68er nach Noten - Computopia GbR
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68er nach Noten - Computopia GbR
Walter Westrupp 68er nach Noten Alte Geschichten aus deutschen Landen über Witthüser & Westrupp 1 1. Auflage 2013. Das Original erschien als stetig verändertes Online-Buch seit 2000 auf der Internetseite „www.computopia.de“ von Walter Westrupp. Letzte Änderung dieser Auflage: 31.08.2012 Verlagfreier Druck Bearbeitet von Daniel Lübke Happy Birthday Schlucki und Prost darauf, dass deine Leidenschaft nie verblassen wird und dich auch in Zukunft noch auf die Reise gehen lässt! Alle Rechte vorbehalten. Gedruckt in Deutschland (Printed in Germany) 2 Einleitung ...Viele Dinge zeigt dieser Spiegel, aber nicht alle waren, wie sie hier stehen. Manche sind nie geschehen,. es sei denn, dass jene, die diese Seiten lesen von Ihrem Pfad abweichen um sie nachzuholen. (Frei nach "Das Märchen vom Königssohn" / Bauer Plath) 68- Oh Mann, war das eine verdammt schöne wilde tolle affengeile erlebnisreiche emotionsvolle überschwängliche Zeit – jeder, der aktiv dabei war, der diese Zeit mitgelebt hat, wird sie niemals vergessen. Es gibt Zeitgenossen, die verdrängen oder verleugnen ihr Engagement in dieser Zeit, weil dies eventuell für ihr jetziges heutiges "bürgerliches" Leben und ihre Karriere einen „Makel“ bedeuten könnte auf ihrem schneeweißen Party-Jackett. Sie vergessen dabei, dass sie nicht das wären, was sie heute sind. Für mich, der ich diese Zeit damals lebte und somit gestaltete, waren diese Erfahrungen existenziell und damit richtungsweisend für mein Leben, was im Klartext heißt: unvergesslich und unkaputtbar. 1968: damit verbunden sind Namen wie Rudi Dutschke, Benno Ohnesorg, Fritz Teufel, Axel Springer, Benno Ohnesorg, FJS und Willi Brand, Bader und Meinhof, Ho Chi Ming, Mao und 3 Bewegungen wie Uni-Proteste, Demos, Essener Songtage, Vietnam-Krieg, Hippies, Kommunen, antiautoritäre Erziehung, Emanzipation in jeder Beziehung: das Auflehnen gegen bestehende Strukturen und Verhaltensformen. 68er nach Noten: weil diese Zeit - auch musikalisch - neue Horizonte öffnet.Die Songtage 68 in Essen zeigen das in plakativer Art der breiten Öffentlichkeit, und im Untergrund treibt die Subkultur den Zeiger der musikalischen (und damit verbunden auch textlichen) Bandbreite in nie gekannte KreativBereiche. Wir werfen die Fesseln des etablierten musikalischen Kulturgutes ab und betreten Neuland – jeder auf seine Art und Weise. Engagierte Liedermacher wie Franz-Joseph Degenhard und Dieter Süverkrüp geben vielen Bewegungen musikalischen Rückhalt, NonsensGruppen wie Insterburg & Co machen echte Comedy (da gibt es diesen Begriff noch gar nicht), Theater- und Agitatoren-Gruppen wie First Vienna Working Group mischen das beschauliche WaldeckFestival auf. Und in der Pop-Szene geben Gruppen wie Amon Düül, Floh de Cologne, Embryo, Limbus, Guru Guru, Tangerine Dream, Annexus Quam, Jerry Berkers, Bröselmaschine, Emtidi, Hölderlin, Rufus Zuphall, Wallenstein, Birth Control, Ashra Tempel, Paul & Limpe Fuchs, Xhol, Can und viele 4 andere mehr jetzt den Ton an. Und - mittendrin und voll dabei sind wir: Witthüser & Westrupp, Pop-Duo mit ausgeflipptem deutschsprachigem Folk-Rock – Exoten unter den Exoten. Viele Bereiche der 68er-Bewegung sind mittlerweile von Insidern und Außenstehenden gebührend beschrieben, verrissen, gewürdigt worden. Auch die damalige Musikbewegung ist in vielen Veröffentlichungen durchleuchtet, rezensiert und in die entsprechenden Schubladen einsortiert. In Gesprächrunden wird immer wieder versucht, die politische Bewegung dahinter auszumachen. Dabei waren es - in allen Bereichen - junge Menschen, die sich von den verstaubten Vorstellung der Eltern, der Gesellschaft, der Politiker entfernten - die ihren eigenen Weg suchten abseits der ausgetretenen Pfade: auf dem Weg zu sich selbst. Denn zumindest diese Freiheit war durch eine demokratische Gesellschaftsordnung gegeben - der Mensch ist frei, wenn er eine Wahl treffen kann. Wir wählten - wenigstens einmal richtig! Das wahre, das tatsächliche Leben damals– das muss jemand beschreiben, der es auch gelebt hat. Und das versuche ich – Autodidakt in der Literatur - mit diesem meinem (Online) Buch. Ich habe vor langer Zeit (im Oktober 03 sind es 25 Jahre her) in einer elend dunklen Nacht bei Vollmond einen Arzt kennen gelernt - er war mit seinen Vögeln unterwegs und ich mit meinen Hunden: eine tolle lange und total obskure Begegnung, 5 die ich in einem Extra Kapitel breit getreten habe. (Siehe im Anhang) Also, dieser Doktor (er wurde auch im richtigen Leben mein Doktor) – ich nenne ihn der Einfachheit halber Dr. Jürgen Remy alias Doc - fertigt mittlerweile zwar nicht mehr so richtig aktiv Patienten ab – dennoch ist er Freund geblieben – mein Freund, auch der Freund meiner Frau (was den geneigten Leser hoffentlich nicht stört – mich jedenfalls nicht) und er ist auch Freund und Partner meines Sohnes, mit dem zusammen er in den neuen Technologien praktiziert (Hardchor und Software): er gehört zur Familie – samt seiner Frau und seinen Söhnen und den Enkelkindern - ein wahrer Freund eben... (Doc & ich bei meiner 1. Objektausstellung 1989) 6 Doc ist Schuld, dass ich nun hier sitze und zu schreiben versuche. Er hat einfach - ohne Vorwarnung - eines Tages damit angefangen, (s)ein Buch zu schreiben. Nicht mit Block und Bleistift (das Gekrackel hätte keine Sau lesen können– das hat nicht mal der Apotheker nach 30 Jahren Zusammenarbeit mit seinen Rezepten geschafft, und seine Kartengrüße von unterwegs erfordern ein mindestens 3semestriges Studium der Hieroglyphe -). Er schrieb sein Buch auf einem Laptop und hat es mittlerweile [Stand 05.2002] nach 2 Jahren Recherchen und Schreiberei und Verlagssuche etc. veröffentlicht. Es steht in gebundener Form in meinem Bücherregal. Ätzend. Damit hat er mich (wahrscheinlich beabsichtigt? aber dennoch) schwer unter Druck gesetzt! Ja, ich gebe es offen und ehrlich zu, das hat mich a) schwer gewurmt (um nicht zu sagen umgehauen), aber dann auch b) sehr angeturnt. Die Idee zu einem Buch, zunächst einmal über die Zeit 1967 - 1973 mit Bernd Witthüser samt dem ganzen wahnsinnigen Drum und Dran und auch die Zeiten danach mit Freunden und der Walter h.c. Meier Pumpe schwirrt seit Urzeiten durch meine noch vorhandene graue Zelle. Doch bisher bekam ich allein bei dem Gedanken an eine Stichwortsammlung total wassermannatypische kopfschmerzenartige Aussetzer. Bei einem ersten schüchternen Versuch der logistischen Bearbeitung des Projektes „Mein Buch“ türmte sich vor mir ein solcher Berg auf (wie geh ich vor, was ist wichtig, wo bekomme ich Informationen her und überhaupt, darf ich langatmig ausschweifen oder muss ich kurz knapp auf den Punkt kommen, damit der/die hochgeschätzte Leser/in nicht gleich das Buch wieder zuklappt), dass ich die Realisierung nach nur sehr kurzem Zögern (ca. 5 Sek. max.) auf die "Zeit nach der Arbeit" (sprich Rentenalter) verschoben habe: ein Buch soll ja – 7 sagt man - bei seiner Veröffentlichung möglichst komplett sein – und diese Zeit hatte ich nicht - neben all der zermürbenden Tretmühle Arbeit, dem täglichen Feierabendstress mit Hunden, Katzen, Gartenarbeit und Renovierungen im Haus, mit Musik und Objekten und Homepage und Freunden und abends saufen geh´n etc Absolut erschwerend kommt dazu, das unsereiner/meinereiner sich damals natürlich keinerlei Notizen gemacht oder gar Tagebuch geführt hat. Wir haben weder Kasetten- oder VideoRecorder, Filmkamera oder Fotoapparat unser eigen nennen dürfen. Klar, es gibt noch Zeitungsschnipsel in irgendwelchen Ordnern auf dem Dachboden, und da sind auch die Singles und Lp´s (mittlerweile Cd´s) und die Waschzettel-Texte der Plattenfirma und alte Textbücher und tatsächlich: in meinem Schädel unter meinen weißen Haaren Erinnerungsfetzen an Begebenheiten aus und zu dieser Zeit, die in den weiten Gehirnwindungen meines Gedächtnisses kurz aufflackern und dann genau so schnell wieder abtauchen - meist des nacht´s, wenn die Sonne hinter der blanken Sichel des Mond versinkt, wenn ich mir vorkomme wie ein Wanderer, der nach Pilga mekkert, wenn der Holzwurm des Rückschritts auf die Beine kommt und mich fragt: „Hey Alter – bist Du´s, wo hast Du den Brösel versteckt?“ und ich nicht einschlafen kann, weil die Hunde im Traum aufjaulen und die Katzen brummend quer auf meinem Bett liegen, so dass ich meine Beine bis unters Kinn ziehen muss, dann fallen mir (trotz meiner im Anfangsstadium befindlichen Arnheimer, aber auch nur, weil ich mich lange und ungestört ganz, ganz stark konzentriere auf eine Zeit, die ja nun auch schon mehr als 35 Jahre her ist und jedes Jahr noch weiter weg zieht) die alten, fast vergessenen und eigentlich verschütteten Erinnerungsfetzen, alte Geschichten und besagte 8 Begebenheiten ein. (Ich liebe diese endlosen Sätze, meine Lehrer nie). Vordergründig tauchen da vor meinem inneren Screen Personen auf, die in irgendeiner Art und Weise seinerzeit mit bei der Party waren und/oder an denen eine dieser Geschichten hängt - zumindest eng mit ihnen verknüpft sind. Ich grübele über Namen nach (die konnte ich mir aber noch nie merken) und kann erst recht nicht einschlafen - finde ihn nicht und grüble weiter und er fällt mir verdammt noch mal trotzdem nicht ein - aber zumindest die Person selber nimmt langsam Gestalt an: das Gespenst bekommt ein Gesicht – meist im Morgengrauen, wenn die Vögel draußen zu Brüllen anfangen. Um da jetzt ja nix mehr zu vergessen, mach ich mir - egal, wo ich gerade bin - ständig stichwortartige Notizen auf Zetteln, die dann überall in der Wohnung herum fliegen – im Bett, am Bett, unterm Bett, am Klo, auf dem Fernseher, an der Bar, in der Werkstatt, auf der Fensterbank, im Garten, in der Butterbrotdose, im Portemonnaie, im Katzenklo... Einmal in der Woche veranstalte ich eine große Zettelsammlung und hefte diese Schnipsel penibel ordentlich an meine Pinnwand - das sieht aus wie ein Bon-Piexer in einer gutgehenden Kneipe. Einmal im Monat/Jahr/... versuche ich die mittels dieser Aktionen gesammelten Informationen (ist fast ein Kurzgedicht) in Prosa-Form zu bringen. Dabei ernenne ich zunächst ich in einer Nacht- und Nebelaktion alle vorkommenden Personen auch gegen evtl. Widersprüche - zu Mitwirkenden in diesem Buch: Sie werden alphabetisch in die Darstellerliste eingefügt. Tauchen diese Gestalten/ Personen / Tiere / Sachen irgendwann in einer bearbeiteten, ausgefeilten, mittels meines 2-Finger-Eingabesystems aufgeschriebenen und letztendlich – falls der Speicherplatz auf dem Server reicht - im Internet 9 veröffentlichten Geschichte tatsächlich auf, werden sie automatisch zu Hauptdarstellern. Das ist klasse, das ist toll, das ist einfach genial, und ich bin ganz alleine drauf gekommen – das könnte aus einem Handbuch für Web-Autoren stammen (Vielleicht mein übernächstes Projekt!?). Ich stelle aufgeschreckt, erschüttert und niedergeschmettert beim Schreiben fest oder wenn ich mit Freunden oder Lesern über dieses Machwerk spreche, was noch alles fehlt – dabei ist es jetzt schon mehr als zu viel für einen alleine. Wo wird es hinführen, wo soll das enden? Ich brauch dringendst 2-4 Ghostwriter..., und Freunde schicken mir Videos von W&WAuftritten zu - und das alles will be- und verarbeitet werden - ich muss mind. 100 Jahre alt werden und gesund bleiben (Das ist quasi ein Befehl nach oben). Schon mehrfach wurde die Frage gestellt: wann gibt es das Buch in gebundener Form im Handel zu kaufen? Hier die offizielle Antwort: frühestens, wenn es fertig ist. Und da sehe ich schwarz...Dazu stellt sich für mich die Frage: wie viele Menschen in diesem unseren Land (denn wenn, kommt es zunächst natürlich deutschsprachig auf den Buchmarkt!) interessiert dieses Thema und mein Geschreibsel dazu? Und welcher Verlag ist wahnsinnig genug, das zu drucken (es sei denn, ich besteche ihn)...und hinterher sitze ich auf der Erstauflage fest und muss alle Bücher selber lesen. Nein, da bleibt Euch nur eins: lasst Eure Drucker Nachtschicht machen. 10 Zudem wäre ich mit dem Buch auch schon viel weiter gekommen - ja vielleicht, nein wahrscheinlich wäre ich schon längst fertig, wenn da nicht plötzlich und unerwartet diese ollen alten s/w Filmschnipsel aus dem Nirwana aufgetaucht wären, aus denen ich von April 2004 bis Februar 2005 eine anderthalbstündige W&W-DVD zusammengebastelt habe. Auf dieser DVD mit dem Titel "...als wäre es gestern erst gewesen...", sind nun zumindest einige Kapitel dieses Buches audiovisuell untermauert und mit bewegten/bewegenden Bildern belegt WARNUNG: dem wohlwollend geneigten Leser und den (die Herren der Schöpfung werden es mir bei gleicher Neigung nachsehen) von mir noch mehr geschätzten und verehrten Leserinnen sei an dieser Stelle klar und unmissverständlich kundgetan, dass die Kapitel einiges an Lesezeit erfordern – das geht nicht mal so eben Hoppla-Hopp. Wie gesagt: Drucken Sie die Seiten aus und lesen Sie auf dem Klo, unter der Dusche, beim GV (=Getränkeverzehr, um hier Missverständnisse auszuschließen und evtl. Haftpflichtansprüchen vorzubeugen) Kapitel für Kapitel, veranstalten Sie Lesungen und Diskussionsrunden mit Gleichgesinnten – kämpfen Sie sich durch, damit Sie dereinst sagen können: ich war dabei, als es entstand. Waren Sie dann dabei und wissen irgendwas besser als ich es weiß: melden Sie sich bitte bei mir (aber Honorare gibt´s nicht - einem alten gebeutelten und ausgebeuteten Musiker kann man nicht in die Tasche packen. P.S. Hinweis: Wenn im Buch eigenartige Wortschöpfungen oder Buchstaben- Kolonnen auftauchen, dann ist eine unserer Katzen über die Tastatur gedonnert 11 1. Kontakt Wir möchten dieses Lied noch singen nur für dich allein (aus der LP "Lieder von Nonnen, Toten und Vampiren) Die erste Bekanntschaft – damals ist natürlich überhaupt noch nicht absehbar (weder für uns selber noch für alle anderen direkt Beteiligten) was sich aus diesem kurzen Moment heraus für die Menschheit entwickeln wird - mit dem Menschen und Musiker Bernhard Witthüser vollzieht sich – von der Öffentlichkeit fast unbemerkt - Anno 1967 im legendären CityClub, der Szene-Kneipe in der City von Essen a.d. Ruhr, einem malerischen Bischofsstädtchen am Rande des Baldeneysees. In diesem In-Pub treffen sich zur Mittagszeit nette junge sympathische Leute von damals in ihrer Mittagspause, um sich in angenehmer Atmosphäre bei guter Musik und einem Cocktail die Zeit zu vertreiben. Einen Gutteil dieses besonderen Flairs mache ich aus, denn hier, in diesem wunderbaren Club, lege ich die Platten: Walter W. aus E., seinerzeit knapp 21 Lenze zählend, bin der Disk-Jockey. Ich habe, wie meine Eltern es von mir verlangten und ich es als folgsamer Sohn denn 12 auch getan habe, zunächst eine lange und