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Texte zur Medienpädagogik
Niedersächsisches Landesverwaltungsamt Landesmedienstelle -
Horst Heidtmann
Kinder- und Jugendmedien in
den 90er Jahren aktuelle Entwicklungen, Tendenzen
und Probleme
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren
Horst Heidtmann
Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren aktuelle Entwicklungen, Tendenzen und Probleme1
Mediatisierung der Gesellschaft
Medienangebote und Mediennutzung haben sich in
wenigen Jahrzehnten grundlegend verändert. Für
Kinder in den 50er Jahren waren die gedruckten Medien
die attraktivsten und oft auch die einzigen regelmäßig
nutzbaren. Zu den beliebtesten Freizeitaktivitäten gehörte noch 1953 "Aus dem Fenster sehen".2 Wer in den
60er Jahren geboren wird, hat dann im Fernsehapparat
schon einen täglichen, doch nur zu sehr begrenzten Zeiten verfügbaren Begleiter der Kindheit. Die in den 80er
Jahren Geborenen wachsen in einer multimedial
geprägten Umwelt auf. In praktisch allen Haushalten
sind heute Fernseh- wie Audiogeräte mehrfach vorhanden. Nach der Einführung privaten Fernsehens liefern
seit 1983 immer mehr Kanäle rund um die Uhr
Programme zur freien Wahl.
Wir nutzen heute für die gesellschaftliche Kommunikation vorrangig die audiovisuellen und elektronischen
Medien. Daten und Informationen, Geschichten und
Unterhaltungsprogramme lassen sich damit problemlos
an jedem Ort zu beliebiger Zeit verfügbar machen.
Immer neue Medien sind zur Aufrechterhaltung
komplexer Kommunikationsstrukturen, sind für das
Funktionieren von Politik, Wirtschaft und Kultur
notwendig. Auch für die Bewußtseins- und Meinungsbildung sind die Printmedien längst nicht mehr die
Leitmedien.
Rezeption und Wirkung von AV-Medien
Die neuen Medien übermitteln ihre Botschaften vor
allem in Bildern und gesprochener Sprache. Sie sind
dadurch für Kinder wesentlich leichter verständlich als
die geschriebene, durch Zeichen verschlüsselte
Sprache, die erst im Kopf des Lesers, durch seine
Phantasie in Bilder umgeformt wird.
AV-Medien im engeren Sinne (Film, Fernsehen,
Video) wirken realistischer, authentischer als Printmedien, ihre Botschaften werden über die gleichen
Sinnesempfindungen, nämlich durch Auge und Ohr,
wahrgenommen wie die reale Umwelt auch.
Der (nicht zu krasse) Wechsel von optischen und
akustischen Reizen wird vom Rezipienten als angenehm
empfunden, ein breites Angebot unterhaltungsorientierter Inhalte verstärkt entsprechende
Lustgefühle. Durch die gewachsene Programmvielfalt
finden auch Kinder jederzeit Angebote, die mit ihren
aktuellen Interessen und Stimmungen korrespondieren.
Dank Audio- und Videorecordern sind ausgewählte Pro-
gramme beliebig oft wiederholbar, durch Watchman,
Walkman, Discman stehen sie praktisch jederzeit und
an jedem Ort zur Verfügung.
Da gemeinsames Lesen oder Vorlesen in den
Familien heute kaum noch stattfindet, Bücher
individuell, vereinzelt, zurückgezogen rezipiert werden,
zeichnet sich die AV-Medienrezeption durch eine im
Vergleich zur Lektüre hohe soziale Komponente aus:
Oft finden Familien nur noch vor dem Fernseher
zusammen, entstehen Gespräche durch bzw. über das
Fernsehen. Kino- und Videofilme werden von den
Heranwachsenden bevorzugt im Kreis von Gleichaltrigen rezipiert und kommentiert.3
Die Nutzung von AV-Medien kann eher beiläufig
stattfinden, sie erlaubt Sekundärtätigkeiten. Kinder und
Jugendliche verrichten beim Fernsehen, beim
Rundfunk- und Kassettenhören weitere Tätigkeiten, sie
können gleichzeitig mehrere Medien nebeneinander
nutzen, können durch die Bündelung von Reizen den
Lustgewinn weiter steigern.
Kinderkultur heute: Serienbildung, Medienverbund,
Internationalisierung4
Worum sich die Konsumgüterindustrie durch
Markenprodukte bemüht, nämlich wiederkehrende,
regelmäßige Käufer zu gewinnen, deren Erwartungen
dann vom Produkt wiederholt bestätigt werden, das
versuchen die Medienanbieter durch Serienbildung zu
bewirken.
Die Fernsehsender bieten an jedem Werktag etwa
80 Serienfolgen. Obwohl die einzelnen Folgen immer
wieder gleichbleibende Bilder, Motive und Figuren variieren, kommen sie offenkundig Bedürfnissen bei jungen
wie erwachsenen Zuschauern entgegen.5 Serien sind
auf Überschaubarkeit angelegt, Einzelepisoden sind
klar, übersichtlich gegliedert. Das Gute siegt über das
Böse. Biene Maja oder David Hasselhoff kommen am
Schluß unbeschadet aus allen noch so gefährlichen
Abenteuern heraus.
Gewinne lassen sich durch die multimediale Verwertung von Figuren, Geschichten, Requisiten steigern, die
im Idealfall alle Sinnesempfindungen anspricht:
- Sehsinn, über Film/ Fernsehen/ Video/ Comics/ Bilder
auf Gebrauchsgegenständen;
- Hörsinn, über Tonkassetten/ Schallplatten/ CDs;
- Tastsinn, über Figuren/ Spielzeug/ Kleidung;
- Geschmackssinn, über Fruchtgummi/
Speiseeisfiguren;
- Geruchssinn, über parfümierte Figuren;
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren
- Gedächtnis, über Computer- und Videospiele, Bücher.
Diese multimediale Verwertung weitet sich immer mehr
aus. Spezialisierte Merchandising-Agenturen übernehmen von Verlagen, Autoren, Filmproduzenten die Urheberrechte, verkaufen Reproduktionsrechte an Comicoder Spielzeughersteller. Führende "Agentur für Urheber-Nebenrechte" ist in der BRD die zur Leo KirchGruppe gehörende "Merchandising München", die u.a.
die Rechte an ALF, Batman, Bugs Bunny, Garfield, an
Game Shows und Schauspielern (z.B. David Hasselhoff) hält.
Film- und Fernsehproduktionen der USA dominieren
den Weltmarkt, dominieren auch die multinationalen
Medienverbundsysteme für Kinder. Die amerikanischen
Serien vermitteln in aller Welt die politischen Normen
und kulturellen Werte des Herstellungslandes. Diese
Internationalisierung (oder überwiegend auch Amerikanisierung) führt zum Verlust nationaler und regionaler
kultureller Identitäten, Traditionen, führt zu weltweiter
Nivellierung der Kinder- und Jugendkultur. Neuere
Marktforschungsstudien6 gehen davon aus, daß vor
allem durch die europaweit rezipierten Jugendprogramme des Satellitenfernsehens (MTV) die "jungen Leute
der neunziger Jahre, die Eurokids" übernational zu
einem "einheitlichen Marktpotential" verschmolzen
werden.
Vermischung von Stoffen, Motiven, Genres
Kultureller Nivellierung leisten Medienverbundsysteme
dadurch Vorschub, daß sie die gesamte Populärkultur
plündern, daß sie Versatzstücke aus unterschiedlichen
Genres, Kulturkreisen und Zeitaltern nehmen. Die
'großen' Hollywoodfilme von Steven Spielberg und
Georg Lucas nähern sich formal eher dem Märchen als
der eigentlich realistischeren Abenteuergeschichte, sie
sind zudem durch die Vielzahl eingearbeiteter Muster
nicht mehr auf ein Genre zu beschränken. Lucas1 Film
"Krieg der Sterne" läßt in einem simplen Märchenschema einen jugendlichen Haupthelden agieren, der
dem Bild eines Popstars entspricht; sein Mitstreiter
gleicht einem 'edlen' Westernhelden; ein 'Schneewittchen-Verschnitt' als Prinzessin ist zu retten; ein
Asterix und Obelix (oder Laurel und Hardy) nachempfundenes Androidengespann sorgt für Komik. Die Handlung zitiert - technisch-futuristisch aufbereitet - vor allem
Kampfszenen aus Western, Kriegs- sowie Mantel-undDegen-Filmen. Lucas' Erfolgsrezepte werden von den
Schöpfern anderer Verbundsysteme fast bis ins Detail
kopiert ("Masters of the Universe"). Selbst Vorschulmagazine wie die "Sesamstraße" verfahren ähnlich.
