Diese Musik ist ein Ersatzfrühling

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Diese Musik ist ein Ersatzfrühling
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FREITAG, 22. MÄRZ 2013  TAZ.DIE TAGESZEITUNG
BERLIN | kultur
Diese Musik ist ein Ersatzfrühling
POP Kitty Solaris hat ihr viertes und bisher bestes Album veröffentlicht. „We stop the dance“ ist wunderbarer
VE RWEIS
Wem gehören die
Bilder der Roma?
„Wasserfarben“ heißt die Reportage von Lidia Ostalowska, über die
sich die Autorin heute um 19 Uhr in
der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund in der Sanderstraße 8 unterhalten wird. „Wasserfarben“ erzählt die Geschichte einiger
Roma-Porträts, die von der tschechischen Kunststudentin Dina Gottliebova 1943/44 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau im Auftrag von Lagerarzt Doktor Mengele
angefertigt wurden. Als die Malerin
später gefunden wurde, stellte sich
die Frage, wer der Eigentümer der
Bilder ist: Die Malerin, die porträtierten Roma oder das Museum KL
Auschwitz-Birkenau? Das Gespräch
mit Lidia Ostalowska wird simultan
übersetzt, Teile des Texts auf
Deutsch gelesen.
BERLINER SZENEN
AN DER KASSE
Neue Strümpfe
Entweder ist mein Leben nicht
für Strumpfhosen gemacht oder
Strumpfhosen nicht für mein Leben, auf jeden Fall passen wir
nicht zusammen. Sie gehen mir
ständig kaputt. Kriegen Risse, Löcher, Laufmaschen, komische
Stellen oder verfusseln.
Und dann sehen sie scheiße
aus und ich gleich mit. Vielleicht
kaufe ich zu billige Strumpfhosen, denke ich und gehe zu
Karstadt in die Strumpfabteilung und mal nicht zu Rossmann
oder „Mode aus Paris und London“. Einmal im Leben habe ich
eine gute Strumpfhose gekauft,
in der Graefestraße, für 20 Euro.
Die war sehr hübsch, aber so teuer, dass ich sie nur zwei Mal anhatte, weil ich sie schonen wollte.
Ich schaue sie aus
schmalen Augenschlitzen finster an
Aber heute: Karstadt. Das ist genau das Mittelding zwischen
„Mode aus Paris und London“
und dem Laden in der Graefestraße. Also geografisch fast und
emotional genau. Ich suche mir
vier mittelteure Strumpfhosen
für zehn bis zwölf Euro aus, und
dann noch halterlose Strümpfe.
Halterlose Strümpfe! Davon habe ich zuhause schon ein Paar,
aber auch erst einmal getragen,
auf einer 20er-Jahre-Party, was
vermutlich Quatsch ist, weil die
Frauen damals ja gerade immer
Strumpfhalter hatten, aber ich
hatte auch einen Strumpfhalter
zu den halterlosen Strümpfen,
wegen der Sexiness. War ja keine
Logikparty. Ich gehe mit dem
Stapel neuer Unterwäsche zur
Kasse und die Kassiererin scannt
alles ein. „Dreiundsechzig Euro
siebzehn“, sagt sie. Ich gebe ihr
meine EC-Karte, sie steckt sie in
das Gerät. „So, Frau Stokowski!“,
sagt sie. „Was?“, sage ich, total erschrocken. Wieso kennt die meinen Namen? Hallo? Ich kaufe
hier gerade quasi Pornorequisiten und sie nennt mich „Frau Stokowski“. Das geht gar nicht. Ich
bin inkognito hier. Ich schaue sie
aus sehr schmalen Augenschlitzen sehr finster an. Obskures
Miststück. „Einmal die Unterschrift bitte.“ Dass mein Name
auf der EC-Karte steht, rechtfertigt gar nichts. Gar nichts!
MARGARETE STOKOWSKI
Pop, steckt voller Reminiszenzen an die Jugend der Künstlerin und zeigt, wie man richtig zitiert
VON JENS UTHOFF
Mit dem Zitieren ist das so eine
Sache. In der Politik kann man
über mangelnde Zitierkenntnisse schon mal stolpern, und auch
im Pop gelingt es nicht allen so
gut wie Madonna, die Abba in
„Hung up“ wiederauferstehen
lässt, oder Blumfeld, die in „Verstärker“ so was von locker die
Smiths eindeutschen.
