Brich auf, Abraham - Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt

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Brich auf, Abraham - Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt
SANKT GEORGENER PREDIGTEN
HEFT 11
Thomas Gertler SJ
Brich auf, Abraham!
1
Herausgeber:
Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen e. V.
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unter Mitarbeit von Edeltraud Schönfeldt, Berlin
Mit freundlicher Unterstützung durch den
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Erscheinungsdatum: November 2005
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Inhalt
„Brich auf, Abraham!“
Fastenpredigt am 30. März 2003,
Sankt Bonifatius in Wiesbaden ............................................................ 5
Nach der deutschen Einheit – Osterfreude?
Radio-Predigt im RIAS zum 3. Sonntag in der Osterzeit,
3. April 1993 ........................................................................................... 10
Die Kirche ist mehr als ein Problemfall
Predigt zur Kirchweih 1997 in der Bonifatiuskirche
in Erfurt-Hochheim, ............................................................................ 17
Leben ins Leben
Predigt am 23. Dezember 1999 in Sankt Georgen ........................ 23
Wandlung der Steine
Predigt zur Kirchweihe am 2. Mai 2000
in der Seminarkirche von Sankt Georgen........................................ 27
Mit Liebe, Vertrauen und Mut
Festpredigt über 1 Kor 13 am 28. Januar 2001
zur Thomas-Akademie ........................................................................ 31
Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben
Predigt über Joh 14,1–12 am 5. Ostersonntag (A),
28. April 2002, in Sankt Georgen ..................................................... 36
Tempel Gottes – Traum und Wirklichkeit
Predigt zur Kirchweihe in Sankt Georgen 2003 ............................ 40
Das Wesen der Musik
Predigt zur Einweihung der neuen Orgel
in Sankt Georgen am 28. Juni 2003 ................................................... 45
Wie erkenne ich, ob Gott mich ruft?
Veröffentlicht in: Der Sonntag. Kirchenzeitung
für das Bistum Limburg, 25.3.2001, S. 11 ........................................ 49
3
Vom Kommen des Menschensohnes
Predigt zum 1. Adventsonntag, 30. November 2003,
in Sankt Georgen................................................................................... 55
„Bleibt wach!“
Predigt zum 1. Advent 1999 in Sankt Georgen ............................. 59
Mission zwischen Evangelium und Kultur
Predigt zum Fest des heiligen Franz Xaver
am 3. Dezember 2002, seinem 450. Todestag................................. 63
„Meinen Frieden gebe ich euch …“
Predigt am 9. Juli 2002
zu Gen 32,23–33; Mt 9,32–38 in Sankt Georgen......................... 68
Verheißung
Predigt zu Ostern 2004 Sankt Georgen........................................... 72
„Selig, die nicht sehen und doch glauben“
Predigt zu Christi Himmelfahrt 2004 in Sankt Georgen............. 76
Glauben – Gehen – Bleiben
Letzte Kommunitätsmesse als Regens in Sankt Georgen
am 13. Juli 2004...................................................................................... 79
Fußwaschung
Predigt zum Gründonnerstag 2005
über Joh 13,1–17 in Sankt Georgen ................................................. 85
Mit heißem Herzen
Predigt zum Herz-Jesu-Fest
am 3. Juni 2005 in Sankt Georgen ..................................................... 89
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„Brich auf, Abraham!“
Fastenpredigt am 30. März 2003, Sankt Bonifatius in Wiesbaden
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Lesung aus dem Buch Genesis:
„Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner
Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen
und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen.
Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Da zog
Abram weg, wie der Herr ihm gesagt hatte, und mit ihm ging auch Lot.
Abram war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran fortzog. Abram
nahm seine Frau Sarai mit, seinen Neffen Lot und alle ihre Habe, die sie
erworben hatten, und die Knechte und Mägde, die sie in Haran gewonnen hatten. Sie wanderten nach Kanaan aus und kamen dort an“
(Gen 12,1–5).
Gott ruft Menschen. Auch heute? Und wen?
„Brich auf, Abraham, aus dem Gewohnten, der Heimat, der Familie, in
das Land, das ich dir zeigen werde.“
Und Abraham hört und bricht auf. Und er wird zum Segen für die ganze
Welt (vgl. Gen 12).
Liebe Schwestern und Brüder,
ich heiße Thomas Gertler, bin Jesuit und war von 1995 bis zum 1. September
2004 Regens im Priesterseminar Sankt Georgen. Vorher habe ich mein ganzes Leben im Osten Deutschlands, hauptsächlich in Erfurt, verbracht.
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Die Predigten wurden anlässlich der Veröffentlichung bearbeitet und stellenweise
aktualisiert.
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In Sankt Georgen haben wir zurzeit 22 Priesterkandidaten aus vier Bistümern: Hamburg, Osnabrück, Hildesheim und Limburg. Aus Limburg
stammen fünf Kandidaten.
Durch alle Jahrgänge. Limburg wird höchstens alle zwei Jahre noch eine
Priesterweihe haben.
Die Situation ist hochdramatisch.
Aber was geht das den einzelnen Gläubigen an? Was geht es Sie, liebe
Schwestern und Brüder, an? Gut, es kann und wird sehr bald die Gemeinde
betreffen: kein Kaplan mehr, Pfarrer geteilt mit anderen Gemeinden.
Aber ist die Krise nicht hausgemacht? Wenn die Kirche endlich den Zölibat abschaffen würde, dann gäbe es sicher genug Geistliche.
Vielleicht ist daran etwas richtig, und wir müssen auch unseren Kirchenleitungen sagen: Abraham, brich auf aus dem Gewohnten in das Land, das
Gott dir zeigt!
Aber es ist auch eine ganz konkrete Frage an uns hier: Wollen wir wirklich Priester und Ordensleute? Wollen wir geistliche und kirchliche Berufe?
Ich mache in der letzten Zeit eine erschreckende Feststellung: Von den
jungen Männern, die ins Seminar kommen, erzählen mir viele, nicht nur
einzelne: Meine kirchenfernen Freunde und Bekannten reagieren positiv
auf meinen Entschluss, Priester zu werden. Verhindern wollen es oft die
eigenen Eltern und Gläubige aus dem Inneren der Gemeinde: „Bist du verrückt, Priester werden zu wollen?!“
Wollen wir wirklich Berufungen, wenn es die eigenen Kinder und Enkel
betrifft? Wenn es die eigenen Vorstellungen und Wünsche von den Kindern
durchkreuzt?
Brich auf, Abraham, aus dem Gewohnten, der Heimat, der Familie, in
das Land, das ich dir zeigen werde. Und Abraham hört und bricht auf.
Und er wird zum Segen für die ganze Welt.
Das zeigt uns: Wir müssen vielleicht bei der Frage nach der Berufung tiefer
fragen und schauen.
Liebe Schwestern und Brüder, dramatischer als der Rückgang von Priestern und Ordensleuten ist der Rückgang der Gläubigen. In Frankfurt hat
die Zahl der Katholiken in den letzten zehn Jahren um über 20 000 abgenommen. Das kann doch nicht nur eine dramatische Frage an das Kirchen6
steueraufkommen sein. Das ist doch eine kleine Stadt, das sind doch mehrere Gemeinden, die da verschwinden. Und bundesweit sind es Hunderttausende jährlich.
Schauen Sie in die eigene Gemeinde und auf die Teilnehmer der Gottesdienste. Freilich ist es oft Enttäuschung an der Kirche. Freilich ist es oft –
gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten – die Kirchensteuer. Aber es
geht doch tiefer. Es gibt doch auch eine wirkliche Gottes- und Glaubenkrise. Die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit unseres Alltagslebens
haben zu wenig miteinander zu tun.
Wenn wir für unser Leben das Bild des Rades nehmen: Wo kommt da
Gott eigentlich noch vor?
Ja, natürlich, für die meisten Menschen am Rand des Lebens, an der
Felge, dem Radius, dem Außenrand: Bei der Taufe, bei der Hochzeit, bei
der Beerdigung – da begegnen wir Gott und der Kirche. Da ist uns auch
der Segen Gottes noch wichtig.
Und in der Mitte, in der Nabe? In der Herzmitte eines jeden Menschen?
Auch da ist Gott gegenwärtig – im Innenraum, der Intimität eines jeden,
wo er mit sich selbst allein ist; da, wo meine Träume und meine Sehnsüchte
auftauchen, meine Ängste und mein schlechtes Gewissen schlagen; wo
mein Glück und mein Unglück wohnen – da wohnt auch Gott. Diese Mitte
höre ich abends im Bett, wenn alle Geräte – Radio, Fernseher, CDPlayer – abgeschaltet sind, wenn ich einschlafen will. Oder wenn ich mal
krank bin und es nichts zu tun gibt.
Dort, wo im Glück oder im Unglück unweigerlich die Frage auftaucht:
Warum gerade ich?
Und das, liebe Schwestern und Brüder, sollten Sie sich jetzt einmal fragen: Wann war ich das letzte Mal richtig glücklich? Nicht nur gut gelaunt,
sondern glücklich, dass mir das Herz weit und warm geworden ist, dass ich
von Herzen dankbar war? Da, in diesem Moment, hat Gott zu mir gesprochen. Haben Sie es gemerkt? Ist es Ihnen bewusst geworden?
Oder auch bei der letzten Katastrophe; als mir klar wurde: Du musst
dein Leben ändern – da hat Gott zu Ihnen gesprochen. Aber ist mir das
bewusst geworden?
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Liebe Schwestern und Brüder! In der Mitte und am Rande, da begegnet uns
Gott noch. Aber in dem weiten Bereich dazwischen, der Nabe und Felge
verbinden soll, an den Speichen des Alltagslebens, da kommt Gott nicht
mehr vor. In dem weiten Bereich, den ich mit meinen Arbeitskollegen teile,
dem Bereich des Betriebs, des Kaufhauses, der Autobahn, der Eisenbahn –
da kommt Gott doch nicht mehr vor. In dem weiten Bereich, den wir mit
allen anderen teilen und mitteilen, in der Gesellschaft, da ist Gott ein Tabu.
In einer Talkshow kann man über alles reden, auch über kirchliche Themen, den Papst und den Zölibat, aber über den Glauben an Gott? Aber
das, was mich glauben oder zweifeln, hoffen oder verzweifeln lässt, darüber wird nicht gesprochen. Dieses Intimste, das ist das wahre Tabu in
unserer so tabulosen Gesellschaft. Aber worüber wir nicht sprechen, das
gibt es auch nicht.
Liebe Schwestern und Brüder, ich bin überzeugt: Jeder erlebt Gott. Aber das Erlebnis wird nicht zur Erfahrung, weil es nicht bedacht und nicht
besprochen wird.
Um es an einer Erfahrung deutlich zu machen: In der Wendezeit von
1989 haben in der DDR Hunderttausende von Menschen bei den Friedensgebeten und den Demonstrationen ganz tiefe Gotteserlebnisse gehabt. Viele, die noch nie in der Kirche waren, haben die Kraft des Gebetes erfahren
und den neuen Geist, der daraus erwächst und der die Wende bestimmt
hat. Denn diese Gebete waren es, die die Wende bestimmt haben. Darum
gab es nicht Gewalt oder Hass, sondern Humor und Souveränität, Frieden
und Entschiedenheit.
Aber diese Erlebnisse haben keine Folgen im Leben der Einzelnen gehabt und kaum Konsequenzen. Warum? Sie sind nicht zur Erfahrung geworden, weil sie nicht bedacht und erwogen wurden, weil sie nicht besprochen und bewusst festgehalten und bewahrt worden sind. Der Staub der
Geschichte hat sie mit anderen Erlebnissen längst wieder zugeweht.
Was lernen wir daraus? Wenn unser Leben nicht nichtssagend und stumm
werden soll, dann braucht es zwei Dinge:
Erstens: täglich eine Zeit der Aufmerksamkeit. Eine kurze Zeit der Stille. Des Lauschens, des Zuhörens. Wir müssen einmal am Tag aussteigen aus
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dem Vielerlei; einmal am Tag das Rad anhalten; einmal bemerken, was ich
erlebe; einmal am Tag beten, und seien es auch nur fünf Minuten.
Ich versichere Ihnen, wenn Sie es täglich tun, wird Ihr Leben sich verändern, vertiefen, Sinn bekommen. Mit diesen fünf Minuten täglich hat
mein eigener Weg mit Gott begonnen. Die kurzen Minuten haben mich
den Ruf Gottes hören lassen, als ich 16 Jahre war.
Zweitens: regelmäßig mit einem Menschen das besprechen, was ich in
meiner Stille, in meiner Mitte, in meinem Alltag erlebe.
Wir haben vor zwei Semestern in Sankt Georgen ein Projekt begonnen.
Es nennt sich Cornelius-Projekt nach dem Hauptmann Cornelius, der nach
dem Glauben Ausschau hält (vgl. Apg 10). Wir wollten wissen, wie der
Glaube zum Menschen kommt. Was haben wir getan? Wir haben damit
begonnen, uns gegenseitig zu erzählen, wie der Glaube zu uns gekommen
ist. Und das war dann eine ganz überraschende und bestärkende Erfahrung: zu hören, wie es beim anderen war – ganz anders und doch ganz
ähnlich.
Wir dürfen die Sprache des Glaubens nicht verlernen. Wir müssen ausdrücken lernen, wo und wie Gott heute in meinem Leben wirkt und
spricht; wie ich ihn höre und wie ich ihn vermisse; wie mich Gott überrascht und enttäuscht.
Das ist es, was ich Ihnen vorschlage, wie das Rad des Lebens sich auf
neue Weise zu drehen beginnt, weil Rand und Nabe wieder durch Speichen
verbunden sind. Dann erleben Sie: Gott spricht nicht nur zu Einzelnen.
Gott spricht zu jedem, der auf ihn hört. Er lässt sich finden von jedem, der
ihn sucht. Er tut jedem auf, der anklopft.
Und sprechen wir wieder über den Glauben und über Gott, überwinden
wir das Stummsein, dann hören wir Gottes Ruf:
Abraham und Sara, brecht auf aus dem Gewohnten in ein neues Land,
und ihr werdet zum Segen werden.
Amen.
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Nach der deutschen Einheit – Osterfreude?
Radio-Predigt im RIAS
zum 3. Sonntag in der Osterzeit, 3. April 1993
Liebe Hörerinnen und Hörer,
ich begrüße Sie herzlich zu dieser Morgenfeier. Ostern ist da! Wir dürfen
uns freuen. Aber vielleicht will sich die rechte Osterfreude bei Ihnen nicht
einstellen. Vielleicht ist in Ihnen noch Karfreitag und es geht Ihnen wie den
Jüngern, denen wir heute im Evangelium begegnen: Für Sie ist noch gar
nicht Ostern. Da muss erst noch etwas passieren, ehe Sie froh werden.
Aber hören wir doch der Geschichte zu.
Aus dem Heiligen Evangelium nach Lukas:
„Am Ostersonntag (gleichen Tags) waren zwei von den Jüngern auf
dem Weg in ein Dorf namens Emmaus, das ungefähr zwölf Kilometer
(sechzig Stadien) von Jerusalem entfernt ist. Sie sprachen miteinander
über all das, was sich ereignet hatte. Während sie redeten und ihre Gedanken austauschten, kam Jesus hinzu und ging mit ihnen. Doch sie waren wie mit Blindheit geschlagen, so dass sie ihn nicht erkannten. Er
fragte sie: Was sind das für Dinge, über die ihr auf eurem Weg miteinander redet? Da blieben sie traurig stehen, und der eine von ihnen – er
hieß Kleophas – antwortete ihm: Bist du so fremd in Jerusalem, dass du
als Einziger nicht weißt, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Er
fragte sie: Was denn? Sie antworteten ihm: Das mit Jesus aus Nazareth.
Er war ein Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen
Volk. Doch unsere Hohenpriester und Führer haben ihn zum Tod verurteilen und ans Kreuz schlagen lassen. Wir aber hatten gehofft, dass er
der sei, der Israel erlösen werde. Und dazu ist heute schon der dritte
Tag, seitdem das alles geschehen ist“ (Lk 24,13–21).
Die beiden Jünger sind mit Recht traurig. Ihre Lebenshoffnung ist zerbrochen. Darüber sprechen sie miteinander. Und auch Jesus, der hinzukommt,
lässt sie ihre Enttäuschung aussprechen. Er hört zu.
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Unsere Trauer und unser Schmerz brauchen Ohren, die ihnen zuhören.
Wenn sich die Traurigkeit nicht äußern darf, dann bleibt sie in uns, dann
kann sie uns nicht verlassen. Wie vielen geht es so wie den beiden im Evangelium: Wir aber hatten gehofft …
Es ist eine solch große Frustration und Enttäuschung bei vielen Menschen da. Bei sehr vielen hat sie ihren Grund in den Problemen mit der
deutschen Einheit. Ist diese Enttäuschung zu vergleichen mit der der Jünger oder tun wir damit dem Text Gewalt an?
Es gibt schon einige Ähnlichkeiten: zuerst die große Freude und Hoffnung auf die deutsche Wiedervereinigung – ich höre noch den Berliner
Bürgermeister Walter Momper sagen: „Heute ist das deutsche Volk das
glücklichste Volk auf der Welt.“ War da nicht eine geradezu messianische
Hoffnung, vor allem bei den Menschen aus dem Osten? Endlich sollte
Wirklichkeit werden, wovon die meisten geträumt und was sie bisher nur
im Fernsehen hatten sehen können. Und nun, drei Jahre nach der Einheit,
werden viele berechtigte, traurig und zornig machende Enttäuschungen am
deutschen Einigungsprozess laut – bei den Menschen aus dem Osten, zu
denen ich auch gehöre: Arbeitslosigkeit, Ängste vor der Zukunft, Wut
wegen der unbefriedigenden Aufarbeitung des geschehenen Unrechts, der
Stress durch die seit vier Jahren immer neuen Änderungen im alltäglichen
Leben. Die Sorge im Westen: Wird diese Aufbauleistung von uns verkraftet
werden können? Unzufriedenheit damit, dass der Osten sich nicht selbst
aus dem Schlamassel herausziehen kann. Der Schmerz über die entstandene
Entfremdung zwischen Ost und West.
Wer die Enttäuschung nicht am eigenen Leib erfahren hat, der ist schon
Zeuge geworden, wie Leute sagten: „Wir hatten gehofft … Aber alles ist
zerbrochen.“ Inneres oder äußeres Weggehen und Distanzieren sind die
Folge.
Das ist schon eine ähnliche Reaktion wie bei den Jüngern. Vielleicht
sollten wir auch bemerken, dass es uns und den Jüngern geht wie allen
Trauernden: Sie leiden an einer Blickverengung. Sie können nur auf ihre
Enttäuschung, ihren Schmerz schauen. Ihre Augen sind „gehalten“, wie das
im Evangelium ausgedrückt ist.
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Aber halten wir als Erstes fest: Trauer und Enttäuschung, ja Wut und
Zorn haben ihr Recht. Sie dürfen sein. Sie sollen sich äußern dürfen. Sie
brauchen Ohren, die ihnen zuhören, auch wenn Trauer und Enttäuschung
zu einer Blickverengung führen und nicht die einzigen und letzten Reaktionen auf schwere Erfahrungen bleiben sollen. Schauen wir ruhig auf das,
was uns traurig oder zornig macht, und sagen wir wie die Jünger: „Wir
aber hatten gehofft …“ Jesus hört uns zu und geht mit uns.
Hören wir den nächsten Abschnitt.
„Da sagte er zu ihnen: Begreift ihr denn nicht? Wie schwer fällt es euch,
alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben. Musste nicht der
Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen? Und
er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in
der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht. So erreichten sie das
Dorf, zu dem sie unterwegs waren. Jesus tat, als wolle er weitergehen,
aber sie drängten ihn und sagten: Bleib doch bei uns; denn es wird bald
Abend, der Tag hat sich schon geneigt. Da ging er mit hinein, um bei
ihnen zu bleiben“ (Lk 24,25–29).
Musste es nicht so kommen? Musste die Katastrophe nicht passieren?
Nachher ist man schlauer. Da sagt man sich: „Das hätte ich mir an den fünf
Fingern abzählen können, dass das so ausgeht.“
Ich kann das in einem sehr verschiedenen Sinne sagen – so, dass es die
Enttäuschung und den Zynismus verstärkt: Alles Gute muss scheitern, es
lohnt sich nicht, an irgendetwas zu glauben. Ein solches zynisches „Das
musste ja so kommen“ ist hier nicht gemeint, nein, worum es Jesus geht, ist
ein tieferes Verstehen.
Er versucht die Jünger aus ihrer Blickverengung herauszuführen und sie
erkennen zu lassen: Das musste so kommen, weil wir nur auf einen politischen Messias gebaut hatten, weil wir viel zu wenig von Gott erwartet hatten. Weil wir nie darauf gehört haben, was schon aus der Erfahrung des
alttestamentlichen Gottesvolkes zu erkennen war, dass Gott nicht am Leiden vorbei, sondern durch das Leiden hindurch zur Erlösung führt. Und
Jesus zeigt ihnen: Im Scheitern, im Schiefgehen gibt es doch noch eine tieferen Sinn zu entdecken. Das ist ja das Unglaubliche, das ist auch das für so
viele völlig Unannehmbare: Gerade hier in dieser Situation des Unheils, des
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Zerbrechens, der Ohnmacht, gerade darin zeigen sich nicht nur das Gericht
über uns und der Zorn Gottes, da hinein ist zugleich auch der Sieg seiner
Liebe gepflanzt.
Diese tiefere Erkenntnis, diese Erweiterung des Blickfeldes geschieht
bei jedem Menschen, wenn die schweren Enttäuschungen und Verwundungen des persönlichen Lebens zu heilen beginnen. Gerade darin liegt ihre
Heilung, in der Erkenntnis: Ja, das musste so kommen, damit ich aus der
Oberflächlichkeit meines Lebens in die Tiefe vordringe, damit ich das Geschenk des Lebens erst eigentlich begreife, damit ich meinen Egoismus
erkenne und ihn hinter mir lassen kann.
Ich bin sicher, viele von Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, werden in
ihrem Leben genau das erfahren haben: dass ein schmerzhafter Verlust,
schwere Enttäuschung durch Trauer, Schmerz und Zorn hindurch zu einem echteren und wesentlicheren Leben geführt haben. So verbirgt sich in
dem Schweren die Erlösung und die Auferstehung.
Ich wünsche mir, dass das auch mit den Frustrationen und Enttäuschungen an der deutschen Einheit noch geschieht. Ich hoffe sehr, dass wir
auch noch erkennen: Ja, das musste so kommen, und das nicht bloß zynisch meinen, sondern dass uns dann klar ist: Das musste schiefgehen, weil
wir zu wenig gewollt haben.
Ich kann denjenigen, die besonders schwer enttäuscht sind, nicht die
Arbeit an der Entdeckung und der Bejahung des tieferen Sinnes abnehmen
und ihnen einen Sinn einreden. Es muss vielleicht auch erst noch getrauert,
gezürnt und gekämpft werden, wie wir im ersten Abschnitt gesehen haben.
Aber ich will Ihnen etwas von meiner Erfahrung sagen und Ihnen anbieten,
darüber nachzudenken.
Meiner Meinung nach geht – über alles Berechtigte hinaus, das ich genannt habe – ein Teil des Frustes auf etwas zurück, das ich den Weihnachtsgeschenk-Effekt nennen möchte. Jeder kennt ihn aus seiner Kindheit.