Stellenwert, Nutzung, Perspektiven der einzelnen
Medien
1. Kinder- und Jugendbücher 1.1.
Marktentwicklungen
Zur aktuellen Printmediennutzung liegen divergierende
Angaben vor, doch eindeutig ist, daß immer größere
Teile der Bevölkerung (wohl mehr als 50 Prozent) keine
belletristische Literatur mehr lesen. Auch bei Kindern
und Jugendlichen "hat sich der Stellenwert des
Buchlesens verringert, und zwar sowohl bezüglich der
Reichweite als auch bezüglich der Dauer".7 Mehr als die
Hälfte der Schüler hat gegenwärtig "am Ende der
Pflichtschulzeit keine stabile Beziehung zum Medium
Buch aufgebaut".8
1992 sind (It. Börsenverein des Deutschen
Buchhandels) insgesamt 4.780 Titel erschienen, die
sich der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) zuordnen
lassen (davon 3.224 als Erstauflagen). An der gesamten
Titelproduktion erreicht die KJL damit einen Anteil von
rund sieben Prozent.
Nach Branchenschätzungen dürfte bei der Zahl der
jährlichen Novitäten der Gipfelpunkt überschritten sein,
für die KJL zeichnen sich - wie für den gesamten
Buchmarkt - Titelreduzierungen ab.9 Branchenmagazine
haben bereits im Verlauf des Jahres 1992 mehrfach
Umsatzeinbrüche für die KJL beklagt, die dann im
Weihnachtsgeschäft offenkundig wieder aufgefangen
werden konnten.
Die Anzahl der Kinderbuchkäufer ist derzeit noch
nicht signifikant rückläufig, aber von zwei Dritteln aller
deutschen Haushalte wird kein einziges Kinderbuch im
Jahr gekauft! 1992 kauften in den alten Bundesländern
lediglich 28 Prozent aller Haushalte ein Kinderbuch
(oder mehr), in den neuen Bundesländern (wo der Kinderanteil höher liegt) waren es 35 Prozent der Haushalte.
Das Auftreten jugendlicher Käufer ist marginal (liegt
in den neuen Bundesländern etwas höher). Fast
ausschließlich Erwachsene kaufen Kinderbücher für zumeist eigene oder verwandte Kinder und Jugendliche.
Mit steigender Bildung und wachsendem Haushaltseinkommen erhöht sich auch überproportional die
Bereitschaft, mehr Geld für Kinderbücher auszugeben.
Die Verlagsprogramme der größeren Verlage
konzentrieren sich seit Jahren auf Klein- und Vorschulkinder sowie das frühe Grundschulalter. Programme
und Reihen sind für die Umsatzhitlisten unerheblich.
Zwischen den traditionellen Segmenten des
Kinderbuchmarktes lassen sich deutlich Akzentverlagerungen erkennen. Die tradierten Unterhaltungsgenres
(Abenteuer, Krimi, Science Fiction) sind stark rückläufig;
Sachbücher und Sachbilderbücher legen zu10,
märchenhafte Stoffe, die aus anderen Medien
übernommen werden, erreichen überproportionales Umsatzwachstum.
Mit zunehmender Mediatisierung der Kinderkultur
übernehmen Kinderbücher seit den 70er Jahren in
immer größerem Umfange Stoffe und Figuren aus
anderen Medien, vor allem Film und Fernsehen. Auf die
dauerhaftesten Erfolge (und entsprechende Umsätze)
mit medialen Verbünden kann die Disney Company
verweisen, die Buchrechte in der BRD bislang -einmalig
wie längerfristig - an verschiedene
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren ■
lizenznehmende Verlage vergeben hat.11 Seit dem
1.7.92 hat der Schneider Verlag exklusiv die DisneyRechte für den deutschsprachigen Kinderbuchmarkt
übernommen, hat Bücher zu älteren Disney-Filmen in
Neuauflagen zwischen 50.000 und 100.000 Exemplaren
herausgebracht und allein vom Band "Die Schöne und
das Biest" (zum Weihnachtsfilm 1992) innerhalb eines
guten halben Jahres 300.000 Stück abgesetzt.12 Dank
der Disney-Rechte ist der Schneider-Umsatz 1992
(besonders im letzten Quartal) um insgesamt 20
Prozent gestiegen, Schneider seit Dezember 1992
Marktführer bei den Verkäufen an Privathaushalte.
Franz Schneider fächert diesen Erfolg gegenwärtig
weiter auf, liefert in unterschiedlichen Preiskategorien
im Herbst 93 vier verschiedene Ausgaben zu "Aladdin",
vermarktet Disney-Filmstoffe im teuren Albenformat wie
in einer niedrigpreisigen "Mini-Bibliothek"13.
Der Zwang zur seriellen Produktion in den AVMedien fördert auch die Serienproduktion im Kinder-und
Jugendbuchbereich. Die vom ersten Band seiner
"Knickerbockerbande" ausgelösten Erwartungen
bestätigt der Österreicher Thomas Brezina den jungen
Lesern in den folgenden so gleichbleibend markengerecht, daß er weitere Serien nachreichen darf ("BrontiSuper-Saurier")1.2. Funktionswandel der KJL
Die Funktionen des Kinder- und Jugendbuches haben
sich kontinuierlich verändert. Durch die neuen und vervielfachten Medienangebote ändert sich die Mediennutzung auch qualitativ. Unterhaltungsbedürfnisse, die
in den 60er und 70er Jahren noch überwiegend von
genregebundener Unterhaltungsliteratur befriedigt worden sind, haben sich heute auf entsprechende Fernsehserien verlagert. Die Wünsche von Kindern und
Jugendlichen nach Action, Spannung werden - wie die
neuere Leserforschung übereinstimmend belegt - heute
vorrangig durch Filme und Fernsehserien erfüllt, die den
gleichen Stoff kompakter bieten, in weniger Zeit inten-,
siver erlebbar machen.
Die filmischen Medien wecken - auch bei jungen
Zuschauern - eher Informationsbedürfnisse als daß sie
diese befriedigen. Für Kinder werden Printmedien durch die spezifische Art der Informationsaufbereitung
und die entsprechenden Rezeptionsmöglichkeiten - als
Informationsvermittler immer wichtiger. Bei Umfragen
unter Jugendlichen nennen mehr als zwei Drittel Bücher
als das beste und wichtigste Medium für die Weiterbildung, die Hälfte hält Bücher für besonders gut geeignet,
um sich über ein Thema gründlicher zu informieren.14
Für Männer sind generell - im Gegensatz zu Frauen "kognitive und informatorische Lesebedürfnisse"
vorrangiger Grund, ein Buch in die Hand zu nehmen.15
Mit zunehmender Zahl von Fernsehsendern, und wohl
auch im Zusammenhang mit der Verflachung der Programme und der Dominanz des Unterhaltenden, verliert
das Fernsehen derzeit seine Bedeutung als Informa-
tionsvermittler an die Printmedien. Diese Tendenz wird
sich, nach Erhebungen des Londoner Marktforschungsinstituts Euromonitor, fortsetzen; bereits jetzt erreicht
Non-Fiction weltweit auf den meisten nationalen
Buchmärkten einen Umsatzanteil von 80%.16
Auch für den deutschen Kinder- und Jugendbuchmarkt gilt das Sachbuch mit derzeit 20% Marktanteil als
zukunftsträchtiges Marktsegment.17
Steigen wird auch die Bedeutung des Buches als
spezifischer Bestandteil von medialen Verbundsystemen. So konnte 1993 allein der Kölner vgs-Verlag
von 10 Bänden zur "Beverly Hills 90 210"-TV-Serie zwei
Millionen Stück, vorrangig an die Altersgruppe der
Zehn- bis Fünfzehnjährigen, verkaufen. Kinder und
Jugendliche schätzen es (wie viele Erwachsene), durch
erzählende Literatur Erlebnisse zu wiederholen, in
spezifischer Weise noch einmal nachvollziehen zu können, die sich bereits vorher in Filmen, Fernsehserien
oder Computerspielen als Medienereignis realisiert
haben. Durch die Lektüre - in produktiver Einsamkeit,
Selbstversunkenheit - kann das Kind anders als beim
Film seine Phantasie schweifen lassen oder sich mit
Figuren identifizieren.
Die Marktführer sowie alle vorwiegend auf Nichtbuchhandelsschienen verkaufenden Verlage haben auf
diesen Trend bereits reagiert. Das Buch als Ergänzung
zum Film oder zur Femsehserie dürfte somit zukünftig
noch weiter an Bedeutung gewinnen.