Manchmal merkt man auch
erst, dass man zitiert, während
man schon zitiert. „Ich habe die
Songzeilen zunächst unbewusst
benutzt“, sagt Kirsten Hahn, „mir
selbst ist das erst viel später aufgefallen.“ Hahn redet von ihrem
Song „Take it easy“, in den elegant
ein bekanntes Zitat der britischen 90er-Pop-Band EMF einfließt, mit ganz wunderbarem
Gesumme als Präludium: „U-huhu-hu-hu-hu-hu / you’re unbelievable“, singt die Künstlerin da –
da möchte man doch gleich in
eine bessere Vergangenheit fliehen, auf dem Skateboard vielleicht.
Besser bekannt ist Kirsten
Hahn, die uns diese Flucht ermöglicht, unter dem Namen Kitty Solaris. Die Berliner SingerSongwriterin veröffentlicht in
diesen Tagen ihr neues Album
„We stop the dance“. Die elf Tracks
bieten dabei eine gelungene bis
großartige Melange aus Indiegitarren und Electronica. Das vierte Album der 43-Jährigen ist das
Beste, Zeitgemäßeste bis dato.
Locker, leicht und selbstverständlich wirken die Songs – und
nicht ohne Grund erscheinen sie
zum angeblichen Frühlingsanfang (auch das Cover kommt mit
Tulpen und frischem, satten
Grün recht frühlingshaft daher).
Kitty Solaris kompiliert gekonnt Versatzstücke aus ihrer eigenen Pop-Sozialisation – und
das klingt auf „We stop the dance“
so, als geschehe es beiläufig.
„Man entwirft so ein Album
nicht am Reißbrett“, sagt Hahn,
„das ist einfach alles in mir drin.
Ich habe so viel Musik gehört in
meinem Leben.“
So heißt dann eine Zeile im Refrain schon mal „The killer in you
is the killer in me / I’m in love
with a memory“ – der eine oder
andere dürfte da nicht nur die
Smashing Pumpkins im Ohr haben, von denen der erste Vers
stammt, sondern die dazugehörige Liebschaft gleich mit. Hahn
verfremdet die Melodien dabei,
sodass sie nur entfernt an die
Originale erinnern. Die Verfremdung und das beiläufige Einflechten von Versen sorgen dafür, dass man von gelungenem
Zitieren sprechen kann und zu
Kirsten Hahn alias Kitty Solaris im Popmodus: wild, aber glamourös Foto: Olga Baczynska
„Das ist einfach alles
in mir drin“, sagt Kirsten Hahn. „Ich habe so
viel Musik gehört in
meinem Leben“
keinem Zeitpunkt das Gefühl
hat, hier würden Ideen übernommen. Und in Songs wie
„Flash and Thunder“ ist man sich
wirklich nicht sicher, ob sie da
nun Nirvana summt, nachdem
sie fragt: „Oh / why do you feel so
low?“
Hahn findet das Album
„wahnsinnig poppig“, ist aber
„happy damit“. Produktionen
seien immer ein Abenteuer. Bei
den Aufnahmen wurde der PopAnteil immer größer, während
der Rock-Anteil langsam zurückgeschraubt wurde, erzählt sie.
Dennoch brechen auch immer
wieder verzerrte Gitarrensounds
durch die poppige Oberfläche
hindurch.
Die Songs schreibt Hahn
selbst auf der Gitarre. Sie war
und ist Autodidaktin, hat nur für
eine kurze Zeit Gesangsunterricht genommen. Eine One-Wo-
man-Band ist die Anfang der
90er aus Hessen nach Berlin gekommene Musikerin aber nur
bedingt. Aufgenommen hat sie
das Album gemeinsam mit Steffen Schlosser (zweite Gitarre und
Schlagzeug) und Keyboarder
und Beatbastler Nikola Jeremic.
Mitproduziert hat Brio Taliaferro, der auch schon den Sugababes den richtigen Soundschliff
gab. Zwischendurch habe man
dann immer mal Besuch im Studio bekommen, erzählt Hahn
beim Gespräch in einer Kneipe
in Mitte – der Besuch war dann
für Querflöten, Background-Vocals und Chöre zuständig.
Während die Songs auf den
Vorgängeralben (zuletzt „Golden
Future Paris“ 2011) noch überwiegend nach klassischen Gitarrenstücken klangen, scheint nun
die Elektronik spielerischer ins
Songwriting eingebunden. Im
Titeltrack etwa hört man entspannte, tanzbare Klänge und einen geloopten Gitarrenlauf.
Hahn webt es zu einem harmonischen Ganzen zusammen.
