Forelle Blau In letzter Sekunde Melodiker am Klavier Sonne im

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Forelle Blau In letzter Sekunde Melodiker am Klavier Sonne im
DIE ZEIT
FEUILLETON
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magenta
yellow
Musik
12. März 2009 DIE ZEIT Nr. 12
PETER DOHERTY lässt auf seinem
ersten Soloalbum alle Exzesse hinter sich
und zeigt endlich, wie gut er sein kann
Foto: Wolf Nolting
DIE PET SHOP BOYS erzählen auf ihrem
neuen Album »Yes« von der Kunst des
Überlebens mittelalter Herren im Pop
Foto (Ausschnitt): Christian Lanz
Foto: © EMI Music
DAS CARMINA QUARTETT kratzt die
dicke Panade der Vertraulichkeit
von Franz Schuberts »Forellenquintett«
DAS ENSEMBLE CANTUS CÖLLN
entdeckt römische Kirchenmusik von
Mazzocchi, Carissimi und Frescobaldi
Foto: © Jimmy Katz
60
SCHWARZ
S. 60
Foto: © EMI Music
Nr. 12
Der französischer Jazzpianist
BAPTISTE TROTIGNON hat seine
neue CD in New York aufgenommen
In letzter
Sekunde
Forelle
Blau
Sonne im
Petersdom
Deine Rede
sei Ja, Ja
Melodiker
am Klavier
J
nter heiterem Himmel kann sich auch
eine Melancholie des Weitblicks einstellen. Spannend, das in einem Werk
zu erleben, dessen Popularität immer gern mit
Eigenschaften wie »sonnig« und »liebenswürdig« erklärt wird – Franz Schuberts Forellenquintett. Sicher, die Komposition des 22-Jährigen ging auf einen glücklichen Sommer
zurück, gleich anfangs nachstrahlend in A-Dur
und in aufsteigend gebrochenem Akkord. Aber
wann begann je ein heiteres Stück mit einem
Orgelpunkt? Zehn Takte lang hält der Kontrabass das A im Abgrund. Und wenn er wechselt, eine große Terz weiter in die Tiefe, kippt
die Harmonik mit: F-Dur! Befremdlich ist
dieser Sprung. Normalerweise findet man ihn
einfach typisch schubertisch. Normalerweise
klingt aber auch die Geige darüber nicht plötzlich so fahl, als wiche ihr die Kraft aus den
Knochen. So ist es in der Aufnahme des Carmina Quartetts zu erleben, für die sich die
renommierten Schweizer mit Pianistin Kyoko
Tabe und Kontrabassist Petru Iuga zusammentaten. Es sind Nuancen, mit denen sie die Forelle von der dicken Panade der Vertrautheit
befreien. Die Sonne scheint wie angekündigt,
doch die Konturen werden feiner, schärfer, die
Oberflächen durchsichtiger.
So kommt es, dass man viele Details nicht
mehr einfach so weghört. Das simple Seitenthema in E-Dur im Klavier – ist nicht ein
bisschen Ironie darin? Und zugleich eine kleine Angst, wie lange es wohl noch gut geht?
Tabe formuliert die Töne wie mit undurchdringlicher Miene, doch um jeden Ton sind
Gedanken. Die Pianistin verbindet sich bestens mit den Streichern und ihrer analytischen
Transparenz. Die lässt auch in den Variationen aufs Lied Die Forelle das Schicksal des
Fischchens ahnen: Vom Angler ausgetrickst,
endet die Forelle im Lied als »Betrogene«.
Schubert zitiert diese finstere Passage nicht im
Quintett. Aber dass da etwas verborgen ist in
der Heiterkeit, das kann man hier hören.
Zugleich haben diese Musiker einen
Schwung, mit dem sie in Robert Schumanns
Es-Dur-Klavierquintett zeitweilig sogar die
hochkarätige CD-Konkurrenz vom »Spannungen«-Festival hinter sich lassen. Im Scherzo fragt man sich, warum noch niemand dieses Stück choreografiert hat: Es hält einen
kaum auf dem Sitz. Ganz ohne doppelten
Boden gibt sich das Ensemble da der blendenden Laune des schwierigen Mannes hin.