Beibehalten wird das Kinderbuch unterhaltende
Funktionen (die sich mit der Funktion des Nacherlebens
von Medienereignissen überschneiden können). Insbesondere einfache Formen der Unterhaltung bleiben bedeutsam, die aber nur einen geringen Zeit- und Lektüreaufwand erfordern dürfen (also keine voluminöse
Abenteuerprosa oder Entwicklungsromane), die Erwartungen nach vertrauten Bildern bestätigen, die nicht verunsichern, die möglichst beliebige Ein- und Ausstiege
ermöglichen sollten. Vor allem Mädchen nutzen
eskapistische Funktionen literarischer Unterhaltung,
erwarten Ansprache emotionaler und affektiver
Bedürfnisse.18
Wenngleich die Lektüreinteressen von älteren
Kindern und Jugendlichen außerordentlich vielfältig
sind,19 dürfte der Kreis junger Leser, der von der
erzählenden KJL Belehrung über ethische und soziale
Probleme erwartet, zunehmend kleiner werden.
So ist das Kinder- und Jugendbuch zukünftig vor
allem als ein spezifisches Segment einer multimedial
strukturierten Kinderkultur zu begreifen. Diese
Kinderkultur verzahnt sich zudem immer enger mit der
gesamten Popularkultur. Produktion wie Vermittlung von
KJL müssen von dieser Einbindung ausgehen.
2. Kindercomics
Comics gehören weltweit zu den populärsten Formen
von Literatur, in Deutschland sind sie gleichzeitig die
meist diffamierte. Sie wird von tradierter Literatur- und
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren
Medienpädagogik bis in die Gegenwart hinein als jugendgefährdende "Analphabetenliteratur" abgelehnt.
Nachdem die Comics in den 70er Jahren das "Ghetto"
der Kinder- und Jugendlektüre verlassen, Genrestereotypen überwunden haben, muß man heute davon
ausgehen, daß Comics kein "Phänomen" mehr sind,
aber auch kein eigenes Medium, sondern eine spezifische Form von Literatur, nämlich die "Literaturform der
gezeichneten Bilderfolge", die durch unterschiedliche
Trägermedien, nämlich Hefte, Alben, Bücher, Zeitungsseiten, vermittelt wird.20
Nach Branchenschätzungen gibt es derzeit jährlich
etwa 400 bis 600 Novitäten allein in Albenform, etwas
weniger im Taschenbuch. Der Titelanteil der Heftserien
ist gesunken; für den Kinder-Comic ist das, billigere,
Heft aber weiterhin wichtigstes Trägermedium. Der
Comic-Vertrieb läuft über zwei Schienen: für die teureren Alben und die Bücher für ältere Leser über den
allgemeinen Buchhandel und Comic-Spezialgeschäfte,
für die Heft-Serien, für Alben und Taschenbücher in
Massenauflagen, für alle auflagenstärkeren KinderComics also, über das Presse-Grosso, über Kiosk,
Supermarkt, Kaufhaus. Etwa 90 Prozent des Gesamtumsatzes der deutschen Comic-Produktion, und damit
weitgehend den Kinder-Comic-Sektor, teilen sich derzeit
drei Verlagsgruppen, der verbleibende Rest entfällt auf
die Vielzahl der für den Buchhandel produzierenden
Verlage.
Größter Comicanbieter Deutschlands ist der
Stuttgarter Ehapa Verlag, dessen marktführende "Micky
Maus" nach der Wiedervereinigung noch an Auflage
zugelegt hat. Ehapa erreicht mit etlichen, wöchentlich
oder vierzehntägig ausgelieferten Serien Auflagen zwischen 300.000 und 700.000 Exemplaren.
Zweitgrößter Kinder-Comicanbieter ist der
Hamburger Heinrich Bauer-Konzern, mit den Töchtern
Pabel-Moewig, Condor-Gruppe und Compart; ebenfalls
mit Auflagen von weit über 100.000. An dritter Stelle
liegt der Rastatter Bastei Verlag, vorrangig mit Gruselund Mädchen-Comics.
Alle drei Verlage setzen auch Taschenbücher und
Alben-Reihen, die nicht regelmäßig erscheinen, über
Grosso-Vertrieb ab, ebenfalls vorrangig für junge Leser.
Dauerbestseller Ehapas sind "Asterix", von dem die
letzten Bände mit Erstauflagen zwischen zwei und drei
Millionen auf den Markt gebracht wurden (mehr als im
Ursprungsland), sowie "Lucky Luke".
Von den über den Buchhandel vertreibenden ComicVerlagen ist der 1953 in Hamburg (für die dänische
Kinderserie "Petzi") gegründete Carlsen Verlag heute
Marktführer, erreicht Auflagen von 100.000 aber nur
längerfristig mit Einzelserien; aktuelle Bestseller sind die
"Marsupilami"-Reihen, Dauerbestseller Herges "Tim und
Struppi".
Massenauflagen erreichen noch die kostenlosen
Comic-Werbezeitschriften, die sich an Form und Inhalt
erfolgreicher kommerzieller Comics orientieren (z.B.
"Knax" oder "Lurchi").
Etwa 90 Prozent aller Kinder lesen Comics,
zumindest gelegentlich, Jungen häufiger als Mädchen.
Für etwa 20 Prozent der Grundschüler sind sie die
bevorzugte Lektüre. Sechs- bis Dreizehnjährige geben
für Comics mehr Geld aus als für andere Printmedien
oder Tonträger. Die Gruppe der Sechs- bis Neunjährigen nutzt Comics sogar zeitaufwendiger als Bücher. Mit
zunehmendem Alter läßt bei den Kindern das Interesse
an der Comiclektüre nach. Vielleser von Comics nutzen
überdurchschnittlich das Fernsehen.
Comics haben eine wesentliche Funktion ihrer
Frühzeit, die - möglichst humoristische, possenhafte Kinderbelustigung bis heute beibehalten. Action- und
Superhelden-Comics, die bis in die 70er Jahre das Bild
des Marktes bestimmten, stoßen heute bei Kindern und
Jugendlichen nur noch auf geringes Interesse und
werden in Zukunft allenfalls "eine verschwindend
geringe Rolle spielen."21 Früher als andere Kindheitsmedien sind Comics in mediale Verbundsysteme
integriert worden und sind heute nachhaltiger von diesen abhängig. Bereits in den 60er Jahren entlehnen
etliche Kindercomics ihre Stoffe aus TV-Serien und
Hollywoodfilmen. Die Popularität von Trickfilmserien in
den Vorabendprogrammen führt zu der - prinzipiell
unkomplizierten - Übernahme dieser Serien ins ComicHeft ("Schweinchen Dick"), was Massen von Kindern
Wiederholung, Nachvollziehen ermöglicht. Der 1972
gegründete Condor Verlag prosperiert durch die von
US-Medienkonzernen übernommenen Serienrechte.
Das Bastei-Comic-Programm verändert sich entscheidend, nachdem sich der Verlag die Rechte an den
wichtigsten Trickserien des Kinderfernsehens sichern
kann ("Biene Maja", "Heidi"). Durch den Verbund mit
Fernsehserien sind Kindercomics zu einem "rasch verschleißenden Konsumartikel" geworden: Wenn die Serie
im Ausgangsmedium eingestellt wird, läßt sie sich auch
gedruckt nicht mehr vermarkten; oder umgekehrt: Das
Comic-Programm eines Massenheft-Verlages ist von
den Vorgaben in anderen Massenmedien abhängig. Die
Comic-Figur ist nicht mehr, wie bei "Mecki" oder
"Asterix", selbst Basis eines medialen Verbundes.
, Seit Beginn der 90er Jahre orientiert sich der ComicMarkt stark an den Vorgaben der führenden Spielzeugkonzerne, die für ihre Figurenensembles einen
'Geschichtenhintergrund' benötigen. Comic-Projekte
haben heute oft nur noch "eine Lebensdauer von 36
Monaten."
3. Kinderzeitschriften
Verändert hat sich bereits in den 70er und 80er Jahren
das Angebot an kommerziellen Kinderzeitschriften, die
mittlerweile vorrangig ebenfalls im Medienverbund
vermarktet werden: "Sesamstrasse" durch die gleichnamige Vorschulfemsehserie, "Goldbärchen" mit Tonträgern, "Dumbo" mit Disney-Figuren. Seit Jahrzehnten
ungebrochen ist die Nachfrage nach der 'Teenagerzeitschrift' "Bravo", die immer jüngere (zehn- bis zwölfjährige) Leserinnen erreicht, der spezifische, ebenso
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren
konsumorientierte Folgeproduktionen für jüngere
Mädchen nachgeschickt worden sind: "Bravo Girl",
"Mädchen" und neuerdings "Minnie".22
Eine intensiv genutzte, spezifische Form der Kinderpresse sind die Kinderseiten in Publikumszeitschriften,
die sich im "Stern" wie in der "ADAC Motor-Welt", in
"Brigitte" wie "Emma" finden, meist standardisierte
Unterhaltungs- und Beschäftigungsangebote, teils mit
dem spezifischen Thema der jeweiligen Zeitschrift.