ausgedehnte Schulausbildung hinter mich gebracht und auch eine Lehre irgendwie so beendet (als Eisenwichser [sprich Betonbauer] inkl. Gesellenprüfung und -brief) Diesr Brief (siehe links das Original) sieht zwar aus wie ein Führerschein, aber er war zu nix nutze - zumindest nicht für mich. Daher „arbeite“ nun lieber – erstmals abgenabelt vom Elternhaus - als Platten-Reiter im besagten City-Club. Ich muss ehrlich sagen: dies ist wirklich eine sehr schöne Arbeit und auch eine tolle neue Erfahrung und dabei im entferntesten nicht so, wie mir von meinen Eltern immer erzählt wurde mit erhobener Stimme wie: „geh du erst mal arbeiten, dann weißt Du, was ´ne Mark (ja, damals gab es noch echtes Geld) wert ist" und anderer solcher existenziellen Lebensweisheiten. Irgendwas muss ich entweder damals falsch verstanden haben oder jetzt falsch machen: ich habe freies Essen, frei Trinken, den ganzen Tag geile Mädels und nette Jungs um mich herum, lege mir von früh bis spät meine Lieblingsmusik auf und bekomme auch noch Knete dafür – was will ein junger gutaussehender (!) Mensch am Anfang seiner Freiheit und seiner Karriere mehr. Das ist doch was ganz anderes als diese ätzende Maloche während meiner Lehrzeit Doch immer nur Plattenauflegen, mit netten Mädels flirten – all das füllt mich nach einiger Zeit nicht mehr aus. Unruhe befällt mich, und da ich im Zeichenunterricht durch meine fast genial zu nennende Kreativität immer wieder positiv aufzufallen wusste, setze ich diese meine Fähigkeit nun voll für den Fortbestand meiner beruflichen Existenz ein. Um auch abends den Laden richtig voll zu bekommen, veranstaltete ich neben epochalen Bilder-Ausstellungen mit nur Insidern bekannten einheimischen Meistern mind. 1x monatlich Folklore-Abende, an denen ich lokalen Gruppen und Künstlern die Möglichkeit 13 einräume, wenigstens einmal in ihrem Künstlerleben aus dem Probekeller herauszukommen und in einer Ecke des Lokals (nicht zu laut) ihr Können einem desinteressierten Publikum zu präsentieren... Einer von ihnen ist der mittlerweile schon weit über die Stadtgrenzen hinaus – fast bis nach Duisburg bekannte Bernhard „Bernd“ Witthueser, der „Protestsänger des Ruhrgebietes“, der mit Songs von Thomas Rother auftritt, einem Essener WAZ-Redakteur. Da Bernd ein ganz interessanter Typ ist und ich ja nun auch nicht so ganz ohne, entwickelt sich zwangsläufig eine zunächst recht lose Bekanntschaft... Als mein Arbeitgeber, der Wirt des City-Clubs Egon Mai, ein neues Projekt angeht, sind Bernhard und meine unauffällige Wenigkeit – da wir uns nun schon näherer kennen und ganz OK finden - mit bei der Party: ein Folk- und Jazzladen mit täglicher Life-Musik ist geplant, ein Objekt gefunden: der in die Jahre gekommene urige "Künstlerkeller", ein Kellerlokal am Gänsemarkt in Essen, ein runter gewirtschafteter Jazzladen, hat den unschätzbaren Vorteil einer von der Theke abgegrenzten separaten Bühne mit einem kleinen feinen extraordinären Zuschauerraum. Wir entwickeln gemeinsam mit Wirt Egon ein entsprechendes Konzept, die Brauerei sagte dazu JAWOLL (Jazzer trinken bekannter weise gern mal einige qcm Gerstenkaltschale) und 1967 öffnet dann das „Podium“ seine Pforten und wird schnell zu einem Begriff im Pott, zu einer festen Institution im Ruhrgebiet. Ich arbeite dort als DiscJockey, als Pausenclown, Ansager und Musiker, während Bernhard als Koordinator und Manager für das Life-Musik- 14 Programm die Fäden im Hintergrund spinnt und die auftretenden Künstler engagiert und betreut (diese Erfahrungen helfen ihm später, als er Geschäftsführer der legendären Essener Songtage 68 wird). Alles, was Rang und Namen hat in Jazz und Folk und der Liedermacher – Szene, spielt fortan im PODIUM – tägliches Musik-Programm ist angesagt: Ob Liedermacher wie Hannes Wader oder Horst Koch (der mit uns anschließend jedes Mal seine Gage versoff), ob Dixieland vom Prager Jazz-Quintett, ob Jasper ten Hoff´s Association P.C., Peter Brötzmann, Franz de Byl, Flamenco mit Manolo Lohnes oder klassisches Guitarrengezupfe vom Folkwang-Dozenten Beck , Freejazz oder Kabarett: alles, was spielen kann, etwas zu sagen hat und dazu noch irgendwie bezahlbar ist, tritt auf unserer kleinen Bühne auf und natürlich auch (un)bekannte (Nachwuchs) Gruppen und Künstler aus Essen und Umgebung (Franz de Byl z.B. hatte hier seinen ersten Life-Auftritt, Spontan-Sessions anwesender Musiker waren an derTagesordnung und Ramses, das wahnsinnige Essener Piano-Unikat, war schließlich immer für ein „Chikago“ gut). Studenten der Folkwang-Musikschule haben hier ein Podium für experimentelle Musik gefunden (was nicht unbedingt jedermanns Sache ist und auch oft weit über die Schmerzgrenze geht). Ansonsten gibt es reichlich Jazz und Skiffle und Folk von Acryl – und das Konzept stimmt: der Laden läuft super an. Wir leben gut von der Neugierde der Leute, die aus dem ganzen Ruhrgebiet, ja selbst aus der elitären Jazz- 15 und Landeshauptstadt Düsseldorf angefahren kommen, um sich ein Bild von unserem Programm zu machen und dabei zu sein: Man trifft sich, sieht interessante Mitmenschen, wird gesehen, raucht Gaulloises, Rothändle und Reval ohne Filter oder dreht Schwarzen Krausen, trinkt Pernod pur oder WhiskyCola: schwarz gekleidete Intellektuelle, schlaghosentragenden Individualisten, minigekleidete Büromädchen im selbst gestrickten viel zu weiten Baumwollpullover: der Laden ist Bühne für Musiker und Publikum. Als die erste Neugierde befriedigt ist und langsam abklingt, andere Pop-In-Läden ihre Pforten öffnen und während der Woche der Besuch langsam aber stetig und unaufhaltsam sinkt, da checken selbst wir, dass tägliche Life-Musik auf die Dauer gesehen schwer zu finanzieren ist – dennoch: wir geben Durchhalteparolen aus und suchen Mäzene (?), während unser Chef Egon derweil erste graue Haarstränen bekommt und sein Kontostand langsam, stetig und unaufhaltsam absäuft... Eines Nachts – es ist logischerweise stockduster draußen und auch dumpf-dunkel in unseren Köpfen – spricht Bernhard mit unheilschwangerem Unterton in der Stimme (wir sind zu dritt im Podium versackt und so gegen 3 Uhr morgens auf dem 16 Heimweg): Ey, Jungs, watt machen wir denn jetzt? Ich hab noch keinen Bock auf schlafen. Aber nirgends ist was los, die Mädels sind alle schon vergeben! Ich hab ´ne Wahnsinns-Idee: Wir fahren heut Nacht mal zur See! Watt? Ja, auf dem Baldeneysee – ich hab ein Gummiboot. Wie Gummiboot, wo? Im Keller! Im Keller is kein Gummiboot! Doch, bei meiner Mutter im Keller. Hasse ´n Schlüssel? Nee, wir klingeln! Hasse ma auffe Uhr gekuckt? Egal! Gut, O.K., wir erst einmal wieder zurück zum Podium, Gin und O-Saft eingepackt, dann mit dem Taxi zu Muttern, die aus dem Bett geklingelt, Boot und Pumpe eingeladen und dann ab zum Baldeneysee. Das Boot, eine Latex-Nussschale mit einem Minipaddel, wird aufgeblasen und zu Wasser gelassen, die Proviant rein, wir rein und dann ab Richtung Seemitte. Kurs Süd-Oooost Oooost. Der Wind pfoff von Luv, ein Hund boll. Die Uferlichter verschwinden langsam hinter unserem Kielwasser und wir lassen uns treiben und den Gin kreisen: auch bei uns gehen langsam die Lampen aus und uns wird nebelig. So treiben wir in der Seemitte und singen mit unseren hellen Knabenstimmen Hans-Albers-Lieder in die Stille. Es wird schattig und immer nebeliger, bis uns auffällt, dass der Nebel jetzt auch noch von außen kommt. Ermattet sinken wir zurück, erholen uns mit ein paar kräftigen Schlucken von diesem Schock und von den Strapazen unserer Gesangseinlagen – da fällt mir ein leises 17 wohl bekanntes Geräusch auf: einer furzt - und hört gar nie nicht auf zu furzen. Nach eingehender Untersuchung stellen wir dann übereinstimmend fest: es ist keiner von uns! ES IST DAS BOOT! Und das fängt prompt an, in der Mitte einzuknicken – wir haben einen Platten, ein riesiges Leck - und Wasser tritt ein. An Bord bricht sofort die helle blanke Panik aus: wo ist das verdammte Flickzeug. Es ist irgendwie wohl in der Werkzeugkiste – und die ist zu Hause. Wir haben die Rettungsringe vergessen, auch die Rettungsboote sind weg, wir haben keine Leuchtraketen mit, unser Funkgerät ist (wahrscheinlich von Piraten gestohlen) nicht mehr da, das Echolot haben wir in den Schweiz Alpen liegen lassen (wegen der Akustik). Sind wir verloren? Wo sind die Seenotrettungskreuzer und die DLRG-Schnellboote, die sonst zu Hunderten hier herumfahren. Darf es für Lebensretter überhaupt Feierabend geben? Wir sind verloren. Was für ein Tod. Was wird in unseren Nachrufen stehen: wahrscheinlich nichts Gutes. Und wir sind doch noch so verdammt jung. Während ich verzweifelt und mit nur mäßigem Erfolg versuche, das Boot während der Fahrt wieder aufzupumpen, paddelt der zweite Offizier los und Bernhard – er hat sich mittlerweile zum Kapitän gemacht und übernimmt neben der Verantwortung auch die Navigation (dabei verwechselt er aber immer backbord mit links), um uns ans rettende, auf Grund des Nebels aber nicht auszumachende Ufer zu bringen. Zunächst landen wir dann natürlich auf der falschen Seite des Sees, pumpen dort nach, schütteln unsere Schuhe aus und ab geht es wieder auf´s/in´s Wasser und mit erhöhter Schlagzahl (120) zurück zum Anlegesteg des „Ruderclub am Baldeneysees“, den wir nach ca. 20 Stunden (!) finden, nachdem wir wohl den ganzen See umfahren hatten (ca. 1,5 x Marathonstrecke). Wir 18 kriechen auf den Steg, binden mit einem doppelten WindsorKnoten das Boot seefachmännischst an einem Poller fest und sinken erschöpft, unterkühlt und halbtot (sprich besoffen) auf die Bretter, die für uns das Überleben bedeuten – und fallen in einen schock- und ohnmachtsähnlichen Tiefschlaf. Jahre später erst schrecken wir wieder hoch, aufgeweckt vom Gebrumme der Rettungshubschrauber – nein, es sind die Fluggeräusche eines riesigen Bienenschwarmes, ja eines ganzen Bienenvolkes (ca. 1 Mio.), das um unseren Gin-O-Saft düst und sich den Rausch seines Lebens ansäuft – den Honig hätte ich gerne mal probiert. Nach dem wir am Stand der Gestirne die Uhrzeit bestimmt haben (es muss wohl so gegen 11 Uhr vormittags sein) und anhand der Kerben in der Gummiboothülle feststellen, dass es Sonntag ist, wir dann durchzählen und die Besatzung wie auch unsere Knochen als vollständig befinden, nehmen wir unsere Umgebung wieder wahr, die uns aber schon längst entdeckt hat: die Uferpromenade ist voller Sonntag-Morgen-Spaziergänger, die uns anstarren, als wären wir gerade - von einer GrönlandExpedition zurück kommend - hier gestrandet. Womit sie ja gar nicht so falsch liegen – wir bieten ein Bild wie aus einem kanadischen Abenteurerfilm. Nachdem wir Autogramme verteilt haben, Interviews gegeben und Glückwünsche entgegengenommen haben, schultern wir unsere Ausrüstung und machen uns auf den langen Marsch zur nächsten Bahnstation, um in die Heimat zurückzukommen. Wir sind verdammt stolz, den Naturgewalten getrotzt zu haben – wir haben dieses mörderische Abenteuer unbeschadet überlebt, was natürlich auch unser Selbstwertgefühl ungemein stärkt. Oft sitzen wir fortan abends im Podium und müssen diese unglaubliche Geschichte erzählen – na ja, da ist dann auch 19 schon mal von Haien die Rede und angreifenden U-Booten – Seemannsgarn eben. Darauf einen Gin mit O-Saft! Das Podium – was wir ja schon befürchtet hatten – geht mit seiner Programmkonzept nach 1 Jahr leider wirklich pleite – tägliche Life-Musik ohne Publikum ist eben auf Dauer für einen Normalsterblichen nicht bezahlbar. Neue Pächter mit neuem Konzept übernehmen nun den Laden und machen ihn wieder flott. Leider sind wir für die auch nicht mehr bezahlbar. Das finden wir äußerst schade, aber als Gäste schuften wir vor Ort jeden Abend weiter unser Pensum weg (schließlich gehören wir quasi zum Inventar und der Laden ist uns im Laufe der Jahre irgendwie ans Herz gewachsen: es ist quasi unser 2. Zuhause mit Familienanschluß). Aber was tun? Wir suchen eine Aufgabe, ein Ziel, eine sinnvolle Beschäftigung, eine Herausforderung, eine Daseins berechtigende Tätigkeit.Wer suchet, der findet: da Gott und die Welt und alle die wir kennen und kannten und auch all die Anderen, die wir bis dato noch nicht kennen gelernt haben, studieren oder studiert haben oder zumindest einmal in ihrem Leben an einer Uni eingeschrieben 20 gewesen sein wollen, wird es für uns immer deutlicher: AUCH WIR WERDEN STUDIEREN!! Wir müssen studieren, um gesellschaftlich akzeptabel zu sein und auf die Dauer auch zu bleiben. Welcher Makel doch im Leben, wenn man dereinst zugeben müsste: nein, ich habe nicht studiert. Das Studium soll natürlich für uns auch nutzbringend sein, und somit drängt sich quasi von selbst (um musikalisch weiterzukommen und sonst sowieso nicht anderes in Frage kommt [ohne Abitur bist du für die meisten Unis irgendwie nur Luft]) zwangsläufig ein MusikStudium auf. Folkwang-Schule ist zu elitär, also machen wir uns auf die Suche und bestehen auf Anhieb die Aufnahmeprüfung am Konservatorium in Duisburg und schreiben uns dort ein: Bernhard für das Studium der Gitarre und ich das der Zugposaune. Wir kaufen uns von unserem letzten Geld einen alten klapprigen Opel bei unserem LieblingsGebrauchtwagenhändler Reintges (damals klein auf´m Hinterhof, durch die damaligen Umsätze mit uns einer der größten Autodealer des Ruhrgebietes - weil wir aber in letzter Zeit [?] nix mehr bei ihm kaufen, jetzt Pleite) und düsen fortan Tag für Tag in aller Herrgottsfrühe los und studieren wie die Wilden. Der Titel „Student“ tut unserem Ego ungeheuer gut (wird Zusatz auf unseren Visitenkarten), zudem lernen wir 21 manch Sinnvolles für die Praxis (Fingerhakeln, Schiffe versenken, blau machen) als auch musiktheoretisches Grundwissen, ätzend und zäh und - wie früher Erdkunde in der Schule – im wirklichen täglichen Leben einfach kaum anwendbar. Mittags geht´s zurück in die Heimat, und da wir noch keine Aktienpakete in unseren Depots in Macao haben und auch die Kontoauszüge generell einen Niedrigstand ausweisen, der weit unter der Überlebensgrenze von Studenten liegt, begeben wir uns in leibeigenschaftsähnliche abhängige Beschäftigungsverhältnisse. Ich fahre des nachmittags mit meinem frisch frisierten vorderradgetriebenen grünlackierten Zündapp- Super- Maschinenmoped zu der Essener Uhrenersatzteilfirma Flume, wo ich die Artikel - Kartei umstellte (ich wusste bis dato gar nicht, aus wie 22 vielenverdammt kleinen Teilenchen eine simple normale Armbanduhr besteht und wie viele Marken es dann noch gibt – und dazu kommen dann noch Wecker, Wand-, Stand-, Kuckucks- und Kirchturmuhren ...). Aber ich mache meine Arbeit wohl oder übel und ganz zufriedenstellend (?) und werde diesmal nicht sofort nach 3 Tagen rausgeschmissen. Was mir bei dieser Firma aber den meisten Spaß bereitet: einmal in der Woche spiele ich nun in der Betriebsportgemeinschaft Fußball im vorgezogenen halblinken Mittelfeld. Die Mannschaft verliert dank meiner hervorragenden Kondition und auf Grund meines immensen Lungenvolumens, das ich als Blasmusiker nun mal habe und das mich weite Wege gehen lässt, zwar weiterhin 2-3stellig, nein - ich schieße sogar mal ein Tor (oder waren es gar 2(!]) und wir verlieren darob zum ersten und einzigen Mal nicht zu null - klar. Mit diesem/n Treffer/n führe ich bis zu meinem Ausscheiden einsam die interne Torschützenliste an. Bernhard gibt derweil Gitarrenunterricht an der Volkhochschule in Essen – und so halten wir uns finanziell irgendwie am Leben: Als studierende Sozialfälle ohne Unterstützungsperspektive leben wir glücklich und zufrieden am Rande des Existenzminimums in dem unerschütterlichen Bewusstsein, dass es irgendwann mal besser werden wird und wir die Mietrückstände ausgleichen können und auch die Deckel im Podium, die schon Wagenradgröße erreichen, irgendwann mal bezahlen werden können. Denn Abends/Nachts war zum Ausgleich der Hormone und zur Pflege mit- und zwischenmenschlicher Beziehungskisten Besuchs- und Arbeits-Programme im Podium oder POP-IN und/oder bei Ampütte angesagt – bis dem Morgen graute. 