Psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung

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Psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung
Psychische Störungen bei
Menschen mit geistiger
Behinderung
– Warum bedarf es geeigneter
Strukturen und Angebote?
Prof. Dr. med. Michael Seidel
v. Bodelschwinghsche Anstalten Bethel
5. Hauptstadtsymposium der DGPPN
Berlin, 17. Juni 2009
Zielgruppe
&
Geistige Behinderung
Zielgruppe
• In Deutschland leben rund 500 000
Menschen mit geistiger Behinderung
• Die Mehrzahl hat eine leichte bis
mittelgradige geistige Behinderung
• Die Minderzahl hat eine schwere bis
schwerste Behinderung.
ICD-10 Definition Geistige Behinderung
“Eine sich in der Entwicklung manifestierende,
stehen gebliebene oder unvollständige
Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit
besonderer Beeinträchtigung von
Fertigkeiten,
die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z. B.
Kognition, Sprache, motorische und soziale
Fähigkeiten...” (S. 238).
Ferner heißt es: ”Für die endgültige Diagnose
muss sowohl eine Störung im
Intelligenzniveau als auch der Anpassung an
die Anforderungen des alltäglichen Lebens
bestehen” (S.239).
Zielgruppe
• Viele Menschen mit geistiger Behinderung
haben weitere Behinderungen und chronische
Erkrankungen (Mehrfachbehinderung).
• Ende 2007 lebten in Deutschland rund 6,9 Mio.
Menschen mit Schwerbehindertenausweis,
darunter 1,3 Mio. unter der Rubrik „Zerebrale
Störungen, geistige und /oder seelische“
(Bundesamt für Statistik).
Zielgruppe
• Viele Menschen mit geistiger und mehrfacher
Behinderung erhalten Leistungen der Sozialhilfe
(Eingliederungshilfe für behinderte Menschen
nach SGB XII) (Ausgaben 2007: ca. 11,9 Mrd.
Euro).
• Nur eine Minderzahl (2004: ca. 140 000
Personen) erhält stationäre Leistungen der
Behindertenhilfe (Wohnheime, Wohngruppen).
• Viele von ihnen arbeiten in einer Werkstatt für
Menschen mit Behinderung (WfbM).
Behindertenhilfe
• Rechtlicher Rahmen: Eingliederungshilfe (SGB XII)
• Mittelfristig noch Zunahme der Anzahl von Menschen mit
geistiger und mehrfacher Behinderung (Aufbau einer
vollständigen Altersstruktur, Langlebigkeit)
• Zunahme geriatrischer und gerontopsychiatrischer
Fragestellungen in der Behindertenhilfe
• Struktureller Wandel des Systems der Behindertenhilfe:
- Ausbau ambulanter Dienstleistungen
- Abbau großer Komplexeinrichtungen
- Dezentralisierung von stationären Wohnangeboten
- Entwicklung innovativer Betreuungsformen
Stellenwert psychischer Störungen
• Geistige Behinderung schränkt
Teilhabemöglichkeiten ein.
• Psychische Störungen schränken
Teilhabemöglichkeiten ein.
• Die Kombination von Geistiger Behinderung und
psychischen Störungen stellt ein besonderes
Hemmnis für die Verwirklichung von sozialer
Teilhabe dar.
• Die Vorbeugung, Beseitigung oder Linderung von
psychischen Störungen bzw. deren Folgen bei
Menschen mit geistiger Behinderung ist ein
wichtiger Beitrag zur Förderung sozialer Teilhabe.
Menschenrechte
Menschenrechte
Übereinkommen der Vereinten Nationen
über die Rechte behinderter Menschen
(2006)
Artikel 25: Gesundheit
Artikel 26: Rehabilitation und Habilitation
Ratifizierungsprozess in Deutschland
Seit März 2008 bindendes deutsches Recht!
UN-Übereinkommen
Artikel 25:
• „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht
von Menschen mit Behinderungen auf das
erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne
Diskriminierung aufgrund von Behinderung.
Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten
Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass
Menschen mit Behinderungen Zugang zu
geschlechtsspezifischen Gesundheitsdiensten,
einschließlich gesundheitlicher Rehabilitation,
haben…“
UN-Übereinkommen
Artikel 25:
• Gesundheitsversorgung in derselben
Bandbreite, von derselben Qualität und
auf demselben Standard wie für andere
Menschen
• Gesundheitsleistungen, die von
Menschen mit Behinderungen speziell
wegen ihrer Behinderungen benötigt
werden
UN-Übereinkommen
Festlegungen in Artikel 26
• Maßnahmen, … um Menschen mit Behinderungen in
die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an
Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige,
soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle
Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die
volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu
erreichen und zu bewahren,
• Entwicklung der Aus- und Fortbildung für Fachkräfte
und Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Habilitationsund Rehabilitationsdiensten,
• Förderung der Verfügbarkeit, der Kenntnis und die
Verwendung unterstützender Geräte und
Technologien
Geistige Behinderung und
psychische Störung
Geistige Behinderung und Psychische Störung
1. Geistige Behinderung ist keine Krankheit,
sondern als Behinderung die Folge einer
Gesundheitsstörung, Krankheit oder
eines in medizinischer Terminologie
beschreibbaren Ereignisses.
2. Psychische Störungen können bei
Menschen mit geistiger Behinderung
zusätzlich zur geistigen Behinderung –
als „zweite Diagnose“ – auftreten:
„Doppeldiagnose“.
Punkt-Prävalenz
Punkt-Prävalenz „mental-ill health“
Klinische Diagnose:
40,9%
DC-LD:
35,2%
ICD-10-DCR
16,6%
DSM-IV-TR
15,7%
Sally-Ann COOPER et al.
Br. J. Psychiatry 2007
Punkt-Prävalenz „mental-ill health“
Klinische Diagnose:
40,9%
DC-LD:
35,2%
ICD-10-DCR
16,6%
DSM-IV-TR
15,7%
Sally-Ann COOPER et al.
Br. J. Psychiatry 2007
Punkt-Prävalenz „Psychotic disorder“
Klinische Diagnose:
4,4%
DC-LD:
3,8%
ICD-10-DCR
2,6%
DSM-IV-TR
3,4%
Sally-Ann COOPER et al.
Br. J. Psychiatry 2007
Punkt-Prävalenz „Affective disorder“
Klinische Diagnose:
6,6%
DC-LD:
5,7%
ICD-10-DCR
4,8%
DSM-IV-TR
3,6%
Sally-Ann COOPER et al.
Br. J. Psychiatry 2007
Punkt-Prävalenz „Problem behaviour“
Klinische Diagnose:
22,5%
DC-LD:
18,7%
ICD-10-DCR
0,1%
DSM-IV-TR
0,1%
Sally-Ann COOPER et al.
Br. J. Psychiatry 2007
Prävalenz
Die diagnostischen Kategorien kommen
häufiger vor als in der
Durchschnittspopulation
Die Häufigkeit der diagnostischen
Kategorien hängt u. a. ab:
• von den verwendeten diagnostischen
Kriterien
• vom Schweregrad der geistigen
Behinderung.
Ursachen der besonderen Häufigkeit
• Hirnschädigung bzw. biologische Faktoren als
Ursache
• Umfangreiches Spektrum von Komorbidität:
Beeinträchtigungen der psychosozialen
Entwicklung
• Problematische biografische bzw.
Sozialisationserfahrungen
• Stigmatisierung im äußeren Erscheinungsbild
• Verminderte Kompetenz für adäquates Coping
• Genetische Bedingtheit des Risikos
(Verhaltensphänotyp)
• Negative psychotrope Pharmakoeffekte usw.
Problemverhalten
Eine wichtige differentialdiagnostische Aufgabe
ist die Unterscheidung zwischen:
- Psychischen Störungen im engeren Sinne
(ICD-10, DSM-IV)
- Verhaltensproblemen im Rahmen von
genetisch bedingten Syndromen
(z. B. Selbstverstümmelung beim LeschNyhan-Syndrom)
- Verhaltensproblemen im engeren Sinne
Die Differenzierung hat weit reichende Folgen für
die Interventionsplanung!
Grundfrage der Diagnostik
Grundfrage der Diagnostik
• A) Handelt es sich um eine psychische Störung im
engeren Sinne?
• B) Oder handelt es sich „nur“ um eine „einfache“
Verhaltensauffälligkeit, ein Problemverhalten?
Die Beantwortung dieser Fragen hat erhebliche
Konsequenzen für die Art der Intervention!