Was haben Sie sich einmal mit aller Kraft gewünscht? Eine Modelleisenbahn? Oder war es eine Barbiepuppe? Bei mir war es mal ein Schaukelpferd. Ich habe gedacht, wenn ich dieses Schaukelpferd bekomme, dann
werde ich das glücklichste Kind auf der Welt sein. Ich werde auf meinem
Pferd sitzen und träumen, ein großer Ritter oder ein Cowboy zu sein. Ich
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kann mich an den Hals des Pferdes kuscheln und es wird mein Freund sein,
wie das Pferd von Old Shatterhand. Das wird wunderbar.
Ja, und dann geschieht das: Der Wunsch wird erfüllt. Ich bekomme das
Schaukelpferd. Es ist genau das, was ich erträumt habe. Und tatsächlich:
Jetzt bin ich das glücklichste Kind der Welt. Aber nachdem ich eine halbe
Stunde geschaukelt habe, kommt schon so etwas wie eine erste Ernüchterung: Sehr viel ist es eigentlich nicht, was man mit so einem Schaukelpferd
anfangen kann. Schon bin ich nicht mehr das glücklichste Kind auf der
Welt. Ja, nun habe ich sogar den Eindruck, dass mein Bruder Michael mit
seinem Rennauto das bessere Geschenk bekommen hat. Na ja, Sie erinnern
sich vielleicht selbst an ähnliche Erfahrungen. Das ist der Weihnachtsgeschenk-Effekt.
Was ist da los? Warum sind wir nie zufrieden zu stellen?
Ich meine, es liegt daran: In jedem Wunsch steckt eine Sehnsucht, die
durch die konkrete Erfüllung des Wunsches nicht gestillt wird. Da ist ein
Überschuss an Sehnsucht in uns, der uns immer wieder neu etwas wünschen lässt. Und jede konkrete Erfüllung enttäuscht erneut: Das war es also
auch nicht.
Es gibt gescheite Leute, die sagen deshalb, es sei nicht gut, wenn alle
Wünsche erfüllt werden, weil das so unzufrieden mache. Ich glaube, das
trifft nicht den Kern der Sache. Als Christ glaube ich, dass einzelne materielle Dinge, mögen sie noch so schön sein, die Sehnsucht des Menschenherzens nicht auf Dauer stillen können. So muss ich entweder immer etwas
Neues haben oder ich muss mich auf die Suche nach Tieferem machen.
Können wir etwas Ähnliches auch von unserer Erfahrung mit der deutschen Einheit sagen?
Wir hatten nichts so sehr gewünscht wie die schnelle deutsche Einheit.
Nun, wo sie da ist, merken wir, wir haben sehr viel von dem bekommen,
wonach wir uns wirklich gesehnt haben. Ja, wir müssen bekennen, das
meiste davon ist uns schon wieder so selbstverständlich, dass wir nicht
mehr dankbar dafür sind: der Besuch lieber Menschen, der früher schwer
oder unmöglich war – heute schon nicht mehr gemacht. Endlich pünktliche
Züge – das gehört sich ja so. Bücher und Zeitschriften, die unerreichbar
schienen – kaum mehr Zeit zum Lesen. Reisemöglichkeiten, Westautos …
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Ich will es nicht weiter aufzählen. Denken Sie nur einmal an all das, was Sie
sich seit der deutschen Einheit angeschafft haben. Aber alles das scheint es
ja nun nicht zu sein, was wir gewollt haben.
Doch, höre ich einwenden, aber wir haben auch vieles bekommen, was
wir nicht wollten und was uns nun unzufrieden macht. Ich habe es schon
aufgezählt und das stimmt.
Aber ist das wirklich der einzige Grund unseres Frustes? War nicht
doch in unserem Wunsch eine Sehnsucht enthalten, die über alle bloß materielle Erfüllung hinausgeht? Haben wir nicht mehr gewollt? Aber was
denn? Wenn nicht einmal ein Mercedes glücklich macht, was denn um
Gottes willen überhaupt? Ja, das ist wohl die Frage an uns.
Halten wir fest: Unsere Enttäuschung wird nur dann heilen, wenn wir
erkennen: Ja, das musste so kommen, weil die bloß materielle Versorgung
und politische Befreiung allein nicht ausreichen, um die Sehnsucht unseres
Herzens zu stillen. Das muss scheitern. Aber gerade darin, gerade in unserem Frust zeigt sich: Es soll und muss ein Mehr geben. So, wie es ist, kann
und darf es nicht bleiben. Darüber sollten wir nachsinnen.
Hören wir den letzten Abschnitt des Evangeliums:
„Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf,
und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr. Und sie sagten
zueinander: Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs
mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss? Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück, und sie
fanden die elf und die anderen Jünger versammelt. Diese sagten: Der
Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen. Da erzählten auch sie, was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als
er das Brot brach“ (Lk 24,30–35).
Was die Jünger schon unbewusst gespürt haben, wird ihnen jetzt bewusst:
Sie sind von Jesus an eine Lebensform erinnert worden, die nicht zuerst
sich selbst sucht, die nicht zuerst etwas haben will, sondern die etwas geben will.
Das nämlich ist es, was uns froh macht: wenn ich Leben schenken kann,
wenn Leben ermöglicht und nicht verhindert wird, wenn Freiheit errungen
und nicht aufgegeben und vergessen wird.
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Damit sind wir, liebe Hörer, dort angekommen, wo Jesus seine Jünger
hinführen wollte: nicht in die Trauer, nicht in den Zorn, nicht zum das
Weggehen und Aufgeben, sondern zu der Erkenntnis: In allem Schweren
liegt ein Anruf und eine Chance zu einer Lebenswende beschlossen und es
geht darum, sie zu ergreifen und davon ergriffen zu werden.
Erinnern wir uns an die Freude, die wir empfanden, als wir angefingen,
uns zu wehren und auf die Straße zu gehen, und nicht mehr die Angst um
uns selbst, sondern den Willen zu einem freieren Leben uns beherrschen
ließen. Wie phantasievoll, frech und treffend war, was uns damals an Sprüchen einfiel! Denken Sie an die Friedensgebete: Wie viele haben damals
wirklich gebetet und Gottes Nähe und Hilfe erfahren! Die Wende wäre
sicher auch ohne die Gebete gekommen; aber ob sie in dieser friedlichen
und fröhlichen Weise geschehen wäre? Das bezweifle ich.
Liebe Hörerinnen und Hörer, erinnern Sie sich, wo Ihnen Christus begegnet ist, und lassen Sie sich durch Jesus und sein Wort dahin führen, dass Sie
ihn auch heute erkennen.
Das wünsche ich uns, dass auch wir dann neu in Bewegung kommen.
Die Trauer, der Zorn, die Frustration dürfen und sollen nicht das Letzte
sein, so wichtig und unumgänglich sie sein mögen. Jesus führt uns, ihn zu
erkennen an seiner Liebe und Hingabe und selbst seine Lebensform zu
übernehmen und aktiv zu werden. Erzählen und bekennen wir einander,
wo wir in unseren Tagen Christus erkennen! Wer geht mit uns in unserer
Trauer und hört uns zu? Wer zeigt uns einen Weg aus unserer Verbitterung? Wer hat den Mut, uns zu sagen: „Das musste so kommen. Du bist
selbst mit daran schuld!“? Wer bleibt bei uns und zeigt uns seine Liebe,
indem er selbst sich uns mitteilt? Wo das geschieht, wo wir das erfahren, da
sind wir dem auferstandenen Christus begegnet. Amen.
Es führe uns aus der Trauer in die österliche Freude der gute Gott, der
Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.
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Die Kirche ist mehr als ein Problemfall
Predigt zur Kirchweih 1997 in der Bonifatiuskirche in Erfurt-Hochheim,
Liebe Schwestern und Brüder!
Die Kirche ist mehr als ein Problemfall. Das heißt erstens: Sie ist einer. Das
wird unser erster Punkt sein. Aber sie ist mehr als nur das. Das wird unser
zweiter Punkt sein.
1. Die Kirche ist ein Problemfall
Liebe Schwestern und Brüder, in mir wohnt ein Schreckbild. Ich möchte es
mit einem Gedicht von Wilhelm Willms ausdrücken:
VISION
am rand
am strand
der welt
liegen
große
schöne
bizarre
leere
schneckenhäuser
kölner dome
petersdome
hagiasofias
karolingische
romanische
gotische
byzantinische
19.
17
20. jahrhundert
schneckenhäuser
daraus das leben
ausgezogen
man sieht
schwarze ströme
touristeninsekten
heraus herein
eilen
wimmeln
in einer unbegreiflichen
hektik
europa
ist zu einem
großen
christlichen museum
geworden
europa
zum rand und strand
der welt
mit schönheit aus bronze
marmor
aus sandstein backstein
beton
europa
ein kostbares grab
das grab ist leer
der held erwacht
aber anderswo
WILHELM WILLMS
Unsere Kirchen – gut gepflegt, schön renoviert, aber ohne Leben, Gräber
Gottes. Das Grab ist leer, der Held erwacht, aber anderswo – so das Gerichtswort, aber auch das Trostwort. Denn der Held lebt – in Lateinameri18
ka, in Afrika, in Asien. Dort sind Kirchen arm, klein, hässlich, aber lebendig.
Wie wollen wir wieder lebendig werden? Wir sind es und wir sind es
nicht. Die Kirche ist uns ein Problemfall. Es gibt Vorschläge zur Lösung.
Diese Vorschläge spalten die Kirche:
in Erzkonservative, die zurückwollen in die scheinbar so heile Welt des
Katholizismus der Fünfzigerjahre, als noch klar war, was Sünde ist, was
man nicht darf. Als man noch begeistert war vom Papst, als es noch genug
Priester und Ordensleute gegeben hat. Klare Moral, klare Glaubenslehre,
Identifikation der Katholiken mit ihrer Kirche – kämpferischen Katholizismus. Aber ich erinnere auch an die Enge und die Ängste dieser Zeit. Wer
freitags Fleisch gegessen hat, kam in die Hölle.
Und die andere Seite: Das Kirchenvolksbegehren, das gerade gegen eine
vorkonziliare Kirche kämpft und sie noch immer meint in der katholischen
Kirche erkennen zu können. Frohbotschaft statt Drohbotschaft, Gleichberechtigung der Frauen in der Kirche, auch am Altar, im Priestertum, im
Bischofsamt, eine weniger enge Sexualmoral. Alle Forderungen des Kirchenvolksbegehrens sind in der evangelischen Kirche erfüllt. Geht es ihr
besser?
Die Renovation der Kirche muss wohl anders verlaufen. Es kann nicht
einfach die Richtung des Kirchenvolksbegehrens sein. Es kann auch kein
bloßes Zurück sein.
Ich will noch ein Stück weiter gehen mit der Problematisierung:
Wir tun uns leichter damit, die Reorganisation der kirchlichen Strukturen zu verlangen – sei es rückwärts gewandt oder vorwärts gewandt –,
weil es unendlich viel schwerer ist, über die tieferen Probleme zu sprechen,
nämlich unsere Probleme mit dem Glauben.
Der Glaube ist keine alltägliche Sache mehr. Unser Alltag ist nicht mehr
vom Glauben geprägt.
Das hat viele Gründe. Sie liegen in unserer europäischen Geschichte. Als
sich die europäische Christenheit aufgespalten hat in katholisch und evangelisch und viele Sekten, ging die Einheit verloren, die vorher alles überspannt hatte: der gemeinsame Glaube an Gott. Jetzt verehrte jede Gemeinschaft Gott auf ihre Weise. Die Art und Weise der Gottesverehrung wurde
19
Privatsache, wurde Gewissenssache eines jeden. Die Religion verschwand
aus dem Bereich der Öffentlichkeit. Die einzelnen Lebensbereiche funktionieren nun nach ihrer eigenen Gesetzlichkeit. Gott kommt in unserem Alltag nicht mehr vor.
Was sind die Folgen?
Wir werden immer unfähiger, vom Glauben zu sprechen. Uns fehlen
schlicht und einfach die Vokabeln. Wir wissen immer weniger, was wir
glauben. Denn es ist so: Was wir nicht mehr mit anderen besprechen, das
verschwindet mehr und mehr aus dem Bewusstsein. Wenn der Religionsunterricht der einzige Ort ist, an dem noch Religion vorkommt, dann kann
man auch ihn vergessen.
Was nicht verschwindet, das sind die religiösen Fragen. Im Herzen eines
jeden Menschen sind sie da. Die Frage nach Gott ist unausrottbar da. Aber
viele suchen sich heute auf dem Markt des Religiösen, auf dem Markt der
Esoterik aus, was ihnen gefällt und ihnen zusagt. Die Kirchen haben nicht
mehr das Monopol auf Religion. Wir verzeichnen einen ungeahnten Pluralismus des Religiösen. Viel Schund und Kitsch, viele Billigversionen von
Religionen. Sie betrügen letztlich die Menschen. Es wäre gut, Jesus machte
wieder eine Geißel und triebe all diesen Schund und Kitsch hinaus.
Die christlichen Kirchen machen es sich nicht so leicht. Sie machen es
sich schwer und sie sind schwerfällig. Der Glaube ist vor allem ein Problem. Er ist schwierig.
Wir können aus dem Problem nicht einfach hinausspringen. Dazu müssen wir erst einmal Ja sagen.
Aber die Kirche ist doch auch mehr als ein Problemfall.
2. Die Kirche ist mehr als nur ein Problemfall
Was ist die Hauptfolge unseres problematisch gewordenen Glaubens?
Die Weitergabe des Glaubens gelingt nicht mehr. Früher hat jede Generation an die nächste ihren Glauben wenigstens weitergegeben. Schon das
gelingt nicht mehr. Geschweige denn, dass es uns gelänge, den Glauben
über die Kirchen- und Gemeindegrenzen hinweg weiterzugeben. Wenn der
Glaube vor allem ein Geschenk, wenn er Erfahrung von Befreiung wäre,
dann würde er von selbst weitergesagt. So aber sind wir verstummt.
20
Aber, liebe Schwestern und Brüder, dass ihr heute hier seid, hat doch
Gründe. Für jeden, der noch in die Kirche geht, gibt es doch Gründe, und
zwar gute Gründe.
Können wir sie benennen?
Ich mache eine kleine Denkpause, damit wir einmal darüber nachdenken. Warum bin ich noch dabei? Was hält mich in der Kirche? Und was
möchte ich wem weitersagen? Was möchte ich weitergeben?
Ich möchte sagen, euch weitersagen, was mich hält. – Der Glaube an Gott
hat mich immer weiter und tiefer geführt. Es ist eben nicht so, wie der Kirche vorgeworfen wird: dass sie eng sei oder hart. Nein, ich habe in der
Kirche immer Menschen gefunden, die freier, echter, wahrhaftiger,
menschlicher waren; Menschen, die mir geholfen haben, so wie ihnen geholfen worden ist.
Ich habe auch einmal eine Situation erlebt, in der mir mein ganzes bisheriges Glaubensleben, mein Bild von mir selbst, zusammengebrochen ist –
eine Zeit, in der mir im wahrsten Sinne des Wortes das Lachen verging.
Ich weiß es noch wie eben. Ich saß damals in unserer Hauskapelle, und
da habe ich es gespürt und gemerkt: dass Gott mich trotzdem liebt. Und so
bin ich der Kirche auch für die vielen so schwer erträgliche Botschaft dankbar, dass ich ein Sünder bin, aber einer, der erlöst ist – eine Botschaft, mit
der uns gerade die Fastenzeit konfrontiert.
Ich habe wirkliches Neuwerden und Verwandeltwerden erfahren.
Liebe Schwestern und Brüder, freilich ist die Kirche ein Problemfall. Es
ist schwierig, in der heutigen Zeit ein Christ zu sein. Aber es ist nicht nur
schwierig und problematisch, es ist auch eine Freude. Es ist auch ein Geschenk. Liebe Schwestern und Brüder, halten wir nicht zurück, was uns
trägt! Wir müssen wieder lernen, den Glauben und die frohe Botschaft zu
bezeugen. Das Christentum muss wieder zeugungsfähig werden, und wir
können es. Ich sehe nichts Besseres für die Menschen.
Ich möchte schließen mit einem Gedicht von Wilhelm Willms.
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HYMNE AN DIE KIRCHE
kirche
du große honigwabe
aller zeiten
immer
wenn du
ins schleudern
kamst
warst du
im verlieren
klein
groß
das ist unser trost
WILHELM WILLMS
Liebe Schwestern und Brüder, in der Zeit der Krise, in der Zeit des Druckes, wenn die Honigwabe geschleudert wird, dann kommt das Beste und
auch das Schlimmste heraus. Dann verliert die Kirche das Beste, was sie hat.
Aber soll sie nicht ihre Botschaft verschleudern – den Honig als die Süße
des Lebens und das Wachs für das Licht des Lebens?
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Leben ins Leben
Predigt am 23. Dezember 1999 in Sankt Georgen
Liebe Schwestern und Brüder!
Wie habe ich dieses Lied gesucht und erst einmal nicht gefunden: Das Lied
vom donnernden Leben, geschrieben von Wolf Biermann 1975.
DAS LIED VOM DONNERNDEN LEBEN
Das kann doch nicht alles gewesen sein
Das bißchen Sonntag und Kinderschrein
das muß doch noch irgendwo hin gehn
hin gehn
Die Überstunden, das bißchen Kies
Und aabens inner Glotze das Paradies
da in kann ich doch keinen Sinn sehn
Sinn sehn
Das kann doch nicht alles gewesen sein
Da muss doch noch irgend was kommen! nein
da muss doch noch Leebn ins Leebn
eebn
He, Kumpel, wo bleibt da im Ernst mein Spaß?
Nur Schaffn und Raffn und Hustn und Haß
und dann noch den Löffl abgebn
gebn
Das soll nun alles gewesen sein
Das bißchen Fußball und Führerschein
das war nun das donnernde Leebn
Leebn
23
Ich will noch’n bißchen was Blaues sehn
Und will noch paar eckige Rundn drehn
und dann erst den Löffl abgebn
eebn
WOLF BIERMANN 1975
Hat mich nun die Midlifecrisis erreicht?, werden Sie sich fragen. Das ist ja
das Lied dazu. Wäre ganz passend in meinem Alter jenseits der fünfzig.
Es stimmt insofern, als ich mir nun tatsächlich darüber klar werde, dass
nicht mehr so unendlich viel Zeit ist, dass das Leben vielleicht über den
Höhepunkt schon hinweg ist. Sicherlich Zeit, innezuhalten. Aber nicht so
sehr, um auf die alten Zeiten der DDR zurückzublicken. Das Lied von
Biermann drückt ja eine Sehnsucht aus nach einem Mehr an Leben. „Das
kann doch nicht alles gewesen sein …“ War’s ja vielleicht auch nicht. Aber
wie kommt man denn heraus aus dem Einerlei des Lebens? Es liegt ja schon
so viel fest. Man kann doch nicht einfach aus den Schienen springen! Kann
denn da noch etwas kommen?
Vor ein paar Wochen war ich zu einem Vortrag in der Studentengemeinde von Ilmenau. Dort gibt es in erster Linie Techniker, Computerstudenten, Naturwissenschaftler. Am schwierigsten zu verstehen und vor
allem anzunehmen war für sie, dass es tatsächlich noch etwas ganz Anderes
geben soll: etwas, das nicht unter das fällt, was die Naturwissenschaften
erforschen können. Also etwas ganz Anderes. Du spinnst wohl. Das gibt’s
doch nicht!
Sie wollten, und ich sage, auch wir wollen lieber etwas Neues und Anderes, das nicht so grundsätzlich anders und neu ist. Etwas, das eigentlich
nur fortsetzt, was es schon gibt, nur eben besser, schöner, jünger, frischer.
Eben noch ein paar eckige Runden mehr drehn.
Ich denke, die Anziehungskraft, die eine missverstandene Wiedergeburtslehre auf viele ausübt, kommt daher. Ich kann noch mal von vorn
anfangen. Es geht auch weiter, aber nicht grundsätzlich neu und anders,
sondern doch im Grunde auf der gleichen Ebene: dasselbe noch mal, nur
dann besser gelungen, nicht so kaputt und hoffnungslos. Und wenn es das
24
auch nicht war, dann noch mal und aufs Neue wiedergeboren werden – die
„eckige Runde“ von Biermann.
Die Botschaft von Weihnachten und von Ostern ist aber: Es gibt das
Neue und ganz Andere. Alles Neue sonst auf dieser Welt, das es ja wunderbarerweise gibt – also wenn zum ersten Mal ein Mensch über diese
Erde läuft, dann ist das ja etwas nie Dagewesenes –, ist dafür Bild und
Gleichnis, aber nicht es selbst.
Ist das nicht undenkbar und unvorstellbar? Für jeden vernünftigen Menschen ein Quatsch. Jeder muss den Löffl abgeben – früher oder später. Auch
wenn du noch ein paar eckige Runden mehr gedreht hast. Wir bleiben immer
im Horizont dieses endlichen und begrenzten Daseins, das sich unendlich
weiter in alle Richtungen erstreckt und aus dem es kein Entrinnen gibt, auch
durch tausend Wiedergeburten nicht. Dagegen sagt die Botschaft von Weihnachten und Ostern: Nein, es gibt etwas Neues, das ganz klein und unauffällig und gefährdet anfängt, das aber alles ganz anders macht.
Wie kann man sich dieses Neue denken? Es kann ja auch nicht so anders
sein, dass es überhaupt nicht in diese Welt passt. Es muss ja doch einen Zusammenhang mit uns haben.
Mir fallen die 3-D-Bilder ein. Diese Mode ist inzwischen schon wieder
vorbei. Aber eine Zeit lang gab es sie überall: dreidimensionale Bilder in Büchern, als Postkarten. Es ist ein ganz gewöhnliches, plattes, meist nicht sehr
vielsagendes Bild mit einem Muster drauf. Man muss es auf eine bestimmte
Weise anschauen: zum Beispiel an die Nase halten und dann langsam von der
Nase wegbewegen, und zwar so, dass man gewissermaßen durch das Bild
hindurchschaut. Wenn man es auf diese bestimmte Weise ansieht, dann öffnet es sich nach einer Weile und wird dreidimensional, plastisch, und man
sieht ein Bild im Bild.
So ist es auch mit diesem Neuen mitten im Alten, mit dem ganz Anderen,
das trotzdem noch einen Zusammenhang hat mit dem Bisherigen. Wenn ich
lerne, das Leben auf eine ganz bestimmte Weise anzusehen, dann öffnet sich
das platte Leben und wird plastisch. Im bisherigen alten Muster kommt ein
neues Bild zum Vorschein. Der Sinn erschließt sich. Ich sehe das Blaue aus
Biermanns Lied. Und dieses Bild mitten im Alten ist nicht nur eine Illusion.
Es ist wirklich da. Es ist eben in dem platten Bild verborgen.
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Ich lerne, mein bisheriges plattes Leben auf eine neue Weise zu sehen.
Ich fixiere nicht, sondern schaue durch das alltägliche Leben hindurch, ich
durchschaue es. Eigentlich schaue ich es so ähnlich an, wie einen die Ikonen
anschauen. Sie fixieren den Betrachter auch nicht, sondern richten den
Blick in die Tiefe, in die Ferne, in die Ewigkeit.