Überhaupt muß sich die intentionale Kinder- und
Jugendpresse gegen eine starke Konkurrenz der Publikumszeitschriften behaupten: Die von Mädchen zwischen sechs und siebzehn Jahren meistgenutzten Zeitschriften waren in den vergangenen Jahren (in dieser
Reihenfolge): "Bravo", "Gong", "TV", "Brigitte", bei
Jungen "Bravo", "Gong", "ADAC-Motor-Welt", "Hör
zu".23
Zeitschriften werden von Kindern wie Jugendlichen
einesteils zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib
genutzt, andererseits aber stärker noch als andere
Medien zur Vermittlung von Informationen, von Wissen.
Junge Leser schätzen an Zeitschriften besonders kurz
und überschaubar aufbereitete Informationen, die sich
in entsprechend kurzen Lektüreeinheiten und mit
geringem Lektüreaufwand rezipieren lassen.24
Die Bedeutung der Kinder- und Jugendzeitschriften
dürfte in den kommenden Jahren weiter zulegen, da die
werbetreibende Industrie diese zunehmend als Medium
für eine besonders zielgruppengerechte Konsumgüterwerbung entdeckt. So sind in den USA seit 1989 eine
Vielzahl neuer Kinderzeitschriften auf den Markt gekommen, die sich an Kinder verschiedener Altersgruppen
sowie an Familien mit Kindern wenden.25
4. Fernsehen
Praktisch alle bundesdeutschen Haushalte verfügen
über mindestens ein Fernsehgerät. Mehr als die Hälfte
aller Kinder bis zum Alter von 15 Jahren besitzt allein
(oder zusammen mit Geschwistern) einen eigenen
Empfänger. Über 80 Prozent der Bevölkerung sieht täglich fern, im Durchschnitt etwa drei Stunden, verkabelte
und verschlüsselte Haushalte nutzen das Fernsehen
zeitaufwendiger.
Kinder beginnen etwa im Alter von sechs Monaten
vor dem Fernsehschirm auf Variationen von Bild- und
Tonmaterial zu reagieren, im Alter von zwei oder drei
Jahren setzt "gerichtetes und absichtsvolles Zuschauen"
ein.26 Kinder lernen heute also das Fernsehen mehrere
Jahre vordem Lesen.
Mit wachsender Zahl verfügbarer TV-Programme
wird das Fernsehen zu einem immer gewichtigeren
Sozialisationsfaktor. In den USA, wo die Mediatisierung
der Kindheit am weitesten vorangeschritten sein dürfte,
verbringen Kinder im Alter zwischen zwei und fünf
Jahren bereits Mitte der 80er Jahre durchschnittlich vier
Stunden vor dem Fernsehapparat. Damit werden
Mediennutzungspräferenzen geprägt, die sich in
späteren Jahren mit dem Erwerb der Lesefähigkeit nur
selten ändern.
Die Zulassung privater Fernsehkanäle im Jahre 1983
hat zu einschneidenden Veränderungen in der gesamten Medienlandschaft geführt. Mit der wachsenden Zahl
von Fernsehprogrammen rund um die Uhr verliert das
Fernsehen als Medium jedoch gleichzeitig an Bedeutung, an Glaubwürdigkeit und an Aufmerksamkeitswert.
So läuft in einem Durchschnittshaushalt der
Fernsehapparat heute etwa sechs Stunden täglich, die
Normalzuschauer verlassen während des eingestellten
Programms jedoch immer öfter den Raum, sehen immer
seltener Programme vollständig an. Zwei Drittel der
Zuschauer von Spielfilmen und TV-Serien sind
gleichzeitig mit anderen Tätigkeiten beschäftigt.27
Für etwa 95 Prozent der Kinder bis zum Alter von 14
Jahren ist Fernsehen die liebste Freizeitaktivität, noch
vor Freunde besuchen. Im frühen Jugendalter beginnt
das Interesse am Fernsehen zu sinken, bei jungen
Erwachsenen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren ist es
am geringsten. Junge Erwachsene und Jugendliche
widmen einen größeren Teil ihrer Freizeit anderen
Medien und Außer-Haus-Aktivitäten. Am meisten Zeit
verbringt die Altersgruppe der über 60jährigen vor dem
Bildschirm.
Für Kinder im Kleinkind- und Vorschulalter ist das
Fernsehen heute der wichtigste, oft einzige Geschichtenerzähler. Kinder und Jugendliche dürften gegenwärtig 100 bis 200 Spielfilme jährlich sehen, dazu
kommt eine meist noch größere Zahl von Serienepisoden. Nur noch ein Bruchteil der von den Kindern rezipierten Geschichten erreicht diese durch die Lektüre von
Büchern.
In der letzten Zeit haben die privaten Fernsehsender
die öffentlich-rechtlichen in der Gunst von Kindern und
Jugendlichen deutlich überholt. Bei den Sechs- bis
Dreizehnjährigen erreichen im Mai 1993 die meistgenutzten TV-Sender folgende Anteile28:
RTL plus
PRO 7
ARD
SAT1
RTL 2
- 27%
-17,5%
- 12%
- knapp 12%
- 5% (ein Monat nach
Auch die Nutzungspräferenzen haben sich deutlich
verlagert. In den TV-Hitlisten fehlen die pädagogisch
ambitionierten Vorschul- und Grundschulkinderprogramme völlig. In der Gunst der Sechs- bis Neunjährigen liegen zwar Trickfilmprogramme weiterhin mit
vorn, aber Micky Maus, Asterix und die Feuersteins sind
Figuren, die sich gleichzeitig an ein älteres Publikum
wenden. Es dominieren bei den Kindern gegenwärtig
Familienserien, vor allem Sitcoms: 'Abräumer1 ist die "Bill
Cosby Show", gefolgt von "Unser lautes Heim" (beide bei
PRO 7), erst danach kommt der "Disney Club".
Bei den Zehn- bis Dreizehnjährigen bestehen
ebenfalls Präferenzen für Familienserien und Sitcoms,
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren
daneben für Unterhaltungsshows und für Reality-TV; am
meisten eingeschaltet werden: "Beverly Hills 90 210",
"Gute Zeiten, schlechte Zeiten", "Explosiv", "Verstehen
Sie Spaß?".
Kinder nehmen also immer weniger die Programmangebote des intentionalen Kinder- und Jugendfernsehens an. Die Mediennutzung von Kindern und
Erwachsenen wird sich damit immer weiter annähern.
Andererseits interessiert sich die große Mehrheit der
Kinder wesentlich weniger für gewalt- und actionbetonte
Programme als die einschlägigen Medienkritiker und
viele Pädagogen befürchten. "Superhelden und starke
Kämpfer sind 'out'."29 Die konventionell unterhaltenden
Erwachsenenprogramme sind für Kinder genauso
attraktiv wie für ihre Eltern. Und die intellektuellen
Anforderungen von "Verstehen Sie Spaß?" sind nicht
unbedingt höher als die der "Sendung mit der Maus".
Mit zunehmender Zahl von Fernsehkanälen wird das
Angebot an Spielfilmen und Serien weiter steigen. Dank
neuer Übertragungstechnologien werden US-amerikanische Kabelfernsehanbieter in Kürze ihren Kunden
zwischen 150 und 500 Kanäle anbieten können. Der
Konsument wird also jederzeit aus hunderten von
Filmen seinen Wunschtitel wählen können ("Pay-perView").30 Damit wird sich aber gleichzeitig die Relevanz
des Mediums wie auch die einzelner Beiträge weiter
reduzieren. "Wo früher Einschaltquoten von 70 Prozent
erreicht werden konnten, gelten heute bereits 20 Prozent
als Spitzenwerte."31
5. Video
Bedingt durch das große Filmangebot im privaten
Fernsehen (aber auch durch die Konkurrenz anderer
Medien, z.B. Computer- und Videospiele) ist die Zahl der
kommerziellen Videotheken rückläufig, hat sich
innerhalb von drei Jahren um ein Viertel auf heute
weniger als 7000 Verleihstätten reduziert.
Das Gesamtangebot an bespielten Videokassetten
wächst jedoch weiterhin. Derzeit dürften (einschließlich
Importen und Lagerbeständen) etwa 20.000 verschiedene Titel als Video lieferbar sein (aktuelle Videoprogramm-Verzeichnisse listen etwa 16.000 Titel auf).
Der Videomarkt strukturiert sich allerdings sichtbar um:
Im Jahre 1993 gehört bereits mehr als die Hälfte aller
Titel zum "Special Interest"- bzw. "Nonfiction"-Bereich.
Zum anderen produzieren die Videohersteller in
wachsendem Umfange Kassetten zum Verkauf an den
Endverbraucher. Wurden vor wenigen Jahren hochpreisige Kassetten vor allem für den Verleih angeboten,
so erreichte der Anteil von Kaufkassetten 1992 bereits
40 Prozent am Gesamtumsatz. Branchenschätzungen
gehen davon aus, daß 1993 der Anteil auf über 50
Prozent steigen wird. Neben billiger Massenfilmware zu
Preisen unter DM 10,- werden zunehmend klassische
Werke der Filmkunst sowie die aktuellen, massenwirksamen Hollywoodfilme zu Preisen um oder unter
DM 30,- angeboten. Die Niedrigpreiskaufkassette tritt
somit direkt in Konkurrenz zu den Printmedien: Ein
Kinderfilm oder Krimi ist auf Video z.T. billiger als ein
entsprechendes Taschenbuch.