23 Unsere wilde Studentenzeit dauert fast ein Jahr an, bis uns der Erfolg überrollt und wir (leider) nicht mehr die Zeit finden, unsere Dozenten mit unserem Wissen und Können zu ekstatischen Ausrufen wie „Mein Gott“ oder „Das gibt´s doch nicht“ bis hin zu „das hab ich ja noch nie gehört“ zu treiben: die haben uns bis heute nicht überwunden. „Meine“ Firma steht nach meinem Ausscheiden kurz vor dem Konkurs (keiner findet mehr was wieder) und den Gitarrenkursus von Bernhard übernimmt der Gitarrenspieler vom „Wanderclub Mandoline“ aus Essen-Steele/Süd – wir hinterlassen fast nicht zu schließende Lücken – aber das ficht uns nicht weiter an. Zu groß, zu mächtig sind neue Herausforderungen und Aufgaben, die das Leben an uns stellt, als dass wir noch einen müden Blick zurück hätten werfen können. (Das Leben ist eben manchmal sehr hart und wirklich ungerecht – aber Klasse). Außerdem sind wir durch diese unseren eigenen Erfahrungen zu der Erkenntnis gekommen: Arbeit ist Scheiße – sie hemmt einen nur bei der kreativen Bewältigung des Daseins / des Hierseins / des ICH-Seins! Wir brauchen dringendst – die Veranstalter fragten verstärkt nach W&W-Postern – neue Plakate. Unsere bisherigen sind aus , und so setzen wir uns mit unserem Haus- und Hof Grafiker/Fotografen-Team Volker Bagatzki / Frithjof Hirdes in Verbindung und besprechen mit den beiden einen originellen ausgefallenen einzigartigen unverwechselbaren Neuentwurf. Es sieht mehr nach einem alt-ägytischen Pyramidenwächterduo als nach einer neudeutschen 24 Folkrockband aus, aber es ist der Knaller – endlich mal wieder ein künstlerisches Poster mit Stil, mit Aussagekraft, mit Charisma – ein Kunstgegenstand eben, ein Stück deutscher Plakatgeschichte, das man sich in´s Wohnzimmer hängt und wo alle sagen: „Hey Mann, das ist ja supergeil, wo hasse datt denn her“. Darauf hatte die Welt lange gewartet. Die Nachfrage ist so riesig, dass die Druckerei kaum mit dem Druck und wir mit dem Verschicken nicht mehr nachkommen. Wenn z.B. der ASTA der Uni Münster für einen Auftritt von uns im dortigen Audimax 100 Poster ordert, dann liegt spätestens nach 1 Woche die Nachbestellung auf dem Tisch. Grund: die 1. Lieferung ist zwar ausgehängt, aber mittlerweile von Fans oder Kunstliebhabern wieder abgehängt und geklaut worden. Die Poster werden zu einem begehrten Sammlerobjekt, was sich natürlich in der Szene herumspricht und bei manchen Zeitgenossen dann leider auch unseriöse (damit vermeide ich ein schlimmeres Wort) Energien weckt. Pedro Meuerer, Kampfgefährte zu der damaligen Zeit und bis dato eigentlich als Freund zu bezeichnen, schließt sich in einer Nacht- und Nebelaktion mit Poster-Shop-Ecki zusammen, der sich ebenso in unserem Dunstkreis bewegt. Die beiden drucken – ohne unser Wissen und ohne Genehmigung der Grafiker (also der geistigen und auch praktischen Urheber) die Poster nach und vertreiben Sie in ganz Europa und verdienen sich eine güldene Nase. Diese Nasenbären. Diese Schweinepriester! Wenn sie uns wenigstens beteiligt hätten... Ich habe – nach Jahrenden - zum Glück irgendwann durch Zufall im „Fährschipp“, einer Kneipe in Essen-Werden bei meinem Freund Achim Schagen (der uns nie als Beleuchter mit nach Nepal genommen hat) ein Exemplar entdeckt. In einer 25 großzügigen/-mütigen Anwandlung und einem kleinen Umweg über Lamberts Arche Noah hat er es mir dann zukommen lassen und jetzt schmückt und verschönt es meine eigentlich auch so schon wunderbare Bar: und nach jedem Schluck wird es wunderbarer... Über die Stadt Essen muss ich natürlich auch ein paar Worte verlieren, denn hier lebten wir, hier wirkten wir, hier war unser "Zuhause" und hier war unser Publikum. Essen ist eine Großstadt (seinerzeit über 600.000 Einwohner), aber sie besteht eigentlich aus einer fast unbewohnten City - die im Krieg total zerbombt wurde und deren übrig gebliebenen repräsentalen Häuserwie das alte Rathaus (links) auch noch abgerissen wurden zugunsten von Warenhäusern - und vielen eingemeindeten Vororten, die relativ autark und jeweils die eigentliche Heimat der Bewohner waren. "Vor Ort" sprach der Schiedsmann Recht, hier waren die Fußball-Vereine, Schulen, Schrebergärten, Bergbaukolonien, Parks, Schützenvereine: hier war man Zuhause - im tiefsten Wiesengrunde. Einkaufen ging man im Ort - und ein oder zweimal im Jahr in die CITY... Vom Bewusstsein her waren die Besucher der City also Kleinstädter, die ihre Kinder an die Hand nehmen, wenn ein Farbiger entgegen kommt: "Komm sofort her: da kommt ein Neger!". "Kuck ma da, datt sind Gammler: nimm Dich ja vor die 26 in Acht!". Pflastermaler werden von den Geschäftsleuten verscheucht, bei Strassenmusikern wird die Polizei gerufen. Wenn ich mit meiner 1. Skiffle-Gruppe "The Night Revellers" auf der Strasse spiele, wartet in der Nähe immer unser "Roady" mit dem Bus bei laufendem Motor. Kommt dann die Warnung "Achtung, Bullen" rasen wir zum Bullie, düsen los, um 3 Plätze weiter wieder rauszuspringen - und das Spiel beginnt von Neuem. Wir wohnten in einem der wenigen Miethäuser mitten in der City auf der Viehofer Strasse, ganz in der Nähe unserer Stammlokale "Podium" und "Pop In". Nachts war die City ausgestorben, und wenn wir morgens durch die menschenleeren Strassen nach Hause wankten, wurden wir permanent von den Bullen angehalten und mussten unsere Daseinberechtigun kundtun. Da wir uns - je nach Stimmungslage - diesem Begehren zu widersetzen versuchten, wurden wir Stammgäste in der Hauptwache am Weberplatz, wo es dann des Öfteren auch zu Handgreiflichkeiten kommt (immer fangen aber die Polizisten mit dem Scheiss an). Merke: wo sonst niemand ist, fällt der Einzelne eben besonders auf - vor allem mit langen Haaren 27 und Bart. In Düsseldorf, Berlin oder München, also wirklichen Metropolen, in denen wir des Öfteren sind, fallen wir überhaupt nicht auf: niemand dreht sich nach uns um, niemand zeigt mit Fingern auf uns, niemand hält sein Kind fest: unheimlich. Die City mit dem Prädikat "Essen, die Einkaufsstadt" ist für uns als Subkulturler aber geradezu ideal: hier gründen wir unsere 1. Kommune, hier verschrecken wir die Passanten als 1. Hippies, hier können wir auf eine nette Art Bürger erschrecken: nicht von ungefähr entsteht in dieser Zeit der Begriff "Bürgerschreck". Hier fällt nicht auf, wenn wir auf dem Burgplatz einen Joint rauchen (kennt ja keiner, nicht mal die Bullen). Ich leiste zu der Zeit mehr bekifft als nüchtern meinen Wehrdienst ab. Ich gehe auf LSD arbeiten in "meiner" Uhrenersatzteilfirma, ohne dass irgend jemandem meine großen Pupillen aufgefallen wären. Ich fahre im Nachthemd auf meinem Mofa Brötchen holen, wir können Musik machen oder hören, wann und wie laut wir wollen, ohne dass ein Nachbar unter die Decke klopft oder uns die Sicherungen rausdreht. Und: keiner von uns ist auf das Arbeitsamt angewiesen: jeder sorgt für seinen Unterhalt selber: ob als Taxifahrer, Musiker, Kellner, Discjockey, Verkäufer, Hilfsarbeiter, Kneipier, Musikmanager etc. - und mancher geht sogar einer normalen Tätigkeit nach.(es gibt tolle Jobs bei der Post und der Stadt, wenn man entsprechen verkleidet ist). Es gibt keinerlei Beschaffungskriminalität oder Ähnliches. Wobei wir sowieso der Meinung sind, dass unsere Eltern uns unseren Lebensunterhalt schulden: die haben uns ja schließlich in die Welt gesetzt! 28 Für uns gibt es dennoch nur einige wenige, aber sehr wichtige Anlaufstellen in Essen. Zunächst das KZ (Kultuzentrum) in der City. Hier trifft man sich zum Diskutieren, zur Absprache von irgendwelchen Aktionen - und hier gibt´s für kleine Maus Warmes zum Essen - inkl. Tabasko und Sambal Olek. Dann - für uns schon Wichtiger: das Jugendzentrum am Rande der City. Dort gibt der Leiter, Graf von Schmettow, (und später auch sein Nachfolger Günter Kropp) uns und vielen Essener Bands und Musikern eine Heimat: die Möglichkeit zum proben da musste man nicht in einen feuchten kalten Keller -, und er stellt für Auftritte entsprechende Räume und Säle zur Verfügung, um das Geprobte vor Publikum einem ersten Härtetest zu unterziehen. Im JZ hält man zudem Kontakte zu den anderen Musikern - egal ob von Beatbands, Jazzformationen und Folk-Gruppen, Unsere ersten Konzerte bei Kerzenlicht und Rotwein mit den "Liedern von Nonnen, Toten und Vampiren" veranstalten wir im schönen kleinen Keller-Saal des JZ - ohne große Anlage, Kissen auf dem Boden, leise und akustisch: einfach toll. Das hauseigene Kino ist angesagter Raum zum Knutschen und Fummeln - mit einem erstklassigem Programm, zusammengestellt und vorgeführt von H.-P. Hüster, der später die "Essener Filmtheaterbetriebe" gründet, zu dem neben vielen kleinen feinen Filmtheatern mittlerweile auch Deutschlands größter Filmpalast - die Lichtburg - gehört. Mit seinem damaligen Mitarbeiter Horst Horriar ("Messrs. Hulot") drehen wir in den Räumen des JZ den avantgardistischen Musik-Kurz-Film "Konzert für Rock-Band, Sinfonieorchester 29 und elektrische Kaffemühle" - und einige Sequenzen für den Teebuetelhochebmaschinen-Film (z.B. die Schöpfungsgeschichte) entstehen in den Werkstätten des JZ wo anders hätten wir so etwas sonst drehen können? Last not least - ganz in der Nähe des JZ - ist die WAZLokalredaktion mit Thomas Rother als Redakteur und Jochem Schumann als freiem Mitarbeiter, wo wir aus- und eingehen und quasi zum Inventar gehören - sehr zum Leidwesen der Abteilungssekretärin. Thomas Rother war Bernhards Haus- & Hoftexter und schrieb ihm vor unserer Zeit viele seiner Bergmannstexte wie "Wenn´s Arschleder zwickt" und war an Bernhards Ruf als "Protestsänger des Ruhrgebiets" maßgeblich beteiligt. Für uns schreibt er nun unter Anderem "Wenn das Karakulschaf blökt" und das wunderschöne "Lass uns auf die Reise geh´n" - und begleitet den Anfang unseres Weges journalistisch - was für die "Karriere" von W&W nicht grade abträglich ist. Sein Lied vom kleinen Revolutionär ist einer der "Kracher" in unserem 1. Programm und spiegelt unsere zwar bürgerschreckende, aber eigentlich unpolitische Grundhaltung wider: Dem Opa hacke ich das Holzbein an Damit der Alte nicht mehr laufen kann Dann stecke ich dem Opa das Holzbein in Brand Dann haben wir wieder ein Feuer im Land 30 Der Oma nehme ich die Brille weg Und schmier ihr auf die Gläser Dreck Dann sagt sie Oma: Danke mein Kind Ich bin ja sowieso schon fast blind Der Schwester reiße ich die Puppe entzwei Aus einem Holzpferd mache ich drei Dann pinkel ich von unsrem Balkon: Hurra, es lebe die Revolution! - Thomas Rother 31 Viehofer 25 Ich würde alles, was ich hab´, verkaufen dann kiffen, ficken, fressen, saufen, den Bürger, der da motzt, erschlagen und den ewigen Sprung in´s Feuer wagen (Aus "Wenn ich ein wenig fröhlicher wär´" T&T) Nach dem Ende meiner Wehrdienstzeit (siehe Anhang) , dieser jeden guten Staatsbürger irgendwie formenden Zeit, ziehe ich auch in das Dachgeschoss der Viehofer Str. 25 in Essen. Dort hat Bernhard schon eine „Wohnung“ – und dort beginnt unsere Sturm- und Drangzeit. Allein das Wohnen in den 6 „Apartments“ der Etage (gleichbedeutend mit 6 „Wohnungen“, das entspricht tatsächlichen 6 „Zimmern“, die im normalen Immobilienmarkt als „Besenkammer“ bezeichnet werden [?!)). Ich will damit sagen: die sind verdammt klein geraten, und ich lass jetzt diese störenden Gänsefüße weg und sage nur: jedes Zimmer hat max. 12m2 und jeweils eine Riesenschräge. dazu hat jedes Zimmer ein riesiges Kombigerät (Kühlschrank/Spüle/Herd am Stück) - da bleibt nicht viel für Möbel. Nicht verschweigen darf man natürlich den Luxus einer Toilette und einer Dusche - für alle. Diese Art von Gemeinschaftseigentum (in den 20er-Jahren durchaus üblich) ist für die „Altbewohner“ total normal, bedeutet aber für Kommunen-Neueinsteiger bzw. Anfänger - wie ich einer bin eine tiefe Zäsur in seine bisherige Lebensform und somit ein einschneidendes existenzielles Erlebnis. Auf meinen 10 m² komme ich mir mit meinen 1,68 vor wie ein Riese, und rückblickend erscheint mir meine Kammer in der Kaserne gegen dieses Loch wie ein echtes Luxus-Apartment. Aber ich habe ein eigenes Zimmer – eigene 4 Wände! Hab ich die wirklich? 