So kommt in meinem Leben die Tiefendimension zum Vorschein. Und
so ist auch mitten im platten Alltag dieses Neue und ganz Andere schon da.
Ich lerne, meine Alltagswirklichkeit auf neue Weise zu sehen. Dann tut sie
sich auf.
Freilich ist die Mode der 3-D-Bilder schon wieder vorbei. Auch sie werden langweilig. Aber die neue Weise, das Leben anzuschauen, wird nicht
langweilig. Nur verliere ich immer mal wieder den Blick dafür und bin nur
noch eindimensional. Und dann wird das Leben flach und nichtssagend.
Mir ist diese neue Dimension dieses Jahr in den stillen Tagen der Exerzitien wieder aufgegangen und geschenkt worden: Ich bin entschlossen,
dafür etwas zu tun, den Glauben, die Blickweise für das Neue denen nahe
zu bringen, die unter der Flachheit ihres Lebens leiden. Ich habe Angst
davor und zugleich große Sehnsucht danach, denn das macht mich lebendig
und kreativ. Das lässt mich selbst das Blaue sehen und bringt Leben ins
Leben. Eben.
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Wandlung der Steine
Predigt zur Kirchweihe am 2. Mai 2000 in der Seminarkirche von Sankt
Georgen
Lesung aus dem ersten Petrusbrief:
„Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist. Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen
Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die
Gott gefallen. Denn es heißt in der Schrift: Seht her, ich lege in Zion einen auserwählten Stein, einen Eckstein, den ich in Ehren halte; wer an
ihn glaubt, der geht nicht zugrunde. Euch, die ihr glaubt, gilt diese Ehre.
Für jene aber, die nicht glauben, ist dieser Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum Eckstein geworden, zum Stein, an den man anstößt,
und zum Felsen, an dem man zu Fall kommt. Sie stoßen sich an ihm, weil
sie dem Wort nicht gehorchen; doch dazu sind sie bestimmt. Ihr aber
seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr
die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein
wunderbares Licht gerufen hat“ (1 Petr 2,4–9).
Liebe Schwestern und Brüder,
in diesen Kar- und Ostertagen habe ich ein Thema neu entdeckt oder besser geschenkt und aufgegeben bekommen, das wir eben in der Lesung aus
dem ersten Petrusbrief gehört haben. Es ist das Thema „Stein“.
Bei der Kreuzverehrung am Karfreitag legten wir jeder einen Stein auf einem roten Tuch nieder, weil wir unseren Glauben ausdrücken wollten, dass
das Lamm Gottes stark genug ist, alle Lasten unseres Lebens auf sich zu
nehmen und wegzutragen. In der Osternacht legten wir dann diese Steine in
ein Glasgefäß und gossen darüber das Osterwasser. Aus den Steinen war ein
Bild für das Wasser aus dem Felsen geworden – Wandlung durch die Taufe,
durch das Hineingenommenwerden in Jesu Tod und Auferstehung.
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Einen dieser Steine habe ich hier auf den Altar gelegt. Wir wollen jetzt
über die Steine meditieren. Inwieweit haben sie mit unserem Kirchweihfest
und damit auch mit uns zu tun?
1. Das negative Image des Steins
Der Stein ist das Harte, das Tote. Der Orient ist sehr steinig und für den,
der in Sandalen durch die Gegend läuft, ist ein Stein oft ein sehr schmerzlicher Anstoß.
Stein – das Bild für die Unfruchtbarkeit und die Unveränderlichkeit.
Wie habe ich einmal von einem berühmten Franzosen – Claudel oder Bernanos – gehört? Manche Christen sind wie Steine in einem Bach. Tag und
Nacht werden sie von Gottes Liebe und Gnade umflossen, doch innerlich
bleiben sie völlig trocken und unbeeinflusst.
Der Stein als das Bild für die Last auf der Seele und für die Sündenlast.
Der Stein als schreckliches Mittel zur Hinrichtung: die Steinigung. Heute noch fliegen die Steine in Israel, werden Steine geschleudert und können
schwere Verletzungen hervorrufen.
Das steinerne Herz: ohne Mitleid, ohne Liebe, ohne jedes Gefühl. Das
versteinte Gesicht.
2. Der Wandel
Ostern heißt: Der Stein wird vom Grabe weggewälzt.
Ostern heißt: Der Stein, den die Bauleute verwarfen, ist zum Eckstein
1
geworden. Das ist das Bild vom Wandel, den Gott der Vater herbeiführt.
Dieser verworfene Stein, der, den keiner haben wollte, verachtet und weggeschmissen – er wird zum Fundament, auf dem nun das Weltgebäude und
das Kirchengebäude ruhen. Er ist der Schlussstein, in dem der Kosmos und
die Kirche, Gottes Bau, zusammengehalten wird. Das hat der Herr vollbracht. Vor unseren Augen geschah dieses Wunder.
Dabei bleibt der Stein, was er war, nämlich der verworfene. Der Auferstandene bleibt der Gekreuzigte. Die Wunden werden nicht ausgelöscht,
1
Vgl. Ps 118,22 f.; Mt 21,42; Mk 12,10; Lk 20,17; Apg 4,11; 1 Petr 2,7.
28
sondern sie bleiben – ewiges Zeichen des Leidens und der Schuld, aber des
verklärten Leidens und der wahrhaft seligen Schuld, der felix culpa, weil sie
Vergebung und Wandlung erfahren hat.
3. Der Grundstein
Liebe Schwestern und Brüder, das gilt auch für die Steine, die wir wegwerfen, weil wir sie nicht haben wollen: unsere Lasten, Sünden, Schuld, Verwundungen, Verletzungen, Steinigungen, Versteinerungen unseres Gemütes, unserer Gefühle. Sie sollen sich wandeln.
Für mich ist eines der eindrucksvollsten Bilder für diese Wandlung die
Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin:
„Jesus aber ging zum Ölberg. Am frühen Morgen begab er sich wieder
in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es. Da
brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu
ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt.
Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen.
Nun, was sagst du? Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich
und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde
ist, werfe als erster einen Stein auf sie“ (Joh 8,1–7).
In die Mitte gestellt, soll sie nicht nur selbst gesteinigt werden, sondern auch
Anlass werden, um Jesus zu steinigen. Da sind Mord und Tod und Ausweglosigkeit in der Szene. Im Bild: Steine in den Fäusten, Herzen und Gesichter
wie Steine. In einer ungeheuren Anstrengung verwandelt Jesus die Szene,
indem er die objektive Schuld in die subjektive, jeden treffende Frage und
Aufforderung umwandelt: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein auf
sie“ (8,7). Die Steine der Steinigung werden gewandelt in Steine, die den Weg
nicht mehr zur Hölle, sondern zur Versöhnung pflastern.
Das nächste Bild für diese österliche Wandlung ist für mich Simon Petrus, der Felsenmann. Von Jesus selbst so genannt, zeigt sich, dass er Felsen
nicht sein kann aus eigener Kraft und eigenem felsenfestem Charakter,
sondern dass er den Herrn verleugnet. Erst da, als er fällt, dem Blick Jesu
29
begegnet und als aus diesem Felsen das Wasser der Tränen quillt, ist er
fähig, Fels zu werden, auf den der Herr seine Kirche baut.
Oder das Bild aus der Apostelgeschichte: Bei der Steinigung des Stephanus legen die Leute ihre Mäntel ab, um besser werfen zu können. Wer
bewacht sie? Ein radikaler Christenhasser namens Saulus. Dieser aber wird
gewandelt in den Paulus und seine Radikalität wandelt sich in die stärkste
Kraft der Urkirche zur Verbreitung der Botschaft von der Auferstehung.
Liebe Schwestern und Brüder, so soll Kirche werden. So wird sie auch
heute – Wandlung der Steine, aus der Last und dem verworfenen zum lebendigen Stein, aus dem der Grundstein eines Hauses wird, in dem sich
wohnen lässt.
Vom steinernen Herzen zum Herz aus Fleisch, das wieder liebt und
fühlt.
Vom Sandkorn in der verwundeten Auster zur Perle.
Die Härte und Unbeweglichkeit wandelt sich zu Treue und Zuverlässigkeit. Stein wird Zeichen des Bundes: steinerne Tafeln in der Bundeslade.
Gedenkstein.
Vom verworfenen Stein zum Edelstein, aus dem das neue Jerusalem erbaut wird.
Das tut Gott auch jetzt, auch mit dir und mir. Amen.
30
Mit Liebe, Vertrauen und Mut
Festpredigt über 1 Kor 13 am 28. Januar 2001 zur Thomas-Akademie
Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Korinther:
„Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber
die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.
Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste
und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.
Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich meinen
Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir
nichts.
Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie
prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht
nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht
nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der
Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die
Liebe hört niemals auf“ (1 Kor, 1–8a).
Liebe Schwestern und Brüder!
Mit einem Wort bezeichnen wir das Niedrigste und das Höchste, das
Reinste und das Gemeinste. Das Wort „Liebe“ muss für alles herhalten.
Und obwohl es eines der verbrauchtesten und missbrauchtesten Wörter ist,
will ich darüber sprechen: über die Liebe.
Wir haben den Lobpreis der Liebe eben gehört – einen Text, der vornehmlich zu Hochzeiten zu hören ist. Und vielleicht hat manches hier anwesende Ehepaar ihn zu seiner Hochzeit gewählt. Da gehört er auch hin.
Aber nicht nur dorthin gehört er. Er kann und soll uns auch dienen, um
Sankt Georgen und das, was wir hier tun, zu betrachten.
Wieso?
31
Der heilige Thomas, dessen Fest heute gefeiert wird, hat einen Kommentar zum ersten Korintherbrief geschrieben; darin teilt er den Text ein
nach den Gaben, die Paulus aufzählt:
– zuerst die Gaben des Wissens und der Wissenschaft, der scientia, wie er
sagt,
– und dann die Werke der Frömmigkeit, die opera pietatis.
1
Diese beiden Worte standen früher über Sankt Georgen: PIETATI ET
SCIENTIAE – der Frömmigkeit und der Wissenschaft will diese Hochschule
sich widmen. Es ist gut, wenn wir uns im 75. Jahr des Bestehens von Sankt
Georgen daran erinnern.
Alles, was zur Theologie als Wissenschaft mit dazugehört, zählt Paulus
am Beginn seines Briefes auf: Es braucht die Gabe, mit Menschen- und mit
Engelszungen zu sprechen. Und, liebe Schwestern und Brüder, es gibt unter uns welche, die das können – Gott sei Dank! – und Propheten. Unlängst habe ich eine prophetische Predigt von dieser Stelle gehört, die nicht
nur mir unter die Haut gegangen ist: Kein Stein wird auf dem anderen bleiben. Und es braucht die Kenntnis der Mysteria Dei und die Gnosis oder,
wie es im lateinischen Text heißt, der scientia. Ich meine, viele haben sie in
erstaunlichem Maße. Und auch dafür: Gott sei Dank!
Aber lassen wir uns ein letztes Kriterium für all unser Theologietreiben
an die Hand geben:
Alle diese Gaben, so sagt uns Paulus, sind nichts weiter als der Lärm derer, die gewaltig auf die Pauke hauen, mächtig Wind machen und die erste
Geige spielen, wenn die Liebe dabei fehlt. Es bleibt hohl, leer, wie so manche großen, knusprigen Brötchen: innen nix. Wie der fabelhaft aussehende
Apfel, der nach nichts schmeckt. Wie viele Bücher, Fernsehsendungen,
Reklamen, Zeitungen sind genau so: verheißungsvoll anziehend – und
dann enttäuschend!
Wir dürfen so nicht sein. Nein, wenn unsere Gotteswissenschaft nicht
innerlich von der Liebe getragen ist, dann ist sie auch nicht innerlich vom
tiefsten Geheimnis Gottes berührt, nämlich davon, dass Gott selbst die
1
Mittlerweile, seit 2005, sind diese Worte auch wieder an der Fassade des Hochschulgebäudes, direkt im Eingangsbereich, zu lesen.
32
Liebe ist. Eine bloß intellektuelle Theologie mag großartig sein, imponierend, in sich geschlossen, einsichtig, aber im Letzten bleibt sie kalt und lässt
kalt, wie der unbewegte Beweger des Aristoteles.
Was Paulus als Nächstes aufzählt, nennt Thomas von Aquin in seinem
Kommentar zu 1 Kor 13 die „opera pietatis“, die Werke der Frömmigkeit
oder, wie wir sagen, Liebeswerke.
Wenn ich meine ganze Habe verschenkte, wenn ich meinen Leib zum
Glaubenszeugnis verbrennen ließe; wenn ich Tag und Nacht den Menschen
helfen würde und all meine Zeit hinschenkte, um anderen zu dienen; wenn
ich um der guten Sache willen in den Hungerstreik träte, so dass die Leute
Angst um mich bekämen; wenn ich mich für die Armen einsetzte bis zum
Äußersten und die Gefangenen besuchte und mich um die Obdachlosen
kümmerte – wenn es aber ohne Liebe wäre? So wären das alles noch gute
Taten und den Armen würde geholfen und der guten Sache würde gedient,
und es wäre doch zum Verzweifeln. Denn es wären Liebeswerke, die kalt
blieben und kalt ließen. „As cold as organized charity“ – kalt wie organisierte Liebe, wie ein Mitbruder mir sagte. Liebeswerke ohne Liebe.
Liebe Schwestern und Brüder, leben wir in den Zeiten, von denen das
Evangelium sagt, dass die Liebe in vielen erkaltet?
Botho Strauß entwirft am Ende seines Theaterstücks „Der Park“ ein
Gegenbild zu einer Vision des Augustinus über unsere himmlische Zukunft. Ist es eine Beschreibung unserer inneren Zustände?
„Statt zu feiern, werden sie frösteln,
statt zu schauen, werden sie unter sich blicken,
statt zu lieben, werden sie witzeln,
statt zu preisen, werden sie nörgeln.“
Wie wird unser Herz wieder warm? Wie können wir den Blick wieder
heben? Wie kommen wir aus dem Nörgeln wieder heraus?
Wie fängt die Asche wieder Feuer? Wie wird das Salz wieder salzig?
Kurz vor dem Ende der DDR wurde folgender Witz erzählt: Man hat
dort für das schönheitsdurstige Auge der DDR-Bewohner Misswahlen
veranstaltet. Die Frau von Günter Mittag, dem Wirtschaftminister, wurde
zur Miss Wirtschaft gewählt. Die Frau von Erich Honecker, Margot, die
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Bildungsministerin, wurde zur Miss Bildung gewählt. Die Frau von Erich
Mielke wurde zur MissTrauen gewählt.
Ich denke, wir müssen unsere Misswahlen wieder umdrehen, wenn wir zur
Liebe zurückfinden wollen:
– vom Misstrauen zum Trauen
– vom Missmut zum Mut
– vom Missklang zum Einklang.
Das Misstrauen ist ein Kennzeichen der Neuzeit. Die Kritik und der Zweifel, die der Beginn der Aufklärung sind, haben in ihm ihre Wurzel. Sie gehören auch zur Theologie und helfen ihr, ihre Blindheit gegenüber dem
Balken im eigenen Auge zu überwinden.
Aber nicht das Misstrauen darf das letzte Wort haben, sondern das
Trauen. Sonst wird es immer einsamer und kälter und überall sehen wir nur
die Fratze des Bösen. Über das Misstrauen hinaus sollen wir wieder zum
Trauen finden. Das Erste und Ursprüngliche ist das Gute, das von Gott
geschaffen ist. Wir dürfen trauen. Denn, wie Paulus sagt, die Liebe glaubt
alles. Wir dürfen „ja“ sagen – nicht nur „ja, aber …“, nein, über das Misstrauen hinaus trauen, vertrauen, glauben.
Und damit ergibt es sich von selbst: Lass dich nicht hineinfallen in deinen Missmut! Wir sind oft wie kleine Kinder, die ihrer Unlust immer weiter nachgeben: Willst du nicht mal rausgehen? Nein, macht keinen Spaß.
Willst du nicht mal „Uno“ spielen? Ich hab keine Lust.
Nein, lassen wir uns nicht immer weiter sinken in unsere Unlust, in unsere Verletztheit und unsere Ressentiments. Tun wir mutig den nächsten
Schritt hinaus! Seien wir mutig auch in der Theologie! Haben wir den Mut,
anderen die Frohe Botschaft zuzumuten! Lass den Missmut, wähle den Mut!
Lass den Missklang und wähle den Klang! Was ich oft gar nicht verstehe, ist der wahrhaftige Höllenlärm, den sich viele zumuten. Die Liebe ist
Harmonie, ist nicht Missklang, sondern Einklang, Zustimmung. Alle Liebe
lobt von ganz allein. Das ist es, wozu wir geschaffen sind. Das möchte
Gott, dass auch wir sagen und singen, was er selbst über die Schöpfung
sagt: Es ist gut, es ist sehr gut.
34
Wenn wir das üben und die Missklänge hinter uns lassen, dann wird
schon ansatzweise wahr, was Augustinus am Ende seiner Civitas Dei
schreibt:
„Dann werden wir feiern und schauen,
schauen und lieben,
lieben und preisen.“
35
Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben
Predigt über Joh 14,1–12 am 5. Ostersonntag (A), 28. April 2002,
in Sankt Georgen
Aus dem Evangelium nach Johannes:
In jenen Tagen sprach Jesus zu seinen Jüngern: „Euer Herz lasse sich
nicht verwirren. Glaubt an Gott, und glaubt an mich! Im Haus meines
Vaters gibt es viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, hätte ich euch
dann gesagt: Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten? Wenn ich
gegangen bin und einen Platz für euch vorbereitet habe, komme ich
wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich
bin. Und wohin ich gehe – den Weg dorthin kennt ihr. Thomas sagte zu
ihm: Herr, wir wissen nicht, wohin die gehst. Wie sollen wir dann den
Weg kennen? Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und
das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. Wenn ihr mich
erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Schon jetzt kennt
ihr ihn und habt ihn gesehen. Philippus sagte zu ihm: Herr, zeig uns den
Vater; das genügt uns. Jesus antwortete ihm: Schon so lange bin ich bei
euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat,
hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater?
Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist? Die
Worte, die ich zu euch sage, habe ich nicht aus mir selbst. Der Vater,
der in mir bleibt, vollbringt seine Werke. Glaubt mir doch, dass ich im
Vater bin und dass der Vater in mir ist; wenn nicht, glaubt wenigstens
aufgrund der Werke! Amen, amen, ich sage euch: Wer an mich glaubt,
wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch
größere vollbringen, denn ich gehe zum Vater“ (Joh 14,1–12).
Liebe Schwestern und Brüder!
Wir leben in einer entzauberten Welt. Die Wissenschaft hat die Welt entzaubert. „Kein Berg ist ihnen mehr wunderbar“, sagt Rilke über seine Zeit.
36
Was wir aber zurzeit erleben, ist eine Wiederverzauberung der geheimnislos gewordenen Welt: Engel, wohin das Auge schaut, weltliche Liturgien, Turnschuhe mit einem Mythos, Hosen, die einem ein gewisses
Feeling verleihen, das Auto, bei der Auto-Messe zelebriert wie ein Hochamt.
Wir haben innerhalb einer Konferenz über den Priester der Zukunft einen Besuch in den „Kristallwelten“ gemacht. Sie befinden sich in Wattens
bei Innsbruck. Es handelt sich um das Museum der Glasfirma Swarovski.
Sie stellt Kristall und Modeschmuck her. Dargestellt ist in dem Museum
nicht die Geschichte der Firma, sondern der Zauber des Glases, das Mysterium des Kristalls. André Heller, der Illusions- und Phantasiekünstler, hatte
die Grundidee zu dieser Zauberwelt.
Am eindrucksvollsten ist ein Kristalldom, eine Spiegelkuppel. Wenn
man hineinkommt, dann macht man erst einmal „Ahhh!“. Man möchte
gewissermaßen niederfallen. Es ist, als befände man sich im Inneren eines
geschliffenen Diamanten. Immer wieder kommen Anfragen, ob man nicht
in diesem Kristalldom Hochzeit feiern könnte. Mit dem einem der Verantwortlichen für diese Kristallwelten haben wir gesprochen. Er versteht sich
als weltlicher, säkularer Priester.
Er sagt: Wenn Sie etwas verkaufen wollen, dann geht es nicht um das
Produkt, sondern um das Gefühl, das es vermittelt. Es geht nicht um den
Glasanhänger, sondern um die Idee dahinter, um all das, was sich an Geschichten, Mythen, Märchen, Geheimnissen schon seit Jahrtausenden mit
dem Kristall verbindet.
Das ist es, wofür die Leute ihr Geld eigentlich ausgeben. Und er meint,
das ist mit der Religion genauso. Er hat geschaut, wie die Religion funktioniert, und hat viel gelernt: wie man eine Geschichte erzählt, wie man Liturgie feiert, wie man Räume gestaltet. Und siehe, es funktioniert bei ihm ganz
ausgezeichnet. Er macht im Jahr 30 Millionen damit und er hat uns eröffnet, dass es inzwischen alle großen Firmen so machen: Sie verkaufen nicht
mehr das Auto, sondern das, was es symbolisiert: Freiheit, Abenteuer,
Schönheit.
Aber natürlich ist das alles eine Lüge, eine Illusion, ein Märchen. Nur
ein paar Augenblicke Schönheit, Ablenkung vor und vom Tod.
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Er meint, genau so funktioniert eben auch das Christentum: Wir erzählen eine Geschichte, feiern eine Liturgie, bauen Räume, vermitteln ein Gefühl. Natürlich wissen wir, die Priester der Kirche, schon viel länger, wie es
funktioniert, und sind darum auch um noch zwei Grade zynischer. „Noch
eine nette Viertelstunde vor dem Ableben.“
Wo ist der Unterschied?
Erstens: Wir sind leider nicht so geschickt. Wir sollten viel von ihm lernen. Viel gekonnter und phantasievoller sollten wir unsere Geschichte heute erzählen, unsere Liturgie feiern und unsere Räume bauen.
Zweitens: Er weiß, wie es funktioniert, und es funktioniert tatsächlich
so. Die Menschen nehmen ihm das ab und geben ihr Geld aus. Es ist tatsächlich schön und gekonnt. Aber er selbst weiß genau, dass er sein Versprechen nicht einlöst. Er selbst ist zynisch. Er weiß sich als Magier, der an
seine Magie nicht glaubt, der an gar nichts mehr glaubt. Er sagte uns: Ich
weiß, dass ich betrogen werde, und ich will ja betrogen werden und ich
zahle auch noch dafür, dass man mich belügt. Und ich mache es mit den
Leuten genauso.
Liebe Schwestern und Brüder, und damit sind wir beim dritten Punkt
und beim heutigen Evangelium: Jesus, der Weg und die Wahrheit und das
Leben. Nur ein kleiner Trost, eine kleine Ablenkung, eine wohltätige Lüge
vor dem Ableben, vor dem Abkratzen?
Der Designer meint, er habe durchschaut, wie die Religion funktioniert;
aber er hat sie in ihrem glühenden Kern eben nicht verstanden. Denn sie
funktioniert ja bei ihm nicht. Für ihn ist sein Weg ein Holzweg und die
Wahrheit ist eine Lüge und das Leben endet mit dem Tod.