Genres wie Action, Horror oder Erotik haben am
Gesamtangebot stark an Bedeutung verloren. Meistgekauft sind die Spielfilmtitel, die gleichzeitig oder einige
Jahre zuvor auch die meisten Zuschauer ins Kino
lockten, also fast ausschließlich Filme, die sich vorrangig an Kinder und Jugendliche wenden oder für die
ganze Familie geeignet sind. So verkauft die DisneyTochter Buena Vista von ihren Videoproduktionen in der
Regel Stückzahlen zwischen 500.000 und 2.000.000
Stück.32 Der Boom an Niedrigpreisvideos für Kinder geht
u.a. zu Lasten des Verkaufs von Kinderhörspielserien.
Die Haushaltsausstattung mit Videorecordern ist
gewachsen, liegt bei über 50 Prozent, Nutzungshäufigkeit und Verweildauer sind jedoch rückläufig. Allerdings
nutzen fünf bis zehn Prozent der Kinder, Jugendlichen
und jungen Erwachsenen Video noch täglich, die Hälfte
aller Jugendlichen zumindest ein- bis mehrmals wöchentlich.33
6. Kinofilm
Aus Kindern und Jugendlichen rekrutiert sich hierzulande weitgehend das Kinopublikum: Nur noch zwei
Prozent der Gesamtbevölkerung gehen wöchentlich
mindestens einmal ins Kino, aber etwa sieben Prozent
der Vierzehn- bis Zwanzigjährigen (und weniger als ein
Prozent der über Fünfzigjährigen).
Nachdem in den vergangenen Jahren die Kinozuschauerzahlen eher rückläufig und dann stagnierend
waren, konnte die Kinobranche 1993 erstmals wieder
erhebliche Umsatzsteigerungen verzeichnen. Private
und öffentlich-rechtliche Fernsehsender bieten zwar zusammen mehrere tausend Spielfilme im Jahr, doch auf
"dem kleinen Bildschirm im Wohnzimmer..., zwischen
Bücherwand und Zimmerpflanze" wirken Filmbilder so
alltäglich, banal wie der Rest des häuslichen
Ambientes.34 Das Ereigniskino hollywoodscher Provenienz wirkt auf der großen Leinwand stärker, emotional
packender. Zudem sind die Filme nicht durch Werbeeinblendungen zerstückelt oder durch Schnitte den
Vorgaben von Jugendschutz wie Programmschemata
angepaßt worden. In den bundesdeutschen Kinos
dominieren dementsprechend die aufwendig
produzierten Hollywoodfilme, 1992/93 u.a. "Jurassic
Park", "Aladdin", "Die Schöne und das Biest",
"Demolition Man", Filme also, die sich vorrangig an ein
juveniles Publikum wenden. Da zudem neugebaute
'Kinopaläste' wieder Großleinwände und neuartige
Raumtontechnologien offerieren, dürfte die Attraktivität
des 'Erlebnisraumes' Kino in den nächsten Jahren noch
zulegen.
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren >
7. Hörfunk
In den 90er Jahren zählt der Hörfunk wieder - nach einer
Phase der "Hörmüdigkeit" in den 60er und 70ern -zu den
meistgenutzten Medien in Deutschland. Mehr als 80
Prozent der Gesamtbevölkerung hören täglich Rundfunkprogramme; die Reichweite ist also nur unwesentlich geringer als die des Fernsehens. Mit etwa drei
Stunden täglich (im Bevölkerungsmittel) werden
Hörfunkprogramme genauso zeitaufwendig genutzt.35
Allerdings findet die Hörfunknutzung zum überwiegenden Teil nicht in der Freizeit statt. Kinder hören, nicht
zuletzt deshalb, deutlich weniger Rundfunkprogramme
als Erwachsene im mittleren Lebensalter.36
Radioapparate sind in praktisch jedem Haushalt vorhanden, im Durchschnitt drei Geräte. Etwa zwei Drittel
aller Kinder im Alter zwischen fünf und fünfzehn Jahren
verfügen (allein oder zusammen mit Geschwistem) über
einen eigenen Rundfunkempfänger, in der Regel einen
Radiorecorder. Somit könnten heute fast alle Kinder im
Vorschulalter Rundfunkprogramme ohne nennenswerte
Einschränkung nutzen. Doch die Rundfunkhörerforschung geht derzeit davon aus, daß von den unter
Zwölfjährigen nicht einmal die Hälfte täglich Rundfunkprogramme hört, daß von den intentionalen Kinderprogrammen nur ein Prozent der Zielgruppe erreicht
wird,37 daß dieser die Existenz von Kinderfunkprogrammen überwiegend (mit wachsender Tendenz) nicht
bekannt ist.38
Im Verlauf der 80er Jahre entstehen im gesamten
Bundesgebiet kommerzielle Rundfunkgesellschaften,
die den ARD-Anstalten Teile der Stammhörerschaft abnehmen müssen, um die Programmkosten zu decken,
um möglichst hohe Werbeeinnahmen zu erzielen. In
dieser Konkurrenzsituation stellen auch die ÖffentlichRechtlichen ihre Angebote um, reduzieren immer mehr
Programme auf einen durchgängigen Musikteppich, der
ein breites Publikum anspricht, zumindest nicht irritiert.
Wortprogramme werden gestrichen, reduziert, in sehr
kurze, allgemeinverständliche Informationseinheiten
(zweiminütig) zerlegt. Die Komplexität der meistgehörten Rundfunkprogramme entspricht somit den
kognitiven Fähigkeiten von Kindern. Für Minderheiten
gedachte Sendungen, zu denen auch der Kinderfunk
zählt, überleben - wenn überhaupt - an zeitlich ungünstigen Sendeplätzen, in dritten und vierten Programmen.
Mit der Neustrukturierung der ostdeutschen
Hörfunklandschaft haben auch dort die ehemals
ambitionierten Programme für Kinder stark an Bedeutung eingebüßt.
Kinder hören heute wie Erwachsene popmusikorientierte Mainstream-Sender, erwarten vom Medium Musik,
erst weit danach Informationen. "63 Prozent aller 9-bis
15jährigen nennen Musikhören als eine wichtige und
bedeutsame Freizeittätigkeit...Musik wird erlebt...
baut...auf spezifische Körpererfahrungen auf, weil der
Rhythmus der Musik Körperlichkeit spüren läßt. Kinder
können sich vor allem in der Rock- und Popmusik
wiedererkennen; so kann diese Musik dazu beitragen,
emotionale Defizite zu kompensieren, eigene Bedürfnisse zu befriedigen oder kulturelle Umgangsstile
auszudrücken."39 Kinder nutzen den Hörfunk als
Sekundärmedium, hören Musik nachmittags bei den
Hausaufgaben, beim Lesen von Comic-Heften oder
Zeitschriften, beim Spielen. Jugendliche schätzen das
Radio zudem als besonders mobiles Medium, das beim
Autofahren wie "am Strand oder auf dem Campingplatz"40 die jeweils bevorzugte Popularmusik liefert.
8. Tonträger
Von Eltern und Pädagogen nicht sonderlich be- oder geachtet, waren Kindertonträger dennoch über lange
Jahre das vermutlich am intensivsten genutzte Kindermedium. Gegenwärtig substituieren Kinder Hörspielkassetten durch Fernsehserien, Videokassetten und zunehmend durch Video- und Computerspiele.41 So wurden
1992 insgesamt nur noch 17 Millionen Stück KinderMCs verkauft. Für 1993 werden bei den Marktführern
Umsatzeinbrüche in zweistelliger Höhe erwartet. Die
Kinderkassettenhersteller unterscheiden heute drei
Zielgruppen:
1.
Kleinkinder, bis Vorschulalter, für die Lieder und
Märchenhaftes produziert werden.
2.
Grundschulalter, etwa fünf bis acht oder neun
Jahre, für die Hörspielserien, vorrangig im
Medienverbund, produziert werden.
3.
Kinder in der mittleren Kindheit, von 10 bis etwa
13 Jahren, die sich in der Regel vom
Kinderhörspiel ab- und anderen Medien zugewen
det haben, die lediglich noch von "Nischen- oder
Kultprodukten" zu erreichen sind (z.B.
Pferdegeschichten, "Wendy"-Serie).