32 Die Türen einer jeden Wohnung stehen generell alle offen und jeder der Mitbewohner verfügt über mindestens eine StereoAnlage, die den ganzen Tag über zweckentsprechend betrieben wird. Da entwickelt sich bei dem Versuch, auf der eigenen Anlage eine Beatles-LP anzuspielen, plötzlich ein neues einzigartiges quadrofonischen Klangerlebnis, bei dem die Beatles ihre Besetzung um Eric Burdon, Golden Earing, Rod Steward und die Stones erweitert haben, und dieser Sound (?) erinnert stellenweise dann an den Free-Jazz, mit dem manche FolkwangStudenten abends im PODIUM ihre extrem kleine Fangemeinde quälen. Durch die so entstehenden Schallwellen an der Oberkante unseres Hauses ist es das einzige Gebäude in der ganzen Stadt, das meiner objektiven Meinung nach wackelt, je nachdem, wer und wie laut Musik abgespielt wird. Doch - man gewöhnt sich an allem, sogar wenn beim Akt jemand ohne Vorwarnung hereinkommt, nicht mal ein leises „Entschuldigung“ für nötig hält, sondern nach Butter fragt oder warum die Dusche (mal wieder) nicht funktioniert und wer Putzdienst hat - als hätte ich grade nix anderes im Kopp. Gemeinsames Frühstücken wird zur festen Einrichtung. Morgens so gegen 13 Uhr geht einer los und holt frische Brötchen und all das, was zu einem zünftigen KommunardenFrühstück gehört, einer kocht Kaffee und spült Tassen, ein 33 dritter Mitbewohner geht runter in unser im Erdgeschoss gelegenes Musikgeschäft, um sich die LP-Neuerscheinungen auszuleihen, die wir dann beim Frühstück durchhören und somit immer auf dem neuesten Stand zu bleiben: 08 15-Lps wurden unverzüglich zurückgegeben in den freien Verkauf, die hörenswerten, die wir behalten, werden angeschrieben und wenn irgendwann irgendwoher Geld eingeht, wird dieser manchmal nicht unerhebliche Posten beglichen. Je nach Anzahl der Platten, zudem abhängig von den Erlebnisberichten der einzelnen Kommunarden sowie verschiedener aktueller innerer und äußerer Einflüsse zieht sich so ein Frühstück oft bis zum Mittag (18:00 Uhr). Mittags - also ca zwischen 18-19 Uhr - bekochen wir uns gegenseitig und treiben uns bei der Kreation neuer NudelPfannen-Gerichte in kulinarisch immer höhere und kochkünstlerisch bisher nicht erforschte Dimensionen. Wenn es sie gegeben hätte - wir hätten auch Ameisenrüssel und Heuschreckenunterschenkel verarbeitet – doch auch ohne diese Zutaten sind diese gemeinsamen Mahlzeiten (nach Verfeinerung durch extremen Gebrauch von Ketchup, Chili und Sambal Olek) zum endgültigen Auftakt des Tages und für das Zusammenleben eine echte Bereicherung. Grundsätzliche Zwischenbemerkung: Wenn nie oder nur andeutungsweise von Begegnungen mit dem anderen Geschlecht berichtet wird, so heißt das nicht, dass wir schwul sind (was bei einer 2-Mann-Boy-Group oft unterstellt wird). Diese Leute hätten mal das Gestöhne und Geschreie tagaus/nachtein miterleben sollen, das man sehr gut noch auf der Straße miterleben konnte (wir wohnen und arbeiten im 5. Stock, nur mit Dachluken nach oben – und die Straße ist eine laute Verkehrsstraße). Das nur zur Klarstellung, denn es soll in diesem Buch kein Thema sein. Wobei, wenn ich so überlege könnte das ein extra langes Kapitel werden mit wirklich tiefgreifenden, herzzerreißenden und tragischen Geschichten. 34 Bernhard richtet auf dem Flur ein schwarzes Brett ein, an das fortan der Putzdienst für die Gemeinschaftsräume (Klo/Dusche/Flur) angepinnt, der Kochdienst festgelegt, aktuelle Meldungen der Einzelnen und die „Todesanzeige der Woche“ ausgehängt werden. In diesen Nachrufen finden wir all die tollen Reime, die wir später auf der Flipper-Single-B-Seite in dem Lied „Einst kommt die Nacht, die lange dunkle“ verarbeiten: die Geschichte eines Mannes, der stirbt und dem seine Freunde am Grab ein Abschiedslied singen und er (also der Tote) den Deckel noch mal aufklappt und seinen Freunden auch ein Abschiedslied singt: Einst kommt die Nacht, die lange dumpfe wo Deine die Freunde Dir ihr Mitleid schenken und bei dem alten Mauerstumpfe Deinen Body in die Grube senken An Deines Grabes Rande stehen sie in ihren feinen schwarzen Kutten mit furchtbar wackeligem Knie und das Herz tut ihnen bluten 35 So stehen sie dort mit leichtem Schauer und singen dann mit großer Trauer: Du bist befreit von Leid und Schmerz geliebtes altes treues Herz nur Müh´ und Arbeit bis an´s Ende nun ruhen Deine fleißigen Hände die immer gern für uns bereit das danken wir Dir alle Zeit. Und du denkst, wie schön die Zeit mit jenen war und singst aus voller Brust ganz hell und klar: Wir alle wandern durch das Tor des Lebens den Weg bis in die Ewigkeit 36 und alles Hoffen, Wünschen ist vergebens der große Meister bestimmt den Lauf der Zeit So tretet fort, ihr meine Lieben nehmt Abschied, weint nicht mehr Heilung konnt´ ich nicht mehr finden meine Leiden waren viel zu schwer Nun so ziehe ich von dannen schließ die müden Äuglein zu haltet innig treu zusammen Und gönnet mir die ew´ge Ruh´. 37 Wenn nichts Anderes anliegt, dann ist nachmittags „StadtGang“ angesagt: wir sitzen auf dem Burgplatz, werden von den Spießern begafft und begaffen die Spießer. In dem Lied „wenn ich ein wenig fröhlicher wär´“ ist diese Situation sehr treffend beschrieben. Unter dem Motto von damals „macht kaputt, was Euch kaputtmacht“ will „Sternchen“ Sternheimer eine Bombe bei Karstadt deponieren – zum Glück für ihn und uns und die möglichen Opfer hat er nie Sprengstoff zur Hand – aber verbal war der Bau schon 10x weggeblasen. Wir persönlich lassen es langsamer und ruhiger angehen und versuchen die Leute von unten oder innen zu überzeugen. Wir verteilten Flugblätter „Wie drehe ich einen Joint “ mit der Anleitung für den großen 3blättrigen – oder den „Almanach der Rauschmittel“ mit Wirkungsangaben. Unser wirklich gut gemeintes Flugblatt mit der Anleitung „Wie nehme ich einen Trip richtig“ (12 Regeln, die nützlich sind für Neueinsteiger, einen Trip richtig vorzubereiten und zu genießen und einen Horrortrip zu vermeiden – siehe Anhang) bringt uns die Anzeige eines Pastors ein, die aber abgeschmettert wird (nach langer Zeit da leben wir schon in Dill und die ganze Angelegenheit wird beim königlich-hunsrückischen Amtsgericht in Simmern verhandelt – und die wussten gar nicht, um was es wirklich ging). (siehe Anhang) 38 Im Sept. 67 veranstalten wir das 1. Essener Love-In. Wir hatten Jerry Rubins "Do it" gelesen und wollten das Gelesene (Theorie) nun mit Leben erfüllen (die Praxis). Mit anderen Worten: wir wollten Fleisch an den Knochen bringen: Wir wollen testen, ob dieses Essen schon reif für die Liebe ist. Also packen wir uns in Omas Wolldecken, setzen uns alte Brillen auf, stecken uns Blumen ins Haar und stürmen zu zweit (in) die Stadt. Mit diesem unseren Spontanangriff legen wir in nullkommanix den zentralen (Kennedy-) Platz Essens lahm. Wir drehen ein paar Runden um den Brunnen und singen "we shall overcome" und irgendwas von San Francisco sowie "Fragt uns nicht: woher und wohin", anschließend laufen wir durch die staunend stehen gebliebenen Menschen, verteilen unsere mitgebrachten 100(0)e von Blumen (lasst Blumen sprechen, nicht die Politiker) an die Passanten und geben ihnen wichtige Lebensweisheiten mit auf ihren steinigen Weg durchs Leben wie: "Liebe Deinen Nächsten mehr als Dein Portemonnaie – Steigt aus - Fresst Euer Geld und sterbt daran Liebe, solange Du noch warm bist..." Wir steigen in´s (Brunnen-) Wasser und umrunden mit unseren Instrumenten das einzige Mädel, das wirklich stehen bleibt: die Badende "Jungfrau“ in ihrem Becken. Mittlerweile ist 39 unsere "Kommune" auf 6 Mann angewachsen - das Fernsehen ist auch endlich eingetroffen und interviewt Zuschauer (die gehören eingesperrt - bei Adolph... - die sind bekloppt usw.), Rundfunk und Presse kommen angerast – für das biedere Essen, das sich ja nun immerhin „Großstadt“ nennt, ein Medienereignis aller erster Güte (in Düsseldorf, Berlin oder München hätte sich keine Sau nach uns umgedreht). Aus den Büros strömen Sekretärinnen und Beamte (das musst Du gesehen haben - da sind so ‘n paar Irre unterwegs), die umliegenden Kneipen leeren sich spontan (alles Zechpreller) und die Menge steht, gafft, staunt...Die City steht für einen Moment still. Doch hätten wir "BUHHH" geschrien, wären sie alle vor Schreck weggerannt. Dann kommen aber auch schon die Bullen und regeln den Verkehr, schirmen uns ab und fragen nach der Demonstrationserlaubnis, dann kommt noch der Regen von oben (von unten waren wir ja aufgrund unserer Kneipp-Einlage schon angefeuchtet) da verteilen sich die Leute und der BGS konnte seine Wasserwerfer wieder einpacken: damit geht unsere Love & Peace-Parade friedlich zu Ende – und wir Bürgerschrecken steigen zufrieden runter ins Podium und feiern unseren Erfolg – das Leben ist ein wunderbarer, einzigartiger Spaß. 40 41 Nonnen, Tote & Vampire Welcher Wechsel doch im Leben tiefe Stille hier und Leid. Dort - bei arbeitsamen Streben Jugendglück und Fröhlichkeit (aus Lieder von Nonnen, Toten und Vampiren) Musikalisch befinde ich mich plötzlich in einem Vakuum: meine Skiffle-Band „The Night-Revellers“ hat sich schon vor Urzeiten wegen Arbeitsmangels aufgelöst, im Posaunenchor bin ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr aktiv, auch der Kantorei habe ich nach meinem Stimmbruch Ade gesagt und für das Schulorchester ist aufgrund meines Alters mittlerweile auch kein Platz mehr frei. Ich spiele zwar von Zeit zu Zeit Tuba in der Universitäts-Jazzband der Uni Bochum, aber ich bin verzweifelt auf der Suche nach einer neuen musikalischen Herausforderung. Da Bernhard mit seinen Songs - er hatte mittlerweile das Prädikat "Protestsänger des Ruhrgebiets" angehängt bekommen - auch nicht mehr so richtig glücklich ist ("ich spiel vor Kumpels und hab noch nie im Leben richtig malocht: die lachen sich ja kaputt über mich") und wir des Öfteren zusammen musizieren, entwickelt sich irgendwie und wann aus diesem Zusammenspiel die Idee, alte Bänkellieder, Vampirtexte, Trauer- und Totengedichte, Moritaten und Lyrik aus alten Büchern, die wir in dieser Zeit lesen, zu vertonen. Mit Gitarre und Ukulele packen wir die ersten Texte in ein entsprechendes musikalisches Gewand zu. Es entwickelt sich dabei im Laufe der Zeit eine eigen-/einzigartige Mischung aus klerikalem Protestgesang, klassischer Gitarrenmusik mit traurigen Einschüben und Untermalungen. Bernhards Gitarrenfertigkeiten und meine Posaunen-, Flöten und Trompetenkünste kommen dabei voll zum Tragen und erzeugten eine eigentümlich tragende Stimmung, die eine jeweils vorhandene Grundstimmung unterstützt und dabei noch 42 genügend Raum für eigene Gedanken und Interpretationen lässt. Wir bauen weitere Instrumente wie Triangel, dicke Zing, Xylophon, Windspiel und was so alles in den Räumen rumliegt und einsetzbar ist, in unsere Kompositionen ein. Oft meditieren wir nächtelang über einem Thema, lassen die Bandmaschine mitlaufen und suchen uns dann später die passende Musik zu einem Text heraus. Wir erarbeiten ein 1 ½ -stündiges Programm und proben in jeder freien Minute im JZ Essen, wo der damalige Leiter Graf v. Schmettow uns glücklicherweise einen Raum überlässt, wo wir ohne die dummen Kommentare unserer Mitbewohner – also ungestört - jederzeit üben können. Hausmeister und Personal, die ab und an teilhaben dürfen an diesem künstlerischen Entstehungsprozess, sind ein kritisches Publikum und geben manch saftige ehrliche konstruktive Kritik zum Besten (manchmal auch noch etwas mehr), aber so kochen wir nicht nur im eigenen Saft. Als dritter Mann ist Jens Nissen, ein Geiger aus Essen, mit dabei und Ende 1969 ist es dann endlich soweit – das Programm steht. Unser 1. öffentliches Konzert geben wir im kleinen Saal des Jugendzentrum – bei Kerzenlicht und Rotwein. Ganz in schwarz gekleidet, spielen wir mit unserem Sammelsurium von mittlerweile ca. 20 Instrumenten unsere Lieder auf fast dunkler Bühne. Unsere selbst für heutige Verhältnisse einmalig zu nennende Light-Show besteht aus 2 Strahlern: rotes Licht (Lampe links) bei Liebesliedern, grünes Licht (Lampe rechts) bei Grab- und Vampirsongs und rot/grün (also volle Kanne) bei nicht einzuordnenden Songs. Nachdem sich das Publikum an die eigenartige Atmosphäre gewöhnt hat und auf unsere ironisch/satirischen Erläuterungen, die wir zu den einzelnen Liedern geben, mit Zwischenrufen eingehen, ist der Bann gebrochen – es wird ein großer 1. Erfolg, der uns zeigt, dass unser Projekt wohl wirklich Zukunft hat. Durch die Kontakte von Bernhard zu Veranstaltern und mittels diverser Flugblattaktionen und obskuren Zeitungsanzeigen, aber auch durch erste Zeitungsartikel und -kritiken über uns sind relativ schnell Auftritte im Ruhrgebiet gebucht, wir haben erste Radio- 43 Termine: das Projekt „W&W´s Pop-Cabaret“ läuft an. Wir spielen auf der Studio-Bühne der Stadt Essen, wo uns der NRZ-Theaterkritiker bescheinigt, dass wir nicht mal Noten lesen können (dabei war er zum ersten Mal in seinem Leben zur richtigen Zeit am richtigen Ort - aber das hat er nicht kapiert), wir tingeln durch die Berliner Kneipen und lernen die dortige Szene kennen (Insterburg, Wader, Mai, Schobert & Black etc.), wir sind auf der Waldeck bei den Songfestivals - wir sind präsent und werden mehr und mehr wahrgenommen. 44 Anfang 1970 haben wir einen Gig in der Wuppertaler Börse: vor 8 (i.W. acht) Personen Publikum spielen wir unser Programm herunter – ja leiern es ab. Es ist total ätzend, wir fühlen uns unwohl und sind heilfroh, als der imaginäre Vorhang endlich fällt und 1 ½ Stunden quälend langes Programm vorbei sind. Beim Abbau kommt ein Pärchen auf uns zu, das sich diese unsere miese Show angetan hat – ist ein Bekannter von Bernhard mit netter Freundin. Nach obligatorischer Begrüßung, kurzem Händeschütteln und Schulterklopfen incl. der üblichen Lobhudeleien lädt er uns zum Bierchen ein und offeriert uns dann - einen Plattenvertrag!?! Das war kein anderer als der Musik-Journalist Rolf-Ulrich Kaiser (kurz R.U.K) mit seiner Lebensgefährtin Gille Lettmann, die mit dem Berliner Meisel Verlag zusammen das Ohr-Label gegründet haben und nun auf der Suche nach wirklich guten deutschen Gruppen sind. Da ist er bei uns natürlich genau richtig... Nur: bisher wussten wir das selber gar nicht! Jetzt aber... Logo vom Plattenlabel „Ohr“ 45 Wir sind happy, wir sind aufgeregt wie kleine Kinder, wir fragen auch nicht nach Prozenten, nur nach einem kleinen Vorschuss, aber eigentlich nach gar nichts außer: wann und wo können wir endlich unterschreiben und ins Studio. Der Traum eines jeden Musikers, entdeckt zu werden, geht für uns bei einem der schlimmsten Auftritte unserer gesamten musikalischen Laufbahn in Erfüllung. Der Vertrag wird in Berlin unterschrieben, und schon im März 1970 fahren wir nach Hamburg, um unsere 1. LP "Von Nonnen, Toten und Vampiren" einzuspielen. Die Produktion erfolgt im Studio Fürchtenicht, einer Art Heimstudio im Wohnzimmer. Arbeiten können wir nur nachts wegen der Straßengeräusche tagsüber (fehlende Schallisolierung), und Playback ist auch nicht: alles muss im Hieb sitzen. Wir haben noch keine überhöhten Qualitätsansprüche, und wenn bei einem Trompetensolo mal 46 die Spucke in der Kanne brodelt, es aber intonationsmäßig nichts Großartiges zu nörgeln gibt, dann wird das Ding abgewinkt. Für "Studio-Neulinge" schlagen wir uns recht gut, und unser bewährtes Bühnenmotto „Perfektion ist nicht unsere Stärke“, mit dem wir hörbare Fehler in´s Menschliche ziehen, kommt hier voll zum Tragen. Das Schöne bei dieser Arbeit: uns labert keiner rein, keiner schaut auf die Uhr, keiner erinnert an Studiokosten - es ist entspanntes, ruhiges und dennoch konzentriertes Arbeiten. Als wir dann nach Wochen die 1. Apressung bekommen, höre ich plötzlich nur noch falschen Töne, jeder noch so kleinen Fehler lässt mich schaudern, jeder zu späte Einsatz wird zum gössten Ärgernis - eigentlich kann man jedes einzelne Stück viel viel besser machen - ja man müsste die ganze Platte auf den Müll werfen und ganz von vorn anfangen. Dass unsere Bekannten und Freunde die Produktion "einfach nur toll" finden, empfinde ich als Mitleid - und ich kann nix mehr ändern... Das einzig Schöne an der LP war das Plattencover von Reinhard Hippen, an dem vorne ein Luftballon von OHR eingearbeitet war. Doch im Nachhinein muss ich sagen, dass diese 1. LP die ehrlichste von allen wurde. 