diebe,
Die Aale viel lieben.
Die Predig hat gfallen.
Sie bleiben wie alle.
Die Krebs gehn zurücke,
Die Stockfisch bleiben dicke,
Die Karpfen viel fressen,
Die Predig vergessen.
Die Predig hat gfallen
Sie bleiben wie alle.
98
Des Knaben Wunderhorn
ÜBERSICHTIGKEIT
Schön wär ich gern, das bin ich nicht,
Fromm bin ich wohl, das hilft mir nicht,
Geld hilft mir wohl, das hab ich nicht,
Darum bin ich kein Buhler nicht.
Schönheit hilft mir wohl zur Buhlerei,
Schöne Gestalt macht stolz darbei,
Dich nicht verlass auf schöne Gestalt,
Dass du nicht in Verfall kommst bald.
Wenn ich schön wär und hätt viel Geld,
Wär ich der Beste in der Welt,
Dieweil ich aber solches nicht haben kann,
So muss ich im Elende bleiben stahn.
Frömmigkeit hat einen schlechten Platz,
Geld ist doch der Welt bester Schatz,
Frömmigkeit hilft nichts zur Buhlerei,
Darum mir dasselbig verboten sei.
Hätte ich solches alles drei,
So wär mir geholfen frei,
Geldswert hilft noch wohl,
Liebe ein jeder, was er lieben soll.
Frömmigkeit hat einen rechten Schein,
Geldswert ist auch wohl fein,
Schön Gestalt halt dich nur wert,
Dieweil du lebest auf dieser Erd.
99
Des Knaben Wunderhorn
VERLORENE MÜHE
Sie
Büble, wir wollen ausse gehe,
Wollen unsre Lämmer besehe,
Komm, liebs Büberle,
Komm, ich bitt.
Er
Närrisches Dinterle,
Ich geh dir halt nit.
Sie
Willst vielleicht ä bissel nasche,
Hol dir was aus meiner Tasche,
Hol, liebs Büberle,
Hol, ich bitt.
Er
Närrisches Dinterle,
Ich nasch dir halt nit.
Sie
Tut vielleicht der Durst dich plage,
Komm, will dich zum Brunnen trage,
Trink, liebs Büberle,
Trink, ich bitt.
Er
Närrisches Dinterle,
Es dürst mich halt nit.
100
Sie
Tut vielleicht der Schlaf dich drücke,
Schlaf, ich jag dir fort die Mücke,
Schlaf, liebs Büberle,
Schlaf, ich bitt.
Er
Närrisches Dinterle,
Mich schläfert’s halt nit.
Sie
Gelt, ich soll mein Herz dir schenke,
Immer willst an mich gedenke,
Nimms, lieb Büberle,
Nimms, ich bitt.
Er
Närrisches Dinterle,
Ich mag es halt nit.
101
Eduard Mörike
NIMMERSATTE LIEBE
So ist die Lieb! So ist die Lieb!
Mit Küssen nicht zu stillen:
Wer ist der Tor und will ein Sieb
Mit eitel Wasser füllen?
Und schöpfst du an die tausend Jahr,
Und küssest ewig, ewig gar,
Du tust ihr nie zu Willen.
Die Lieb, die Lieb hat alle Stund
Neu wunderlich Gelüsten;
Wir bissen uns die Lippen wund,
Da wir uns heute küssten.
Das Mädchen hielt in guter Ruh,
Wie’s Lämmlein unterm Messer;
Ihr Auge bat: nur immer zu,
Je weher, desto besser!
So ist die Lieb, und war auch so,
Wie lang es Liebe gibt,
Und anders war Herr Salomo,
Der Weise, nicht verliebt.
102
Eduard Mörike
ERSTES LIEBESLIED EINES MÄDCHENS
Was im Netze? Schau einmal!
Aber ich bin bange;
Greif ich einen süßen Aal?
Greif ich eine Schlange?
Liebe ist blinde
Fischerin;
Sagt dem Kinde,
Wo greifts hin?
Schon schnellt mirs in Händen!
Ach Jammer! o Lust!
Mit Schmiegen und Wenden
Mir schlüpfts an die Brust.
Es beisst sich, o Wunder!
Mir keck durch die Haut,
Schießt’s Herze hinunter!
O Liebe, mir graut!
Was tun, was beginnen?
Das schaurige Ding,
Es schnalzet da drinnen,
Es legt sich im Ring.