1992 teilen sich drei Unternehmensgruppen rund 95
Prozent des Gesamtumsatzes: Marktführer mit 38
Prozent Umsatzanteil ist die Polygram-Gruppe (im
Besitz der holländischen Philips), zu der u.a. die Deutsche Grammophon (DGG), Polydor, Phonogram, Metronom und das Niedrigpreislabel KARUSSELL (mit
"ALF" und Serien nach Disney) gehören. An zweiter
Stelle folgt mit gut 30 Prozent Anteil die Bertelsmann
Music Group (BMG) mit den Töchtern Ariola und dem
1989 zugekauften EUROPA-Label ("TKKG", "Airwolf',
"Masters of the Universe"). Den dritten Rang nimmt mit
25 Prozent die Berliner ITP Ton- und Bildträger GmbH
ein, die ihr Label KIOSK 1978 mit "Benjamin Blümchen"
startete.
Die führenden Serien erreichten bislang Auflagen,
die für den Bereich des Kinderbuches z.B. kaum
vorstellbar sind. "Abräumer" ist die von der Kinderbuchautorin Elfie Donnelly konzipierte Serie "Benjamin
Blümchen" mit über 70 Folgen. Allein für ihn gab es
1992 noch 21 goldene Schallplatten, seine Hexenkollegin "Bibi Blocksberg "erhielt 13, für DisneyCharaktere gab es sieben und je zwei für die "Turtles"
und "Pipi Langstrumpf'.
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren
Eine Tendenz zur Infantilisierung des Marktangebotes ist absehbar. Das Einstiegsalter der gängigen
Serien hat sich über die Jahre nach unten verlagert. So
lehnen heute manchmal schon Achtjährige Benjamin
Blümchen als "Kleinkinderkram" ab.
Und immer früher, schon im Alter von neun oder
zehn Jahren nutzen Kinder Tonträger nur noch zur
Vermittlung von Musik.
Am Musiktonträgermarkt hat sich die CD als
Trägermedium weitgehend durchgesetzt (kleinformatige
CDs oder digitale Kassetten lassen sich vorläufig nur
minimal verkaufen). Die Vinyllangspielplatte erreicht nur
noch einen Marktanteil von etwa zwei bis drei, die
Musikkassette kommt noch auf etwa 25 Prozent.
Marktbeherrschende Musiktrends sind zu Beginn der
90er Jahre nicht auszumachen. Europaweit und in
Deutschland erfolgreich sind Techno, Dancefloor, Heavy
Metal und neuerdings Rock'n'Roll 'unplugged'. In
Deutschland haben sich inländische Pop- und
Rockinterpreten sowie Volksmusik einen gewachsenen
Marktanteil erobert.42 Auch die musikalischen Präferenzen junger Hörer sind vielfältig (wenngleich nicht
unbedingt individuell).
Von der Geräteausstattung und den Nutzungspräferenzen her können Musiktonträger als die Jugendmedien par excellence gelten. Fast alle Jugendlichen
besitzen persönlich mindestens ein und mehr als drei
Viertel sogar mehrere Musikabspielgeräte. Vor allem die
Dreizehn- bis Achtzehnjährigen hören täglich ihre
Lieblingsmusik. Mit zunehmendem Lebensalter,
Familiengründung etc. verliert das Musikhören dann
allerdings rapide an Bedeutung.43
9. Computer- und Videospiele
Mehr als ein Viertel der bundesdeutschen Haushalte
verfügt gegenwärtig über einen Homecomputer oder
einen privat genutzten PC, die Hälfte der Geräte wird
ausschließlich, der Rest überwiegend genutzt, um zu
spielen. Die Mehrheit der Kinder bis zum Alter von 13
Jahren lebt in Haushalten, die mindestens über einen PC
oder eine Videospielkonsole verfügen.
Der Spielemarkt erfährt durch einen 1990 beginnenden zweiten Videospiel-Boom neue Akzentsetzungen.
Japanische Konzerne führen eine neue Generation von
miniaturisierten Spielecomputern ("Handheld Games")
ein, mit LCD-Monitor und eingebautem Lautsprecher
eher Taschenfernsehern gleichend (mit Spielmodulen,
auswechselbaren, aber nicht schwarz kopierbaren
Einsteckkarten). Branchenschätzungen gehen davon
aus, daß hierzulande Ende 1993 mindestens jedes dritte
Kind im Grundschulalter einen Handhold-Spielecomputer mit dazugehöriger Software besitzen dürfte. Vermehrt
verkauft werden derzeit allerdings die leistungsfähigeren
und teureren Videospiel-Konsolen mit größeren
Rechnerkapazitäten.
Marktführer im gesamten Videospielsektor ist die
japanische Firma Nintendo, die 1992 mit nur 900 Mit-
arbeitern einen Gesamtumsatz von 10 Milliarden Mark
erwirtschaftete, mit einem ausgewiesenen Gewinn von
2,4 Millarden Mark vor Steuern.44 Damit macht das
Unternehmen mittlerweile mehr Gewinn als die größten
Elektronikkonzerne Japans. Um die spielenden Kinder
noch enger an die Konzernprodukte zu binden, hat
Nintendo eigene Fan-Clubs gegründet, deren Mitglieder
regelmäßig mit einer eigenen Club-Zeitschrift beliefert
werden und über eine Hotline Rat bei schwierigen
Spielsituationen abrufen können. Im Sommer konnte
der Club Nintendo Deutschland schon das einmillionste
Mitglied begrüßen.45
Und da derzeit in der gesamten Computerbranche
die Gewinnspannen schrumpfen, engagieren sich die
führenden Hersteller von Computern und Unterhaltungselektronik im prosperierenden Computerspielgeschäft.
Marktanteile sollen vor allem durch die Entwicklung
neuer Spieltechnologien gewonnen werden, durch die
Erhöhung von Speicherkapazität und Rechnerschnelligkeit, die dann entsprechend höhere Bildauflösungen,
immer feinere Grafik und immer komplexere Spielgeschichten erlauben.
Waren die ersten Handhold-Erfolgsspiele, der
Gameboy von Nintendo und der Game Gear von Sega,
noch mit einer 8-Bit-Struktur ausgestattet, so arbeitet
Ataris Handheld-Spiel Lynx bereits auf einer 16-BitGrundlage. Der japanische Hauptkonkurrent von Nintendo, die Firma SEGA, vertreibt bereits seit einigen
Jahren größere Spielekonsolen, die an den Fernseher
angeschlossen werden, mit 16-Bit-Technologie. Zu den
16-Bit-Konsolen, SEGA Megadrive oder Super
Nintendo, treten jetzt die erheblich schnelleren 32-BitKonsolen von Commodore und Panasonic in Konkurrenz.
Zielgruppe aller Computer- und Videospielhersteller
sind gleichermaßen Kinder, Jugendliche und
Erwachsene. Beim Game Boy sind sieben Prozent der
Benutzer jünger als sechs Jahre, 46 Prozent sind im
Alter zwischen sechs und siebzehn Jahren, fast die
Hälfte sind Erwachsene.
Für Kinder sind die neuen Computer- und Videospiele außerordentlich attraktiv, weil hier - wie in der
unterhaltenden Kinderliteratur oder anderen Medien Geschichten erzählt werden, die mit einer Vielzahl von
Versatzstücken arbeiten, die den Kindern aus der Literatur oder dem Femsehen bekannt sind. Im Gegensatz
zu den eher passiv rezipierten Büchern, Hörspielen oder
Trickfilmserien nimmt das Kind an der Spielhandlung
aber aktiv teil. Es kann den Fortgang der Geschichte
mitgestalten. Wenn Super Mario, und damit das
spielende Kind, in ein Labyrinth oder verwunschenes
Schloß kommt, dann begegnet es, je nachdem wie es
sich wendet, dort bösen Zwergen oder hilfreichen Feen.
Das Kind als Spieler muß Feinde mit List oder der
gewaltsamen Anwendung von Klempnerwerkzeugen
überwinden, muß die linke oder die rechte Tür öffnen.
Und je nachdem, wie sich der Akteur entscheidet, wie er
die Aufgabe löst, entwickelt sich die Geschichte weiter,
wird vom Computerprogramm ein neues Handlungsver-
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren
satzstück angefügt; es entsteht also eine in jedem
Spieldurchgang anders ablaufende Geschichte. In solchen "interactive novels", Mitspielgeschichten, erreicht bei entsprechend origineller und genauer graphischer
Wiedergabe der Spielwelt - das Medium Computerspiel
eine durchaus eigenständige künstlerische Qualität. Es
kann darüber hinaus durch die Einbeziehung des spielenden Kindes in eine komplexe Handlung, die von
diesem manchmal auch soziales Mit- und Vorausdenken fordert, zur Entwicklung von Kreativität, kognitiven wie sozialen Kompetenzen beitragen. So gehen
dann auch Marktuntersuchungen der Unterhaltungsindustrie davon aus, daß Kinder heute "aktiv in ihre
Phantasiewelt eintauchen" wollen und daß dieses
Bedürfnis derzeit wohl am erfolgreichsten von den
Videogames befriedigt wird.