Die Bandchefin ist auch Labelchefin. Seit 2007 betreibt sie Solaris Empire – und organisiert
mit der Lofi-Lounge zudem noch
einen regelmäßigen Konzertabend im Schokoladen. Während
manche das Ein-Frau-Unternehmen deswegen als vorbildliches
Role-Model im Musikbusiness
ansehen, sagt Kirsten Hahn: „Ich
bin da so reingeraten. Nach dem
Studium hatte ich erst mal nichts
zu tun, so habe ich mich um meine Musik gekümmert und dann
auch Platten von Freunden veröffentlicht.“
Lernen kann man aber von
Kitty Solaris ganz sicher, wie
man sich selbst treu bleibt und
sein eigenes Ding durchzieht.
Und auch von jugendlichem Enthusiasmus, den es zu bewahren
gilt, erzählt das neue Album.
„Aufbruchsstimmung, Offenheit
und Neugier würde ich schon
gerne mein Leben lang behalten“,
sagt Hahn. So heißt es in „17“
eben auch „gonna feel like seventeen forever“. Mit einem Soundtrack von EMF bis zu den Smashing Pumpkins hat man da
schon mal eine ganz gute Grundlage.
■ „We stop the dance“ ist bei Solaris Empire/Broken Silence erschienen. Live heute im Rosi’s, ab 20.30
Uhr. Das nächste Konzert in Berlin
findet am 29. April im Schokoladen
statt, Beginn 19 Uhr
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Das Pferd schreitet zum DJ-Pult
Sitzt ein Waschbär im Darkroom.
Es klingt wie ein Witzauftakt, ist
allerdings der Beginn eines kleinen Films, den es derzeit im
Rahmen der Ausstellung „Kultur:Stadt“ in der Akademie der
Künste zu sehen gibt. Darin erobern Tiere einen Raum, der ihnen sonst verschlossen ist, weil
sich dort Menschen und Bässe
breitmachen: das Berghain, diesen aus Beton und Stahl gegossenen Bauch des Berliner Clubwesens.
Und so steht ein schnaubendes weißes Pferd allein in der Panoramabar herum. Durch die
großen Fenster fällt Tageslicht,
das Pferd schreitet zum DJ-Pult.
CLUBTIERE Steffen Köhn
und Phillip Kaminiak
gehören zu den
Ersten, die eine
Drehgenehmigung im
Berghain erhielten. Sie
filmten dort Waschbär,
Fuchs und Pferd
Es ist seltsam, diese Räume menschenleer und im Hellen zu sehen. Nicht, dass sie dadurch irgendwelche nächtlichen Geheimnisse preisgeben würden.
Viel mehr verändern sie sich
durch die Präsenz der Tiere. Es
ist, als stünde das Berghain nicht
mehr hinter dem Ostbahnhof,
sondern mit offenen Türen irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern an der deutsch-polnischen Grenze. Man wartet nur
noch darauf, dass ein Wolf hereinkommt. Stattdessen erkundet
eine scheue Hirschkuh den Eingangsbereich. Weil die Kamera
stets die Perspektive der Tiere
einnimmt, wirkt der ohnehin
schon hohe Raum dadurch ungleich viel höher.
Die Filmstudenten Steffen
Köhn und Phillip Kaminiak gehören zu den ersten Filmemachern, die das Berghain zur Kulisse machen durften. Lange Zeit
rühmte sich der Club mit einem
strikten Bilderverbot, was seine
mythische Verklärung nur beförderte. „Am Anfang waren wir
größenwahnsinnig und dachten,
wir kriegen hier Antilopen und
Rentiere rein“, sagt Regisseur
Köhn. Aber die konnten sich die
Filmemacher mit ihrem Budget
nicht leisten, und so sind die Tiere ein paar Nummern kleiner geraten. „Pferd und Hirschkuh waren ziemliche Profis“, sagt Kuhn.
Wie Fuchs und Waschbär kommen sie aus Filmtierschulen, das
Pferd ist vom Circus Rogall. Und
während nachts die Musik die
Tänzer durch das Berghain leitet,
folgten die Tiere einer Spur von
Leckereien. Nach drei Drehtagen
war die tierische Invasion beendet, und die Jalousien in der Panoramabar wurden wieder heruntergelassen.
Der Film ist nun als Teil der
Architekturausstellung
„Kultur:Stadt“ bis Ende Mai in der
Akademie der Künste zu sehen.
Daneben werden vierzehn weitere Autorenfilme gezeigt, die sich
ebenfalls mit zeitgenössischen
Kulturtempeln beschäftigen – etwa dem Museum von Bilbao
oder den Bibliotheken von Seattle und Medellín. Waschbären,
Füchse, Pferde und Hirschkühe
kommen darin aber nicht vor.
JOANNA ITZEK