47 Von unserem Geiger haben wir uns mittlerweile wieder getrennt, da er aufgrund seiner aggressiven Fahrtechnik mit seiner R50 (sprich 500er BMW) laufend verletzt ist. Als Gastmusiker und Roady ist Charly Weißschädel mit dabei, der z.B. beim Flipper-Song in einer Schüssel virtuos mit Wasser planscht. Alles ist tatsächlich handgemachte rein akustische Musik (neudeutsch „unplugged„ und damit seiner Zeit weit voraus) ja selbst für damalige Verhältnisse ein Novum. Innerhalb von nur drei Nächten ist die LP samt Single eingespielt, und die Präsentation dieser Produktion erfolgt stilgerecht im Juli 69 im Hamburger DRK-Haus. Wir werden in Särgen in einen mit Kerzen beleuchten Raum herein getragen, RUK hält eine kurzweilig launige, mit Grabesstimme vorgetragene Einführungsrede, dann - klappen wir die Deckel auf und steigen, bleich geschminkt und schwarz gekleidet, aus den Särgen heraus und singen den anwesenden Kritikern das Lied: "Wenn hoch die Sonn steht am Firmament, liegt Graf Dracula im Sarg und pennt". Wir lassen das Abendglöckchen ertönen, zeigen die Lilie vom See und lassen das Mütterlein am Grab des Sohnes weinen: das haben Schreiberlinge, die sonst Opernkritiken schreiben oder Rockkonzerte besuchen, noch nie gehört und erlebt - der Gag sitzt.. Es ist ein dicker Presserummel, und weil das Motiv stimmt, ein ordentliches Echo in den Zeitungen – die ersten Fernsehsender interessieren sich für uns: wir steigen langsam in neue Dimensionen auf. (Zeitungsartikel Frankf. Neue Presse, siehe Anhang) Witthüser & Westrupp stilgerecht bei der Präsentation ihrer ersten LP „Lieder von Nonnen, Toten & Vampiren“ beim Fototermin 48 Im August kommt dann unsere Single auf den Markt (mit „Wer schwimmt dort?“ und „Einst kommt die Nacht“ (die Essenz aus den Todesanzeigen der Woche von unserer Pinnwand) - und im September sind wir schon auf dem legendären FehmarnKonzert dabei (dem ich ein Extra-Kapitel gewidmet habe), im Oktober spielen wir auf dem Pop- und Blues-Festival in Essen, dann nach Wien zu Fernsehaufnahmen, Pop-Festival Bremen, 14 Tage München, 1 Woche Mainz, Fernsehaufzeichnung Wartsaal Baden-Baden, 3 Wochen Gastspiel Berlin bei den Wühlmäusen, dazu Pressetermine mit dem Stern und diversen Zeitungen, Promotion-Tour für die LP etc.: nun brechen wir das Musikstudium ab (ist sowieso nur graue Theorie) und auch unsere Nebenjobs bleiben auf der Strecke (Arbeit allein macht eben nicht glücklich): wir können erstmals von unseren Gagen (über)leben. Doch von nix kommt nix, wie wir bei uns zu Hause zu sagen pflegen: wir spielen – wenn wir zwischendurch Pause haben und zu Hause sind - auch weiterhin nächtelang zusammen Melodien durch, improvisieren über bestimmten Melodien, nehmen alles auf Tonband auf und erarbeiten uns (und das ist wirklich ARBEIT - aber schöner, effektiver und befriedigender als die vorgenannte) einen neuen Fundus an Musik. Wir testen einen weiteren Musik mit Künstlernamen "Paul Pudel", der uns aber mit seiner Laute keinen neuen Impulse geben kann: wir bleiben zunächt mal allein zu zweit... 49 50 Fehmarn Wer schwimmt so munter dort im Meer Wer schwimmt in jener Bucht dort hin und her Wer ist immer lustig und immer froh und wer erfreut die Kinderherzen so? (aus "Flipper" - CD Nonnen, Tote, Vampire) Wir liegen in unseren Zimmern in der Viehofer Straße 25 in Essen unter´m Dach und erholen uns von den Strapazen der Podium-Nacht (unsere Stamm- & Szene - Kneipe). Es ist irgendwann 1970 so gegen 12.00 Uhr mittags - highnoon eigentlich eine Zeit, wo niemand es wagen sollte, bei uns anzurufen (vor dem Frühstück können wir einfach noch nicht denken und sind verdammt aggressiv). Am anderen Ende der langen Leitung Rolf-Ulrich Kaiser, der Macher des Ohr Labels und unser Produzent. Ich höre Bernhard: "Hast Du mal auf die Uhr geguckt? Weißt Du eigentlich, wie früh es ist... ? ! ... ... Wer? Was? Wann? Was ist das? Ein Festival! Wir? Wer spielt da? Ah ja, verarschen - um diese gottverlassene Zeit. ...Du spinnst!. Nein, vielleicht, ja, ich melde mich noch mal, wenn ich sprechen kann." Beim Frühstück erzählt er (ich will jetzt nix von seiner zittrigen Stimme erwähnen): WIR sollen auf dem größten Open-Air-Festival auf deutschem Boden spielen - auf der Insel Fehmarn. Mit dabei alles, was Rang und Namen hat: Rod Steward, Jimmy Hendrix, Sly & the Family Stone, Emerson Lake & Palmer, Colosseum, Procol Harum, Mungo Jerry, Incredable String Band, Renaissance, Peter Green, Taste, Ten Years after, Ginger Bakers Airforce, Canned Heat...und Gott und die Welt... und Witthüser & Westrupp. Ich glaub´s nicht und verschluck mich und krieg Krämpfe und weiß: das ist zu viel für meine zarte Musiker-Seele Wir Geiern und lachen und schreien und tanzen – und haben solche Muffe: 20 – 30.000 Leute werden erwartet, und wir mit Ukulele und a- 51 Gitarre und unseren Liebes- und Vampirliedern - 2 kleine Davids gegen den Rest des Universums. Der Totenkopf im Vogelkäfig wackelt bedenklich mit der Kinnlade – aber wir rufen RUK zurück und sagen - natürlich zu. Mit unserem alten Mercedes Benz 280Diesel machen wir uns auf den Weg nach Fehmarn. Am Eingang zum Festival-Gelände abrupter STOP an der Schranke. Die freundlichen, zuvorkommenden, liebenswürdigen und hilfsbereiten Ordner von den Hamburger HellAngels hauen uns erst mal eine dicke Dülle in unsere Motorhaube, heißen uns aufs herzlichste Willkommen und wollen unseren MERCEDES umkippen bis wir ihnen irgendwie klarmachen können, das 52 wir DIE Top-Acts (?) sind und tatsächlich reindürfen - ja müssen (was wäre das denn sonst ohne uns für ein Festival geworden). Klatschnass geschwitzt fahren wir durch dieses riesige Festival-Gelände in Richtung Bühne: 10m (oder waren es 100) hoch, gigantische Ausmaße, Orange-Türme bis in den Himmel. Wir haben schon einige große Festivals hinter uns - aber so etwas haben wir wirklich noch nie gesehen - Woodstock in old old Gernany. Gerade läuft der Soundcheck mit Ginger Baker´s Air-Force und einigen obergeilen Tänzerinnen – Hey Mann, ist das irre. Und wir mittendrin... Wir rauchen uns erst mal eine oder zwei und melden uns dann in der "Baracke" (Festivalleitungs-Fertighaus mitten auf die grüne Wiese geklotzt) und wissen sofort, wir sind im Irrenhaus gelandet und gleich kommen die Bewährungshelfer um die 53 Ecke und legen uns allen hier Zwangsjacken an: eine Hektik ohne Anfang und Ende, Telefone klingeln, Leute schreien durcheinander, wo ist denn der schon wieder, wieso sind die nicht da, wer seid ihr... Die Hell-Angels wollen die Hütte plattmachen, weil sie noch keine Knete gesehen haben, Techniker rennen rein raus raus rein, nach 3 Stunden hauen wir unverrichteter Dinge wieder ab und suchen uns ein schönes Plätzchen hinter der Bühne, wo wir unser Ein-Mann-Zelt aufschlagen und einrichten (Hotel ist nicht drin) und machen uns mit der Umgebung vertraut. Wir besteigen die Bühne und sind von dem Ausblick erschlagen: überall Zelte und Plastikfolien, soweit das Auge reicht. Am Horizont Liliputaner oder noch kleinere Menschleinchen, die heftigst mit ihren kurzen Armen winken und rudern. Die Bühne selbst – ein Riesenteller. Wenn vorne eine Gruppe spielt, wird auf dem hinteren Teil (getrennt durch eine Wand) das Equipment der vorherigen Gruppe abgebaut und das der nächsten aufgebaut – per Aufzug werden die Sachen rauf- und runtergefahren. Wenn die vorne fertig sind und die hinten auch, kommen die 54 Hells, stecken ein paar Holzpfähle in vorgebohrte Aussparrungen und drehen die ganze Scheibe samt Gerätschaften und Musikern um 180° - und weiter geht´s mit Musik - genial. Irgendwann taucht dann tatsächlich auch mal der Veranstalter auf und erklärt, dass es für uns keine feste Auftrittszeit gibt – das wird kurzfristig entschieden. Ist uns aber auch egal, wir quatschen mit vielen tollen Leuten, machen Musik und all das, was dazugehört. Das Fest läuft, und mit ihm der große Regen. Es schüttet ununterbrochen, die Leute stehen, sitzen und liegen im Schlamm - eingehüllt in Regenjacken, Folien und Planen und hören sich die Cracks an, die aufpassen müssen, dass sie über ihre nassen Instrumente und Mikros keinen gewischt kriegen – es passiert trotzdem. Die schöne weiße Schleiflackanlage von Sly & the Family Stone wird klitschnass und dreckig, die Roadies fluchen, die Atmosphäre ist trotz (oder wegen?) des Regens elektrisch geladen – die Hells fackeln das schöne Fertighaus ab, weil Sie mit dem Veranstalter Stress haben – es ist nicht alles vom Allerfeinsten, was so am Rande passiert. Hendrix soll am Samstagabend spielen, aber der Regen machte es ihm unmöglich auf die Bühne zu steigen wegen der Gefahr, elektrifiziert zu werden. Alle wollten den Hendrix hören - dafür sind viele schließlich hierhin gekommen... am Sonntagmorgen(?) soll er nun endgültig spielen - die ganze Nacht ist dies das Gesprächsthema Nummer eins. Dann kommt der Sonntagmorgen, und mit ihm die Sonne. Die vielen Leutchen schälen sich aus ihren Südwestern, das Plastik wird eingerollt, man trocknet langsam und will Musik hören – aber keiner macht welche. Der Veranstalter weckt uns - und ab geht´s. Als wir die Bühne hinaufkommen und als deutschsingendes Duett angekündigt werden, war das eigentlich nur 55 interessant, weil die Leute dabei die Möglichkeit hatten, einen schönen Platz fürs Hendrix anhören zu finden ... Und was für ‘ne Überraschung wir dann waren. Jimmy Hendrix liegt im Hotel und ist nicht ansprechbar – aber wir sind da – und damit auch dran. 56 Der Festivalsonntag Am Strand unmittelbar neben dem Festivalgelände 57 Jimi Hendrix spielt sein letztes Konzert – auf Fehmarn 58 Wir betreten mit unseren kleinen akustischen Instrumenten die Riesenbühne – und ernten den ersten donnernden Applaus. Als die Mikrophone eingenordet sind und mein erster Ukulelenton über die Menge hinwegrollt, ernten wir Ovationen. Und als Bernhard bemerkt: "verausgabt euch nicht: gleich kommt noch Jimmy Hendrix, der soll auch ganz gut sein", da haben wir gewonnen. Unsere Musik – akustisch, ruhig und lyrisch – wallt über das Festival-Gelände und wird eins mit dem sonnigen Morgen. Es ist eine paradiesische Stimmung, ein unwiederbringliches Erlebnis für uns, wir vergessen unsere Angst und gehen auf in der Musik. Lustig heiter - wir bringen Licht in die Seelen der Festival Audienz... Und die wollten MEHR, und dann NOCH MEHR, .. und als wir zum Abschluss unsere Flipper-Hymne spielen, dürfen wir erst recht nicht von der Bühne – Zugaben folgen. Wir - mit Hilfe des Publikums trotzen den Versuche der Veranstalter, den Zeitplan einzuhalten und Hendrix endlich starten zu lassen: wir waren so abgefahren und das Publikum mit uns, dass sie den Hendrix 59 warten ließen um uns zu hören... MEHR, MORE und wir antworten mit einem Satz als Reaktion auf die weiteren nichtendenwollenden Ovationen “... wir sind eine ganz ganz junge neue Gruppe und wir haben nur ein sehr beschränktes Repertoire, und deswegen fangen wir nun wieder von vorne an ".... und wir spielen weiter und Hendrix muss warten… Wir haben es geschafft. Wie im Traum kommen wir herunter – Schulterklopfen, Händeschütteln, Interviews geben, Veranstalteradressen entgegennehmen. Wir wollen uns noch Alexis Corner anhören, aber alles spricht uns an: irre, Wahnsinn, unglaublich – für uns auch. Auf Jimmy warten wir nicht mehr: wir packen ein und hauen ab – es ist einfach zu mächtig. Die Zeitungen nennen uns hinterher "die Könige von Fehmarn" – Abräumer des Festivals. Zu hoch gegriffen? Für uns war es DER GIG schlechthin, trotz vieler anderer wunderschöner Momente in unserem Musikerleben. 60 TeHoMa Eines Tages kam ein klarer Geist über mich (aus Vision I - Bauer Plath) s ist ein Tag Anno 1968. Plötzlich und unverhofft kommt mit Donnerklang ein verdammt klarer Geist über uns (kein Alkohol!). Wir hocken gerade in Bernhard Witthuesers Kammer, in der 3. Etage der Viehofer 25 (er hat sich mittlerweile verbessert und ein Zimmer ohne Schräge) – ziemlich versteckt direkt hinter dem Orgelstudio von Musik Gräf. Während im Studio selbst mal wieder georgelt wird – also Orgelunterricht gegeben wird - wollen wir bei einem Tässchen Tee die Lp´s durchhören, die wir uns mal wieder im Musikgeschäft unten im Haus ausgeliehen haben, immer wieder auf der Suche nach interessanten und verwertbaren Neuerscheinungen. Das fällt aber kurzfristig aufgrund des fürchterlichen Georgels im Vorraum flach. Also sitzen wir stumm vor dem Totenkopf, der in seinem Käfig auf dem Schreibtisch steht, haben unsere dampfenden Tassen mit heißem Wasser vor uns stehen und tauchen unsere Teebeutel auf und ab Und jetzt – plötzlich und ehrlich völlig unerwartet weil ohne Ankündigung, ohne Anmeldung und selbst vom Totenkopf nicht erkannt - kommt besagter Geist mit Donnerschall und öffnet uns Geist und Augen – als würden 61 wir uns in einem Spiegel seh´n. Und als wir uns da so sitzen sehen – quasi von außen – da fällt es uns wie Schuppen aus den Haaren. Uns wird überdeutlich klar, dass diese Art der Teezubereitung unzeitgemäß, ja geradezu menschenunwürdig ist im Zeitalter der tschechischen Revolution, der Raumfahrt und der elektronischen (nicht zu überhörenden) Orgeln. Louis Amstrong spielt auf dem Mond Trompete, und wir sitzen hier und heben und senken unsere Teebeutel in heißes Wasser.... Die Erfindung Wir schauen uns an und unausgesprochen steht mit brennenden Lettern in die flirrende Luft: gemeißelt: es gibt noch kein technisches Hilfsmittel – erfindet es! Eine Maschine muss her, das ist uns sofort klar, und zwar eine Teebeutel - Hochheb - Maschine. Also ab an´s Zeichenbrett (?). Innerhalb von nur 1 (i. Worten: einer ) Nacht entwerfen wir eine Maschine, die Michelangelo nicht besser hätte zeichnen können und die uns dieses lästige entwürdigende Getue auf elegante Weise 62 abnimmt und dem Teetrinker nun die Zeit gibt, menschenwürdig zu leben und Sinnvolles zu tun. Mit unseren Konstruktionsplan rasen wir gleich morgens in die nächste Schreinerei und lassen uns gemäß den Vorgaben die diversen Einzelteile fertigen, rasen zurück und bauen an der Werkbank (Bernhards Schreibtisch) mittels Kompaktkleber und unter der Zuhilfenahme von Präzisionswerkzeugen wie Laubsäge und Nagelfeile dieses geniale Objekt zusammen. Zitternd vor Vorfreude sitzen wir (es ist auch zufällig gerade Nachmittag geworden und damit sowieso „Teatime“) vor dem fertigen Objekt und sehen fasziniert zu, wie präzise unsere Maschine arbeitet und den Teebeutel mittels einer Kurbel und revolutionärer Teebeutelhaltevorrichtung nun (zugegeben noch handgetrieben) nahezu vollautomatisch im heißen Wasser versenkt und bei der nächsten halben Umdrehung tropfend wieder herauszieht: einfach gigantisch. Da wir trotz Zeit- und Geldmangels zwei Prototypen gebaut haben, können wir unisono zu Werke gehen und Tee trinken. Wir vergessen Zeit und Raum – nach 20 Minuten kurbeln ist der Tee ungenießbar und kalt – aber das ist nun kein Problem mehr: wir haben ja jetzt die Maschine entwickelt, mit der dieses monotone Auf und Ab der Hand in eine menschenwürdige Drehbewegung umgekehrt wird und uns wieder zu Herren der Schöpfung macht. Flugs formulieren wir eine Gebrauchsanweisung, die für einen Normalsterblichen die Bedienung dieser Wundermaschine zum Kinderspiel macht. 