Das Adventure-Game unterscheidet sich von Abenteuergeschichten in anderen Medien allerdings dadurch,
daß das Spielgeschehen immer Entscheidungen fordert,
daß der Spieler ständig und sofort zu reagieren hat.
Anders als beim Lesen bleibt hier für die Identifikation
mit Figuren wenig Raum, "da fast alle Aufmerksamkeit
auf die jeweils unmittelbar notwendigen Aktionen bzw.
Reaktionen verwendet werden muß, wenn man im Spiel
bleiben will."46
Das Computerspiel reiht also, genau besehen, nur
noch die Spannungssituationen "zu einer eigentümlichen neuen Mischung". Nicht mehr die Geschichte ist
unterhaltsam, sondern die Aneinanderreihung von
Höhepunkten."47 Das Computerspiel übersteigert damit
noch die Dramaturgie des kommerziellen Kindertrickfilms, der sich auch vielfach nur auf das Aneinandereihen beliebig abfolgender Handlungshöhepunkte
beschränkt.
Es scheint absehbar, daß diese Erzähldramaturgie
auch Rezeptionsvermögen und -gewohnheiten beeinflussen kann. Andererseits ist der Computer für die
heute aufwachsende Kindergeneration zu einem ganz
alltäglichen Gerät geworden. Der Gebrauch von Computerspielen, die negativen wie positiven Auswirkungen
sind weitgehend abhängig von der Situation, der Umwelt. Die Spekulationen über deformierte Computerkids,
die in den letzten Jahren durch die Presse gingen, haben sich nach den vorliegenden, abgesicherten Untersuchungen als haltlos erwiesen: "Kinder, die sich mit
dem Computer beschäftigen, werden durch dieses
Gerät weder völlig absorbiert und elektronische Autisten,
noch in ihrer kognitiven Entwicklung besonders
gefördert".48
Resümee
Nicht nur die kognitive Entwicklung von Kindern verläuft
heute anders und schneller als bei der Generation der
heutigen Erwachsenen, sie werden heute auch früher
als Konsumenten angesprochen und umworben, sie
entscheiden heute auch früher und selbstbewußter über
ihre Medienpräferenzen und ihre Freizeitgestaltung. Mit
wachsendem Wohlstand und immer vielfältigeren
Medienangeboten steht auch Kindern heute eine breite
Palette medialer Unterhaltung zur Verfügung. Kinder
und Jugendliche wollen die ganze Bandbreite der zur
Verfügung stehenden Unterhaltungsmöglichkeiten
nutzen, sie wollen von allem etwas, "aber von allem nur
ein bißchen..., die Hinwendungszeit zu einzelnen
Handlungsalternativen...sinkt" dadurch.49 Die Mehrheit
unserer Kinder geht heute "erstaunlich selbstsicher und
unkompliziert mit neuen Medien und Techniken um. Der
Versuchung, die eigenen kulturelle Identität (einschließlich der Medien-, Spiel- und Unterhaltungskultur) von
vornherein als wertvoller anzusehen, sollten wir
Erwachsenen widerstehen."50
Die Kulturpolitik der Bundesrepublik, das Schul- und
Bildungswesen werden von "Buchfundamentalisten"
(Christian Doelker, Schweizer Medienwissenschaftler)
dominiert. Lehrer und Lehrerinnen haben hierzulande in
ihrer Mehrheit offenkundig ein gestörtes Verhältnis zum
Bild, zu den audiovisuellen Medien. Die Schule reagiert
auf neue Medien vorrangig durch bewahrpädagogische
oder "medienscheltende" Ansätze: Mit dem Aufkommen
des Films zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der
Verbreitung des Fernsehens als Massenmedium in den
50er und 60er Jahren soll im Unterricht vor allem diesen
Medien "entgegengewirkt", sollen die Schüler "vor
vermuteten oder für erwiesen gehaltenen Schäden
bewahrt werden."51
Wenn neben der gesprochenen und geschriebenen
Sprache weitere Zeichensysteme, nämlich visuelle
Codes, Sprache von Film und Fernsehen als Übermittler
von Informationen und Geschichten getreten sind, dann
ist es mehr als überfällig, daß sich der Deutschunterricht
diesen Sprachsystemen und den entsprechenden
Medien öffnet. Das Buch ist heute ein Medium unter
vielen, mit den audiovisuellen mehr oder minder eng
verzahnt.
Lesen bringt immer noch spezifischen Nutzen, gilt in
der neueren Forschung als Training für die Herausbildung der kognitiven Fähigkeiten. Vielleser sind die
besseren, genaueren Fernseher, sie entnehmen
Filmprogrammen mehr Informationen, zeichnen sich
durch bessere Verstehensleistungen aus.52
Literaturpädagogische Arbeit mit Kindern ist heute
aber nur noch dann erfolgversprechend, wenn sie von
einem gleichberechtigten Nebeneinander der Medien
ausgeht, wie es die meisten Kinder auch selbst tun, wenn
sie die mediale Sozialisation, die Mediatisierung der
Kindheit, die Vorerfahrungen der Kinder mit Serien und
Medienverbundsystemen in Rechnung stellt, wenn die
Medienvorlieben der Kinder ernst, wenn die Inhalte der
von ihnen genutzten Mediendarbietungen zumindest zur
Kenntnis genommen werden.
Anmerkungen:
1. Dieser Beitrag basiert auf dem Einleitungsreferat
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren
eines Seminars über Kindermedien, veranstaltet von
der AG Jugendliteratur und Medien der Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft (GEW) Niedersachsen, im
September 1993 in Wilhelmshaven. Der Text wurde für
die schriftliche Fassung aktualisiert und mit Anmerkungen versehen.
2. Vgl. die Auswertungen von zeitgenössischen
Erhebungen des Allensbach-Institutes bei Horst W.
Opaschowski: Herausforderung Freizeit. Perspektiven
für die 90er Jahre, Hamburg 1990, S.21.
3. Zu den 'gruppendynamischen', sozialen Aspekten
jugendlichen Fernsehkonsums vgl. die Beobachtungen
von Paul Willis: Jugend-Stile. Zur Ästhetik der gemein
samen Kultur, Hamburg u. Berlin 1991. - Bereits ältere
Untersuchungen belegen übereinstimmend, daß die
Vereinzelung vor dem Bildschirm kaum ein bei Kindern
und Jugendlichen zu konstatierendes Phänomen ist,
sondern eher bei älteren Menschen auffällt. Mit zu
nehmendem Lebensalter, besonders nach Erreichen
des Rentenalters, steigt nicht nur die Zeitdauer des
täglichen Fernsehkonsums, sondern werden Fernseh
programme vor allem individuell, isoliert rezipiert.
4. Zur ausführliche Darstellung von Historie und
Entwicklung der einzelnen Kindermedien und über
greifender gemeinsamer Tendenzen vgl. Horst
Heidtmann: Kindermedien, Stuttgart 1992 (Sammlung
Metzler 270).
5. Vgl. hierzu Horst Heidtmann: "Fernsehzeit ist Serien
zeit. Von der zunehmenden Notwendigkeit des Seriellen
im Fernsehen", in: Praxis Deutsch, H. 121, Sept. 1993,
5. 18-25.
6. Vgl. Simon Silvester (Agentur ALTO): EUROKIDS The Single Youth of the Single Market, London 1992.
7. Vgl. Heinz Bonfadelli u. Angela Fritz: Lesesozialisation Band 2: Leseerfahrungen und Lese
karrieren, Gütersloh 1993 (Studien der Bertelsmann
Stiftung), S.47.
8. Vgl. u.a. Rolf Zitzlsperger: "Leseförderung in der
Bundesrepublik Deutschland Grundlagen, Maßnahmen
und Projekte", in: Leser und Lesen in Gegenwart und
Zukunft, hg. vom Institut für Verlagswesen und
Buchhandel der Karl-Marx-Universität Leipzig, Leipzig
1990, S. 62.
9. Ausführliche Markt- und Trendanalysen (unter
Verwendung aktueller, interner Marktforschungsstudien)
finden sich bei Horst Heidtmann: "Kinder- und
Jugendbuchmarkt - Entwicklungen, Probleme,
Prognosen", in: Beiträge Jugendliteratur und Medien H.
3, 1993, S.146-170.
10
10. Sachbuchzuwächse sind auch im Bibliotheksbereich
überproportional, so daß der nachfolgend für Privat
haushalte ermittelte Anteil von ca. 19% insgesamt noch
höher liegen dürfte.
11. In den USA vergibt Disney praktisch keine Neben
rechte für Printmedien mehr, sondern produziert
Kinderbücher wie Comics seit 1992 in eigenen
Verlagen.
12. Vgl. Boris Langendorf: "Gekaufte TV-Lizenzen sind
für Buchverlage schon bald normale Programmbe
schaffung", in: Buchreport 24, 1993, S.38-39.