• Bei A: stehen psychiatrische oder psychotherapeutische Interventionen im Vordergrund
• Bei B: stehen Umgestaltung des Kontextes und/oder
Training von Verhaltensalternativen im Vordergrund
(SEHR VERGRÖBERT)
Problemverhalten
DC-LD (Royal College of Psychiatrists, 2001)
Definition von Problemverhalten (PV):
- Häufigkeit, Schwere oder Frequenz des PV
verlangen klinisches Assessment und spezielle
Intervention
- PV ist keine direkte Folge psychischer
Störungen, Medikamente oder körperlicher
Krankheiten
- Eines der folgenden Kriterien muss vorliegen:
- Wesentlicher Einfluss auf Lebensqualität des
Betroffenen oder Dritter
- PV bewirkt wesentliches Risiko für die Gesundheit
oder für die Sicherheit des Betroffenen oder Dritter
Verhältnis psychische Störungen vs.
Verhaltensauffälligkeiten
Verhaltensauffälligkeiten
Vielfältige und
komplexe Ursachen
(Inkl. Verhaltensphänotypen)
Psychische
Störungen
Besonderheiten der Diagnostik
1. Eingeschränkte Kooperationsfähigkeit
2. Eingeschränkte Anwendbarkeit psychiatrischer
diagnostischer Regeln
3. Methodische Besonderheiten des Interviews von
Bezugspersonen
4. Einfluss nichtpsychiatrischer Interpretationsmodelle
5. Spezielle Assessment-Instrumente
6. Stellenwert des Settingbezugs (besonders hinsichtlich
von Verhaltensproblemen)
7. Verfahren zur Analyse von Verhaltensproblemen
(Funktionale Analyse, ABC-Analyse)
8. Methodische Risiken und Probleme der
psychiatrischen Diagnostik
Diagnostische Probleme
Psychiatrisch-diagnostische Probleme auf
der Seite des Patienten:
• vermindertes Sprachverständnis
• beeinträchtigte Introspektionsfähigkeit
• vermindertes Ausdrucksvermögen
• „normale“ Abwandlung üblicherweise
diagnostisch relevanter Merkmale
• erhöhte Basisrate auffälligen Verhaltens
• Modifikationen der Ausdrucksgestalt
„üblicher“ psychiatrischer Symptomatik
Diagnostische Probleme
Psychiatrisch-diagnostische Probleme auf
der Seite des Beurteilers:
• Zuschreibung des psychopathologischen
Verhaltens zur geistigen Behinderung
(diagnostic overshadowing)
• eingeschränkte Anwendbarkeit der üblichen
diagnostischen Regeln, z. B. bei
operationalisierter Diagnostik (ICD-10, DSMIV)
Diagnostische Probleme
Eingeschränkte Anwendbarkeit der ICD-10- und
DSM-IV-Kategorien bei schwerer und schwerster
Intelligenzminderung:
• Einschränkungen der Explorierbarkeit
• Ausfall sprachlich vermittelter
klassifikationsrelevanter Symptome
• Komplexität von Verhaltensbesonderheiten
macht Differenzierung der Symptome definierter
psychischer Störungen schwierig
Diagnostische Probleme
Informationsgewinnung
• Befragung des Probanden - nur begrenzt
möglich
• Verhaltens-Beobachtung des Probanden begrenzt, u. U. von konkretem Setting
überlagert, verfälscht
• Informationsgewinnung von Bezugspersonen
- nicht ohne professionellen oder
individuellen Bias
Diagnostische Probleme
• Oft unzulängliche anamnestische
Datenlage
• Oft unvollständige oder fehlende
Vorbefunde
• Oft mangelhafter Grad der
medizinischen Abklärung,
insbesondere der genetischen
Aspekte
Diagnostische Probleme
Dritten (Angehörige, professionelle Betreuer,
gesetzliche Betreuer) obliegen
• Problemidentifikation,
• Problemanzeige,
• Vermittlung der anamnestischen Informationen,
• Beobachtung und Schilderung der Beschwerden
und Symptome sowie
• Case-Management
Bedeutung subjektiver Interpretationen
Bedeutung spezieller professioneller
Sichtweisen
Bedeutung gruppendynamischer
Mechanismen in
Betreuungsteams usw.
Diagnostische Probleme
• Diagnostic overshadowing: Zuschreibung
des psychopathologischen Verhaltens zur
geistigen Behinderung (eingeschränkte
Anwendbarkeit der üblichen diagnostischen
Regeln, z. B. bei operationalisierter Diagnostik
(ICD-10, DSM-IV)
• Underreporting: Verminderte Introspektionsfähigkeit, Sprachverständnis und Ausdrucksvermögen bedingen eine verminderte
Mitteilung bzw. diagnostische Wahrnehmung
psychopathologischer Erlebnisweisen.
Diagnostische Probleme
• Baseline exaggeration (SOVNER &
HURLEY 1986): Das Hinzukommen einer
psychischen Störung (z. B. Depression)
verstärkt vorbestehende
Verhaltensauffälligkeiten (z. B.