63 Gebrauchsanweisung Herzlichen Glückwunsch zum Erwerb einer Teebeutelhochebmaschine (TEHOMA). Diese Maschine wird weder auf Kaffeefahrten noch auf Messen vertrieben, sondern ist – da nur in geringer Stückzahl vom Hersteller handgefertigt – auch nur bei diesem direkt zu beziehen. Sie ist ein Nebenprodukt der Weltraumforschung und wurde ausschließlich aus recyclingfähigen Materialien gefertigt. Die Maschine durchlief nach Fertigstellung alle Qualitätskontrollen. Sie wurde nach DIN-ISO 4711 gefertigt und erfüllt die Normen der EU-Richtlinie 007. Die TEHOMA revolutioniert die Zubereitung von Tee mittels Teebeuteln auf genial einfache Weise: sie reduziert die bisher aufwendige und kräftezehrende vertikale Bewegung des gesamten Armes auf eine angenehm kleine Kreisbewegung der Hand. Vor Einsatz der TEHOMA erhitzen Sie bitte Wasser in einer Tasse (E) und stellen diese dann genau unter den Galgen (C) in Höhe des Hakens des Hebeseils (D). Den Teebeutel hängen Sie (Beutel nach unten) mit dem Papierfähnchen an diesen Haken. Durch leichtes Drehen (ca. ½ Umdrehung) der Kurbel (A) wird der Teebeutel (B) nun über das elegant über den Galgen (C) geführte Hebeseil (D) in die Tasse (E) abgesenkt. Eine weitere ½ Umdrehung zieht den Teebeutel (B) wieder aus der Tasse (E). Säubern Sie nach Gebrauch vor allem das Holzbrett (Grundplatte) der Maschine ausschließlich mit milden Reinigungsmitteln. Ansonsten ist die TEHOMA wartungsfrei. Defekte Hebeseile bekommen Sie im einschlägigen Fachhandel oder beim Hersteller direkt (Best.-Nr. HebS001/01). Bei sachgemäßer Handhabung werden Sie viel 64 Freude an dieser Maschine haben, die es ihnen mit einer verdammt langen Laufzeit danken wird. Wir überlegen, ob wir eine Firma gründen sollen, werden uns aber nicht einig, welche Gesellschaftsform wir wählen sollen: direkt an die Börse als TEHOMA AG oder erst mal in Form einer Teebeutelhochebmaschenen-GbR anfangen. Auch Copyright-Rechte und Patent-Fragen beschäftigen uns nun. Sollen wir den Vertrieb über den einschlägigen Teefachhandel laufen lassen oder direkt über eine Teebeutel-Herstellfirma? Es gibt viele Probleme, die wir nun haben. Zunächst – quasi in der Test- und Belastungsphase - gehen wir sehr vorsichtig mit der Maschine an die Öffentlichkeit (sprich: sobald wir Besuch haben, kochen wir Tee, egal was die eigentlich trinken wollen). Und so ergibt sich zwangsläufig aufgrund der Genialität und der technischen Reife unsere Erfindung, dass unsere Maschine eine solche Furore im Bekannten- und Freundeskreis macht, dass wir mit der Produktion kaum noch nachkommen und alle vorgenannten Problem in den Hintergrund treten und in Vergessenheit geraten – wir sind selbständige Unternehmer in einem boomenden Markt – und dazu mit einer Monopolstellung! Der Film Nach der Einführungsphase (alle Bekannten haben mittlerweile so eine Maschine) beschäftigt uns ( auch im Hinblick auf eine gesicherte Altersversorgung) der innovative Gedanke, diese bahnbrechende Erfindung all den Menschen zugänglich zu machen, die uns (bisher zumindest) noch nicht kennen, die nie bei uns zu Besuch waren und auch nie sein werden und somit 65 auch nicht unsere TEHOMA (Kurzform für Teebeutelhochhebmaschine) erleben und erfahren durften/dürfen. Wir verzichteten kurzerhand auf eine Marktstudie (wie viele Teetrinker gibt es in Essen /Ruhrgebiet/ Deutschland/ Europa/ weltweit/ Kosmos!). Wir beschließen, uns nicht an die einschlägige Industrie wenden (die bescheißen einen ja nur) – wir werden selber kreativ aktiv und nehmen das Drehbuch für einen Film in Angriff, der in einzelnen Sequenzen die einfache, aber effektive und flexibel einsetzbare sowie erleichternd beruhigende Anwendung der TEHOMA in Situationen des täglichen Lebens zeigen soll. Einen Kamera-Mann haben wir schnell gefunden. Horst "Hulot" Horriar, Jungfilmer, Filmvorführer und Partner von J:P: Hüster im JZ Essen), der erst mit langen Diskussionen von der Ernsthaftigkeit und dem existenziellen Sinn eines solchen epochalen Projektes überzeugt werden musste, willigt schließlich ein, ohne Gage dieses Projekt mit in Angriff zu nehmen. Er steht fortan mit Rat und Tat und einer für damalige Verhältnisse recht professionellen Kameraausrüstung zu Verfügung. Der Film wird genauso gedreht, wie hier beschrieben, und alles andere passiert auch – er ist der helle Wahnsinn: selten haben wir so viel Spaß zusammen und so viel Stress miteinander gehabt.. Zunächst wird die Erfindung als solche nachgestellt. Sie findet am Originalschauplatz in Bernhards Zimmer hinter Gräfs Orgelstudio in der Viehofer Str. 25 statt und zeigt zunächst W&W bei einer herkömmlichen entwürdigenden Teebereitungszeremonie. Der Gedanke ward geboren, etwas Neues zu entwickeln. Pläne werden gezeichnet, und 2 Maschinen werden gebaut. Die eigentliche Geburt erfolgt aus Gründen der Dramaturgie in einer Höhle unterhalb der Ruine der Isenburg, die oberhalb des Baldeneysees in Essen liegt. In Zeitlupe kommen wir (Bernhard in schwarzen Sack gehüllt mit der Maschine in der Hand, ich im weißen Nachthemd) aus der 66 Höhle und springen gemeinsam lachend und uns erfreuend an unsere Erfindung durch Wald und über Wiesen – die totale Zweisamkeit. Doch dann – das Böse im Menschen wird hier sehr deutlich herausgekehrt - will Bernhard mich bescheißen und unsere gemeinsame Erfindung nur für sich allein(!) nutzen und haut mit dem Ding ab (der Film wird schneller - Zeitraffer). Er rast zum Bahnhof Stadtwald, sprintet vorne in der Zug nach Essen (ich hinten), springt Hbf Essen raus (ich immer hinterher) und die Hatz geht über die Kettwiger Straße (es ist Sonntagnachmittag bei gutem Wetter und halb Essen kommt grade vom Vormittagsspaziergang am Baldeneysee zurück und macht einen Bummel über diese zentrale Einkaufsstraße der Innenstadt), quer durch die Biergärten und durch das Café Overbeck (diese Szene musste wg. Kameraklemmer 2x wiederholt werden trotz massiver handgreiflicher Proteste des Personals) bis vor den Altar des Essener Münsters, wo wir uns dann im Angesicht des Herrn wieder vertragen (der kirchliche 67 und gesellschaftspolitische Auftrag einer professionellen Verfilmung wird hiermit auch erfüllt) und uns auf eine halbe/halbe-Verteilung der zu erwartenden Millionen Tantiemen bei den Verwertungsrechten einigen. Wir besiegeln dies alles mit einem gemeinsamen Tee-Dreh unter der badenden Jungfrau am Wasserbecken des Kennedy-Platzes: gemeinsam sind wir stark... 68 1. Sequenz – Der Pokertisch Tief hängende Kegellampe, 4 Personen (Rocker, dicker Mann im Unterhemd, alter Mann mit Krücken, Zocker in Nadelstreifen), jeder mit einem Haufen Scheine vor sich (Tageseinnahmen aus dem Podium/unsere Szenekneipe). Langfinger Nadelstreifen-Helmut - heute Wirt des Landsknecht in Essen - gibt die Karten aus. Alle fangen an zu pfuschen (Karten im Ärmel, im Strumpf, in der Hosentasche). Alle erhöhen bis Ultimo, schieben ihre Knete in die Mitte und dann sagt Langfinger: Ich will sehen. Einer nach dem anderen lässt die Hosen runter: Full House, Flash, Royal Flash. Langfinger schaut einmal in die Runde - und lässt dann lässig sein Blatt auf den Tisch gleiten: 5 Kreuz Asse. Schwenk und Spot auf die neben seinem Kreuz-Ass-Stempelkissen im gleißenden Licht stehende TEHOMA. Er dreht mit seinen schma- 69 len Fingern die Kurbel, der Teebeutel hebt und senkt sich und Langfinger spricht langsam und mit tiefer sonorer Stimme die für die Mitspieler unheilbestätigenden Worte: „Tut mir leid für Euch, Jungs, aber mit dieser Maschine verliere ich nie!“. 2. Sequenz – für den Mehrpersonen-Einsatz der TEHOMA 6 gestandene Mannsbilder tanzen (teilweise sehr dürftig bekleidet - sprich: sie waren ganz einfach nackt)) mit Musikinstrumenten (Posaune, Geige, Psalter, Gitarre etc.) zwischen 2 Rammler-Hasen-Karnickel um eine 6 PersonenTEHOMA herum, an der vom Oberteebeutelhochhebmaschinenmeister mittels der an dem über den Galgen geführten Teebeutelaufhänghaken angebrachten Querstange 6 Teebeutel synchron in entsprechend viele Tassen getaucht werden, was insofern eine zu große Herausforderung für den Teekocher war, da der Galgen meist quer hing, wahrscheinlich aufgrund der Schwerkraft und unterschiedlicher Konsistenten von Wasser und Teebeutelinhalt (?).Schlusssatz des Teekochers: „Man ahnt: diese Maschine ist auch kommunenfähig“. 70 3. Sequenz – Wilder Westen Reiter in schwarz erscheint auf einem Gaul (ist noch eine positive Beschreibung dieses Kleppers) in einem Hohlweg. Er reitet auf die Kuppe eines Hügels, schaut sich um, sieht eine Weide, hobbelt(?) dort sein Pferd an, macht ein Lagerfeuer, hängt an einem Holzgerüst einen Kessel auf und macht Wasser heiß. Dann packt er aus seiner Satteltasche eine zerlegbare Camping-Version der TEHOMA aus. (Derweil geht der Gaul stiften). Das Eingießen des Wassers aus dem Riesenkessel in eine kleine Camping-Tasse wird zur Katastrophe: hätte man ja auch mit der Tasse schöpfen können. Dann ist auch das Kesselstativ weggebrannt, der Tee wird kalt und für das Einfangen des Gaules brauchten wir 3 71 Stunden (der Bauer besteht unmissverständlich auf Rückgabe). Der essentiellen Satz fällt der Jagd zum Opfer und sollte heißen: „Ob im Zug, im Flugzeug, in Bus, Bahn und Auto oder per Esel und Pferd: mit dieser Maschine habe ich immer ihren frischen Tee!“ Folgende Sequenzen werden angedacht, aber leider nie abgedreht, da andere Projekte Vorrang erhalten hatten: Pfarrer beim Abendmahl, nachdem er das Brot verteilt und auf dem Altar den Tee „gedreht“ hat: Nehmet hin und trinket, dies ist ein Getränk, dass auch der Herr euch so bereitet hätte, hätte er denn damals schon diese wundersame Maschine zu Verfügung gehabt“. (Das ist ewige Ungnade einer zu frühen Geburt) Mann (Walter) mit seiner Frau (Bernhard) beim Sex in einer kurzen Pause: „Mit dieser Maschine versage ich nie!“. Freak beim Teekochen: „Mit dem auf dieser Maschine gedrehten Tee schmeckt mir mein Ha.-Kuchen doppelt gut, und die Dreh-Bewegung beim Teekochen erinnert mich immer wieder an die Drehbewegungen beim Joint-Drehen.“ Lehrer im Physik-Unterricht: „Hier zeige ich Euch ein geradezu sensationelles Beispiel dafür, wie angewandte Physikkenntnisse an der Schnittstelle Mensch/Technik das Leben von Menschen nachhaltig erleichtern und dazu beitragen, die abendländische Kultur positiv zu beeinflussen im speziellen Hinblick auf die Umwelt, die eigene Psyche und das Wohlbefinden von Generationen!“ 72 Trips & Träume Wir trinken dann im wilden Wahn den Lebertran aus Zellophan und suchen - ganz spontan mit jaulendem Sopran beim Vatikan Uran (aus Trippo Nova - CD Trips und Träume) Januar 71 fangen wir mit den Proben zum 2. Programm „Trips & Träume“ an. Als 3. Mann holen wir Bernd „Curny“ Roland (Ex-No-Bassist, Weg- und Kampfgefährte aus jungen Tagen) als Bassisten mit ins Boot und damit kommt erstmals Elektronik in die Gruppe. Damit wir neben ihm bestehen können, setzen auch wir - neben unseren nach wie vor genutzten AkustikInstrumenten - Verstärker und Elektro-Gitarren ein. Die Musik wird dadurch sphärisch-schwebend (passend zum Zustand), die Texte abgehoben und doppelsinnig, eben auch passend zum Titel und Programm oder auch umgekehrt. Wir üben nach wie vor im JZ Essen, aber der erste Auftritt erfolgt im März 71 aus Platzgründen in der ausverkauften Aula des Burggymnasiums in Essen vor einem begeisterten Publikum – wir sind avanciert zu echten Lokalgrößen. Aufgenommen wird dieses Konzert von einem WDR-Fernsehteam für ein BandPortrait. Danach werden Schwachstellen ausgemerzt – und dann geht´s wieder auf Tour. Diesmal ist der Süden Deutschlands unser Ziel (bisher eher W&W-Diaspora) und nach erfolgreichen Konzerten gehen am Ende des Monat nach Stommel ins Studio Dierks, wo die Aufnahmen für die 2.Lp in Angriff genommen werden. Hier ist nun professionelles Arbeiten angesagt als bei den Aufnahmen zur ersten LP in Hamburg: wir spielen Instrument für Instrument einzeln ein – eine für neue und zunächst hemmende Art der Arbeit. Doch nach einer Eingewöhnungsphase werden wir locker, die Atmosphäre im Studio stimmt, und die Arbeit macht allen Beteiligten mehr und mehr Spaß. 73 Renee Zucker, Essener Urgestein, die zu Besuch ins Studio kommt, wird gleich bei 2 Stücken mit eingesetzt (sie erzählte die Geschichte von Karlchen und seinem Erlebnis mit den wilden Riesenhunden und war mit ihrer irrsinnigen Klaviertechnik maßgeblich an der Entstehung des englischen Walzers beteiligt), auch Dieter Dierks und Gille Lettmann werden aktiv eingesetzt. Wir können ganz in Ruhe – total ohne Termin-Stress und Zeitdruck oder irgendwelche Blicke auf immer höher werdende Studiokosten– Dinge ausprobieren (die Doppelflöten bei Orienta, den kaputten Walzer, den Posaunenchor etc.) Gemeinsam wird abgehört, verworfen, diskutiert, gelacht, geraucht: es ist eine total relaxte Stimmung, was man der Produktion auch anmerkt – das gesamte feeling ist stimmig. Fans und Zeitungsleute besuchen uns und erleben Gleiches (Aachener Nachrichten – siehe Anhang) . Endlich haben die Kiffer in Deutschland auch mal „eigene“ Songs in der Landessprache, die sie sich reinziehen können. 74 Unser Song „Nimm eine Joint, mein Freund“, der wie viele andere Songs dieser Platte auf sämtlichen Indexen steht, wird bei den Freaks dankbar aufgenommen und heimliche Hymne der Subkultur. Nicht auf dem Index steht das Eingangslied dieser Produktion "Lass uns auf die Reise geh´n" mit diesem schönen Text von Thomas Rother. Dabei erreicht dieses Lied im Zusammenhang mit den weiteren Songs der LP eine völlig andere Dimension, als der Autor wohl ursprünglich gemeint hat und die von den Indexierern gar nicht wahrgenommen werden kann. Uns ist das alles recht, denn allein 1 Index-Vermerk spricht sich in Fachkreisen rasend schnell rum - und kurbelt so der Verkauf der LP an: das Ding läuft super gut. Welchen Erfolg wir als „Nicht-Schnulzen-Fuzzis“ haben, bezeugt dann eine von der Fachzeitschrift „Schallplatte“ durchgeführte Befragung bei 70 Fachjournalisten zum Deutschen Musikpoll 1971 für deutschsprachige Gesang-Duos: wir landen auf dem 3. Platz (8,6%) nur ganz knapp hinter Adam 75 & Eve. Den gleichen Platz wie wir nehmen dabei Ike & Tina Turner bei den internationalen Duos ein, und wir liegen sogar einen Platz vor Paul & Linda McCartney (3,2%) ! Eine Zeichnung von Walter aus der Zeit, als • die Haare noch dunkel • die Augen noch glänzend • die selbst gedrehte "schwarze Krause" noch schmeckte • die Mädchen noch Backfische hießen und so jung • die Brötchen noch 6 Pfg. kosteten die Welt noch in Ordnung war. 76 Unsere Titel tauchen in den Hitparaden auf: zunächst in den St. Pauli- Nachrichten (!), wo neben Sex-Reporten auch ein MusikJournalist sein Unwesen trieb, der uns in sein Herz geschlossen hat: er puschte uns wie keinen Anderen: „Schöne anspruchsvolle Musik“.... „Nimm einen Joint und Lass uns auf die Reise geh´n sind echte Hits, und Ohr sollte deutlich mehr für W & W tun!