Die Religion „funktioniert“ nur, wenn ich wirklich glaube. Die Religion
„funktioniert“ nur, wenn ich sie nicht als eine Funktion, als ein Mittel zu
einem anderen Zweck verwende. Die Religion wird auch ihre überlebenswichtige Funktion für die Gesellschaft und für die Menschen nur erfüllen,
wenn sie nicht ein Teil dieses Funktionszusammenhanges ist, wenn sie nicht
„durchschaut“ und reduziert wird auf ihren vermeintlich letzten Kern, nämlich ihre Trostfunktion oder die Moral oder die Nächstenliebe. Wenn man
nämlich meint, das wäre Religion: Opium des Volkes, Trostmittel, und sie
auch so einsetzt, dann funktioniert sie eben genau nicht mehr. Die Kirche
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kann ihre überlebenswichtige Dienstleistungsfunktion für die Gesellschaft
nur erfüllen, wenn sie mehr ist als ein Dienstleistungsbetrieb und höhere
Ansprüche stellt; wenn sie nicht darauf reduziert wird und sich auch nicht
selbst zuerst von daher versteht und von daher benutzen lässt.
Der Kirche muss es zuerst um Gott gehen, nicht um die Gesellschaft.
Nur dann kann sie der Gesellschaft dienen, kann sie trösten und lieben. Die
Religion funktioniert nur so lange für die Menschen, wie sie nämlich all das
übersteigt, was es gibt in dieser Welt. Wenn sie genau an dem festhält, was
sie ja für viele so unerträglich macht: an dem Anspruch, den Christus heute
im Evangelium erhebt: der Weg – nicht nur ein Weg –, die Wahrheit –
nicht nur eine Wahrheit –, das Leben – und nicht nur eines von vielen vom
Tod beendeten Leben – zu sein.
Nach dem schrecklichen Amoklauf in Erfurt gehen die Leute nicht in
einen Kristalldom, um ihre Trauer irgendwohin zu tragen und Trost zu
suchen. Sie gehen in den Erfurter Dom oder in die Lutherkirche. Auch
dann, wenn sie selbst gar nicht mehr zur Kirche gehören. Weil es etwas
anderes ist.
Damit sage ich nicht, dass sich die Christen oder die Gläubigen über die
anderen Menschen erheben. Im Gegenteil, wir neigen uns vor diesem Anspruch Jesu. Wir unterstellen uns diesem Anspruch. Wir lassen uns selbst
davon trösten. Und wehe dem Priester, der das Wort Jesu sagt: Ich bin der
Weg und die Wahrheit und das Leben, und vergisst, dass er zitiert. Und
wehe dem Priester, der durch sein Verhalten der Botschaft völlig widerspricht, wie diejenigen, die Kinderseelen zerstören. Sie wissen, was im Evangelium über sie geschrieben ist: „Wer einen von diesen Kleinen, die an
mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit
einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde“ (Mt 18,6).
Ich will mich nicht über den säkularen Priester der „Kristallwelten“ stellen, aber ich will sehr wohl den Glauben und unsere Liturgie und unseren
Kirchenraum über seinen Kristalldom und seine Verkaufsmythologie stellen. Ich muss es tun, sonst bleibt kein Weg außer dem Holzweg, keine
Wahrheit außer der Lüge und kein Leben, das über den Tod hinausgeht.
Dass es aber einen Weg zum Vater, eine Wahrheit, die frei macht, und ein
Leben ohne Ende gibt, das glauben wir und das bezeugen wir. Amen.
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Tempel Gottes – Traum und Wirklichkeit
Predigt zur Kirchweihe in Sankt Georgen 2003
Liebe Schwestern und Brüder!
Es ist seltsam: Die Institution Kirche ruft häufig sehr heftige emotionale
Reaktionen hervor; hierzulande meist kritische, negative, manchmal sogar
hasserfüllte Reaktionen. Haben Sie das auch schon erlebt?
Woran liegt das? Sicherlich ist das eine Nachwehe der grundsätzlichen
Institutionenkritik der aufklärerischen Zeit von 1968: „Unter den Talaren
Muff von 1000 Jahren.“ Sicherlich ist vieles an Frage und Kritik berechtigt.
Aber ich habe den Eindruck, gegenüber der Kirche sind die Reaktionen
emotionaler als anderen Institutionen gegenüber wie zum Beispiel den Gewerkschaften oder politischen Parteien. Natürlich, die Kirche erhebt ja
auch einen höheren Anspruch als Gewerkschaften und politische Parteien.
Und damit kommen wir dem Ganzen wohl schon näher. An diesem Anspruch: Gottes Volk zu sein, nach dem Wort Gottes und den Geboten
Gottes, nach dem Lebensentwurf Christi zu leben, daran werden wir gemessen.
Klar, dass wir da immer versagen. Und dass Kritik berechtigt ist. Aber
das ist ja meist Kritik von außen. In den Reaktionen geht es um mehr als
die Moral. Um mehr als die Hexenverbrennungen und den Missbrauch
oder auch nur die gepflegte, langweilige Bürgerlichkeit so vieler Gemeinden
bei uns.
Es gibt auch eine innere Kirchenkritik, und die erwächst aus etwas anderem. Es geht um die Sehnsucht, wie sie heute in der Lesung ausgesprochen wird: nach einer Kirche, einer Gemeinschaft, in der tatsächlich die
Liebe und Wahrheit Gottes gegenwärtig sind und die darum heil und heilig
ist; einer Gemeinschaft, die tröstet, weil sie selbst von Gott getröstet ist;
einer Gemeinschaft, in der Gott selbst jede Träne abwischt von unseren
Augen. So soll Kirche sein. So muss Kirche aus dem Geiste Gottes sein. So
soll sie sein als Gottes Neue Schöpfung.
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Aus der Offenbarung des Johannes:
„Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste
Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht
mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus
dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für
ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron
her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei
ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod
wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn
was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht,
ich mache alles neu. Und er sagte: Schreib es auf, denn diese Worte
sind zuverlässig und wahr“ (Offb. 21,1–5).
Und die Enttäuschung dieser Kirchensehnsucht ist es, die tiefste Bitterkeiten und Verletzungen hervorruft. Denn in dieser Textstelle werden wirklich das menschliche Herz und die Ursehnsucht des Menschen angesprochen. Und manchmal haben wir sie gespürt, diese neue Wirklichkeit, diese
neue Gemeinschaft, diesen neuen Geist. Meist wird es uns erst im Nachhinein bewusst: Das waren die wunderbaren Jahre und Zeiten.
Aus dieser Sehnsucht nach der Kirche, wie sie sein soll, ist eine ganze
Literaturgattung entstanden unter dem Titel: „Kirchenträume“. Sie füllt
inzwischen Regale. Diese Träume haben sich in den Jahrzehnten nach dem
Konzil mit einem Machbarkeitswahn verbunden und einen tiefgreifenden
Kirchenfrust erzeugt. Die Kehrseite dieses Machbarkeitswahns ist die
Angst vor Veränderung und Wandlung.
Nur ein Beispiel dazu, das in ein paar Wochen passieren wird. Beim
Kirchentag werden wir es wieder erleben: Selbstverständlich ist es Gottes
Wille, dass wir alle eins sind und dass wir alle miteinander Abendmahl feiern, dass wir alle an einem Tisch sitzen. Und selbstverständlich ist es ein
Zeichen des Versagens der Kirchen, dass wir es nicht können. Da werden
die Sünden und die Blindheit der Kirchen offenbar.
Aber aus diesen Überzeugungen, die richtig sind, und aus der Sehnsucht, dass es anders werden muss, wird sich ergeben, dass einfach gemeinsam Abendmahl gemacht wird. Es wird stattfinden. Es wird gemacht werden. Und herauskommen wird: Kirchenfrust, Scheitern der Träume, Belei41
digtsein, Vorwürfe, Rückzug. Ein Kirchenklima, in dem nichts mehr
wächst. Wenn das die Folgen sind, dann wird klar: Es geht nicht um Kirchenträume, sondern um Kirchenillusionen und eine Kirche, die sich selbst
produziert.
Und darum würde ich gern eine andere Literaturgattung schaffen mit
der Überschrift: Ja zur real existierenden Kirche. Ja zu einer Kirche, wie sie
tatsächlich existiert, nicht wie sie als eschatologische Hoffnung geschildert
ist, sondern Ja zu den Menschen, die wir wirklich sind. Ja zu der Kirche,
die Jesus wie den Tempel von Jerusalem immer wieder reinigen muss. Wir
müssen nämlich die beiden Texte von Kirchweih zusammenhalten und
zusammen lesen: Offenbarung 21 und Johannes 2.
Aus dem heiligen Evangelium nach Johannes:
„Das Paschafest der Juden war nahe, und Jesus zog nach Jerusalem
hinauf. Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern, Schafen und
Tauben und die Geldwechsler, die dort saßen. Er machte eine Geißel
aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus, dazu die Schafe
und Rinder; das Geld der Wechsler schüttete er aus, und ihre Tische
stieß er um. Zu den Taubenhändlern sagte er: Schafft das hier weg,
macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle! Seine Jünger
erinnerten sich an das Wort der Schrift: Der Eifer für dein Haus verzehrt
mich. Da stellten ihn die Juden zur Rede: Welches Zeichen lässt du uns
sehen als Beweis, dass du dies tun darfst? Jesus antwortete ihnen: Reißt
diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten.
Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel
gebaut, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? Er aber meinte den Tempel seines Leibes. Als er von den Toten auferstanden war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten
der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte“ (Joh 2,13–22).
Wir hören ja dieses Evangelium nicht als Evangelium von damals, sondern
es geht dabei um uns. Nicht den Jerusalemer Tempel reinigt Jesus, sondern
uns, die Kirche heute. Es geht nicht um das Gebäude, sondern um uns, die
wir Tempel Gottes sind und sein sollen. Nicht um die anderen, die sich
bekehren müssen, die herausgetrieben werden müssten aus der Kirche.
Nein, es geht um all den Kram, der sich in mir, im Tempel meines Leibes,
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angesammelt hat. Liebe Schwestern und Brüder, und da geht es tatsächlich
um die Überlebensfrage der Kirche: Was spielt sich da in diesem Tempel
Gottes alles an Geschäften und Geldsorge und Konsumlust ab? Und wird
in diesem Tempel Gott angebetet?
Und ganz real auf unsere Gotteshäuser geschaut: Sind sie Orte des Gebetes, der Anbetung Gottes? Dazu sind wir da, um Gott zu verehren. Aber
die Kirchen werden immer leerer und sind immer geschlossen. Unsere Kirchen gleichen nicht wie damals der Jerusalemer Tempel einem Warenhaus
beim Schlussverkauf, sondern eher einem leeren Schneckenhaus, eher einem Museum als einem wimmelnden Marktplatz.
Und eine Kirche, die Gott nicht mehr verehrt, was ist die wert?
Lassen wir uns von Jesus zum Tempel Gottes machen, lassen wir uns
hineinnehmen in seinen Leib, dann sind wir in dem Tempel, in dem Gott
wirklich und ein für alle Mal verehrt wird.
Und noch ein Gedanke am Schluss: Ja zur real existierenden Kirche meint
noch etwas anderes, nicht nur Kritik an ihr, nicht nur Tempelreinigung.
Durch die Fixierung auf unsere unerfüllten Kirchenträume und die berechtigten Wünsche sind wir in Gefahr, gar nicht mehr wahrzunehmen, was ja
schon längst da ist und was sich schon erfüllt.
Ich nenne drei kleine Beispiele: Zu den Kar- und Ostertagen hat sich
hier wieder einmal eine Gruppe junger Erwachsener getroffen. Fast alle
kannten wir uns vorher nicht. Uns ist geschenkt worden, dass wir diese
Tage mit großer Intensität, mit Engagement, mit Phantasie und Liebe gestalten konnten. Alle haben nachher gesagt: Es waren großartige Gottesdienste, es war eine tolle Gemeinschaft.
Das meine ich: War denn das nicht das, was die Bibel mit Kirche meint?
Was die Bibel mit dem Geist Gottes meint, der zusammenführt, der schöpferisch und liebevoll ist? Schauen wir auf die real existierenden Wunder
mitten unter uns. Sie geschehen. Gott sei Dank!
Zweites Beispiel: Wir haben ein Projekt begonnen, das sich nach dem
heidnischen Hauptmann Cornelius nennt, weil wir wissen wollten, wie
denn der Glaube heute zum Menschen kommt. Passiert es noch so wie
damals bei Cornelius?
Wir haben begonnen, uns gegenseitig unsere Glaubensgeschichte zu er-
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zählen. Und das wurde ein großes Geschenk für uns alle. Gott ist eine
Wirklichkeit, nicht nur in meinem Leben, auch bei anderen Menschen. Es
ist manchmal nicht leicht, nicht nur bei mir. Das ist tröstlich. Das verbindet. Das macht uns zur Kirche aus Glaubenden. Das gibt uns die Hoffnung,
dass Gott mit uns geht.
Und das dritte Beispiel: Schauen wir auf diese nun zehn Jahre alte Sankt
Georgener Kirche. Welch unterschiedliche und doch echte und tief geistliche Gottesdienste haben wir hier schon gefeiert! Wir sind hier alle schon
tief angerührt worden. Wie oft haben Sie hier gebetet und haben Trost
gefunden! Gott ist wirklich in unserer Mitte spürbar gewesen und ist es
auch jetzt! Gott baut seine Kirche auf, auch heute und unter uns. Seien wir
Gott dankbar für sein Tun, für sein Werk, die Kirche. Amen.
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Das Wesen der Musik
Predigt zur Einweihung der neuen Orgel
in Sankt Georgen am 28. Juni 2003
Lesung aus dem Kolosserbrief:
„Ihr seid von Gott geliebt, seid seine auserwählten Heiligen. Darum bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde, Geduld! Ertragt euch gegenseitig, und vergebt einander, wenn einer dem
andern etwas vorzuwerfen hat. Wie der Herr euch vergeben hat, so
vergebt auch ihr! Vor allem aber liebt einander, denn die Liebe ist das
Band, das alles zusammenhält und vollkommen macht. In eurem Herzen
herrsche der Friede Christi; dazu seid ihr berufen als Glieder des einen
Leibes. Seid dankbar! Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum bei euch. Belehrt und ermahnt einander in aller Weisheit! Singt Gott
in eurem Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, wie sie der Geist eingibt,
denn ihr seid in Gottes Gnade. Alles, was ihr in Worten und Werken tut,
geschehe im Namen Jesu, des Herrn. Durch ihn dankt Gott, dem Vater!“
(Kol 3,12–17).
Liebe Schwestern und Brüder,
heute ist es so weit: Die neue Orgel ist eingeweiht. Und es ist Zeit, Dank
zu sagen:
– dem Freundeskreis, der sich entschlossen hat, Sankt Georgen zum Jubiläum des 75-jährigen Bestehens eine neue Orgel zu schenken, und der
dafür große Anstrengungen auf sich genommen hat;
– der Firma Thomas Jann und ihren Mitarbeitern, die uns dieses wunderbare Instrument gebaut haben;
– all jenen, die begleitend und unterstützend tätig waren, den vielen
Spendern auch außerhalb des Freundeskreises;
– Dr. Helmut Föller, unserem Kirchenmusiker;
– Herrn Godi Studer, dem Kirchenarchitekten, und Herrn Wolfram Nicol;
– Herrn Kirchenmusikdirektor Jakob;
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– Herrn Roche, der die Finanzen überwacht hat;
– Pater Löser, der immer gedrängt hat;
– der Norddeutschen Provinz der Gesellschaft Jesu, die uns noch einen
Restbetrag gestiftet hat;
– Herrn Nowakowski und Herrn Florange, die viele praktische Dinge
übernommen haben.
Ich erinnere mich, wie überrascht ich war, als der Freundeskreis zu Beginn der Planungen sagte: „Ja, das schaffen wir. Für eine Orgel, da spenden
viele gern.“ So war es auch. Und so ist diese doch erhebliche Summe zusammengekommen.
Ich denke, die Liebe zur Musik und besonders zur Kirchenmusik spielt
dabei eine wichtige Rolle. Da gibt es ja eine typisch deutsche und deutschsprachige, die Konfessionen übergreifende Tradition der Kirchenmusik. Da
gibt es schon eine Einheit von katholischer und evangelischer Kirche, die
wir heute in dieser Feier erleben – von Luther und Bach über Friedrich von
Spee zu Mozart und so vielen großen Kirchenmusikern; mehrere von ihnen
werden wir heute noch hören. Woher kommt diese Liebe zur Musik und
zur Kirchenmusik?
Auf die Spur setzt uns die Lesung aus dem Kolosserbrief, die wir gehört
haben. Das Singen, die Musik, die Orgel haben es mit dem Sinn des Menschenlebens zu tun.
Der alte grüne Katechismus oder das Exerzitienbuch nennen uns diesen
Lebenssinn: Der Mensch ist geschaffen, um Gott zu loben und zu danken
und auf diese Weise seine Seele zu retten. Und vorrangig noch und damit
innerlich zusammenhängend: Der Mensch ist geschaffen zu lieben – Gott
zu lieben und seinen Nächsten. Und die Liebe will loben.
Wir sind also letztlich nicht geschaffen, um zu arbeiten oder zu faulenzen. Wir sind nicht geschaffen, um zu meckern oder zu klagen und zu
jammern, sondern um zu lieben, zu loben und zu danken.
Lieben, Loben und Danken erheben den Menschen. Sie wollen sich
nicht nur im prosaischen Wort ausdrücken. Sie sind lyrisch. Sie dichten,
singen, tanzen und musizieren. Alles das sind metrische Ausdrucksformen.
Sie haben Rhythmus und Maß.
So gibt das Metrische der Musik diesem Lebenssinn des Lobes und
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Dankes noch einen tieferen Aspekt – einen Aspekt, den die Bibel im Buch
der Weisheit so umschreibt:
„Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ (Weish
11,20).
Musik ist ja hörbar gewordene Mathematik: Alle musikalischen Verhältnisse sind auch mathematische Verhältnisse.
Die Musik weist hin auf die mathematisch erfassbare Harmonie der
Welt, wie sie aus Gottes schöpferischer Hand hervorgeht. Der große griechische Philosoph Pythagoras im sechsten Jahrhundert vor Christus hat
entdeckt, dass alle harmonischen Verhältnisse mathematische Verhältnisse
sind. Er war darum der Meinung, man müsse eigentlich die Harmonie der
Welt, die Sphärenmusik, hören. Nur weil wir sie immer hören, hören wir
sie nicht mehr – wie eine alte Uhr im Haus, deren lautes Ticken nur die
Fremden hören, aber auch die nach einer Weile nicht mehr. Man hat sich an
ihr Ticken gewöhnt.
Noch Johannes Kepler (1571–1630) war auf der Suche nach der Sphärenharmonie, als er die Planetenbahnen berechnete. In seinem Hauptwerk
„Harmonia mundi“ schreibt er:
„Es sind also die Himmelsbewegungen nichts anderes als eine fortwährende mehrstimmige Musik (durch den Verstand, nicht das Ohr fassbar),
eine Musik, die durch dissonierende Spannungen, gleichsam durch Synkopen und Kadenzen hindurch (wie sie die Menschen in Nachahmung
jener natürlichen Dissonanzen anwenden) auf bestimmte, vorgezeichnete, je sechsgliedrige (gleichsam sechsstimmige) Klauseln lossteuert und
dadurch im unermesslichen Ablauf der Zeit unterscheidende Merkmale
setzt. Es ist daher nicht mehr verwunderlich, dass der Mensch, der
Nachahmer seines Schöpfers, endlich die Kunst des mehrstimmigen Gesanges, die den Alten unbekannt war, entdeckt hat.“
So Johannes Kepler 1619 in seiner „Hamonia mundi“.
Es gibt ein faszinierendes Buch und Hörwerk von dem bekannten Doktor Jazz, von Joachim Ernst Berendt: „Nada Brahma – Die Welt ist
Klang“, in dem er nachzuweisen sucht, dass die ganze Welt eigentlich
nichts als Klang und Musik ist. Die Physiker sagen uns, dass nicht die feste
Materie der Grundbaustein der Welt ist, sondern die Energie. Ich kann
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nicht nachprüfen, ob diese Urkraft tatsächlich Klang(welle) ist, aber es gibt
uns doch eine Idee, der wir einmal nachmeditieren können, vielleicht gerade heute bei dieser festlichen Orgeleinweihung.
Dieser Gedanke lautet so: Das Lob Gottes, dieser Gesang voll Dank
und Lobpreis, ist letztlich nichts, was Gott befiehlt, was im Sinne von Immanuel Kant unsere Pflicht ist und was wir uns abringen müssen, sondern
etwas, das gewissermaßen von selbst ertönt, wenn wir im Einklang sind.
Und siehe da: Wir kennen das ja. Wenn wir im Einklang sind, mit uns
selbst, mit Gott, mit der Welt, mit den Menschen, dann kommt uns wie
von selbst eine Melodie auf die Lippen, dann pfeifen wir, dann singt es in
uns mit einem Mal.
Ich denke auch an den heiligen Ignatius, unseren Ordensgründer: Er
hatte einmal eine Vision der Heiligen Dreifaltigkeit, und was sah er? Drei
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Orgeltasten! Gott selbst ist Dreiklang und Einklang. Und wenn es in uns
tönt und singt, dann ist da etwas von dieser göttlichen Melodie in uns.
Ist das so? Ich denke, wir können es so sehen. Es kann uns unsere Liebe
zur Musik tiefer verstehen lassen.
Das ist es, wovon die Musik Zeugnis ablegt, wovon die Orgel spielt. Sie
wollen Vorgeschmack des Himmels sein. Freilich erst Vorgeschmack, denn
noch kostet es Mühe, viel Üben, Anstrengung und Zeit. Harmonie ist in
unserer dissonanten Welt nur mühsam zu erringen. Und wir danken nochmals allen, die diese Mühe auf sich genommen haben, um uns das Erlauschen der himmlischen Harmonie zu ermöglichen.
Sie zeigen uns den Sinn menschlichen Lebens: Lieben und Loben.
Amen.
1
PB Nr. 28 in den Übersetzungen von A. Feder und B. Schneider.
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Wie erkenne ich, ob Gott mich ruft?
Veröffentlicht in: Der Sonntag. Kirchenzeitung für das Bistum Limburg,
25.3.2001, S. 11
Liebe Schwestern und Brüder!
Wie erkenne ich, ob Gott mich ruft?
Es ist ganz einfach. Wenn ich erkennen will, ob Gott mich ruft, muss
ich auf Gott hören. Aber da beginnt es schon schwierig zu werden. Es ist
zwar wirklich ganz einfach, es ist aber nicht ganz leicht zu tun.
Als ich zwölf Jahre war, hat unser Kaplan uns einmal gefragt: „Wisst ihr
wie viele Minuten ein Tag hat?“ 24 mal 60 sind 1440. Und er fragte weiter:
„Könnt ihr von diesen 1 440 Minuten nicht 5 Minuten Gott schenken?“ Ich
habe das damals probiert. Und ich habe gemerkt, wie lang fünf Minuten
sein können. Es war nicht leicht, das durchzuhalten und jeden Tag fünf
Minuten für Gott freizuhalten. Aber diese fünf Minuten haben mein Leben
verändert. Und das verspreche ich einem jeden, der das tut: Ihr Leben wird
sich verändern.
Wenn ich also erkennen will, ob Gott mich ruft, muss ich zuerst hören
lernen, still werden und beten. Wenn wir damit anfangen, bemerken wir erst,
wie viel Lärm in uns ist und wie viele verschiedene Stimmen in uns reden, wie
schwer es ist, es mit sich allein auszuhalten.