Selbstverletzendes Verhalten)
• Overreporting:
Verhaltensbesonderheiten werden
fälschlicherweise als Symptom einer
psychischen Störung gewertet.
Sonderklassifikationen
DC-LD
Royal College of
Psychiatry
Sonderklassifikationen
Fletcher, R., Loschen,
E.; Stavrakaki, C.;
First, M. (eds.)
Diagnostic Manual –
Intellectual Disability
DM-ID
Kingston, N.Y.
NADD press 2007
Allgemeine Besonderheiten der Diagnostik
und Therapie
• Kontextbezug (s. auch ICF: Kontextfaktoren)
• Entwicklungspsychologie und
Entwicklungspsychiatrie
• Interdisziplinarität (besonders strukturelle
Einbindung von Heilpädagogik)
• Besonderer Zeitaufwand für Diagnostik und
Therapie
• Hoch bedeutsame Netzwerk-Arbeit
(Hilfesysteme, Familien) Beratung, Supervision,
Fortbildung
Therapeutische Probleme
• Einschränkungen der selbständigaktiven Mitwirkung (z. B. Report von
Wirkungen und Nebenwirkungen
• Unterstützung durch Dritte
(professionelle Unterstützer,
Angehörige)
• Häufig besondere Empfindlichkeit für
Nebenwirkungen (u. a. infolge der
Komorbiditäten, Komedikationen).
Folgerungen und Forderungen
Folgerungen und Forderungen
• Die psychiatrische und psychotherapeutische
Versorgung von Menschen mit geistiger
Behinderung stellt besondere fachliche und
organisatorische Anforderungen.
• Erster Ansprechpartner muss und kann und
das psychiatrische und psychotherapeutische
Regelversorgungssystem sein.
• Das psychiatrische und psychotherapeutische
Regelversorgungssystem muss dafür gerüstet
sein (Haltung, Motivation, Wissen,
Handlungskompetenz)
Folgerungen und Forderungen
• Für schwierige Fragestellungen (Schwere und
komplexe Behinderungen oder spezifische
differentialdiagnostische Fragestellungen) muss
das psychiatrische und psychotherapeutische
Regelversorgungssystem durch Spezialangebote
(ambulant, halbstationär, stationär) ergänzt werden.
• Die Spezialangebote müssen das
Regelversorgungssystem unterstützen.
• Das Regelversorgungssystem darf sich nicht
suspendieren lassen von seiner umfassenden
– möglichst wohnortnahen – Versorgungspflicht für
alle psychisch kranken Bürgerinnen und Bürger.
Folgerungen und Forderungen
Besonderer Bedarf besteht auf der Seite
der Einrichtungen und Dienste der
Behindertenhilfe
• hinsichtlich aufsuchender –
kontextorientierter – Betreuung sowie
• hinsichtlich Anleitung, Beratung,
fachlichen Supervision und Fortbildung.
Helios II
“Supporting Persons with Mental Retardation”
(1996)
„The following actions are recommended:
• ...
• Specialist services should be established
to serve the mental health need of
persons with mental retardation.
• ...”
Helios II
“Supporting Persons with Mental Retardation”
(1996)
„The following actions are recommended:
• ...
• Professional mental health education and
training should encompass specific
aspects of mental retardation and
specialists in mental health and mental
retardation should undertake joint
education and training in their basic
professional edu-cation programmes.
• ...”
Helios II
“Supporting Persons with Mental Retardation”
(1996)
„The following actions are recommended:
• ...
• There should be greater stimulation of
research in the field of mental health in
mental retardation.
• Work requires to be undertaken in
changing cultural attitudes to persons with
mental retardation with behavioural
problems and mental illness.”
BeB-Studie
2003 Fragebogenaktion zur orientierenden
Bewertung des Problemkreises
„Doppeldiagnose“ in den
Mitgliedseinrichtungen des
Bundesverbandes evangelische
Behindertenhilfe e. V.
Teilnehmer: Mitgliedseinrichtungen des BeB
Auswertung: 147 zurückgesandte
Fragebögen.
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
BeB-Studie
Zufriedenheit mit Ergebnis des stationären
Aufenthaltes
BeB-Studie
Beurteilung der Pflegequalität während des
stationären Aufenthaltes
BeB-Studie
Es gibt erheblichen
Handlungsbedarf!
Die DGPPN sieht sich in der
Mitverantwortung, die
Situation zu verbessern.
[email protected]
Ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit!

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