“. Wir nehmen hier im Laufe der nächsten 2 Jahre fortwährende Spitzenpositionen ein und belegten mit "Nimm einen Joint" über 20 Wochen Platz 1 ein. „Lass uns auf die Reise geh´n“ kommt in der SWF 3-Hitparade, wo wir mit 77 Frank Laufenberg einen weiteren Fan sitzen haben, auf einen Vorderplatz. Mit Frank, der auch später noch uns und unsere Musik mit dem Jesuspilz fördert, und mit Manfred Sexauer, der uns in seine Nachtsendungen einlädt, haben wir zwei Verbündete im Süden sitzen, die uns auf unserem weiteren Weg wohlwollend begleiten werden. Neben diesen Zeiterscheinungen geht der Job natürlich weiter: der Konzerttermine werden immer mehr. Und dazu dann immer häufiger Presse-Termine mit dem Stern, mit Zeitungen und Fachzeitschriften, Platten-Promotion-Radio-Touren durch die deutschen Sender, Besprechungstermine mit Produzent und Plattenfirma... Erfolg hat eben seinen Preis – unsere freie Zeit wird knapper 78 Unterwegs Lass uns auf die Reise gehn‘! (aus der LP "TRIPS & TRÄUME") 1971 - Es ist Trips & Träume-Zeit und wir sind fast nur noch auf Achse quer durch Deutschland bis hin ins entfernteste Ausland (Österreich, Luxemburg, Holland), denn unsere Titel tauchen jetzt – über Geschmack lässt sich eben nicht streiten - in diversen Hitparaden auf (z.B. Radio Veronika, Radio Luxemburg – um hier nur einige zu nennen). Wir sind mehr unterwegs im Auto als in unseren Betten. Aber übermüdet am Steuer ist verdammt gefährlich, und so halten wir uns mittels Captagon und AN1 wach, wenn wir mit unserem Mercedes Benz 190 D auf Tour sind: Boxen auf dem Dach, flatternde Plane im Fahrtwind, Instrumente im Kofferraum und dicke Zing (Trommel) hinter dem Fahrersitz und Karlchen unterm Fahrersitz. So kann zumindest der Beifahrer seinen Sitz nach hinten klappen und zwischendurch versuchen, mal eine Mütze erfrischenden Schlafes mitzukriegen. Wir sind immer knapp mit und in der Zeit, weil zum Einen unser Management (also wir selbst) nicht in der Lage sind, die Auftritte nach Gebieten zu koordinieren (es kommt vor, dass wir Berlin-Göttingen und zurück 3x in einer Woche zu bewältigen haben) und zum Anderen wg. der starrköpfigen Veranstalter, die Termine einfach nicht nach unseren Vorgaben legen wollen, und dazu dann noch die unkalkulierbaren und nicht vorherzusehenden Natur-Ereignisse wie Staus, Pannen, Spritmangel (zum Glück gibt es immer wieder irgendwo abgestellt Laster, die man an- bzw. abzapfen kann). Teilweise liegen Veranstaltungsorte aber auch so versteckt (Stadthallen nicht in der Stadtmitte, Kellerlokale in Erdgeschossen, Radiostationen in Grünanlagen) oder an Straßen, die es in unseren Karten gar nicht gibt, so dass wir es manchmal erst 79 zum Schlussakkord schaffen, auf der Bühne zu stehen. Aber es macht unheimlich Spaß – und wir halten uns über Wasser. Für Grenzübertritte kalkulieren wir jetzt erfahrungsgemäß jeweils ½ Tag ein. Da findet eine immer wiederkehrende Zeremonie statt, auf die Zöllner in jahrelangen Lehrgängen sorgfältig vorbereitet worden sein müssen: ausgewählte Spezialbeamte – teilweise mit Hunderudeln - übertreffen sich gegenseitig bei der Suche nach Drogen und/oder Waffen: Türfüllungen wurden ausgebaut, Lüftungsschläuche abmontiert, Sitze rausgenommen, Reserverad und Radabdeckungen systematisch untersucht, Rahmen abgeklopft 80 und Luftfilter demontiert, Instrumenten-Koffer durchsucht, Kleidung gefilzt etc.: als wenn wir an solchen jedermann zugänglichen Plätzen und direkt ins Auge fallenden Stellen unseren Shit und die Kalaschnikows verstecken würden? Die halten uns echt für noch bescheuerter, als wir aussehen. Fahrten nach oder von Berlin nehmen da – man sollte es nicht glauben - noch eine um Stufen höhere Sonderstellung ein. Man stelle sich vor: zwei verwilderte „Gammler“ in einem echten Mercedes – ein gefundenes Fressen für jeden VOPO: wir werden bei jeder Durchfahrt schikaniert. Bernhard muss sich laufend Ersatzpapiere (inkl. Passbild) ausstellen lassen, weil auf seinem Reisepass sein rechtes (oder war´s das hintere) Ohr nicht ganz zu sehen oder die Haare länger als auf dem Foto (die wachsen nun mal) oder der Hals ungewaschen und die rechte Augenbraue falsch gekämmt ist. Ich komme ob meines äußerst gepflegten Äußeren meist besser weg (kürzere Haare machen nun mal einen guten Eindruck), aber an einem besonders guten Tag eines Grenzbeamten war mein Bart plötzlich zu dick oder zu kurz oder meine Brille nicht richtig geputzt oder gar eine andere als auf dem Foto. Generell müssen wir unseren Wagen leer räumen, die Instrumente zeigen, unsere Aktentaschen leeren (und wehe, es war was englisch-sprachiges dabei oder eine Undergroundzeitung mit Sekt & Drops & Helmut Kohl [nein, den gab´s damals ja noch gar nicht – wir hatten ja unseren FJS]), dann dürfen wir uns freimachen und bis auf die Unterhosen ausziehen, die Arschfalte zeigen und den Hoden hochheben und die Vorhaut zurückziehen). Bei einer Durchreise reißt uns der Auspuff ab und schleift funkensprühend über den Boden: wir donnern wir eine Sternschnuppe durch die DDR-Nacht, die noch finsterer ist als als eine stockdustere BRD-Nacht. Es dauerte auch gar nicht so lange, dann haben uns die VOPOs ausgemacht: Unbekanntes Flugobjekt landet auf der Transitstrecke!. Weil Landen dort 81 verboten ist, zahlen wir zunächst mal 400 DMchen West ohne Quittung bar auf die Kralle wg. unbefugter Benutzung der Rollbahn. Um weiter fahren zu dürfen, binden wir mittels Abschleppseil und mehrerer Spezialverknotungen (6-facher Windsor mit anschl. Palsteek) den Auspuff soweit hoch, dass er nicht mehr schleift - und dürfen weiter fahren. Jetzt liegt unser Wagen wegen der Anlage und der Instrumente hinten sowieso ziemlich tief, und die Bodenwellen auf der Transitstrecke sind auch nicht ohne. Die beiden Vopos wissen das natürlich und begleiteten uns bis zur Grenze und hätten (wie angedroht) im Wiederholungsfall eines Funkenschlages a) wieder kassiert b) den Wagen stillgelegt und c) uns eingelocht wg. wiederholter Gefährdung der rechtschaffenden Bürger und Bauern des sozialistischen Arbeiterstaates. Wir sind klatschnass geschwitzt und stinken wie junge Skunks beim ersten Abgang, als wir diese Fahrt hinter uns haben! Aber es hat uns stärker gemacht. 82 Bei den Ausreisen dürfen wir mit wenigen Ausnahmen an der Grenze gleich die Garage anfahren: nicht zum Parken (hier gibt es kein Motel!). Hier wird nach allen Regeln der Kunst und mit großem Personalaufwand in aller Ruhe nach RepublikFlüchtlingen gesucht. Dafür muss jedes Mal das Auto zerlegt (Räder ab, Sitze raus, Türfüllungen ab, Kofferraum leer) sowie Boxen auseinander genommen, die dicke Zing von den Fellen befreit, die Instrumentenkoffer entleert werden. In dieser Beziehung konnten diese tumben Grenzer echt kreativ werden: Ihnen fiel immer wieder was Neues ein. Wobei wir uns wirklich viele Gedanken darüber machten, wie groß eigentlich Republikflüchtlinge im Allgemeinen und vielleicht SpezialFlüchtlinge sein müssen, um in einem Gitarrenkorpus Platz zu finden? Liliputaner-Artisten, kleingewachsene Schlangenmenschen, Kinder ohne Wirbelsäulen, die sich durch die Gitarrenseiten und das Schallloch quetschen können und es sich in diesem Holzhaus dann gemütlich machen. Wenn dann kein Flüchtling, kein Shit oder andere subversiven Materialien gefunden wurden (und wir waren da verdammt vorsichtig – es werden glücklicherweise nur Lappalien „entdeckt“) dürfen wir alles wieder zusammenbauen. So lernen wir Instrumente und Equipment durch und durch kennen, und unsere Fähigkeiten beim Zusammenbau des Autos hätte für eine Festeinstellung als Vorarbeiter in der Montagehalle von Mercedes Benz allemal gereicht – zumal durch das dauernde auseinander- und wiederzusammenschrauben die Gewinde immer gängig blieben. Seien wir fair – auch in der BRD sind wir gefragte Objekte. Im Rahmen von Terroristen-Fahndungen passen wir in jedes Raster. Wenn wir in eine Straßensperre fahren (meist an Autobahn-Ausfahrten oder im GrenzenBereich), dann ist aber alle Achtung angesagt. Wenn ein Trupp von vermummten schwarzgekleideten Elitekämpfern mit angelegten MP´s und MG´s das Auto umstellen, dann sind extrem langsame Bewegungsabläufe angesagt. Ein falscher Griff zum Handschuhfach, eine hastige Hand-Bewegung in Richtung Hosentasche – nicht auszudenken. Die sind nervös, 83 und wir klatschnass geschwitzt. Ein falsches Wort, ein blöder Blick, eine missverständliche Beule in der Hose (und Bernhard hatte ein schönes Rohr) und die hätten uns plattgemacht – so wirken die zumindest auf uns und so geben die sich auch jedes Mal – die können zudem auch noch ´ne große Klappe haben die sind ja immer in der Mehrheit. Selbst Bernhard mit seinem sonst sehr lockerem Mundwerk ist in diesen Situationen ein gar ruhiger, freundlicher, ja zuvorkommender und äußerst verträglicher Zeitgenosse. So dürfen wir uns breitbeinig an´s Auto stützen, werden gekitzelt und (ohne dass man uns Handschellen anlegt) nach Waffen durchsucht, nach unserer Dasein-Berechtigung, freundlichst nach dem Sinn und dem Zweck unserer Autofahrt gefragt, das Auto nach versteckter Munition, Waffen, Rauschgift und flüchtigen Terroristen durchsucht – dann dürfen wir tatsächlich weiterfahren und sind jedes Mal heilfroh, wenn unser Wagen beim ersten Startversuch anspringt und wir, hurtig - aber auch wieder nicht zu schnell – vom Ort der Geschehens wegkommen: Blicke wie Dolche im Rücken. Unseren an- und aufgestauten Frust von all diesen miesen und ätzenden Begebenheiten bauen wir bei den wenigen Demos ab, an denen wir das Vergnügen haben teilnehmen zu dürfen: fest im Gedächtnis die Anti-FJS-Demo vor dem Saalbau Essen, wo wir mit Pferdeäpfeln und Farbbeuteln um uns werfen und dann eine schöne Klopperei mit der Polizei haben – wobei wir mit unseren Pferdeäpfeln gegen die Gummiknüppel ziemlich chancenlos sind – von wegen Verhältnismäßigkeit der Mittel? Den Tritt in meinen Unterleib und die Macke an der Oberlippe habe ich sowieso schon wieder vergessen, auch das mich ein Mädchen vorm Einlochen gerettet hat (zum Glück trifft man immer wieder Zeitgenossen, die diese Lücken schliessen können) denn schön war es schon – vor Allem und auch wegen unseres Gemeinschaftsgefühl, das wir bei SpringerhäuserBlockaden oder bei Ho-Chi-Ming-Provokationen, die wir vom KZ Essen (Kommunikations-Zentrum) aus über Essens Hauptstraße unternahmen, um brave Bürger zu erschrecken, 84 weiter festigen und vertiefen und auffrischen können - auch weil das Wasser der Wasserwerfer so gut tat.. 85 Der Jesuspilz Am Anfang war nichts als Brösel und der Brösel schwebte über allem.. (aus der Schöpfungsgeschichte) Hier muss ich erst mal wieder weit, weit ausholen (das ist die von mir kreierte Winnetou-Methode: großen Bogen schlagen und von hinten ran schleichen, um dann in richtigen Moment...) und beginne diesmal bei A = Sergius Golowien, unserem Schweizer Guru. Bei langen intensiven gemeinsamen Nachtsitzungen mit ihm „bei Kerzenschein und Kräuterwein“ beginnt ein Gedankenaustausch, zunächst ausgehend von eigenen Erfahrungen mit hintergründigen, doppel- und/oder mehrdeutigen Geschichten, bei Paracelsus, Gelpke, indischen Märchen und wir landen schließlich bei den Horror-Geschichten der Gebrüder Grimm (das hatten vor uns ja auch schon die Adams aus der gleichnamigen Familiensaga festgestellt - die Kinder durften wegen dieser schrecklichen Geschichten von Hexen, wilden Tieren usw. die Schule nicht mehr besuchen). „Warum“ fragt uns Sergius „gibt es dort ein Rotkäppchen, wo doch jeder weiß, dass damit der Fliegenpilz gemeint ist?“ „Warum“ fragt er „zieht es Hänsel und Gretel zur „Hexe“?“ Wir pflückten die Märchen auseinander. „Warum“ fragte er „erscheinen zu Weihnachten die Engel in den Häusern?“. Weil der gemeinhin als Tannenbaum bezeichnete Nadelbaum, wenn er denn eine Eibe war, entsprechende Ausdünstungen hat, welche dem Einatmer die Engel erscheinen lässt. Und das muss auch nicht unbedingt Weihnachten sein, das kann sogar mitten im Sommer beim Rasenmähen passieren, wenn genug Eiben rumstehen. „Warum“ fragte er weiter „hatte Schiller immer einen Stechapfel in seiner Schreibtisch-Schublade gehabt?“ Einfach weil ihm mit diesem Hilfsmittel viel Gutes einfiel, wie man weiß. Ach ja: „Was für einen Apfel hatten Adam 86 und Eva damals im Paradies?“ „Was für Pfeifen werden angezündet, wenn ein Märchen erzählt wurde?“ „Was rauchen denn eigentlich die Indianer?“ Und so ging das immer weiter und weiter, und Sergius hatte immer noch einen drauf zu setzen. Wir redeten nächtelang, ohne irgendwelche Gedanken bei uns selbst, solche Dinge in unserer eigenen Musik zu verarbeiten. (Oder plante da jemand im Hintergrund etwas von langer Hand). Zufällig (?) fällt uns damals irgendwie auch ein Buch aus England in die Hände: Allegros Buch „Der Geheimkult des heiligen Pilzes“, der anhand von neuen Funden in Mesopotamien und eigenen intensiven Forschungsarbeiten zu dem Schluss kommt, dass die Geschichten der Bibel auch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden können als aus der uns von der Kirche vermittelten Sicht. All diese Geschichten und das angelesene Wissen sind unbewusst bei uns schon sehr stark verinnerlicht und warten nur auf den Kick, den Klick, den Funken, die zündende Idee, den Anstoß. Der trifft uns, als die aus Amerika herüberschwappende Welle der Jesus-People-Bewegung auch Deutschland erfasst: da ist 87 uns (mal wieder) plötzlich ganz klar, wie wir dieses unser Wissen einsetzen konnten, ja müssen: eine zeitgemäße, ballastfreie, erfrischende, freakverständliche, ehrliche und offene musikalische und textliche Neuschöpfung des größten Bestsellers der Welt zu schreiben. Wir besprechen das mit Guru Sergius und mit RUK und rennen (komischerweise) offene Türen ein: genau das braucht die Welt jetzt. Einmal in Fahrt, setzen wir noch einen drauf mit der wahnwitzigen Idee, dieses Werk als richtige Oper herauszubringen – mit Engel Backroundchor – alle im Nachthemd, Bernhard (allein wegen seines unauffälligen Äußeren) als Jesus und ich als ungläubiger Thomas und Sergius als Gottvater....das wird aber – angeblich aus Kostengründen – ohne weitere Diskussion abgewürgt. Schmollend ziehen wir uns zurück in die Einsamkeit der Musikakademie Remscheid (zum Glück ist zur gleichen Zeit auch Peter Burschs Bröselmaschine aus Duisburg zugegen und bringt mit Sängerin Jenny etwas Licht in das Dunkel unserer Tage!) und dort schrieben wir unsere „Klein“-Version des Jesus-Pilzes: von der Schöpfungsgeschichte „Am Anfang war nichts als Brösel“ über die Verteilung und Verbreitung der „verschlüsselten Botschaft in Bröselform“ bis hin zur spanischen Variante einer „erfolgreichen“ Apokalypse „Und siehe da: "der Brösel hat gewirkt“. Wir finden den von uns geschlagenen Themen-Bogen vollkommen rund, auch musikalisch finden wir einen dem Thema angemessenen folkloristischen volksnahen Sound und das Ergebnis somit fantastisch und gut, die Plattenfirma findet es gar bombastisch, Sergius sieht die Botschaft gut verpackt und genießbar (wer sehen will, wird sehen) – nur in den Clubs, in denen wir auftreten und einige Stücke aus diesem neuen Opus antesten, kommt die Botschaft nicht so richtig rüber. Vampire, Tote, Nonnen, Trips & Träume: O.K. – aber von Saulussen zu Paulussen: ???. 