Wie kann ich unter all den vielen Stimmen in mir die Stimme Gottes
heraushören?
Es gibt mehrere Unterscheidungsmerkmale, an denen ich erkennen kann,
ob es sich um Gottes Stimme handelt. Ich zähle vier auf.
Gott lässt aus einem kleinen Anfang Großes werden. Gott spricht zu
mir in meinen Träumen und Sehnsüchten, die ich für mein Leben habe.
Jeder hat (oder hatte wenigstens einmal) solche Träume, Ideen, Ideale. Erinnern Sie sich daran?! Oft traue ich diesen Träumen und Idealen nicht,
besonders dann, wenn ich erwachsen werde: „Das geht sowieso nicht. Das
schaffe ich nicht. Das sind Spinnereien. Man muss realistisch sein und sich
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nach der Decke strecken.“ Aber wenn wir in die Bibel schauen oder auf das
Leben der Heiligen, dann sehen wir, dass Gott aus ganz kleinen Anfängen
Großes macht. Aus einfachen Fischern wird der Anfang der Kirche. Aus
einer kleinen Frauengruppe um Katharina Kasper in Dernbach wurde ein
weltumspannender Orden. Gott ruft uns nicht ins Kleinliche und Enge,
sondern er führt uns hinaus ins Weite und ins Große. Das fängt mit Abraham an, den er ruft, die Familie und die Heimat zu lassen, und der ein Segen für alle Menschen wurde. Ignatius von Loyola hat einmal gesagt: „Wir
ahnen nicht, was Gott aus uns machen würde, wenn wir uns auf ihn einlassen.“
Gott ruft in die Freude. Das ist das zweite Kennzeichen. Wer nur bei
sich selbst und in den eigenen engen Grenzen und der eigenen Verschlossenheit sitzen bleibt, der wird immer trauriger. Wer aus sich herausgeht,
wer sich selbst verlässt, wer über sich selbst hinauskommt, der wird froh.
Das kennen wir von ganz alltäglichen Dingen: Wenn ich endlich das wichtige Gespräch geführt habe, vor dem ich mich immer drückt hatte; wenn
ich endlich meinen Schreibtisch aufgeräumt habe; wenn ich meine Feigheit
überwunden und eine Entscheidung gefällt habe, die ich immer vor mir
hergeschoben hatte. Wenn ich den Konflikt mit meinem Kollegen ausgefochten habe; oder wenn ich endlich mit einer schlechten Gewohnheit
Schluss gemacht habe – dann spüre ich die Freude.
Vielleicht kennen Sie den Spruch: Der Teufel kann alles schenken, nur
keine Freude. Er kann vielleicht Spaß und Lust schenken, aber keine Freude. Denn die Freude ist das Gefühl, das sich einstellt, wenn ich über mich
selbst und meine eigene Enge hinauskomme, wenn ich Sinnvolles und Gutes tue; oder die Erfahrung, die ich mache, wenn jemand anderer meine
Mauern aufbricht und sich eine neue Landschaft auftut. Und die tiefste
Freude findet, wer über alles andere hinaus zu Gott selbst findet und wer
von Gott gefunden wird. Gottes Ruf ruft immer zu dieser tiefen Freude.
Denken Sie einmal daran, wann Sie das letzte Mal richtig froh waren. Da
ist Ihnen auch Gott begegnet, vielleicht ohne dass Sie es gemerkt haben.
Die Freude ist der Kompass zu Gott. Sie zeigt die Richtung des Weges.
Gottes Ruf ist immer ein Ruf in die größere Freiheit. Das scheint unserer Meinung von Gott und Kirche vielleicht am wenigsten zu entsprechen.
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Aber schauen Sie nur auf Jesus. Was am meisten imponiert, das ist seine
Freiheit und Souveränität. Er lässt sich nicht beeindrucken von Reichtum
und von Macht, von Amt und Würden, auch nicht von Hochwürden. Er ist
frei von Vorurteilen und Konventionen. Diese Freiheit kommt daher, dass
er Gott, seinen Vater, an die erste Stelle setzt. Dann wird alles andere
zweitrangig, mag es sich noch so wichtig und mächtig gebärden. In diese
Freiheit ruft uns Gott. Das merken wir jedem an, für den Gottes Wille das
Höchste ist. Der ist wahrhaft frei.
Und das vierte Kennzeichen: Gott ruft ins Konkrete. Träume müssen
verwirklicht, der Wille Gottes muss getan werden. Das Wort will Fleisch
werden. Anders gesagt: Worauf es ankommt, ist der nächste mir mögliche
Schritt.
Viele wollen nicht den nächsten Schritt tun, sondern den übernächsten.
Der nächste ist vielleicht zu gewöhnlich, zu konkret. Es ist mühsam, so
genau zu sein, so kleinlich, so realistisch und den nächsten Schritt zu tun.
Aber das ist es. Darauf kommt es an. Das ist ein Echtheitszeichen. Meine
ich es wirklich ernst, dann denke ich darüber nach, was ich tatsächlich tun
kann. Und es muss der mir mögliche Schritt sein.
Viele erwarten, dass die anderen erst einmal etwas tun: Ja, wenn das
und das sich endlich verändert, dann tue ich auch etwas, dann engagiere ich
mich. Nein, auf mich kommt es an, nicht auf die anderen. Auf mich kommt
es an und nicht auf die Umstände und die Verhältnisse. Die Verhältnisse
ändern sich, wenn ich mich verändere, wenn ich meinen nächsten konkreten Schritt tue.
Und schließlich der Schritt. Wir brauchen keine großen Sprünge zu machen. Wir können nicht mit einem Satz oben auf dem Berg sein. Nein, es
genügt der Schritt. Es genügt das menschliche Maß. Darauf soll ich schauen.
Sehr viele Neuanfänge scheitern, weil man sich zu viel vornimmt: Das
müsste ich tun. Das auch. Und das noch. Solch ein Berg von Vorsätzen ist
vom Teufel. Er ist das sicherste Mittel, dass schließlich gar nichts geschieht.
Und dass ich am Ende traurig bin, weil wieder nichts geworden ist, weil ich
mich wieder als Versager entpuppt habe.
Noch eins gehört zu dem Grundsatz vom nächsten möglichen Schritt,
nämlich der Mut, sich zu entscheiden. Gott ruft ins Konkrete. Das ist auch
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deshalb schwierig, weil ich am liebsten alle Möglichkeiten offen halten
möchte. Es könnte ja noch etwas Besseres, Wichtigeres, Schöneres kommen. Also warte ich lieber ab, halte mich zurück, entscheide mich nicht. Ich
mache nur mit halbem Herzen mit. Aber wenn wir immer alles offen lassen, halten wir am Ende gar nichts in der Hand.
Und das ist das Lebensgefühl vieler Menschen heute. Alles bleibt in der
Schwebe und unbestimmt. So bin ich nirgends zu Haus, nichts interessiert
mich wirklich, keinem Menschen bin ich wirklich zugehörig.
Das muss nicht so bleiben. Wenn ich den nächsten möglichen Schritt
tue, dann komme ich heraus aus dem Gefühl der Ohnmacht und Traurigkeit, dann wachsen sofort Hoffnung, Freude und Zuversicht. Denn es
kommt nicht darauf an, wo ich gerade stehe, sondern wohin ich mich bewege. Welches ist die Richtung meines Lebens?
Die genannten vier Kennzeichen für den Ruf Gottes werden noch deutlicher, wenn sie mir helfen zu erkennen, was sicher nicht Gottes Ruf und
Weg ist: nämlich das Gegenteil von den genannten Merkmalen.
Gott ruft uns heraus aus der Enge. Also bin ich sicher nicht in der richtigen Richtung unterwegs, wenn es in meinem Leben gar keine Herausforderungen mehr gibt; wenn der erste Gedanke der nach Sicherheit und Absicherung ist; wenn ich nichts mehr wage; wenn ich meine Talente vergrabe; wenn ich mich nichts mehr traue; wenn ich nur darauf schaue, dass ich
möglichst billig davonkomme und wie ich mich am schlauesten vor Verantwortung drücke; wenn letztlich meine Ängste entscheiden, was ich in
meinem Leben tue oder lasse. Wenn ich nur niedrig von mir selbst und von
anderen denke und mir nichts Großes mehr vorstellen kann, dann ist es
sicher nicht der Ruf Gottes, dem ich folge.
Gott ruft uns in die Freude. Wer dem Ruf Gottes nicht folgt, dem ergeht es wie dem reichen Jüngling im Evangelium: Er geht traurig weg.
Wenn ich auf dem Weg, den ich gehe, auf Dauer nicht froher werde, sondern trauriger; wenn ich das Gefühl habe, mein Weg ist vor allem schwer
und überfordernd; wenn mir das sogar körperlich anzumerken ist: schwerer Schritt, hängende Schultern, verkrampfter Nacken, flacher Atem –
dann gehe ich nicht Gottes Weg. Seinen Weg kann ich mit aufrechtem
Gang und beschwingt gehen.
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Es gibt eine typisch fromme Versuchung, die meint, wenn etwas der
Wille Gottes ist, dann müsse es vor allem schwer sein und dürfe keine
Freude machen. Das ist falsch. Auch wenn es Strecken auf diesem Weg
gibt, die hart und anstrengend sind, das letzte Ziel ist nicht das Kreuz, sondern die Erlösung und die Auferstehung.
Bezeichnend ist die Geschichte vom Propheten Elija. Er läuft weg vor
Gott, wirft sich müde unter den Ginsterstrauch und will sterben. Oder die
des Propheten Jona: Er flieht vor Gott und schläft während des lebensbedrohlichen Sturms im Bauch des Schiffes. Wenn ich nicht wach im Leben
stehe, sondern immer müde bin, dauernd schlafen könnte und möchte,
dann kann das ein deutliches Zeichen sein, dass ich nicht dem Ruf Gottes
folge, sondern eher vor ihm fliehe. Wenn in unserer ganzen Kirche gelegentlich ein unfrohes und missmutiges Klima herrscht, dann ist das ein
Zeichen, dass wir nicht unbedingt dem Ruf Gottes folgen. Dann ist Umkehr angesagt.
Gott ruft in die Freiheit. Gottes Ruf entbindet Kräfte, setzt Kreativität
frei. Wenn das Gegenteil der Fall ist – wenn ich mich unfrei und eingeklemmt fühle; wenn ich mich nicht wirklich gebraucht weiß, sondern nur
benutzt fühle; wenn ein gekünsteltes Klima herrscht, das unecht und falsch
wirkt; wenn unter der Überschrift des (religiösen) Gehorsams Menschen
geknechtet und ausgebeutet, ungerecht und verächtlich behandelt werden;
wenn es Demütigungen gibt oder andere immer nur niedergemacht, nicht
aber aufgerichtet werden – möge die Überschrift noch so fromm sein und
Gottes Wille im Munde geführt werden –: dann wirkt da sicher nicht Gottes Geist, und dann wird alles andere getan als seinem Ruf gefolgt.
Gottes Wille ist konkret. Wenn es nie wirklich zur Entscheidung kommt;
wenn immer alles auf die Umstände und die anderen geschoben wird; wenn
großartige Theorien und Pläne aufgestellt werden, aber nichts unternommen wird und nichts geschieht; wenn ich mich scheue, mich in die Niederungen des konkreten Menschseins zu begeben, sei es meines eigenen, eines
anderen oder einer Gemeinschaft; wenn ich grundsätzlich etwas gegen
Institutionen habe und es immer nur ganz spontan geht; wenn ich kein
klares Ja oder Nein sagen kann – dann bin ich noch nicht in der Lage, Gottes konkreten Weg zu finden und zu gehen.
53
Ja, nun kann es sein, dass Sie sich sagen: Jetzt hat er das alles aufgezählt,
aber was ich tun soll, weiß ich deshalb immer noch nicht.
Dazu sage ich, was Jesus zu dem jungen Mann sagt, der ihn fragt: „Guter Meister, was muss ich tun …?“ – „Du kennst doch die Gebote: Du sollst
nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du
sollst nicht falsch aussagen, du sollst keinen Raub begehen; ehre deinen
Vater und deine Mutter!“ Gottes Willen kennen wir aus den zehn Geboten.
Und wenn ich wie der junge Mann das alles getan habe, aber innerlich noch
weitersuche, dann kann ich mich fragen, ob mich Gott ruft, alles hinter mir
zu lassen und dem armen, ehelosen und gehorsamen Jesus zu folgen.
Aber das ist meiner Meinung nach nicht das Erste und Wichtigste. Vor
allem Einzelnen, was ich tun und werden kann – Arzt oder Priester, Musikerin oder Lehrerin, Ordensfrau oder Ehefrau, Informatiker oder Sozialarbeiter –, steht die entscheidende Frage: Will ich denn überhaupt Gottes
Willen an die erste Stelle setzen? Oder will ich meine eigenen Pläne und
Wünsche an die erste Stelle setzen? Die Fähigkeit, Gottes Willen zu erkennen und zu folgen, werde ich nur haben, wenn ich die eine Grundentscheidung vor die Einzeldinge stelle und sage: Nicht mein, sondern dein Wille
geschehe.
Das kann ich auch dann tun, wenn alle Berufsentscheidungen längst getroffen sind. Denn es bleibt ja immer noch die Frage, wie ich Arzt oder
Priester, Musikerin oder Lehrerin bin.
Und damit schließt sich der Kreis. Wir kommen wieder an den Anfang
zurück. Was Gott und sein Wille mir wert sind, das zeigt sich untrüglich
daran, ob ich Zeit dafür habe und mir Zeit dafür nehme – und seien es nur
fünf Minuten am Tag. Die werden schon von selbst mehr, wenn ich sie
täglich halte. Das ist ganz einfach, aber nicht so leicht zu tun.
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Vom Kommen des Menschensohnes
Predigt zum 1. Adventsonntag, 30. November 2003, in Sankt Georgen
Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas:
„Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen, und
auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben
und Donnern des Meeres. Die Menschen werden vor Angst vergehen in
der Erwartung der Dinge, die über die Erde kommen; denn die Kräfte
des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf einer Wolke kommen
sehen. Wenn (all) das beginnt, dann richtet euch auf, und erhebt eure
Häupter; denn eure Erlösung ist nahe. Und er gebrauchte einen Vergleich und sagte: Seht euch den Feigenbaum und die anderen Bäume
an: Sobald ihr merkt, dass sie Blätter treiben, wisst ihr, dass der Sommer
nahe ist. Genauso sollt ihr erkennen, wenn ihr (all) das geschehen seht,
dass das Reich Gottes nahe ist. Amen, ich sage euch: Diese Generation
wird nicht vergehen, bis alles eintrifft. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. Nehmt euch in Acht,
dass Rausch und Trunkenheit und die Sorgen des Alltags euch nicht
verwirren und dass jener Tag euch nicht plötzlich überrascht, (so) wie
(man in) eine Falle (gerät); denn er wird über alle Bewohner der ganzen
Erde hereinbrechen. Wacht und betet allezeit, damit ihr allem, was geschehen wird, entrinnen und vor den Menschensohn hintreten könnt“ (Lk
21,25–36).
Liebe Schwestern und Brüder!
Ich erinnere mich an einen Schüler der sechsten Klasse in meinem Religionsunterricht. Er war furchtbar undiszipliniert und kaum zu bändigen. Als
er mal wieder aufgestanden, herumgelaufen und einfach so ein Mädchen
geboxt hatte, habe ich ihm eine Fünf gegeben. Daraufhin fing er an zu tanzen und zu rufen: „Hurra, ich hab ’ne Fünf gekriegt! Hurra, ich hab ’ne
Fünf gekriegt!“
Da ist man dann als Lehrer wirklich platt gesetzt und weiß nicht mehr
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weiter. Was kann man da noch machen? Da kann man nichts mehr tun. Die
Sanktionsmöglichkeiten sind erschöpft.
Wenn wir das Evangelium hören und bedenken, was da von den Christen erwartet wird, nämlich dass sie angesichts welterschütternder Ereignisse, wenn alles vor Angst vergeht, sich nicht ducken und verstecken und
bestraft fühlen, sondern ihr Haupt erheben, handeln sie dann nicht wie
dieser verrückte Junge: „Hurra, die Welt geht unter!“?
Ein bisschen was ist wohl daran. Wen das nicht mehr erschüttert, dass
die Welt untergeht, der ist ja nicht mehr zu ängstigen. Wie manche Menschen, die schon eine Nahtoderfahrung gemacht haben, den Tod nicht
mehr fürchten. Sie sind frei geworden. Und ist da nicht etwas dran, wenn
wir die Makarismen, die Seligpreisungen, Jesu hören: „Selig ihr Hungernden … Selig ihr Dürstenden … Selig seid ihr, freut euch und frohlocket,
wenn euch die Menschen schlecht behandeln.“ Und das ist es auch, was
zuweilen die Christen so fremd gemacht hat in der Welt, dass man von
Weltfremdheit und Weltabgewandtheit, ja Weltverachtung gesprochen hat.
So mag es all jenen scheinen, für die diese Welt und ihre Kräfte und Säulen – Macht, Einfluss, Geld, Sicherheit, Gesundheit, Arbeitskraft – die
Säulen sind, die alles tragen und alles bedeuten. Und wenn die erschüttert
werden, dann wird alles erschüttert. Dann vergehen wir vor Angst. Und
das passiert ja heute. Wen die Erschütterung dieser Kräfte nicht erschüttert,
der ist wahrhaft frei oder verrückt.
Gibt es das? Geht das wirklich, dass wir angesichts der Erschütterungen
unseres Lebens – wenn wir gerade ein Fünf bekommen haben, wenn unsere Welt zusammenbricht – nicht auch selbst zusammenbrechen, sondern
unser Haupt erheben können?
Die Richtung der Antwort zeigt uns ein Wort, das ich bei Carl Friedrich
von Weizsäcker gefunden habe. Er erzählt, dass ein ihm befreundeter Professor von den Quäkern gesagt hat, ein Christ habe drei Eigenschaften: „He is
immensely happy, he is absolutely fearless, and he is always in trouble“
1
(grenzenlos glücklich, absolut furchtlos und immer in Schwierigkeiten).
1
Carl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, München 1977,
449.
56
Alle drei Kennzeichen gehören zusammen. Es ist das Glück, den großen
Schatz und die wertvolle Perle gefunden zu haben – das, was Jesus das
Reich Gottes und die Liebe des Vaters nennt. Wie ich es nennen würde: die
bedingungslose Annahme durch Gott und seine unergründliche Liebe zu
allem, was ist, erlebt zu haben durch die Liebe und Annahme, durch die
Vergebung und die Bejahung anderer Menschen. Das macht uns maßlos
glücklich und das befreit uns von der Furcht. Das macht uns furchtlos. Das
macht uns fähig, den Willen Gottes in dieser Welt zu tun – und schon sind
wir „in trouble“ – „in Trabbel“.
Aber das ist ein anderer Trabbel als der übliche Trabbel, den wir in der
Welt spüren.
Um den Trabbel komme ich in dieser Welt nicht herum. Wir sind immer in Trabbel und Bedrängnis. Es ist immer zu viel und immer zu wenig.
Und ganz besonders in der Advents- und Weihnachtszeit.
Aber es ist die Frage, was es denn für Trabbel ist: meistens die Erfahrung des Zeitmangels und der Trabbel, der daraus erwächst. Was kommt
zuerst und was zuletzt, und wo habe ich noch Luft zum Atmen und zum
Leben? Oder die tieferen Erschütterungen des Lebens: Angst um die Arbeit, Angst um das Studium, Angst um die Gesundheit. All die Unordnungen in meinem Leben. All das, was ich nicht hinkriege und nicht schaffe, all
die Not und Sorge. Die Zeit ist erfüllt und zugleich leer. Es ist unheimlich
viel los, aber es ist immer weniger etwas, das mich wirklich berührt und
angeht. Ich werde traurig und aggressiv, weil es immer um alles Mögliche
geht, weil ich immer für alles Mögliche da sein soll, aber zum Meinigen
nicht komme. Und wenn ich dann Zeit habe, dann weiß ich nichts mit ihr
anzufangen und dann macht mich das, was mir da als Freizeitgestaltung
angeboten wird, noch mal überdrüssig. Das ist der übliche Trabbel, und er
hat etwas mit dem Gericht zu tun.
Und es gibt den Trabbel, der daraus entsteht, dass ich lebe nach dem
Willen Gottes in dieser Welt, wie Jesus oder wie die großen und kleinen
Heiligen; den Trabbel, der für den heiligen Ignatius ein Zeichen dafür war,
dass sich die Jesuiten auf dem rechten Weg finden; den Trabbel, den Jesus
selig preist. Und da geht es tatsächlich zusammen: maßloses Glück, Furchtlosigkeit – und Trabbel.
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Also nicht wie jener Junge in meiner Religionsklasse: „Hurra, ich hab
’ne Fünf gekriegt!“ „Hurra, die Welt geht unter!“ Nein, sondern wie jene
beiden Mädchen, von denen mir eine Gemeindereferentin erzählt hat. Es
waren zwei ungetaufte, etwa zehn oder zwölf Jahre alte Mädchen. Sie hatten noch nie etwas davon gehört, dass wir von den Toten auferstehen werden, dass es das ewige Leben gibt. Als die Gemeindereferentin herausgerufen wurde und nach einer Weile in den Raum zurückkam, da tanzten die
beiden Mädchen um den Tisch und sangen: „Wir werden nicht sterben, wir
werden nicht sterben.“
„A true Christian is immensely happy, he is absolutely fearless, and he is
always in trouble, grenzenlos glücklich, absolut furchtlos, und immer in
Schwierigkeiten.“
Freilich schreibt Carl Friedrich von Weizsäcker gleich den Satz hinzu:
„Ich habe sofort gesehen, dass ich nicht furchtlos genug war, um so in
Schwierigkeiten und so glücklich zu sein, aber ich habe gesehen, wie
das Glück ausstrahlt, das es bedeutet, das, was man glaubt, auch zu
1
tun.“
Amen.
1
Carl Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, München –
Wien: Hanser, 1977, 3. Aufl., 449.
58
„Bleibt wach!“
Predigt zum 1. Advent 1999 in Sankt Georgen
Aus dem heiligen Evangelium nach Markus:
„Seht euch also vor, und bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit
da ist. Es ist wie mit einem Mann, der sein Haus verließ, um auf Reisen
zu gehen: Er übertrug alle Verantwortung seinen Dienern, jedem eine
bestimmte Aufgabe; dem Türhüter befahl er, wachsam zu sein. Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am
Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen.
Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam!“
(Mk 13,33–37).
Liebe Schwestern und Brüder,
warum ist es unsere Gefahr, immer wieder einzuschlafen, nicht wach zu
bleiben? Ich habe drei Gründe gefunden:
1. Die Alten sagen: Es ist nichts mehr los, früher war mehr los. Damals, als
der Jesus noch unter uns war … Damals, als ich noch jung war, da war in
der Kirche noch was los. Damals gab es viele Jugendliche und große Begeisterung. Heute ist es langweilig. Heute ist nichts mehr los. Damals war es
interessant, heute gibt es nichts mehr Neues. Ich kenne alles schon. „Damals, als ich noch lebte …“, hat einmal einer meiner Professoren in der Vorlesung gesagt. Wir sind nicht präsent, nicht gegenwärtig und unaufmerksam, verschlafen gegenüber dem Heute, wenn wir alles schon kennen,
wenn wir nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit leben.