Auch gut!
VOLKER HAGEDORN
U
apst Urban VIII., von 1633 bis 1644
im Amt, hatte es sich zum Ziel gesetzt,
seinen Kirchenstaat schöner und sicherer zu machen. Es waren, um das Mindeste zu
sagen, ungemütliche Zeiten. Weiter nördlich
tobte ein nicht enden wollender Krieg, und
der Protestantismus wurde, namentlich in
Deutschland, immer stärker. Urban igelte sich
komfortabel ein, begründete unter anderem
Castelgandolfo als Sommersitz und war den
schönen Dingen, aber auch dem schnöden
Geld auf außerordentliche Weise zugetan.
Beliebt machte er sich so nicht. Als er starb,
tanzten die Römer auf der Straße.
Von all dem eher unbeeindruckt, regierten
Virgilio Mazzocchi, Giacomo Carissimi und
Girolamo Frescobaldi den musikalischen Betrieb. Mazzocchi war als Kapellmeister an den
gerade neu erbauten Petersdom berufen worden, Carissimi amtierte bei den Jesuiten vom
Collegio Germanico, und Frescobaldi war als
Domorganist gewissermaßen die rechte Hand
von Mazzocchi. Ist es ein Wunder, wenn sich
keine großen Brüche ergeben, hört man die
Psalmen, Antifonen und Marienhymnen ein
Stück nach dem anderen?
Welch subtile individuelle Freiheiten und
Extravaganzen sich die drei Kirchenmusiker
gleichwohl gestatteten, ist sofort zu merken,
wenn Konrad Junghänel mit dem so präzise wie
überirdisch schön agierenden Cantus Cölln und
dem Concerto Palatino zum Vergleich auf den
1594 gestorbenen Tonsetzer Palestrina zurückgreift. Als würde im Petersdom mit einem
Schlag die Sonne aufhören zu scheinen: Fast
grau in grau wirkt das Avis maris stella, vor allem,
weil direkt danach eine Magnificat-Vertonung
von Mazzocchi erklingt. Mazzocchi ist Palestrinas Kontrapunktik selbstverständlich in Fleisch
und Blut übergegangen. Allerdings lässt er es
nicht dabei bewenden. Immer wieder blitzt auf,
dass er nicht nur als Diener Gottes mit dem
Material umgehen will, sondern seine Emanzipation als Künstler betreibt. Fast den Rahmen
sprengend, schreibt er für seine Sänger brillante Partien. Gut möglich, dass Mazzocchi als
Kirchenkomponist manchmal sogar von der
künstlerischen Ausrichtung seines Nebenjobs
profitierte. Schließlich war er in Teilzeit beim
Kardinal Francesco Barberini angestellt, den
Urban VIII. vetternwirtschaftlich versorgte.
Barberini wiederum besaß ein ausgesprochenes
Faible für den Fasching – und Mazzocchi musste ihm die Musik dafür liefern. Aber das wäre
eine andere CD.
MIRKO WEBER
P
ie Sache wäre also auch erledigt. Auf
das Cover ihres neuen Albums haben
die Pet Shop Boys einen großen Haken
gesetzt, der sich aus knallbunten Quadraten
zusammenfügt, Yes ist oben links neben dem
Bandnamen zu lesen. Ja, so knapp halten es
Neil Tennant (54) und Chris Lowe (49) traditionell gerne, Pet-Shop-Boys-Platten firmierten
stets unter poppigen Markennamen: Disco,
Please, Actually, Very und zuletzt Fundamental.
Yes ist ein Synonym für die Pet Shop Boys 2009,
funktional, freundlich, selbstbewusst und nicht
gar so affirmativ, wie es sich anhört.
Das Album der britischen Disco-Pop-Ikonen erzählt von der Kunst des Überlebens in
einer sich ständig selbst überholenden Popmusik. Die Pet Shop Boys haben beste Aussichten, das erfolgreichste Pop-Duo der Welt zu
bleiben, weil sie sich dem Blues der mittleren
Jahre konsequent verweigern. In der Welt von
Tennant und Lowe obsiegt die Ästhetik über
Zipperlein aller Art, bei ihren Auftritten übernehmen Bühnendesign und Multimedia die
Rolle der Performer, für den künstlerischen
Überbau sorgen die Auftritte in den Klatschspalten.