Gift muss ich haben!
Hier schleicht es herum,
Tut wonniglich graben
Und bringt mich noch um!
103
Johann Wolfgang von Goethe
DIE LIEBENDE SCHREIBT
Ein Blick von deinen Augen in die meinen,
Ein Kuss von deinem Mund auf meinem Munde,
Wer davon hat, wie ich, gewisse Kunde,
Mag dem was anders wohl erfreulich scheinen?
Entfernt von dir, entfremdet von den Meinen,
Führ ich stets die Gedanken in die Runde,
Und immer treffen sie auf jene Stunde,
Die einzige; da fang ich an zu weinen.
Die Träne trocknet wieder unversehens:
Er liebt ja, denk ich, her in diese Stille,
Und solltest du nicht in die Ferne reichen?
Vernimm das Lispeln dieses Liebewehens;
Mein einzig Glück auf Erden ist dein Wille,
Dein freundlicher, zu mir; gib mir ein Zeichen!
104
Johann Wolfgang von Goethe
WARNUNG
Am Jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen
Und alles aus ist mit dem Erdeleben
Sind wir verpflichtet, Rechenschaft zu geben
Von jedem Wort, das unnütz uns entfallen.
Wie wirds nun werden mit den Worten allen,
In welchen ich so liebevoll mein Streben
Um deine Gunst dir an den Tag gegeben,
Wenn diese bloß an deinem Ohr verhallen?
Darum bedenk, o Liebchen! dein Gewissen
Bedenk im Ernst, wie lange du gezaudert,
Dass nicht der Welt solch Leiden widerfahre.
Wer ich berechnen und entschuldgen müssen,
Was alles unnütz ich vor dir geplaudert,
So wird der Jüngste Tag zum vollen Jahre.
105
Friedrich Nietzsche
DAS WORT
Lebendgem Wort bin ich gut:
Das springt heran so wohlgemut,
Das grüßt mit artigem Genick,
Ist lieblich selbst im Ungeschick,
Hat Blut in sich, kann herzhaft schnauben,
Kriecht dann zum Ohre selbst dem Tauben,
Und ringelt sich und flattert jetzt,
Und was es tut – das Wort ergetzt.
Doch bleibt das Wort ein zartes Wesen,
Bald krank und aber bald genesen.
Willst ihm sein kleines Leben lassen,
Musst du es leicht und zierlich fassen,
Nicht plump betasten und bedrücken,
Es stirbt oft schon an bösen Blicken –
Und liegt dann da, so ungestalt,
So seelenlos, so arm und kalt,
Sein kleiner Leichnam arg verwandelt,
Von Tod und Sterben missgehandelt.
Ein totes Wort – ein hässlich Ding,
Ein klapperdürres Kling-Kling-Kling.
Pfui allen hässlichen Gewerben,
An denen Wort und Wörtchen sterben!
106
Friedrich Nietzsche
NACH NEUEN MEEREN
Dorthin – will ich; und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, ins Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.
Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit –:
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt mich’s an, Unendlichkeit!
107
August von Platen
Wohl mit Hafis darf ich sagen:
Ewig trunken ist mein Mut!
Nimmer könnt’ ich es ertragen,
Diesem Rausche zu entsagen,
Dieser Liebe, dieser Glut!
Magst du, Freude, mir gesellen
Deinen sprudelnden Pokal!
Mich verleumden, mich entstellen
Mögen nüchterne Gesellen,
Ihre Liebe wäre Qual!
Keiner wird es mir entwinden,
Dies unsägliche Vertraun:
Menschen hoff ich noch zu finden,
Die mich, wie sich selbst, empfinden,
Die mich, wie sich selbst, durchschaun.
Gern als Opfer sei gespendet
Dieser Erde Ruh’ und Glück:
Kehrt doch stets, von Gott gesendet,
Jenes Glück, das nimmer endet,
Ins zerrissne Herz zurück!
Wohl ein Glück ist’s, laut zu sagen,
Was das Innre leis empfand;
Selig fühl ich mich getragen
Auf den Schwingen meiner Klagen
In des ew’gen Friedens Land.
108
Des Knaben Wunderhorn
Steh auf, Nordwind,
Und komm, Südwind!
Weh mit deiner heilgen Luft
Durch den Garten,
Ich will warten
Dein in meines Herzens Gruft.
Lass dein Sausen
Auf mich brausen,
Meine Seele nach dir ruft!