Die Jungen sagen: Ach, es ist noch viel Zeit, jetzt brauche ich noch
nicht ernst zu machen. Erst später passiert das Wichtige, heute noch nicht.
59
Also kurz gesagt: Ich lebe eigentlich nicht richtig. Ich nehme mein eigenes
Leben nicht ernst.
Ich weiß noch: Mir ist es ähnlich gegangen. Als ich in der siebten oder
achten Klasse war, habe ich mir gesagt: Okay, wenn ich erst mal größer
und älter bin, dann fange ich richtig an: wenn es auf das Abitur zugeht. Als
es so weit war, habe ich es wieder verschoben: Wenn ich studiere, sagte ich
mir, gerade bei der Theologie, da werden wir aber wirklich Ernst machen,
da wollen ja alle das Gleiche: ehrlich nach der Wahrheit suchen, den Glauben ernst nehmen. Dann musste ich feststellen, dass die anderen Studenten
es auch nicht so ernst nahmen, sondern immer noch die Stimmung verbreitet war: Jetzt noch nicht, morgen vielleicht … Dann, mit dreißig, habe ich
mir gesagt: So, jetzt hast du keine Ausrede mehr, jetzt bist du erwachsen.
Jetzt bist du so alt, jetzt sag auch Ja dazu. Jetzt bist du Priester, dann sei es
auch wirklich! Erst da bin ich aus dem Dornröschenschlaf aufgewacht und
in der Gegenwart aufgetaucht.
Heute ist es für die Jungen vielleicht noch schwerer: Wenn ich weiß,
dass die Zukunft nicht sehr viel Erfreuliches bereithält, sondern eher
Schlimmes; wenn ich weiß, dass auch die Gegenwart an mir und meiner
Zukunft nicht sehr interessiert ist; wenn die Gegenwart und die Zukunft so
verdüstert sind – dann strecke ich mich nicht danach aus, dann will ich
lieber vergessen und Party machen, solange es noch geht. Dann mache ich
lieber die Augen zu und nehme das Heute und Morgen nicht mit wachen
Augen wahr.
Nein, die Botschaft des Evangeliums heißt anders: Das erste Mittel gegen die Verschlafenheit heißt: Mach die Augen auf und staune!
Es gibt ein schönes Gedicht von Christian Morgenstern:
Erschrocken schaut der Heide Schaf mich an,
als säh’s in mir den ersten Menschenmann.
Sein Blick steckt an; wir stehen wie im Schlaf;
mir ist, ich säh zum ersten Mal ein Schaf.
Dieses Gedicht ist überschrieben: „Geburtsakt der Philosophie“.
Ja, damit beginnt alle Philosophie: mit dem Staunen. Wer nicht einmal
wie ein Schaf oder wie ein Kind schauen kann, der sieht die Geheimnisse
60
dieser Welt nicht. Wer sich nicht mehr wundern kann, der sieht auch keine
Wunder mehr.
Eine junge Frau aus dem Osten Deutschlands, die zu den vielen gehört,
die an nichts glauben, bekommt ihr erstes Kind. Und sie gerät über dieses
Wunder, dass sie neues Leben zur Welt gebracht hat – ein einmaliges, nie
dagewesenes kleines Menschenkind –, so sehr ins Staunen, dass sie den
Weg zu Gott findet. Das sind ja die Wunder, die täglich um uns geschehen,
auch in einer verdüsterten Welt, auch in einer bedrohten Welt. Wir aber
nehmen sie nicht wahr, weil wir nicht die Augen aufmachen. Gottes Wunder geschehen gerade gegen die Hoffnungslosigkeit und gegen die Langeweile und gegen die Ängste vor dem Leben. Wir wollen sie sehen.
2. Liebe Schwestern und Brüder, als ich noch Novize war und meine ersten
dreißigtägigen Exerzitien machte, bin ich einem alten Jesuiten begegnet,
der in seinen Teller mit Suppe auch den Hauptgang einfüllte: Kartoffeln,
Gemüse, Fleisch – alles in die Suppe, und dann auch noch den Vanillepudding, alles rumrührte und aß.
Wird Ihnen schlecht? Mir auch! Aber wie dieser Mitbruder, so machen
wir es ja oft mit unserem Leben: Wir rühren alles zusammen zu einem Einheitsbrei, und dann wundern wir uns, dass uns das Leben nicht schmeckt,
dass alles gleich schmeckt.
Jetzt ist Adventszeit, aber in den Kaufhäusern hören wir schon „Stille
Nacht“. Alle essen schon den Weihnachtsstollen, der doch erst am Heiligen
Abend angeschnitten werden soll. Bald ist wieder Fastenzeit, aber keiner
fastet. Stattdessen gibt es überall schon wieder Ostereier und Osterhasen.
Heute ist Sonntag, Tag des Herrn und der Ruhe, aber alle Computer der
Jesuiten arbeiten. Am Abend jeden Arbeitstages wiederum muss Party sein.
Wir rühren alles zu einem Einheitsbrei zusammen. Die Dinge verlieren
ihren Geschmack und ihren Wert. Alles wird gleich und gleichgültig. Es
gibt nur noch ein einziges wohltemperiertes Klima, ohne große Gefühle,
ohne klare Alternativen, ohne Entschiedenheit. Wisst ihr, was Jesus dazu
gesagt hat? Weil du weder kalt noch heiß bist, sondern lau, darum speie ich
dich aus. Das macht das Leben zum Speien. Ihr Lieben, das macht uns müde, darum sind wir nicht wach.
61
3. Der wohl tiefste Grund, warum wir so müde werden und nicht in der
Gegenwart leben wollen, ist eine tiefe Traurigkeit. Das sind Wunden und
Verletzungen. Das sind enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen. Das
macht uns wirklich todmüde.
Liebe Schwestern und Brüder, ich bin einmal durch eine wichtige Prüfung gefallen. Das lag auch daran, dass ich nicht richtig informiert war und
mich falsch vorbereitet hatte. So bin ich unerwartet mit hundert Sachen
gegen die Wand gefahren. Ich hatte lange damit zu tun, mir war alle Freude
genommen und ich habe mich richtig hängen lassen – Schultern und Kopf.
Ich ertappte mich dabei, wie ich schlurfte, die Beine nicht mehr hob. Damals habe ich mir gesagt: Thomas, richte dich auf. Und ich habe es wirklich
leibhaftig getan. Erhebe dein Haupt! Das, was ich mit dem Körper getan
habe, das hat dann auch meine Seele wieder verändert.
Liebe Schwestern und Brüder, das ist die Botschaft, die wir im Advent
nicht nur einmal hören: Richtet euch auf und erhebt eure Häupter, denn
eure Erlösung ist nahe. Gott richtet uns auf. Er erhebt uns aus dem Staub
und Schmutz und aus der tiefen Traurigkeit, weil wir durchgefallen sind.
Das ist die Botschaft des Advent: Tröstet, tröstet mein Volk.
Ja, liebe Schwestern und Brüder, das sollen wir auch wirklich tun: uns
aufrichten und nicht hängen und gehen lassen. Probieren Sie es körperlich:
Gehen Sie aufrecht, schlurfen Sie nicht dahin! Das ändert auch Ihre innere
Einstellung.
Wir brauchen uns nicht einer letzten Traurigkeit und Verzweiflung hinzugeben, denn der Advent sagt uns, dass nicht alles in einem schwarzen
Loch endet und versinkt, sondern dass das Beste tatsächlich noch kommt:
das Reich des Lichtes und des Friedens, das Reich Gottes und der Menschen.
Und es hat schon begonnen, mitten in unserem Alltag! Danach sollen
wir ausschauen. Es ist unmittelbar neben uns im Gesicht des Kindes. Wir
sollen nicht alles zu einem Einheitsbrei verrühren, sondern das Salz der
Mühsal und Arbeit kosten, damit uns auch das kommende Fest und die
Süße der Erlösung wirklich schmecken. Amen!
62
Mission zwischen Evangelium und Kultur
Predigt zum Fest des heiligen Franz Xaver
am 3. Dezember 2002, seinem 450. Todestag
Lesung aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther
„Wenn ich nämlich das Evangelium verkünde, kann ich mich deswegen
nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde! Wäre es mein freier Entschluss, so erhielte ich
Lohn. Wenn es mir aber nicht freisteht, so ist es ein Auftrag, der mir anvertraut wurde. Was ist nun mein Lohn? Dass ich das Evangelium unentgeltlich verkünde und so auf mein Recht verzichte. Da ich also von niemand abhängig war, habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht, um
möglichst viele zu gewinnen. Den Schwachen wurde ich ein Schwacher,
um die Schwachen zu gewinnen. Allen bin ich alles geworden, um auf
jeden Fall einige zu retten. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen,
um an seiner Verheißung teilzuhaben“ (1 Kor 9, 16-19.22-23).
Aus dem heiligen Evangelium nach Markus
„Dann sagte er zu ihnen: Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet
das Evangelium allen Geschöpfen! Wer glaubt und sich taufen lässt,
wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden. Und durch
die, die zum Glauben gekommen sind, werden folgende Zeichen geschehen: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben; sie werden in neuen Sprachen reden; wenn sie Schlangen anfassen oder tödliches Gift trinken, wird es ihnen nicht schaden; und die Kranken, denen
sie die Hände auflegen, werden gesund werden. Nachdem Jesus, der
Herr, dies zu ihnen gesagt hatte, wurde er in den Himmel aufgenommen und setzte sich zur Rechten Gottes. Sie aber zogen aus und predigten überall. Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte die Verkündigung
durch die Zeichen, die er geschehen ließ“ (Mk 16, 15-20).
63
Liebe Schwestern und Brüder!
Heute Morgen gegen zwei Uhr vor 450 Jahren ist der heilige Franz Xaver
auf der Insel Sanzian in einer zugigen Schilfhütte gestorben.
Wenn wir fragen, was wir für uns hier in Deutschland, hier in Sankt
Georgen, aus dem Leben und Sterben des heiligen Franz Xaver für unsere
Sendung, für unsere Mission als Kirche lernen können, so sind es in meiner
Sicht drei Dinge.
Erstens: Vor der Sendung kommt die Sammlung. Vor der Missio
kommt die Rekollektio. Bevor ich andere bekehren kann, muss ich mich
selbst bekehren.
In der Kirche und der Gesellschaft Deutschlands denken wir eher so:
Was mir am meisten auffällt, sind die Fehler und Verhärtungen der anderen. Wenn sich die anderen in Kirche und Gesellschaft endlich bekehrten,
dann würde ich leichter leben können, könnte vielleicht auch mein Leben
ändern und mich bekehren.
Wie war es bei Franz Xaver? Er studierte als Priesterkandidat der Diözese Navarra an der besten theologischen Lehranstalt seiner Zeit, nämlich
an der Sorbonne von Paris, um kirchliche Karriere zu machen und eine
dicke Pfründe zu bekommen. Das war seine Lebensplanung. Dann begegnete er dem heiligen Ignatius von Loyola und macht bei ihm dreißig Tage
Exerzitien in Stille, Sammlung und Gebet. Das hat ihn verwandelt. Er ist
Christus begegnet. So hat er sich bekehrt.
Von da an war es sein Ziel, nicht den eigenen, sondern den Willen Gottes zu tun. Das war das eigentliche und tiefste Motiv seines Lebens. Das hat
ihn in Bewegung gesetzt. Er wollte nicht zuerst den Indern oder den Japanern oder den Chinesen das Evangelium verkünden. Nein, „seine Leistung
ist nach seiner Ansicht – wir kennen diese aus seinen Briefen – nicht die
Bekehrung asiatischer Völker, sondern die Erfüllung des Willens Gottes in
jedem Augenblick seines Lebens. Ob [dieser Wille] so oder anders [aussah],
ob begreiflich oder unbegreiflich, danach fragt er nicht. Diese innere Ge1
löstheit ist seine wahre geistige Freiheit.“ Und hier ist auch die Entschei-
1
Joseph Loosen, Franz Xaver, der Heilige der Hoffnung, in: GuL 26 (1953), 90–
101, zit. 99.
64
dung unseres Lebens zu fällen: Was suche ich – mich selbst oder Gott?
Will ich Gott dienen oder soll Gott mir zum Gelingen meines Lebens dienen?
Zweitens: Was war eigentlich das Schwierigste in der Mission des heiligen
Franz? Waren es die Gefahren wie der ständig drohende Schiffsuntergang,
viele Krankheiten, Piraten, feindliche Geistliche anderer Religionen? Waren
es die Unzulänglichkeiten wie mangelnde Sprachkenntnisse, völlig unbekannte Kulturen mit ihren Gewohnheiten und ihren Tabus?
Nein, das größte Hindernis und der größte Ballast für die Mission waren für Ignatius die eigenen Mitchristen – jene, die kamen, um Geschäfte
zu machen, die Inder und Japaner auszubeuten, auch die neu gewonnenen
Christen. Das ist auch heute noch das größte Hindernis für die Glaubwürdigkeit der Botschaft: die Unglaubwürdigkeit vieler Boten. Und wir sind
darum kritisch gegenüber der Kirche. Mit einer solchen Kirche kann man
sich doch nicht identifizieren, höchstens teilidentifizieren. Da mache ich
doch nicht weiter mit. Da ziehe ich mich doch eher zurück.
Was ist die Reaktion des heiligen Franz? Sosehr er unter dem Verhalten
dieser „christlichen“ Kaufleute, Soldaten und Geistlichen gelitten hat: Angesichts einer schwachen und sündigen Kirche ist seine Antwort nicht Resignation und Rückzug, sondern eine umso klarere, glaubwürdigere, tiefere
Entscheidung für die Kirche und ihre Sendung. Oder anders gesagt: ein
immer stärkeres Vertrauen und Hoffen auf Gott allein und von diesem
Fundament aus das Ja zur Kirche Gottes und zu Gottes Sendung der Kirche in die Welt. Das hat ihn für die anderen überzeugend gemacht: nicht
das Jammern und Schimpfen über die eigene Glaubensgemeinschaft, sondern seine Treue zu ihr, ohne schönzufärben. Und darin bestand auch sein
Charme für die Nichtchristen: in seiner unerschütterlichen Liebe, seinem
Glauben, seiner Bereitschaft, sich auf die anderen einzulassen, ihnen Gutes
zu tun und nichts für sich haben zu wollen.
Drittens: Franz hat, wie gesagt, an der berühmtesten Universität der Christenheit Theologie studiert. Ihre Wahrheit hat er aber in Indien erfahren.
Denn die Theologie als Theorie genügt nicht. Die Wahrheit leuchtet mir
65
erst ein, wenn ich sie tue, sagt das Johannes-Evangelium (3,21): „Wer aber
die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten
in Gott vollbracht sind.“ Das ist das Tröstlichste, das ist das große Glück,
das Franz erfahren hat.
Und hier liegt heute bei uns unser größtes Problem. Wir kriegen Theorie und Praxis nur unzureichend zusammen. Wir kennen die Theologie,
und wir kennen sie gut. Wir lernen an einer bekannten Lehranstalt. Aber
unsere Lebenskultur und das Evangelium stimmen zu wenig überein. Darum erfahren wir die Wahrheit des Evangeliums zu wenig. Oder, wie es
Papst Paul VI. gesagt hat: „Der Bruch zwischen Evangelium und Kultur ist
1
ohne Zweifel das Drama unserer Zeitepoche.“
Das soll kein erhobener Zeigefinger, keine moralische Keule, sondern es
soll eine Verlockung sein: Mach doch ruhig die Probe! Mach doch das
Experiment, ob die Bergpredigt wahr ist! Denn das ist die Verheißung und
das ist die Erfahrung: Wer das Evangelium lebt, der erfährt seine Wahrheit.
Dem heiligen Franz geht es so, dass er gerade in all den Nöten, Gefahren und Bedrängnissen Gottes Trost und seine Nähe, seine Führung und
Fügung am intensivsten erlebt. Das beschämt ihn geradezu. Die Heftigkeit
der Gotteserfahrung zerreißt ihn beinahe. Hier kommt er Christus, seinem
Lebenseinsatz und seiner Gottesnähe am nächsten.
Er schreibt (uns):
„Es liegt ein großer Unterschied im Gottvertrauen eines Menschen, der
alles hat, was er braucht, und in dem Vertrauen jenes Menschen, der,
nichts besitzend, freiwillig auch noch die nötigen Dinge hingibt, auf dass
er Christus ähnlicher werde. Und ebenso ist der Unterschied groß zwischen jenen, die in gesichertem Leben geborgen an Gott glauben, auf
Ihn vertrauen und hoffen, und denen, die um Seiner Liebe und Seines
Dienstes willen aus freiem Willen sich den Gefahren des Todes darbieten, Gefahren, die sie meiden dürften, weil sie ihnen, in ihrer Entscheidung völlig frei, ausweichen oder begegnen können: und die in all dem
2
dann glauben und ihre Hoffnung und ihr Vertrauen gründen in Gott.“
1
2
Enzyklika „Evangelium nuntiandi“, 1975, Nr. 20.
Loosen, Franz Xaver (s. o. Anm. 7) , 96: Ep. II, ep. 85, n. 13.14 (V., 140 f.).
66
Liebe Schwestern und Brüder, von da aus können wir auch den berühmten
Brief des heiligen Franz neu hören, den er am 15. Januar 1544 an seine Ordensgenossen in Rom geschrieben hat. Es ist ein Brief, den er gewissermaßen an sich selbst als den jungen Theologiestudenten schreibt, der er einmal
an der Sorbonne war und der vom wahren Glück des Glaubens noch gar
nichts wusste:
„Viele Male bewegt mich der Gedanke, an die Universitäten Europas zu
gehen, besonders an die Sorbonne von Paris, und dort wie von Sinnen
laut schreiend denen zu sagen, deren Bildung größer ist als der
Wunsch, davon guten Gebrauch zu machen: wie viele Seelen vom Weg
des Heiles abkommen und durch ihre Nachlässigkeit in die Hölle kommen! Wenn sie mit dem gleichen Eifer, mit dem sie ihre Studien betreiben, auch Rechenschaft darüber gäben, was Gott von ihnen fordern
wird, und über das Talent, das er ihnen gegeben hat, würden sich viele
bewegen lassen, die nötigen Mittel zu ergreifen, geistliche Übungen (Exerzitien) machen, um den göttlichen Willen in ihrer Seele zu erkennen
und zu erspüren und sich ihm gleichförmiger zu machen als ihren eigenen Neigungen, indem sie sagen: Herr, hier bin ich. Was willst du, dass
ich tun soll? Schicke mich, wohin du willst, und wenn es förderlich ist,
1
selbst bis nach Indien.“
Dieser Brief hat damals Tausende junger Menschen bewegt, so genannte
Indienbriefe zu schreiben, nämlich sich anzubieten, selbst bis nach Indien
zu gehen. Hier und heute würde es ja schon Albanien oder auch nur die
Vorstadt oder das Nachbarhaus tun. Den gleichen Mut und die gleiche
Hoffnung würde es von uns fordern. Aber vielleicht würde dann auch das
Strahlen über uns kommen, das die Gestalt des heiligen Franz Xaver umgibt.
1
Zit. nach M. Sievernich, Entdeckung der Anderen. Franz Xavers interkultureller
Lernprozess, in: GuL 75 (2002), 410–424, zit. 413.
67
„Meinen Frieden gebe ich euch …“
Predigt am 9. Juli 2002 zu Gen 32,23–33; Mt 9,32–38 in Sankt Georgen
Lesung aus dem Buch Genesis:
„In derselben Nacht stand […] [Jakob] auf, nahm seine beiden Frauen,
seine beiden Mägde sowie seine elf Söhne und durchschritt die Furt des
Jabbok. Er nahm sie und ließ sie den Fluss überqueren. Dann schaffte er
alles hinüber, was ihm sonst noch gehörte. Als nur noch er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg. Als der Mann sah, dass er ihm nicht beikommen konnte, schlug er
ihn aufs Hüftgelenk. Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm
rang. Der Mann sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Jakob aber entgegnete: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich
nicht segnest. Jener fragte: Wie heißt du? Jakob, antwortete er. Da
sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel (Gottesstreiter); denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und
hast gewonnen. Nun fragte Jakob: Nenne mir doch deinen Namen! Jener entgegnete: Was fragst du mich nach meinem Namen? Dann segnete er ihn dort. Jakob gab dem Ort den Namen Penuël (Gottesgesicht)
und sagte: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin
doch mit dem Leben davongekommen. Die Sonne schien bereits auf ihn,
als er durch Penuël zog; er hinkte an seiner Hüfte. Darum essen die Israeliten den Muskelstrang über dem Hüftgelenk nicht bis auf den heutigen Tag; denn er hat Jakob aufs Hüftgelenk, auf den Hüftmuskel geschlagen“(Gen 32,23–33).
Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus:
„Als sie gegangen waren, brachte man zu Jesus einen Stummen, der
von einem Dämon besessen war. Er trieb den Dämon aus, und der
Stumme konnte reden. Alle Leute staunten und sagten: So etwas ist in Israel noch nie geschehen. Die Pharisäer aber sagten: Mit Hilfe des An-
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führers der Dämonen treibt er die Dämonen aus. Jesus zog durch alle
Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte alle Krankheiten und Leiden. Als er die vielen
Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben. Da sagte er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter. Bittet also den
Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden.“ (Mt 9,32–38)
Liebe Schwestern und Brüder!
Es gab eine Scherzfrage in der DDR: Wann ist Sozialismus? Sozialismus ist
dann, wenn jeder von jedem genug hat.
Dieser Witz spielt mit der tiefen Zweideutigkeit aller menschlichen
Glückserfüllung. Wer von allem genug hat, der hat schnell auch in einem
anderen Sinne von allem genug. Die Sattheit führt dazu, dass man alles satt
hat. Nur diejenigen meckern immer über das Essen, die genug davon haben. Damit will ich die laufende Umfrage in der Mensa nicht unterlaufen.
Die Ambivalenz, die seltsame Ambiguität, trifft auch auf den Frieden
zu. Wir kennen das: Einerseits ist der Frieden die große Sehnsucht der
Völker und auch jedes Einzelnen. Andererseits gibt es den faulen Frieden.
Es gibt die Friedhofsruhe. Es gibt die Zufriedenheit, die keine Not mehr
wahrnimmt. Und es gibt Leute, die wollen nur eins: in Frieden gelassen
werden.
Das begegnet uns auch in der Bibel: Unser Semesterthema „Meinen
Frieden gebe ich euch“ wird kontrastiert durch Jesu Wort: Ich bin nicht
gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Der reiche
Kornbauer, der zu seiner Seele sagt: Nun hast du Frieden und Ruhe für
viele Jahre, wird von Jesus verurteilt: Du Narr.
Trifft also diese Tendenz zum Umschlag von Sehnsucht in Überdruss
auch auf den Frieden zu, den Jesus gibt, auf Gottes Frieden?
Ja.
Und warum?
Wie immer gibt es drei Punkte:
69
Erstens: Die Gabe Gottes trifft auf uns sündige, endliche Menschen.
Kennen Sie die Erfahrung: Die Kinder sind total glücklich und happy; aber
dann spürt man plötzlich den Umschwung. Man merkt, gleich gibt es Tränen. Wir überziehen unser Glück, wir überdehnen es. Wir vergessen immer
wieder, dass nicht wir es sind, die den Frieden gemacht, hergestellt haben,
sondern wir halten uns selbst für denjenigen. Wir werden übermütig. Wir
brauchen lange, bis wir lernen, wie wir den geschenkten Frieden bewahren.
