72 David Beweinung Christi
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72 David Beweinung Christi
Gerard David Beweinung Christi um 1500 umgeben von einem Blumenkranz (Ferdinand van Kessel, Ende 17. Jh.) Zwei mächtige Säulen stehen frei in einem unbestimmbaren, düsteren Raum. Ihre einzige Aufgabe ist, so scheint es, Blumengirlanden zu tragen und das zentrale Bild zu umrahmen. Es sind sieben schön gebundene Sträuße aus Rosen, Tulpen und kleinen weißen Sternblumen, Euphemismen für die sieben Schmerzen Mariä, die sich in dem Bild zu dem einen Schmerz – dem größten – vereinigen. Ist es überhaupt ein Bild? Oder ist es nicht doch ein Fenster in der diffusen Wand eines Hauses? Müßige Frage. Es öffnet sich nicht. Aber der Blick öffnet sich auf eine Szene allergrößter Liebe. Maria umfasst mit großer Zartheit, eigentlich mit Zärtlichkeit, den nackten Körper Jesu, sie stützt seinen Kopf, sie hält den Oberkörper aufrecht, indem sie seinen rechten Arm zu sich zieht, der Sohn ruht an ihrer Brust, seine Wange berührt die ihre. Sie achtet dabei darauf, dass das weiße Tuch, das den Liegenden umhüllt hat, nicht zu Boden gleitet, als könnte es ihn noch schützen vor Zug und Kälte. Zwar zeigt Jesus sein Wundmal, die Spur des Nagels in seiner rechten Hand, doch er wirkt nicht tot, er scheint den Arm zu heben, scheint Maria so umgreifen zu wollen wie sie ihn. Sein Gesicht ist trotz der geschlossenen Augen so ausdrucksvoll, wie kein irdisches Leichenantlitz sein könnte. Es ist das Gesicht eines Liebkosten, der diese Liebkosung in stiller Passivität genießt. Marias Hände greifen energisch zu, ihr Sohn darf nicht fallen, wird nicht fallen. Ihr Gesicht ist voller Trauer, aber auch gefasst. Sie hat sein Schicksal verfolgt, hat mitgelitten, hat Verurteilung, Folter, Kreuzigung ebenso miterlebt wie seine Demütigung mitempfunden. Sie ist nicht überrascht, nicht aufgebracht, das liegt hinter ihr, sie fängt ihn auf, sie zeigt ihm und aller Welt ihre Liebe. Sie blickt ihn nicht an, sie schaut an ihm vorbei auf die Erde, in der er bald begraben sein wird. Die Blumensträuße, die ihrem weiblichen Martyrium gewidmet sind und es verherrlichen, die aus ihrem Schmerz himmlischen Ruhm machen sollen, kann sie nicht sehen. Ruhm kann Schmerz niemals ausgleichen, Ruhm findet in einer anderen Welt statt als der Schmerz. Bild und Rahmen fallen auseinander. Es ist kein Zufall, dass sie von verschiedenen Malern aus verschiedenen Zeiten stammen.