Die Aktie Pet Shop Boys zeichnet sich durch
eine beeindruckende Krisenfestigkeit aus, seit
ziemlich genau einem Vierteljahrhundert.
Konnte dem notorisch nonchalanten Duo jetzt
Schöneres passieren, als dass die langbeinigen
Casting-Show-Babys von Girls Aloud mit einem Song der beiden Elder Statesmen die
Charts stürmten? Auf der eigenen Single Love
Etc. fügt Neil Tennant seine Ansichten über
den Starbetrieb hinzu: »Don’t have to live a life
of power and wealth / don’t have to be beautiful,
but it helps«. Die Neuerungen der aktuellen
Pet-Shops-Kollektion Yes fallen alle in den Bereich bloßer Duftnoten. Der Streicher-Star
Owen Pallett (Final Fantasy, Arcade Fire) darf
die Hymne Beautiful People in ein SechzigerSpektakel verwandeln. Johnny Marr spielt
diese Gitarre, die man gar nicht hört, die aber
angeblich so irrsinnig wichtig ist für den Sound
– für die Bewerbung von Album und Tournee
allerdings auch.
Vielleicht haben die Akademiemitglieder
der Brit Awards zuletzt Nachholbedarf verspürt, als sie den Pet Shop Boys die Auszeichnung für ihren »außerordentlichen Beitrag
zur Musik« zukommen ließen. Man hatte
fast schon wieder vergessen, wie sehr sie den
Ennui der Besserwissenden zur Kunstform
erhoben hatten. Daran darf Yes in aller Unbescheidenheit erinnern.
FRANK SAWATZKI
D
aptiste Trotignon, 1974 geboren, ist als
Pianist zwischen einer institutionellen
klassischen und einer autodidaktischen
Jazz-Ausbildung groß geworden. Als Improvisator einer jüngeren Generation liebt er »die Universalität der Musik«. Er fühle sich nicht mehr
als Franzose denn als sonst was, und der Jazz sei
ja ohnehin zu einer Art »Weltmusik« geworden.
Damit meint Trotignon nicht »world music« im
Sinn jener Musik ohne Eigenschaften, welcher
im Streben nach dem größten gemeinsamen
Nenner der letzte Rest Authentizität abhanden
gekommen ist; vielmehr, dass eine im Ursprung
afroamerikanische Fusionsmusik zu einer eigentlichen Lingua franca geworden ist. Natürlich, sagt Trotignon, sei die Kultur der afroamerikanischen Musik »drüben« mehr präsent als
in Europa, auch wenn der europäische Jazz inzwischen seine Identität gefunden habe. Wenn
Europäer mit Amerikanern zusammenarbeiten,
suchen sie längst nicht mehr nur die prominente Affiche, die ihnen beim eigenen Publikum
Respekt verschafft (der amerikanische Markt,
für US-Jazzer schon hart genug, bleibt ihnen
ohnehin verschlossen). Sie improvisieren auf
Augenhöhe mit ihresgleichen.
Seine jüngste CD hat Trotignon in New
York eingespielt, mit dem Bassisten Matt Penman, den (alternierenden) Drummern Eric
Harland und Ottis Brown III und, in den
schönsten Stücken, den Bläsern Tom Harrell
und Mark Turner. Trotignon, mal sublim melodiös, mal wirbelnd aggressiv, entwirft einmal
im Duo, siebenmal im Trio, einmal im Quartett
und zweimal im Quintett eine funkelnd vielfältige Abfolge von Eigenkompositionen. Die
sind allesamt mehr als Anlässe für solistische
Selbstverwirklichung. Zu seiner gelegentlichen
Irritation, aber nicht ohne Grund mit Brad
Mehldau verglichen (die Kultur des Anschlags,
das Timing!), verleugnet Trotignon die klassische Herkunft nicht. Seine melodische Intensität hat er seit den Tagen entwickelt, da er als
ganz junger Korrepetitor an der Oper von
Nantes Sänger begleitete. Sie prägt vor allem
die Balladen. Harrell, der aus dem innersten
Auge des Hard Bop kommt (Phil Woods), bläst
hier ein gelegentlich fast zum Flötenklang sublimiertes Flügelhorn, und Turner (der schon auf
Enrico Ravas neuem ECM-Album in einer
ätherischen Aura schwebt) ist ein kongenialer
Partner für diese neue Art von pulsierendem
Cool Jazz, dessen Reiz das Oszillieren zwischen
Distanz und intimer Nähe ausmacht. Schönheit
aus naher Ferne, sozusagen.