Ignatius sagt deshalb: In den Zeiten des Glückes, des Friedens soll man
sehr darauf achten, demütig zu bleiben und nicht übermütig zu werden.
Zweitens: Die sakramentale Struktur der Wirklichkeit oder aller irdische Friede, auch der von Gott geschenkte Frieden hier auf Erden, ist noch
nicht der endgültige. Er ist nur ein Verweis auf den größeren und tieferen
Frieden, der uns noch erwartet. Es gibt den eschatologischen Vorbehalt:
Nichts hier auf Erden ist absolut, ist ewig im streng theologischen Sinn.
Die Gegenprobe beweist es: Wirklich intolerant und unerträglich sind
die Menschen, die hier und unter allen Umständen die Totalerfüllung erwarten. Wenn der Urlaub die allerwichtigste Zeit im Jahr ist, meine Zeit,
die hundertprozentig toll und regenfrei sein muss, dann wird man sehr
ungemütlich, wenn der Flieger Verspätung hat oder wenn es acht Tage
Regenwetter gibt.
Viele Ehen, viele Partnerschaften scheitern, wenn die Partner voneinander die totale Erfüllung aller Sehnsüchte erwarten, wenn der andere oder
die andere „vergöttert“ wird. Diese Erwartungen müssen scheitern. Das
bringt keinen Frieden und keine Zufriedenheit. Auch dann nicht, wenn wir
es so denken oder wünschen.
Und damit sind wir beim dritten und letzten Punkt: Nur derjenige begreift den Frieden Jesu und wird ihn besitzen und verbreiten, für den der
eigene Friede oder das persönliche Glück nicht das Höchste und Letzte ist.
Nur der versteht den Frieden Gottes, der alles übersteigt, der ihn noch
einmal loslassen kann. Oder anders gesagt: Nur der wird zum Friedensstifter, der sich mutig in den Unfrieden und in den Krieg hineinbegibt, für den
nicht gilt, was Goethe im Faust schreibt:
70
ANDERER BÜRGER.
Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen,
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus
Und segnet Fried und Friedenszeiten.
DRITTER BÜRGER.
Herr Nachbar, ja! so laß ich’s auch geschehn:
Sie mögen sich die Köpfe spalten,
Mag alles durcheinander gehn;
Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.
Manchmal sind wir auch hier in Sankt Georgen so eine Insel der Seligen.
Wir hören gern von den Skandalen und dem Kriegsgeschrei anderswo und
meinen: Schön weit weg! Dieser Friede unterliegt einer Täuschung und
wird umkippen.
Aber wer bereit ist, mit Gott zu ringen und mit Menschen; wer bereit
ist, auch verwundet zu werden und dann zu hinken; wer sich wie Jesus in
die Bresche schlägt und den eigenen Frieden loslässt, um zum Werkzeug
des Friedens zu werden – der wird auch den Frieden Gottes begreifen und
verbreiten: den Frieden, den Jesus uns gibt. Amen.
71
Verheißung
Predigt zu Ostern 2004 Sankt Georgen
Aus dem Brief des Apostels Paulus an die Römer:
„Wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, sind auf seinen Tod
getauft worden. Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den
Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten
auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. Wenn
wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir
mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein. Wir wissen doch: Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde.
Sind wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch
mit ihm leben werden. Wir wissen, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Denn
durch sein Sterben ist er ein für alle Mal gestorben für die Sünde, sein
Leben aber lebt er für Gott. So sollt auch ihr euch als Menschen begreifen, die für die Sünde tot sind, aber für Gott leben in Christus Jesus“
(Röm 6,3–11).
Liebe Schwestern und Brüder!
Alle Texte von Ostern haben es mit Leben und Tod zu tun. Es geht um
Leben und Tod – aber genau umgekehrt wie im natürlichen Leben. Im
natürlichen Leben folgt nach dem Leben der Tod. Erst leben wir und am
Ende des Lebens sterben wir. Wenn das Leben vorbei ist, dann kommt der
Tod. Aber mit dem Christentum, mit dem Glauben, ist es umgekehrt: Erst
kommen das Sterben und der Tod, dann kommt das Leben. Erst feiern wir
Karfreitag und dann Ostern. Dieses Ereignis vollzieht sich bei uns in unserer Taufe. Wir werden hineingetaucht in Christi Tod, und wir tauchen auf
in einem Leben, das sich anfühlt wie neu geboren.
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Oder mit einem Bild gesprochen, das Pater Kehl einmal ganz handgreiflich mit Kindern gespielt hat: Wenn ich ein Geschenk empfangen will, dann
müssen meine Hände leer sein, sonst kann ich nichts empfangen. Und in
zwei leere Hände, die ich aufhalte, passt mehr als in zwei Hände, die in den
Haufen hineingreifen und möglichst viel selbst packen wollen. Erst muss
ich leer werden und leer sein, damit ich die Fülle empfangen kann. Erst
muss ich loslassen, damit meine Hände voll werden können. Wir werden in
den Tod Jesu hineingetaucht, um mit ihm neues Leben empfangen zu können.
Oder sagen wir es mit der mittelalterlichen Mystik, die Jesu Wunden
und besonders sein durchbohrtes Herz verehrt und in dem Gebet „Anima
Christi“ formuliert: Wir bergen uns im Tod Jesu, in seinen Wunden. Wir
sind schwach im Loslassen und Sterben, wir können es kaum, aber Christus
hat es gekonnt. In seinen Tod kann ich flüchten und mich darin einbergen:
ANIMA CHRISTI
Seele Christi, heilige mich.
Leib Christi, erlöse mich.
Blut Christi, tränke mich.
Wasser der Seite Christi, wasche mich.
Leiden Christi, stärke mich.
O gütiger Jesus, erhöre mich.
Verbirg in Deinen Wunden mich.
Von Dir lass nimmer scheiden mich.
Vor dem bösen Feinde beschütze mich.
In meiner Todesstunde rufe mich
Mit Deinen Heiligen zu loben Dich
In Deinem Reiche ewiglich. Amen.
(AUS DEM MITTELALTER)
Und so sterben wir mit ihm. Der Tod Jesu und sein Sterben sind für uns
wie ein Fluchttunnel aus einem sibirischen Gefangenenlager oder unter der
Berliner Mauer hindurch in die Freiheit – aus einem Bereich der Unfreiheit, der Unterdrückung, der Not und des Hasses, der Missachtung meiner
Würde, aus der Kultur des Todes in eine Achtung vor dem Leben, dem
73
eigenen und fremden, in einen Bereich, wo Freiheit, Liebe und Gemeinschaft leben.
Oder, wieder anders gesagt: Wenn wir in der Osternacht dem Bösen
widersagen, so können wir es nur, wenn wir uns an der brennenden Osterkerze festhalten, an dem auferstandenen Licht. Mit Christus und mit ihm
allein können wir widersagen den Mächten des Todes und den Mächten der
Unfreiheit, dem Geist der Rache und Vergeltung, und so erstehen wir auch
schon auf mit ihm: Wir werden befreit aus der Todesmacht.
Und jenseits des Tunnels erwartet uns nicht der goldene Westen, sondern ein Land, von dem uns die Ostergeschichten erzählen – wo jemand
voller Liebe meinen Namen ruft: Maria, Maria, hallo, Maria, hörst du denn
nicht? Und hier darf jede und jeder ihren und seinen Namen einfügen, wie
wir heute Nacht die Namen unserer Namenspatrone in die Allerheiligenlitanei einfügen. Und jede und jeder sollte ihn einmal laut rufen, so wie sie
und er ihn gern hören würden.
Wir kommen in das Land, in dem uns Engel begegnen – Engel, die uns
sagen: Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Wir kommen in das
Land, in dem mein Unglaube schwindet, weil er Christi Herzwunde berührt und sich wandelt hin zum Bekenntnis „Mein Herr und mein Gott“
wie bei Thomas. Wir kommen in das Land, in dem sich unsere immer wieder vergebliche Liebesmühe endlich wandelt in einen unglaublich reichen
Fischfang, in dem jemand am Ufer steht und auf uns wartet und schon das
Frühstück bereitet hat nach der durchwachten Nacht; in das Land, in dem
meine Enttäuschungen und Bitterkeiten von einem Unbekannten angehört
werden; in dem sich die Sinnlosigkeit verändert und sich wendet in ein
brennendes Herz, und ich erkenne, ja, es musste so kommen.
Das Land, in dem ich an den Zwängen und Zwangsläufigkeiten meines
Lebens nicht verzweifeln muss, sondern darüber lachen kann und so frei
werde; das Land, in dem mir gesagt wird: Du bist tatsächlich frei. Du
musst jetzt nicht deiner Sucht folgen. Du musst nicht deinen Ängsten das
letzte Wort lassen. Du bist frei. Mach von der Freiheit Gebrauch! Es ist
tatsächlich möglich.
Das Land, in dem ich Vergebung finde und auch mir selbst verzeihen
kann wie Petrus; das Land, das nicht zerstört ist von der Vergeltung und
74
der Rache; in dem sich Palästinenser und Israelis endlich vergeben können
und neu beginnen; das Land, in dem das Chaos wieder zu Kosmos wird.
Das ist die Taufe, das ist die Auferstehung in der Taufe. Freilich nur anfanghaft, freilich nur im Glauben, aber doch wirklich.
Und einen guten Teil davon haben wir in unserer Gruppe erleben dürfen. Wir haben uns erst am Donnerstag kennen gelernt und sind durch die
Feier der Liturgie und ihre Vorbereitung zusammengewachsen und haben
wirklich Gemeinschaft gespürt, die nicht nur aus Sympathie und Freundlichkeit, sondern aus größerer Tiefe hervorging – aus dem Geist Christi
und der Herrlichkeit des Vaters, der ihn aus dem Tod herausgeführt hat.
UNSERE NEUE FORMULIERUNG BEI DER TAUFERNEUERUNG:
Widersagt ihr im Vertrauen auf die Macht Gottes des Vaters den Mächten des Bösen und des Todes, um in der Freiheit der Kinder Gottes leben zu können?
Ich widersage.
Widersagt ihr im Vertrauen auf Christi Liebe der Sünde, die uns abtrennt von Gott und voneinander, damit wir in der Gemeinschaft mit ihm
und untereinander leben?
Ich widersage.
Widersagt ihr im Vertrauen auf die Kraft des Heiligen Geistes dem
Geist des Bösen, des Hasses und der Rache, um in Liebe, Vergebung
und Barmherzigkeit zu leben?
Ich widersage.
75
„Selig, die nicht sehen und doch glauben“
Predigt zu Christi Himmelfahrt 2004 in Sankt Georgen
Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas:
„Er sagte zu ihnen: So steht es in der Schrift: Der Messias wird leiden
und am dritten Tag von den Toten auferstehen, und in seinem Namen
wird man allen Völkern, angefangen in Jerusalem, verkünden, sie sollen
umkehren, damit ihre Sünden vergeben werden. Ihr seid Zeugen dafür.
Und ich werde die Gabe, die mein Vater verheißen hat, zu euch herabsenden. Bleibt in der Stadt, bis ihr mit der Kraft aus der Höhe erfüllt
werdet. Dann führte er sie hinaus in die Nähe von Betanien. Dort erhob
er seine Hände und segnete sie. Und während er sie segnete, verließ er
sie und wurde zum Himmel emporgehoben; sie aber fielen vor ihm nieder. Dann kehrten sie in großer Freude nach Jerusalem zurück. Und sie
waren immer im Tempel und priesen Gott“ (Lk 24, 46-53).
Liebe Schwestern und Brüder!
Die Himmelfahrt Jesu hat zwei Seiten: den Abschied und die Heimkehr.
Den Abschied für die Jünger: Jesus ist nicht mehr als der leiblich Erfahrbare und leiblich Auferstandene unter ihnen. Von dem Jesus, wie sie
ihn kannten und gern hatten, müssen sie Abschied nehmen. Und Abschied
ist immer schwer. Und darum ist Himmelfahrt auch etwas Schweres und
etwas Schwieriges.
Vielleicht ist es das Fest, an dem wir am ungläubigsten sind. Das steht ja
auch in der Abschiedsszene bei Matthäus: „Einige aber hatten Zweifel“ (Mt
28,17). Uns wird es schwer zu glauben, was Jesus uns sagt: „Es ist gut für
euch, dass ich weggehe“ (Joh 16,7). Das glauben wir nicht. Es ist nicht gut
für uns, dass du uns verlässt. Du sagst das zu uns, weil es so sein muss.
Aber dass es gut sein soll, das kann kaum jemand glauben und verstehen.
Denn er gibt ja die menschliche Gemeinschaft mit uns auf. Wie schön wäre
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es, wenn es weiterginge wie bisher! Stattdessen wird die Osterkerze hinausgetragen und es bleibt nur der Dorn im Kerzenständer übrig, ein Stachel in unserem Fleisch.
Vielleicht können wir es vom zweiten Aspekt dieses Festes her verstehen: Himmelfahrt Jesu heißt Heimkehr zum Vater, Vollendung von Ostern. Endlich geschieht, worauf alles ausgerichtet war, dass Gott und
Mensch wieder eins werden, sich versöhnen, sich lieben. Jesus sitzt zur
Rechten des Vaters. In diese Einheit, die der Heilige Geist ist, die Liebe
zwischen Vater und Sohn, sollen auch wir aufgenommen werden.
Himmelfahrt ist die Vollendung von Ostern; aber damit ist es noch
nicht vorüber, sondern jetzt soll es erst richtig beginnen: Die Einheit von
Gott und Mensch soll sich fortsetzen bei uns und mit uns und alle Welt
erreichen. Und das geschieht durch den Heiligen Geist. Er vereint uns mit
Gott. Er zieht uns hinein in die Liebe zwischen Vater und Sohn, in die endgültig versöhnte Beziehung.
Aber das ist nur möglich, wenn sich unsere Beziehung zu Gott noch
einmal wandelt und neu wird – wenn wir von Jesus, wie er war und wie
wir ihn kannten, Abschied nehmen. Das hat etwas zu tun mit dem Sterben
und dem Loslassen. Denken Sie an das Wort Jesu an Maria von Magdala:
„Halte mich nicht fest, denn ich bin noch nicht zum Vater heimgekehrt“
(Joh 20,17).
Es gibt einen schönen Text von Augustinus, der uns das auch sagt:
„Es ist, als würde er [Jesus] sagen: Es kommt euch zugute, dass euch diese Gestalt der Erniedrigung genommen wird: Ich wohne zwar als Fleisch
gewordenes Wort unter euch, aber ich will nicht, dass ihr mich noch
fleischlich liebt und Kinder sein wollt, die mit dieser Milch zufrieden
sind. […] Wenn ich euch die leichten Speisen, mit denen ich euch nährte,
nicht entziehe, werdet ihr nicht nach fester Speise verlangen; wenn ihr
fleischlich dem Fleische anhangt, werdet ihr nicht geistfähig sein. […]
Was heißt also ›Wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch
kommen‹, wenn nicht dies: Ihr könnt den Geist nicht fassen, solange ihr
fortfahrt, Christus dem Fleisch nach zu kennen. […] Nachdem Christus
jedoch körperlich Abschied genommen hatte, stand ihnen nicht bloß der
77
Heilige Geist, sondern auch der Vater und der Sohn in geistlicher Weise
1
(spiritaliter) bei.“
Wenn man es noch etwas härter sagen will, dann mit Erich Kästner:
Es hilft nicht schönzufärben,
wollen die Kinder erben,
müssen die Eltern sterben.
Es muss Abschied genommen werden von der bisherigen Gestalt Jesu,
wenn wir den Geist erben wollen. Wir müssen erwachsen im Glauben werden, wenn wir den Geist empfangen wollen. Und zu diesem Erwachsenwerden gehören auch Enttäuschung und Schmerz – wie auf dem Altarbild
hier in der Kirche von Gnadenthal: Die große gelbe Kreisfläche, die die
Erde oder auch unser eigenes Inneres darstellen kann, wird aufgetan durch
einen weißen Strahl, der wie ein Keil von oben kommt. So rund ist die Erde
nicht mehr, so in sich geschlossen nicht mehr unser Herz, wenn der Geist
uns öffnet und die Leuchtspur Jesu hindurchfährt.
Und das erste Zeichen des Geistes ist, dass der Unglaube und das Misstrauen schwinden und ich tatsächlich glauben kann: Ja, es ist gut, dass er
zum Vater gegangen ist, dass wir ihn nicht mehr sehen können. Wenn uns
das aufgeht und sich zeigt, dass die Wunde und der Schmerz sich innerlich
wandeln in Quelle und Heil, dass sich unsere Beziehung zu Gott wandelt:
„Selig, die nicht sehen und doch glauben“ – das ist keine Vertröstung, sondern erwachsener Glaube.
1
Sancti Aurelii Augustini in Johannis Evangelium, Tractatus 94, Nr. 4 und 5 [Corpus
Christianorum, Series Latina, Bd. 36], übersetzt bei F.-J. Steinmetz, Wann kommt
das „neue Pfingsten“?, in: Ders., Damit der Geist komme, Würzburg: Echter, 1979,
160–168, zit. 167.
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Glauben – Gehen – Bleiben
Letzte Kommunitätsmesse als Regens
in Sankt Georgen am 13. Juli 2004
Liebe Schwestern und Brüder,
dies ist meine letzte Kommunitätsmesse als Regens in Sankt Georgen. Wir
bleiben unserem Semesterthema treu: Gemeinschaft mit IHM und untereinander. Aber ich möchte noch ein anderes Thema hinzufügen: Glauben –
Gehen – Bleiben. Wie das geht, werden Sie sehen.
IM EI
(Ja, wie gesagt, sehr zutreffend. Ich lebe jetzt schon neun Jahre
darin, quasi eine Elefantenschwangerschaft lang. Bei Grass ist
allerdings die ummauerte Situation in der Frontstadt Berlin der
Fünfzigerjahre gemeint. Da tanzte er oft mit seiner Frau Anna im
Lokal „Eierschale“.)
Wir leben im Ei.
Die Innenseite der Schale
haben wir mit unanständigen Zeichnungen
und den Vornamen unserer Feinde bekritzelt.
(Zum Glück bei uns in der Kirche nicht der Fall.)
Wir werden gebrütet.
Wer uns auch brütet,
unseren Bleistift brütet er mit.
(Das Abzeichen unserer Wissenschaft und Kunst.)
Ausgeschlüpft eines Tages,
werden wir uns sofort
ein Bildnis des Brütenden machen.
(Dürfen wir nicht, machen wir trotzdem und schon jetzt.)
79
Wir nehmen an, daß wir gebrütet werden.
Wir stellen uns ein gutmütiges Geflügel vor
und schreiben Schulaufsätze
über Farbe und Rasse
der uns brütenden Henne.
(Erstaunlich prophetisch, als ob er Sankt Georgen kenne.)
Wann schlüpfen wir aus?
Unsere Propheten im Ei
streiten sich für mittelmäßige Bezahlung
(auch sehr zutreffend) über
die Dauer der Brutzeit.
Sie nehmen einen Tag X an.
(Bitte bei Pater Kehl Genaueres erfragen.)
Aus Langeweile und echtem Bedürfnis haben
wir Brutkästen erfunden.
Wir sorgen uns sehr
um unsern Nachwuchs im Ei.
(Nachwuchs: die Hauptfrage der katholischen Kirche und ganz
Deutschlands und durch Brutkästen nicht zu lösen.)
Gern würden wir jener, die über uns wacht,
unser Patent empfehlen.
Wir haben ein Dach überm Kopf.
Senile Küken,
Embryos mit Sprachkenntnissen
reden den ganzen Tag
und besprechen noch ihre Träume.
(Das ist etwas zu krass, lieber Grass!)
Und wenn wir nun nicht gebrütet werden?
Wenn diese Schale
niemals ein Loch bekommt?
Wenn unser Horizont nur der Horizont
unserer Kritzeleien ist und auch bleiben wird?
Wir hoffen, daß wir gebrütet werden.
80
Wenn wir auch nur noch vom Brüten reden,
bleibt doch zu befürchten, daß jemand,
außerhalb unserer Schale, Hunger verspürt,
uns in die Pfanne haut und mit Salz bestreut –
Was machen wir dann – ihr Brüder im Ei?
GÜNTER GRASS
Ein freches, aber sehr theologisches Gedicht. Es stellt unseren Glauben und
unsere Hoffnung in Frage. Zu Grass’ Berliner Zeit war Ernst Bloch, der
große Philosoph der Hoffnung, eine anerkannte Autorität, und seine großen Fragen, mit denen „Das Prinzip Hoffnung“ beginnt, paraphrasiert
Grass: „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?“
Anders als damals in der Frontstadt Berlin und doch ähnlich stellen wir
uns heute in unserem Ei von Sankt Georgen mehr oder weniger bang die
gleichen Fragen, vordergründig von der bedrohlichen kirchlichen und kirchenpolitischen Situation her und tiefer, ganz existentiell, jeder Einzelne
von uns: Werden wir behütet oder zuletzt geköpft?
Bei Jesaja antwortet der Herr den Eingeschlossenen von Jerusalem, die
von Damaskus und Samaria bedroht werden, auf die gleiche Frage: Glaubt
ihr nicht, so bleibt ihr nicht! (Jes 7,1–9). So antwortet auch Jesus auf die
gleiche Frage des Johannes in seinem Gefängnis, der geköpft zu werden
droht: Vertraue dem, was du hörst und siehst, Johannes! Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein, und Taube hören; Tote
stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet. Selig ist, wer
an mir keinen Anstoß nimmt (Mt 11,2–6).
Liebe Brüder und Schwestern, damit sind wir beim Thema des Glaubens und damit sind wir auch beim Semesterthema, zum letzten Mal heute:
Gemeinschaft mit IHM und untereinander. Glauben und Vertrauen sind die
einzig angemessenen Verhaltensweisen Gott gegenüber. Abraham glaubte
Gott, und Gott rechnete ihm das als Gerechtigkeit an (Gen 15,6). Nur der
steht richtig vor Gott, der ihm glaubt. Nur der steht im richtigen Verhältnis, in der richtigen Beziehung, in der richtigen Gemeinschaft mit ihm, der
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ihm glaubt, der sich auf ihn verlässt, der sich selbst loslässt und auf Gott
baut. Und da geht es nicht nur um ein bisschen Glauben, sondern um den
ganzen Glauben. Und das ist nicht leicht. Denn es heißt sich ganz auf Gott
verlassen; sich selbst loslassen, von sich selbst Abschied nehmen und ganz
auf Gott bauen. Nicht nur ein bisschen, nicht nur ein wenig – ganz und
gar. Für Abraham bedeutet es nicht nur, die Heimat zu verlassen. Es bedeutet, alle konkrete Hoffnung auf eine Zukunft loslassen und Gott überlassen. Den einzigen Sohn. Keine eigenen Pläne machen, sondern gehorchen. Das tun, was man nicht für sich geplant hat, was man nicht für sich
gewollt hat.