13. Walt Disneys Klassiker in der Mini-Bibliothek
werden an den Handel nur in einem Paket von jeweils
18 Exemplaren im Verkaufsdisplay ausgeliefert.
14. Vgl. Stiftung Lesen (Hg.): Lesen. Zahlen, Daten,
Fakten über Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und ihre
Leser, Mainz 1990, S.52.
15. Vgl. die Zusammenfassung von Forschungser
gebnissen zu diesem Thema bei Martina Gilges:
Lesewelten. Geschlechtsspezifische Nutzung von
Büchern bei Kindern und Erwachsenen, Bochum 1992.
16. Vgl. "Telegramme", in: Buchreport 34/92, S.38.
17. Es werden in der Branche zwar Umsatzeinbrüche
bei einigen Sachbuchprogrammen diskutiert, deren
Ursachen aber wohl eher im Bereich der Programm
planung oder des Marketings gesucht werden sollten.
Wenn parallel 10 Titel über Saurier oder über Ritter und
Mittelalter angeboten werden, ist es einsichtig, daß nicht
alle am Markt Erfolg haben. Wenn 10 Verlage neben
einander Lizenztitel von Dorling-Kindersley überneh
men, die sich in Umschlaggestaltung und Layout
ähneln, dann muß darunter irgendwie auch das Profil,
der "Markencharakter" der lizenznehmenden Verlage
leiden.
18. Vgl. hierzu Martina Gilges, a.a.O.
19. Vgl. hierzu die aktuellen Untersuchungen von Heinz
Bonfadelli u. Angela Fritz: Leseerfahrung und Lese
karrieren, a.a.O.
20. Zu den Entwicklungen und der erreichten
künstlerischen Vielfalt der Comics vgl. u.a. Bernd DolleWeinkauff: Comics. Geschichte einer populären
Literaturform in Deutschland seit 1945, Weinheim u.
Basel 1990.
21. Vgl. H. Jürgen Kagelmann u. Gisela Kriz:
"Kindercomics in Deutschland", in: Bodo Franzmann
u.a.: Comics zwischen Lese- und Bildkultur. Comics
Anno 2, München u. Wien 1991, S.91-104.
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren
22. Mit "Minnie", die u.a. Mädchengeschichten unter
Verwendung der Disneyschen Figurenarsenale enthält,
bietet Ehapa sozusagen 'Ducks in Love'.
23. Vgl. hierzu Bernhard Meier: "Jugendzeitschriften
und ihre Leser", In: Informationen des Arbeitskreises
für Jugendliteratur H.3, 1985, S. 29-39.
24. Vgl. hierzu u.a. die aktuellen Befunde der Lese
forschung bei Heinz Bonfadelli u. Angela Fritz,
Leseerfahrungen und Lesekarrieren, a.a.O.
25. Nach neueren Marketingstudien, die tendenziell auf
Deutschland übertragbar sind, haben bereits Kinder im
Vorschulalter entscheidenden Einfluß auf das Kauf
verhalten von Familien. Vgl. H.H. Sevilla: "Fallbeispiel
USA: Wettrennen zwischen Fernsehen und KinderZeitschriften", in: Spielzeug-Markt H. 9, 1993, S.53-54.
26.Vgl. u.a. D.F. Roberts u. CM. Bachen "Mass
communication effects", in: Annual Review of
Psychology, 32 (1981), pp. 246-255.
27. Vgl. Gerhard Naeher: Mega-schrill und super-flach.
Der unaufhaltsame Aufstieg des Fernsehens in
Deutschland, Frankfurt/New York 1993, S.155.
28. Vgl. hierzu die Auswertung laufender Einschalt
quotenforschungen bei Horst Heidtmann: "Aus für die
Maus? Aktuelle Einschaltquoten, veränderte Fernseh
präferenzen von Kindern", in: Beiträge Jugendliteratur
und Medien H. 3, 1993, S.178-181.
29. Vgl. hierzu die vom Institut Jugend Film Fernsehen
(UFF) erstellte Studie von Bernd Schorb u.a.: Wenig
Lust auf starke Kämpfer. Zeichentrickserien und Kinder,
München 1992 (BLM-Schriftenreihe 19).
30. Vgl. DER SPIEGEL H.14, 1993, a.a.O., S. 151.
31. Vgl. DER SPIEGEL H. 52, 1993, S.166.
32. Vgl. hierzu die vom Bundesverband Video erhobene
Hitliste der meistverkauften Videofilme 1992:
1. Aschenputtel (Disney)
2. Pretty Woman (Disney)
3. Bernard & Bianca im Känguruhland
(Disney)
4. Basil, der große Mäusedetektiv (Disney)
5. Ein Hund namens Beethoven (C)
6. Robin Hood - König der Diebe (Screen)
7. JFK - Tatort Dallas (Warner)
8. Duck Tales (Disney)
9. Kevin - Allein zu Haus (Vox)
10. Benjamin Blümchen und der Weihnachtsmann
(ITP)
33. Vgl. hierzu die Umfragen des Hamburger BAT
Freizeit-Forschungsinstituts von August 1993 bei Horst
W. Opaschowski: "Medienfreizeit: abwählen statt aus
wählen. Die stille Revolution einer neuen Generation",
in: medien praktisch H. 4, 1993, S.9-93.
34. Vgl. Claudius Seidl: "Die Echten und die Rechten",
in: DER SPIEGEL H. 52, 1993, S.168ff.
35. Zur Mediennutzung vgl. u.a.: Media Perspektiven.
Daten zur Mediensituation in Deutschland. Basisdaten
1991, Frankfurt/M. 1992.
36. Repräsentative Daten zur Rundfunknutzung wie zur
Mediennutzung überhaupt werden in Deutschland in der
Regel erst beginnend mit der Altersgruppe ab 14 Jahren
regelmäßig erfaßt. Zur Mediennutzung von Kindern lie
gen erst in neuerer Zeit Einzelerhebungen und Einzel
fallstudien vor, so daß sich - insbesondere für das Vor
schulalter - nur Tendenzen belegen bzw. beschreiben
lassen.
37. Vgl. u.a. Jan-Uwe Rogge: "Zur Bedeutung und
Funktion des Radios und des Kinderfunks im Alltag von
Kindern. Ein Forschungsüberblick", in: Media Perspek
tiven 8/1988, S.522-528; Joe Gröbel / Walter Klinger:
"Kinder und Medien 1990", in: Media Perspektive H. 5,
1990, S. 311-322.
38. Vgl. die Umfrageergebnisse von Thomas VoßFeldmann: "Funkt's im Kinderfunk?", in: merz H. 3,
1992, S. 152-154.
39. Vgl. Jan-Uwe Rogge: Zur Bedeutung und Funktion
des Radios und des Kinderfunks, a.a.O., S. 522-528.
40. Vgl. Opaschowski: Medienfreizeit, a.a.O., S.9f.
41. Vgl. "Interview Rolf Lerschmacher: 'Vergeßt die Kin
der von gestern'", in: Spielzeug-Markt H. 3, 1993, S.93f.
42. Vgl. zu den aktuellen Markttrends die Beiträge in
Phono Press H. 1, 1993.
43. Vgl. Opaschowski: Medienfreizeit, a.a.O., S.9ff.
44. Vgl. Harald Fette u. Oliver Wanke: "Klempner an
die Macht." Die Welt der Videospiele. Report, in: Chip
H. 11, 1993, S.30ff.
45. Vgl. "Nintendo-Fanclub wächst und wächst", in:
Spielzeug-Markt 6-7/1993, S.63.
46. Vgl. Johannes Fromme: "Abenteuer im Super
Mario-Land. Die Spiel- und Unterhaltungswelt der
'Game-Boy-Generation'", in: Deutsches Jugendinstitut
(Hg.): Was für Kinder. Aufwachsen in Deutschland,
München 1993, S.415.
11
Horst Heidtmann: Kinder- und Jugendmedien in den 90er Jahren
47. Vgl. ebd. S. 416.
48. Vgl. Hans Rudolf Leu: "Nützliches Werkzeug oder
Alleskönner? Computervorstellungen von Kindern", in:
Deutsches Jugendinstitut (Hg.): Was für Kinder, a.a.O.,
S.406.
49. Vgl. Interview mit Rolf Lerschbauer, a.a.O., S. 92.
50. Vgl. Johannes Fromme: Abenteuer im Super-MarioLand, a.a.O., S.418.
51. Vgl. Hartmut Binder: "Zur Geschichte und
Entwicklung schulischer Medienerziehung", in:
Wolfgang Schill u.a. (Hg.): Medienpädagogisches
Handeln in der Schule, Opladen 1992, S. 17-31.
52. Vgl. Bettina Hurreimann: "Lesen als Schlüssel zur
Medienkultur", in: Medienkompetenz als Herausfor
derung an Schule und Bildung. Kompendium zu einer
Konferenz der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1992,
S. 249-265.
12

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