Steh auf, Nordwind,
Und komm, Südwind!
Jag die schwarzen Wolken hin!
Mach das Dunkle,
Dass es funkle,
Alle Finsternis zerrinn!
Finstre Sünden
Lass verschwinden
Und mach helle Herz und Sinn.
Steh auf, Nordwind,
Und komm, Südwind!
Mach mein kaltes Herze heiß!
Dich zu lieben,
Das zu üben,
Was gereicht zu deinem Preis.
Sei mir günstig,
Mach mich brünstig,
In mein Herz die Liebe geuß!
109
DIE DICHTER UND IHRE GEDICHTE
Bhartrihari (7. Jh.)
Die Stufen der Liebe
William Blake (1757-1827)
Der Preis der Erfahrung
Es gibt keine Naturreligion
(Übers. vom Herausgeber)
Clemens Brentano (1778-1842)
Was reif in diesen Zeilen steht
Barthold Hinrich Brockes (1680-1747)
Die Herde Kühe
Gefährliche Verachtung der Welt
Matthias Claudius (1740-1815)
Als der Hund tot war
Auf einen Selbstmörder
Der Mann im Lehnstuhl
Der Mensch
Der Tod
Die Liebe
Die Sternseherin Lise
Ein Lied für Schwindsüchtige
Kriegslied
Nach der Krankheit 1777
Osterlied
Des Knaben Wunderhorn
(Älteste deutsche Lieder, gesammelt von L. Achim von Arnim und C. Brentano,
Erstausgabe 1806/1808)
Des Antonius von Padua Fischpredigt
Die Welt geht im Springen
Gedankenstille
Steh auf, Nordwind
Todesahndung einer Wöchnerin
Verlorene Mühe
Wo die schönen Trompeten blasen
Übersichtigkeit
Urlicht
110
Joseph von Eichendorff (1788-1857)
Auf einer Burg
Frische Fahrt
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
Alles Vergängliche
Die Liebende schreibt
Eins und alles
Genialisch Treiben
Selige Sehnsucht
Um Mitternacht
Warnung
Hafis (ca. 1325-1390)
Gestern zechend, traumverloren (Übers. G. Jacob)
Gib mir jenen Wein, den alten (Übers. Rosenzweig-Schwannau)
Ich, und dem Wein entsagen! (Übers. Rückert)
Jetzt, da wie Paradieses Hauch (Übers. Bodenstedt)
Schilt nicht weinbefleckte Zecher (Übers. Rückert)
Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803)
Die frühen Gräber
Quirinus Kuhlmann (1651-1689)
Der Wechsel menschlicher Sachen
Eduard Mörike (1804-1875)
Erstes Liebeslied eines Mädchens
Früh im Wagen
Nimmersatte Liebe
Um Mitternacht
Waldplage
Friedrich Nietzsche (1844-1900)
An den Mistral
An Goethe
An Hafis
Das Wort
Der du mit dem Flammenspeere
Der geheimnisvolle Nachen
Der Wanderer
Diesen ungewissen Seelen
111
Im Süden
Mein Glück
Nach neuen Meeren
Um Mitternacht
Unter Feinden
Vereinsamt
Zu den höchsten und erlauchtesten Menschenfreuden
Novalis (1772-1801)
Hätten die Nüchternen
August von Platen (1796-1835)
Die Sterne scheinen, und alles ist gut
Es liegt an eines Menschen Schmerz
Hab ich doch Verlust in allem
Ist’s möglich, ein Geschöpf in der Natur zu sein
Wenn ich hoch den Becher schwenke
Wohl mit Hafis darf ich sagen
Friedrich Rückert (1788-1866)
Abendlied
Chidher
Eingang
Ein Obdach
Fahrt auf dem Strom am Herbstabend
Gar viele Wege gehn zu Gott
Gnosis
Herbsthauch
Ich sah empor, und sah in allen Räumen Eines
In der natürlichen Religion geboren
In Gesellschaft
Um Mitternacht
Dschelaleddin Rumi (1207-1273)
Er hat’s gemacht, was soll ich machen?
Komm, der Liebe Sklave sei!
Mit deiner Seele hat sich meine
(Alle Übers. von F. Rückert)
Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750-1819)
Lied auf dem Wasser zu singen
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Ludwig Tieck (1773-1853)
Abreise
© 1995 Wolfgang Neumann (für die Zusammenstellung)
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