Wir hoffen und glauben tatsächlich, dass wir gebrütet werden, wie Grass
das beschreibt. Schließlich sind wir eine Art schneller Brüter für theologisches und kirchliches Fachpersonal, vom Priester bis zur Pastoralreferentin
und vom Kategorialseelsorger bis zur Medienfachfrau. Die Hoffnung ist,
dass tatsächlich dann geschlüpft wird, dass man Reife und Eignung erlangt,
Berufung anerkennt. Hoffnung ist weiterhin gefragt, auch wenn dieses Ei
verlassen wird. Ja, um es ganz deutlich zu sagen: Unsere Hoffnung und unser
Vertrauen werden größer als erwartet, als Grass es beschreibt. Denn das ist
es, was Johannes erlebt: Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige
werden rein, und Taube hören; Tote stehen auf, und den Armen wird das
Evangelium verkündet. Aber er, Johannes, wird geköpft werden. Und das
Kreuz, das wir täglich in Sankt Georgen anschauen, ist nicht nur das Zeichen
der Liebe Gottes zu uns. Es ist auch das Bild unseres Sterbens und unseres
Kreuzes. Glauben heißt, angesichts dieser Aussichten an Gottes Gottsein, an
seiner Größe und Herrlichkeit, ja sogar an seiner Güte und Liebe festzuhalten und nicht zu sagen: Es gibt keinen Gott. Oder: Wir werden in die Pfanne
gehauen. Das ist der Glauben und das ist das Vertrauen, um die es geht. „Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt.“ Wir werden tatsächlich hineingezogen in das mysterium crucis.
Insofern ist das Gedicht von Grass noch nicht in die Tiefe dessen vorgedrungen, was Glauben tatsächlich zuletzt bedeutet. Grass bleibt bei allem
Spott noch harmlos. Glauben heißt gerade im Blick auf Scheitern, auf Tod
und Sterben und Leid, im Blick auf Versagen, auch auf schlimmes und
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schlimmstes Versagen, auch in der Kirche, wie jetzt wohl in Sankt Pölten,
an Gott festhalten und am Glauben an ihn.
Das allerdings ist ein Glauben, den wir nicht einfach so haben. Es geht
uns wie im Evangelium: Unser Glaube ist wie der Glaube der Jünger immer
zu klein. Solch einen Glauben, der sich ganz loslässt, gibt es nur, weil es
auch einen „Glauben“ Gottes gibt, nämlich Gottes Glauben an und sein
Vertrauen in uns – Gott, der sich ganz und gar auf uns verlässt, der einer
von uns wird. Und diese Hingabe ist es, die wir täglich hier im Ei feiern.
„Das ist mein Leib, der für Euch hingegeben wird.“ Den er uns ganz real in
die Hände gibt und uns so eint zu einem Leib, zu seinem Leib. Das ist Gottes Vertrauen zu uns und sein Glaube an uns. Und daraus erst erwächst
unser Glaube, der diese Liebe und dieses Vertrauen Gottes beantwortet,
und zwar nicht nur ein bisschen, sondern ganz. Und das habe ich hier erlebt und erfahren im Ei: wie Männer und Frauen dem Weg Abrahams gefolgt sind und Zeugnis von ihrem Glauben gegeben haben, angefangen von
den alltäglichen Gottesdiensten und Gebeten über die Dienstämter, die
Bereitschaftserklärung bis zur Diakonenweihe und den letzten Gelübden,
Taufen und Hochzeiten. Alles habe ich hier schon erlebt in den vergangenen neun Jahren. So durfte ich Augen- und Ohrenzeuge eures Glaubens
sein. Dafür bin ich von Herzen dankbar.
Aus diesem Glauben und Vertrauen können wir gehen und müssen wir
immer wieder aufbrechen – Sie, und ich auch. Glauben heißt losgehen wie
Abraham, ein Loch ins Ei picken und das heimatliche Nazareth verlassen.
Aber glauben heißt auch bleiben – nicht im Sinne von sitzen bleiben,
sondern in dem Sinne, dass alles, was in diesem beschriebenen Vertrauen,
aus diesem Loslassen in Gott hinein getan und gelebt wird, nicht vergeht,
sondern bleibt, weil nämlich Gott selbst darin wirkt. Je mehr ich mich
selbst auf Gott hin verlasse, umso mehr kann Gott selbst durch mich wirken und das Seine tun. So kann es bleiben und zum Segen werden.
An den Schluss möchte ich noch ein anderes Bild für das Ei stellen oder
besser eine andere Art von Ei. Auf den Altar habe ich eine Nachbildung
von einem der drei Pilger gestellt, die als Bronzefiguren vor der SanktLeonhard-Kirche stehen. Daneben liegt als sein Zeichen die Jakobsmuschel.
Nicht nur die Wallfahrt ist ein Symbol unseres christlichen Lebens, son-
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dern auch die Muschel. Im Mittelalter gab es die Vorstellung, dass die Perle
in der Muschel entsteht, wenn sie sich dem Licht öffnet. So auch in uns:
Wenn wir uns dem göttlichen Licht öffnen und Gottes Strahl uns trifft,
dann entsteht in uns die Perle. Und auch das andere: Wir wissen heute, die
Perle entsteht in der Muschel, wenn ein Fremdkörper in sie eindringt, ein
Sandkorn zum Beispiel. Dann bildet sie um diese Wunde herum die Perle.
Nun hätte ich gern in diese Muschel eine Perle getan. Ich hatte aber keine. Da fiel mir etwas anderes ein: Ich habe den schönen Rosenkranz meiner
Großmutter. Er hat über fünfzig Perlen aus Perlmutter. Das sind Sie für
mich: Perlen, gewachsen in der großen Jakobsmuschel von Sankt Georgen
durch den Strahl des göttlichen Lichtes und durch die geheilten Wunden
und das sich anverwandelte Fremde. Gott sei Dank! Amen.
84
Fußwaschung
Predigt zum Gründonnerstag 2005 über Joh 13,1–17 in Sankt Georgen
Aus dem heiligen Evangelium nach Johannes:
„Es war vor dem Paschafest. Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen
war, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen. Da er die Seinen,
die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung. Es fand ein Mahl statt, und der Teufel hatte Judas, dem Sohn des
Simon Iskariot, schon ins Herz gegeben, ihn zu verraten und auszuliefern. Jesus, der wusste, dass ihm der Vater alles in die Hand gegeben
hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehrte,
stand vom Mahl auf, legte sein Gewand ab und umgürtete sich mit einem Leinentuch. Dann goss er Wasser in eine Schüssel und begann, den
Jüngern die Füße zu waschen und mit dem Leinentuch abzutrocknen, mit
dem er umgürtet war. Als er zu Simon Petrus kam, sagte dieser zu ihm:
Du, Herr, willst mir die Füße waschen? Jesus antwortete ihm: Was ich
tue, verstehst du jetzt noch nicht; doch später wirst du es begreifen. Petrus entgegnete ihm: Niemals sollst du mir die Füße waschen! Jesus erwiderte ihm: Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir. Da
sagte Simon Petrus zu ihm: Herr, dann nicht nur meine Füße, sondern
auch die Hände und das Haupt. Jesus sagte zu ihm: Wer vom Bad
kommt, ist ganz rein und braucht sich nur noch die Füße zu waschen.
Auch ihr seid rein, aber nicht alle. Er wusste nämlich, wer ihn verraten
würde; darum sagte er: Ihr seid nicht alle rein. Als er ihnen die Füße
gewaschen, sein Gewand wieder angelegt und Platz genommen hatte,
sagte er zu ihnen: Begreift ihr, was ich an euch getan habe? Ihr sagt zu
mir Meister und Herr, und ihr nennt mich mit Recht so; denn ich bin es.
Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe,
dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt
habe. Amen, amen, ich sage euch: Der Sklave ist nicht größer als sein
Herr, und der Abgesandte ist nicht größer als der, der ihn gesandt hat.
Selig seid ihr, wenn ihr das wisst und danach handelt“ (Joh 13,1–17).
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Liebe Schwestern und Brüder!
Da wir in diesem Gottesdienst in der Jesuitenkapelle zum Gründonnerstag
traditionellerweise keine Fußwaschung halten, möchte ich eine geistliche
Fußwaschung vorschlagen.
Ein jeder möge sich jetzt einmal im Geiste seinen Schuh ausziehen und
seinen Strumpf und auf seinen Fuß blicken. Wir wollen ihn anschauen und
meditieren. Welcher ist es denn? Der rechte oder der linke?
Der Fuß hat genauso viele Nerven wie die Hand. Sämtliche Nerven der
Organe gehen dort hindurch. Wir wissen das von der Fußreflexzonenmassage. Damit kann man dann die einzelnen Organe des Menschen stimulieren.
Und solch eine Massage ist eine sehr schöne Erfahrung. In unserem Fuß sind
wir gewissermaßen selbst versammelt. Er ist ein Abbild von uns selbst.
Mit den Füßen stehen wir auf der Erde. Sie tragen uns. „Täglich grüße /ich die Füße, /denn sie tragen /meinen Magen, /meinen Bauch /auch.“
Ohne Füße geht es nicht – im wahrsten Sinne des Wortes. Wohin haben
mich meine Füße schon alles getragen? Was habe ich mit ihnen schon erlebt? Haben sie mich schon einmal im Stich gelassen? Haben sie schon mal
richtig geschmerzt? Wie haben sich die Füße im Laufe meiner Lebensjahre
verändert? Welche Schuhgröße hatte ich in der Jugend? Welche heute?
Der Fuß ist auch etwas sehr Intimes. Wen würde ich denn meinen Fuß
waschen lassen? Bei den Kar- und Ostertagen mit den jungen Leuten in
Sankt Georgen war die Diskussion immer sehr heikel (und zunehmend
heikler in den letzten Jahren), ob wir eine Fußwaschung machen sollen
oder nicht. Nicht nur, weil jemand Schweißfüße hat oder sonst eine Geschichte mit dem Fuß, die er nicht gern öffentlich machen möchte. Nein,
das mit der Fußwaschung kommt überhaupt zu nahe. Das ist zu privat. Da
möchte ich lieber nicht so leicht einen Fremden dranlassen. Und dazu die
andere Erfahrung bei dieser Diskussion: Es fällt, wenn schon, dann leichter, dass ich anderen die Füße wasche, als dass ich diesen Dienst an mir tun
lasse. Da geht es uns schon so wie Petrus: „Niemals sollst du mir die Füße
waschen!“
Damals und heute hat der Fuß etwas zu tun mit Adel und Niedrigkeit,
mit Würde, Stolz und dem Gegenteil. Das kommt bei uns vor allem im
Schuhwerk zum Ausdruck. Wer kann sich gute Schuhe leisten? Wer muss
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barfuß gehen? Barfuß aus Not, das trifft man heute in unseren Breiten ja
eher selten. Aber bei meinen Obdachlosen erlebe ich oft ganz und gar unzureichendes Schuhwerk (Badelatschen im Winter, keine Socken) und elende, geschwollene, eitrige Füße.
Zur Zeit Jesu hieß die Frage: Wem werden die Füße gewaschen und wer
muss anderen die Füße waschen? Man ehrt den Gast, wenn man ihm zur
Begrüßung die staubigen Füße waschen lässt. Aber jemandem die Füße zu
waschen war der niedrigste Sklavendienst, den man nicht einmal den männlichen Sklaven zumutete, sondern nur den weiblichen Sklaven. Ich weiß gar
nicht, ob das schon durch die Theologie ausgewertet worden ist, dass sich
Jesus hier mit den weiblichen Sklaven identifiziert.
Auch in unseren Bildworten finden wir dieses Hoch und Niedrig: Danebentreten oder in den Fettnapf treten, das ist peinlich. Und es ist ein
heftiger Ausdruck der Machtausübung, wenn man jemandem den Fuß in
den Nacken setzt, und eine heftige Entehrung, wenn man jemanden tritt.
Vor allem macht der Fuß uns auf unsere Leiblichkeit aufmerksam und
die Fußwaschung auf die Leibhaftigkeit des christlichen Glaubens. Caro
cardo salutis – wörtlich übersetzt: Das Fleisch ist die Drehangel des Heils.
Jesus nimmt unsere Leiblichkeit ernst, vielleicht ernster, als wir sie oft
nehmen – jedenfalls solange wir gesund sind und die Organe schweigen
und sich nicht lautstark bemerkbar machen. Und er nimmt diese meine
Leiblichkeit in ihrer Verletzlichkeit und ihrer Würde an.
Er kniet sich jetzt vor mich hin. Er nimmt meinen Fuß in seine Hand.
Er benetzt ihn mit Wasser. Er wäscht ihn. Er wäscht ihn, um mir seine
Liebe zu mir zu zeigen und deutlich vor Augen zu führen. Kann ich diese
Nähe und Liebe annehmen?
Hier merke ich, dass wir – wir Christen und besonders wir Theologen – oft und leicht von Liebe reden, aber dass es gar nicht so leicht ist,
wenn sie uns tatsächlich und leibhaftig begegnet. Wir denken oft, dass wir
nicht liebenswert sind und daher die Liebe nur ein Irrtum sein kann. Oder
ich sage mir: Ja, natürlich liebt Gott alle Menschen. Das glaube ich. Aber
dass er mich – mich, wie ich bin – liebt, das ist gar nicht möglich. Oder ich
verdächtige diese Liebe: Es ist gar keine Liebe, die selbstlos ist, sondern die
will nur etwas von mir, will in mich, in mein Leben, meine Freiheit eindrin-
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gen. Ich bekomme ganz viel Angst vor der Liebe, denn das ist viel zu anspruchsvoll. Ich kann einer solchen Liebe ja nie genügen.
Ja, es stimmt wohl, wir haben gemischte Gefühle gegenüber der Liebe,
die da vor uns kniet. Wir können nur hoffen, dass geschieht, was Jesus sagt:
„Was ich tue, verstehst du jetzt nicht, du wirst es aber später verstehen.“
Ostern wird uns die Augen öffnen und das Herz für diese Liebe.
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Mit heißem Herzen
Predigt zum Herz-Jesu-Fest am 3. Juni 2005 in Sankt Georgen
Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus:
„In jener Zeit sprach Jesus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und
der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Mir ist
von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn,
nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der,
dem es der Sohn offenbaren will. Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt
und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.
Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von
Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein
Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht“ (Mt 11,25–39).
Liebe Schwestern und Brüder!
Zwei Meldungen aus der Frankfurter Neuen Presse von gestern (2. Juni
2005):
Die meisten wollen lieber Geld als Liebe
München. Die Deutschen wünschen sich häufiger Geld als Liebe: »Nie
wieder Geldsorgen haben«, gaben in einer Emnid-Umfrage 42 Prozent
der Befragten als geheimsten Lebenswunsch an. Auf Platz zwei landete
die Traumreise (22 Prozent), auf Platz drei ein »Job, der wirklich Spaß
macht«. Liebe (fünf Prozent) und »Super-Sex« (ein Prozent) lagen dagegen ganz hinten auf der Wunschskala.
Ja, und wenn darum nicht genug Vertrauen zum Mitmenschen vorhanden
ist, weil die Liebe immer weniger wird, dann nimmt man eben etwas Nasenspray. So die zweite Meldung gleich daneben:
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Hormon steigert Vertrauen zu Mitmenschen
Zürich. Schweizer Forscher haben ein Nasenspray entwickelt, das Vertrauen in andere Menschen steigert. Nachdem Versuchspersonen an der
Mixtur mit dem körpereigenen Hormon Oxytocin geschnüffelt hatten, waren sie eher dazu geneigt, Geld an einen Treuhänder zu übergeben. Das
berichtet die Gruppe um Michael Kosfeld von der Universität Zürich im
heute erscheinenden britischen Fachblatt »Nature« (Bd. 435, S. 673). Ein
Missbrauch dieser Erkenntnisse sei nicht ausgeschlossen, sie könnten aber
auch Menschen mit Bindungsschwierigkeiten wie etwa Autisten helfen,
schreiben die Wissenschaftler.
Dass die Liebe aber auch in der Kirche manchmal vergeht, das habe ich
selbst erlebt, bei einer Einführung eines neuen Propstes durch den Bischof.
Der Bischof sagte: „Lieber Herr Propst, wir wollen Sie hier nicht weniger
herzlos willkommen heißen, als wir Sie im Dom vergangene Woche verabschiedet haben.“ Ein wirklicher freudscher Versprecher, denn es war bekannt, dass der Bischof den Propst nicht besonders mochte.
Aber nun weniger witzig: Junge Mädchen beginnen im Katholischen
Krankenhaus mit Enthusiasmus und Idealismus als Schwesternschülerinnen.
Nach drei Jahren haben sie ein sehr distanziertes Verhältnis zur Kirche. Aber
auch hier in Sankt Georgen kann das passieren: Junge Männer und Frauen
beginnen mit Idealismus und Enthusiasmus. Nach drei oder vier Jahren:
Ernüchterung, Zynismus, Enttäuschung, Rückzug und Bitterkeit.
Wo ist die Liebe geblieben?
Die Liebe bleibt nur, wenn sie sich vertieft, wenn sie umfassender und
wahrer wird, wenn sie wächst und reift.
Und das heißt erstens, man muss zuerst begreifen, dass die Enttäuschung zur Liebe hinzugehört. Die Liebe beginnt ja sehr egoistisch und
idealistisch, das heißt, sie kennt gar nicht die Wirklichkeit. Sie beginnt als
Traum und im Himmel, eben idealistisch. Sie muss aber Fleisch werden und
zur Erde kommen. Das heißt, die Täuschungen müssen ein Ende nehmen.
Ich muss der Wahrheit näher kommen, der Wahrheit über mich und der
Wahrheit über den Geliebten, über die Geliebte. Ich muss erkennen, dass
ich unvollkommen bin und ein Sünder und die anderen Menschen auch.
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Und das bedeutet auch, wenn wir nicht bereit sind, uns verwunden zu
lassen, dann können wir auch nicht in der Liebe wachsen. „Lieben, bis es
schmerzt“, hat Mutter Teresa einmal gesagt. Und wer Menschen fangen
will, muss sein Herz an die Angel hängen.
Das gilt nicht nur für die Liebe. Das gilt auch für den Glauben. Wir
schenken Vertrauen und werden enttäuscht. Wir erzählen vom Glauben,
von dem, was mir am wichtigsten ist und was mich trägt, was mein Schatz
ist, und werden belächelt oder lächerlich gemacht. Jeder hat das schon erfahren.
Wie gehen wir normalerweise mit den Verwundungen und Verletzungen um?
Wir gehen und verschließen uns. Wir tun ganz cool. Wir tun so, als
würde uns nichts berühren und verletzen. Wir dürfen unsere Verwundbarkeit nicht zeigen. Wir müssen ein Gesicht machen wie Clint Eastwood –
absolutes Null-Gesicht. Keine Regung zu erkennen. Pokerface; oder, wie
es im englischen Königshaus heißt: steife Oberlippe – stiff upper lipp.
Das ist zweitens nicht die Weise, wie Jesus mit Enttäuschungen und
Verletzungen seiner Liebe umgeht. Das Evangelium, das wir gehört haben,
steht nach seinem harten Wort über die Städte, die er am liebsten hatte, in
denen er viele Wunder gewirkt und das Reich Gottes verkündet hatte.
„Dann begann er den Städten, in denen er die meisten Wunder getan
hatte, Vorwürfe zu machen, weil sie sich nicht bekehrt hatten: Weh dir,
Chorazin! Weh dir, Betsaida! Wenn einst in Tyrus und Sidon die Wunder
geschehen wären, die bei euch geschehen sind – man hätte dort in Sack
und Asche Buße getan. Ja, das sage ich euch: Tyrus und Sidon wird es
am Tag des Gerichts nicht so schlimm ergehen wie euch. Und du, Kafarnaum, meinst du etwa, du wirst bis zum Himmel erhoben? Nein, in
die Unterwelt wirst du hinabgeworfen. Wenn in Sodom die Wunder geschehen wären, die bei dir geschehen sind, dann stünde es noch heute“
(Mt 11,20–23).
Liebe Schwestern und Brüder, Jesus zeigt seine Verletztheit. Er spricht sie
aus. Er zeigt seine Wunde und sein blutendes Herz. Wenn wir uns nur
zurückziehen, wenn wir unsere Wunde nicht zeigen, dann kann die Wunde
nicht heilen. Dann weiß auch der andere nicht, dass er uns verletzt hat.
Dann gerät auch die Kirche in einen Selbstwiderspruch: Sie soll und muss
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Zeugnis geben von der Hoffnung, vom Glauben und von der Liebe. Wenn
sie das nicht tut, weil sie dann verletzt wird, geschieht das, was wir erleben:
Religion wird zur völligen Privatsache, ja zum Tabu, das nicht besprochen
werden darf.
Worüber aber nicht gesprochen wird, das verliert allmählich an Existenz. Was nicht mehr besprochen wird, darüber kann man dann auch nicht
mehr sprechen, weil die Sprache dafür verloren gegangen ist. Und so geschieht das auch unter uns Theologinnen und Theologen wenig oder nur in
einem äußerst geschützten Raum: Gespräch über den Glauben nur im forum internum. Wir müssen es neu lernen, über den Glauben zu sprechen,
unsere Liebe zu Gott zu zeigen in einer glaubwürdigen, offenen und diskreten Weise. Wir dürfen und müssen unsere Wunde, unser Herz zeigen.
Dazu noch ein dritter Punkt: Das harte Wort Jesu über die Städte ist
nicht sein letztes Wort, das er über diese Erfahrung äußert. Nein, das letzte
Wort ist unser Evangelium, das wir gehört haben: ein Gebet zu Gott, seinem Vater, und eine Einladung an uns.
Jesus dankt dem Vater für seine Erfahrung. Er erkennt und anerkennt
darin, dass es Gottes Heilsratschluss ist, was da geschehen ist: Gott hat es
den Weisen und Klugen verborgen und den Kindern und Unmündigen
einleuchten lassen (offenbart), dass in Jesus tatsächlich Gottes Liebe und
Wahrheit aufleuchten, dass in ihm Gottes Reich da ist. Jesus sagt, was er
dann den Emmausjüngern klar machen wird: Ja, es musste so kommen. So
ist es Gottes Ratschluss. Jesus fügt sich in diesen Willen Gottes. Das ist es,
was dann tatsächlich den Frieden und die Ruhe bringt.
Dazu lädt uns Jesus ein: Verlasst euch nicht auf die Weisen und Klugen,
verlasst euch nicht auf die Menschen, sondern verlasst euch ganz und in
allem auf Gott. Nehmt seinen Willen an, seine Thora, dann findet ihr Ruhe.
Unruhig und friedlos bleibt unser Herz, bis es in Gott Ruhe und Frieden
findet. Dann heilt die Wunde. Und das ist es, was uns das Herz-Jesu-Fest
sagen will mit seinem Bild von der Herzwunde Jesu. Das ist nicht das blutende Herz, die klaffende und tötende Wunde, sondern das ist das verklärte, das geheilte und neu geschaffene Herz des Auferstandenen. In dieses
Herz des Auferstandenen lässt Jesus den Thomas seine Hand legen.
Und das ist es, was wir lernen müssen von Jesus, wenn unsere Liebe
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bleiben und wachsen soll. Sie wird reif in der Nachfolge Jesu, der sich ganz
auf Gott verlässt.
Liebe Schwestern und Brüder, wir wollen nicht herzlos sein. Wir wollen
nicht Geld lieber als die Liebe. Wir wollen nicht Hormone als Ersatz für
Glauben und Vertrauen. Wir wollen eine Hochschule mit Herz sein – nicht
mit irgendeinem Herzen: mit dem liebenden, verwundeten und strahlenden
Herzen Jesu. Amen.
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