PETER RÜEDI
Franz Schubert: Forellenquintett
Solo Musica SM 133/Codaex
Virgilio Mazzocchi: Vespro della beata Vergine
harmonia mundi HMC 902001
ede Generation trägt auf ihren Schultern
einen ganz besonderen Helden in die
Charts. Ein rituelles Opfer, das weit heller
als alle anderen brennen und viel schneller verglühen muss. Die Liste dieser Unglücklichen
ist so lang wie die Geschichte der Popmusik
selbst und endete vorerst mit Kurt Cobain. Als
jüngster Kandidat, diese unselige Tradition
fortzusetzen, gilt seit einigen Jahren der englische Musiker Peter Doherty. Bei keinem anderen Künstler seiner Generation hielten sich
Talent und Selbstzerstörung auf so hohem Niveau die Waage. Auf seinem ersten Soloalbum
ohne seine Band, die Babyshambles, hört man
nun mit Staunen, wie diese Waage erstmals
deutlich zugunsten seines Talents ausschlägt.
Vielleicht klingt das klare und leise Grace/
Wastelands deshalb so überraschend anrührend
– wie ein seidener Fallschirm, der sich in letzter Sekunde geöffnet hat. Denn was Doherty
hier seinen Dämonen abgerungen hat, ist in
seiner zarten Grandezza nichts Geringeres als
die Krönung seiner bisherigen Karriere.
Akustisch hätte man das früher einmal genannt, denn der spezielle Zauber dieser Platte
liegt in ihrer bis zur Kontemplation konzentrierten Beschränkung auf den Song – und
allem, was ihm dient. Ließen seine berauschten und berauschenden Skizzen früher das
brillante Songwriting dahinter immer nur
erahnen, liegt sein Genie in so luftigen Songs
wie Salome oder Lady Don’t Fall Backwards
offen zutage. Zumal alles Dionysische aus
dieser Sammlung behutsam produzierter
Kostbarkeiten vollkommen verbannt worden
ist – wahrscheinlich von Graham Coxon,
dem Exgitarristen von Blur und Geburtshelfer dieses Albums.
Übrig bleiben akustische Gitarre, sparsam
arrangierte Streicher, viele hingehuschte Pianoklänge und gedämpfte Bläsersätze. Dazu besingt
Doherty mit zigarettenpapierdünner Stimme
die Unmöglichkeit der Liebe und immer wieder
auch seinen Sehnsuchtsort, das versunkene
Albion: Sweet By And Bye badet förmlich in
einem nostalgischen Ragtime Blues, womit der
freundlichen Traditionalismen noch lange kein
Ende ist. 1939 Returning könnte auch einem
depressiven Randy Newman eingefallen sein,
A Little Death Around The Eyes einem fröhlichen Scott Walker, das folkige Arcady einem
Conor Oberst und die Single Last Of The English Roses gar den Gorillaz. Es scheint, als habe
der Dionysos Doherty den Apoll in sich entdeckt. Und geweckt. Hoffentlich nickt er nicht
so schnell wieder ein.
ARNO FRANK
Peter Doherty: Grace/Wastelands (EMI)
Nr. 12 DIE ZEIT
S.60
SCHWARZ
Pet Shop Boys: Yes (Parlophone/EMI)
cyan
magenta
yellow
B
Baptiste Trotignon: Share
naïve 814671/Indigo

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