88 Im August geht es ins Studio nach Stommeln, wo die Aufnahmen zum Jesuspilz anlaufen. Das Dierks-Studio ist weiter ausgebaut worden, die Technik gigantisch und der Spaß bei der Arbeit noch größer. Was Dieter Dierks bei den Aufnahmen an Ideen mit reinbringt (Außenaufnahmen mit LifeAtmo von Treckern, quietschender Schaukel, Düsenjäger etc.) und was er am Mischpult vollbringt, ist einfach der Wahnsinn. Wenn wir sagen: lass doch die Flöte von hinten reinkommen, dann kam die Flöte von hinten rein. Mach den Chor breiter, dann wird der Chor breiter. Wir sind alle auf dem gleichen Level und die Ideen werden ausprobiert und befruchten die gesamte Zusammenarbeit: ein Team im Zeichen des Pilzes. Hier wird ein Klang geschaffen, weit und breit, bei dem es mir auch heute noch den Rücken rauf- und runter läuft, wenn ich unsere Musik höre. Bei dem spanischen Finale auf der LP hat er aus den 3 eingesetzten Instrumenten (Gitarre, Flöte und Kastagnetten) die wir übrigens nacheinander eingespielt haben und ein Beispiel dafür ist, welches gemeinsames Gefühl für unsere Musik wir Beide hatten - eine gigantische Musik gezaubert. Wir haben ihm oft Danke gesagt, ich möchte es an dieser Stelle noch einmal wiederholen. Kaisers Kaffe war mit Sicherheit auch ein Garant dafür, dass Spannung und Konzentration bei der Arbeit nie nachließen. 89 Im Vorfeld dieser Produktion hatten wir - wie schon erwähnt den unserer Meinung nach wunderbaren Vorschlag mit dem Engelchor gehabt (auch im Hinblick auf eine evtl. Tournee und den damit verbundenen gemeinsamen Stunden mit 10-12 netten Sängerinnen) , und diese Idee wird vom Produzenten wieder aufgegriffen – aber er plädiert (wahrscheinlich wg. der Schwierigkeit, echte Engel zu besorgen oder um uns einfach nur diesen Spaß zu versauen) für den Einsatz eines Kinderchores für die Aufnahmen. Per Zeitungsaufruf melden sich spontan 60 Kinder zum Vorsingen, und wir wählen aus den diversen Heintje-, Mirelle- oder Vicki Leandros-Doubles (wo die Muttis im Nerzmantel vom Gesangsunterricht der Tochter erzählen und wie gut ihre Kinder sind- aber eben so nervös) die echten unverbrauchten originalen „Kölschen Jung & Mädels“ (Ich bin der Kölsche Hennes...) aus. Mit diesem Chor nehmen wir nach intensiven Proben (wir kürzen den Text nach anfänglichen Schwierigkeiten auf ein erlern- und leicht singbares „Lalala“) neben dem LP-Titel „Die Erleuchtung“ auch gleich eine Single und – Novum in der W&W-Geschichte - eine englische Version mit dem Titel „Magical Land“ auf. Dieter Dierks hat für diese Aufnahmen (für den POP-Sound) einen "Studio-Schlagzeuger" besorgt, der das Timing wohl nicht erfunden hat und Übergangswirbel zaubert, die ihresgleichen in der Pop-Branche wohl erfolglos zu suchen sind. Den internationalen Markt haben wir damit nicht erobert (ist mir zumindest nicht bekannt geworden), aber auf der B-Seite dieser Single, die wir als "The Magic Group" aufgenommen haben, ist unsere Reminiszenz an unsere 1. musikalischen Schritte zu finden: ein skiffeliges Werk mit Waschbrett und Kazzoo, Posaune und Knopfklavier und dem vielsagenden Titel: Crazy Inspiration. Damit sind die Aufnahmen fertig und unwiderruflich im Kasten, es wird abgemischt und die Produktion läuft an. 90 Jetzt müssen – auf Grund unseren Konzert-Erfahrungen mit dieser Pilz-Geschichte - unbedingt und schnell neue/andere Auftrittsorte her. Frage: „Wo kann man ein himmlisches Thema 91 am besten vortragen?“. Großes Schweigen erfüllt den Raum. Dann eine Stimme (leise, fragend, fast ängstlich): vielleicht in einer Kirche. WAAAUUU: Das ist wieder mal DIE Idee mit Donnerhall, und RUK lässt in Zeitungen und Magazinen flugs diesen unseren Wunsch verkünden, die Kirchen zu füllen mit einer Botschaft, die auch von Jugendlichen akzeptiert und verstanden wird: Eure Kirche wird voll mit Menschenkindern, die eigentlich mit der Kirche nichts am Hut haben. Und siehe da, wir glauben es kaum, kommen die ersten Anfragen und mehr und mehr: wir planen eine große Kirchentour durch ganz Deutschland. Doch wir wollen mit einem Paukenschlag starten und fragen in der Kirche nach, wo wir beide konfirmiert worden sind: in der Apostelkirche in Essen. Das Presbyterium tagt und nach Kampfabstimmung kommt weißer Rauch aus dem Kamin, es kommt das JA: hier also wird die himmlische WeltUraufführung stattfinden. 20 Fernsehteams, eine Unmenge von Radio- und Zeitungsleuten belagern die ersten Bank-Reihen der restlos überfüllten Kathedrale. Es wird ein tolles Konzert (Bernhard singt verdammt belegt und ich habe bis zum Schluss einen Tremolo in Stimme und Händen, wie sonst nie wieder erlebt), aber alles geht gut und wir haben Standing Ovations mit Pfiffen und Buh-Rufen (aber viel weniger, als wir gehofft haben). Die „echten“ Jesus-People haben unser Konzert schon vor Ende protestierend verlassen – was aber niemanden weiter tangiert! Nach dem Schlussakkord offene Diskussion in der Kirche: Frage: „Warum in der Kirche?“ Antwort: „weil die sowieso leer stehen und so eine tolle Akustik haben.“ 92 Frage: „Warum eine Jesusoper?“ Antwort: „wir hätten auch eine Rotkäppchen-Oper machen können, ist auch ´ne dufte Geschichte – aber wer will die schon hören“. Frage: „Der Brösel, von dem hier die Rede ist in flüssiger und fester Form: das soll doch wohl Haschisch heißen?“ Antwort: „wir meinen damit den Urstoff, die Befreiung des Geistes, die Essenz des Lebens, und wenn das für Sie Haschisch sein sollte, dann eben auch Haschisch: der Brösel ist für jeden das, was er hineininterpretiert“. Frage: "Ihr macht Euch doch nur lustig über die Kirche!" Antwort: "Darf denn Religion keinen Spaß machen???! Frage:: "Wer ist „Man“? Der Name GOTT oder „Jesus“ wird in eurem Opus nie erwähnt?" Antwort:: ""Man", das sind unserer Meinung nach 4 Götter gewesen, eine lustige Göttergemeinschaft..." Frage:: "Wieso heißt die Oper „Jesuspilz“?" Antwort:: "Jesus bringt Glück, Pilze sind Glückssymbole!" Frage:: "Steht Jesus für Hasch?" Antwort:: "Da ist ein gewaltiger Unterschied: Haschisch muss man kaufen, Jesus hat man in sich." Frage: "Ihr findet das Evangelium „Dufte“ – ist das nicht sehr oberflächlich?" Antwort: "Jesus war bestimmt genau so ein dufter Typ wie wir. Der hat mit seiner Gruppe bestimmt auch viel Spaß gehabt." Behauptung: "Man hat den Eindruck, die Oper handelt von euch und euren Schwierigkeiten! ?" Antwort: Keine! (Rheinische Post-Kritik von der Uraufführung – siehe Anhang) Vor Erscheinen der Platte spielen wir Ausschnitte des Jesuspilz-Programms bei einer Life-Veranstaltung in Böblingen, die vom SWF3 aufgenommen werden. Nach der Ausstrahlung ist die Resonanz so groß, dass 2 dieser Stücke die SWF3Hitparade über Wochen anführen. Als dann die LP 93 herauskommt, sind wir mit weiteren Titeln drin – und damit werden wir Stammgast bei SWF 3-Sendungen, sowohl im Radio als auch beim Fernsehen. Wir tauchen in unzähligen Fernseh- und Radiosendungen auf, haben Riesenartikel in den Zeitungen: nicht nur Positives (verblueste Choralklänge im Country-Stil, Rock´n Roll im Softlook, schön anzuhören), auch Verrisse (hier wird eine Botschaft missbraucht). Aber unser Produzent sagt immer: Jungs, nehmt euch das ja nicht zu Herzen: Hautsache, die schreiben überhaupt über euch. Und die schreiben, und der Kirchen werden immer mehr, durch die wir jetzt unsere Tournee starten und für Furore und Aufregung sorgen: Wir provozieren tolle Demonstrationen von Kirchenmitgliedern vor den Kirchen, in denen wir spielen wollen/sollen. Gemeindeglieder beten während unserer Konzerte vor dem Altar, um zu dokumentieren, dass Ihnen die Kirche gehört und nicht den zwei "Pilz-Gammlern“. Zwei Kapläne verlassen unser Konzert in Mensum und sprechen von „Pilzvergiftung“(?). Kritik an der Veranstaltung, Proteste, Gegendarstellungen und Widerrufe werden in Leserbriefen öffentlich über die örtlichen Zeitungen ausgetragen und abgedruckt. Kirchenaustritte werden angekündigt für den Fall unseres Auftrittes - und auch vollzogen: wir bringen mit unserer Oper so manche Gemeinde in Schwingungen – so oder/und so. Denn auch die Kirchen selbst wackelten: die sind nicht nur voll – die platzen teilweise aus allen Nähten. Schon Stunden vor Einlass sitzen Dutzende von Freaks vor den Kirchenportalen, bewaffnet mit Schlafsack, Joints und Rotwein und warten auf Einlass. Und die Pfarrer sind happy: endlich mal wieder die Bude voll – „Ja ist denn schon Weihnachten?“. Ökumenisch sind wir auch: wir spielen sowohl als auch. Und die Pfarrer sind teilweise auch nicht ohne: laden uns ins Pfarrhaus ein zum Essen (nur vom Feinsten), haben ein wirklich gutes Tröpfchen für uns (keinen Messwein), zeigen uns Bilder von Altären, wo Jesus & CO inmitten von „Gräsern“ herumturnen, bei deren Anblick jeder „Kräuter“ - Kundler vor Freude aufjuchzt, finden diesen unseren 94 neuen Weg der Verkündung großartig, weil man auf diese Weise die Jugend an die Botschaft bringt... Und auch Fans machen sich Gedanken über die Botschaft: Frage: "Hör mal, auf wie vielen Ebenen läuft denn eigentlich diese ganze Geschichte ab?" Antwort: "Auf sieben...!" Frage: "So viele? Ich habe erst 5 entdeckt." Antwort: "Dann sie froh: wenn Du die 7 Ebene erreicht hast, dann ist´s vorbei mit Dir..." Frage: Ja aber ihr habt diese 7. Ebene doch schon erreicht und ihr seid noch da!" Antwort: "Wir haben eine Sondergenehmigung - von ganz oben!" Keine weitere Fragen... Fast 100 Auftritte in Kirchen bewältigen wir in einem Jahr und sind damit ein Begriff und eine feste Größe im Show-Bizz – nicht ohne Konsequenzen für unser Leben. Wir beschliessen wg. des ganzen Rummels um unsere Personen - von Essen wegzuziehen und in die Einsamkeit des Hunsrücks nach Dill in ein abgelegenes Bauernhaus zu entfliehen. Wir packen unsere 7 Sachen und verlassen unsere Familien und Freunde, unsere Kneipen, die Viehofer Str., das Ruhrgebiet, eben alles, was uns bisher lieb und teuer war, und wandern aus... 95 Dill (Hunsrück) Wenn die Jahreszeiten ihre Gesichter offenbaren und über unserem Tal der Adler Kreist wenn am Himmel seltene Lichter scheinen und die blaue Blume reift: dann ist es Zeit, der Unrast Mantel umzuhängen und auf den Pfaden der Vergangenheit den Weg nach Westen einzuschlagen Wir gehen Wege, die schon fast vergessen kaum von Wesen dieser Welt berührt dorthin, wo das Licht den Schatten in seiner tiefer Klarheit trifft. Wo wir Gefährten treffen aus den alten Tagen mit ihnen reden über die vergang´ne Zeit um uns an dem Erlebten zu berauschen Wir erkennen, dass nicht Zahlen und Figuren sind die Schlüssel aller Kreaturen: daß alle, die gern singen oder küssen mehr als die Tiefgelehrten wissen. Daß man in Märchen und den Gedichten erkennt die alten Weltgeschichten: drum lasst uns diesen Tag besingen (aus der LP Bauer Plath) 96 Wir suchen über Bauern-Fachzeitschriften ein Haus – und werden tatsächlich schnell fündig in Dill, einer 260-Seelen Gemeinde im Hunsrück. In das leerstehende alte Bauernhaus des Bauern Plath ziehen wir 1971 mit Sack und Pack und Instrumenten ein und können uns nach langer Zeit endlich wieder auch mit uns selbst beschäftigen und versuchen, Ruhe zu finden. Das ist es: alt, klein, schnuckelig am Ortsrand gelegen: dahinter nur noch Felder und Wälder und Wiesen. Unten rechtes Fenster: Walters Zimmer, nach hinten heraus große Küche und Badezimmer.Oben rechts: Musikzimmer, nach hinten Bernhards Privat-Separee. Links davor (verdeckt durch Walter und den Mist) die Außentoilette 97 Die große Kirchentour ist vorbei, wir haben uns eingerichtet, die Bäuerin hat uns einiges von dem Möbelfundus abgetreten, den sie auf dem Dach des Hauses eingerichtet hat und auf den die durchziehenden Antiquitätenhändler aus Belgien und Holland immer gerne einen Blick werfen, aber nicht zum Zug kommen. Denn auch wenn man hier weitab vom Schuss lebt - die Preise sind bekannt, und so eine echte Hunsrückbäuerin ist nicht auf den Kopf gefallen. Ruhe tritt in unser Leben am Wegesrand, es wird ruhig, wirklich ruhig, es wird verdammt ruhig. Es ist so viel Ruhe da, dass wir unruhig werden ob dieser Ruhe. Wir können mit Ruhe gar nicht mehr umgehen, das müssen wir erst einmal lernen. Immer haben wir das Gefühl, etwas vergessen zu haben oder noch etwas machen zu müssen. Erst nach einigen Wochen merken wir, wie dieser Stress von uns abfällt - wie dieses Gefühl verschwindet, noch dieses oder/und jenes unbedingt tun zu müssen oder mitzumachen, weil man sonst etwas verpassen könnte. Hier ist aber nix zu verpassen - wir fallen in ein endlos tiefes absolut schwarzes Loch. Am Ende dieses Loches sitzen wir nun und sagen: wir müssen was tun, mal wieder unter Leute kommen: wo ist die Kneipe im Ort? Es gibt keine! Es gibt demzufolge auch keine Disco, es gibt kein Kino, keine Pommes Bude, keine Bude anne‘ Ecke - nur Bauerhöfe und Misthaufen... Dann nach 98 Jahren der Einsamkeit: ein Gerücht - ein Hinweis - ein himmlischer Fingerzeig?: im Nachbarort Niedersohren soll eine Kneipe sein. Hey Mann, also auf und los, 10 Minuten Fußweg (vorbei an der Ranch von Müllers Mühle) - dann ein Fußballplatz - ein kleine Ansammlung von Häusern - eine BierReklame. Keine Fa(n)ta Morgana, sondern scheinbar - oder tatsächlich - eine Kneipe, ein Bistro, eine Wirtschaft, ein Pub, ein Restaurant, ein wahnsinniges Etablissement - eine OASE: und sogar mit Leuten drin – Stimmengemurmel dringt aus dem Fenster. Wir öffnen vorsichtig die Türe und treten leise ein (aber dennoch zu laut): Totenstille, als wären wir die Abgesandten des Gehörnten. Augen zu und durch und ab zur Theke: 2 Bier – 2 Bier? wat sprecht ihr so komisch - ah ihr seid nicht von hier! Auf der Durchreise? Nein, ihr wohnt hier. In Dill. (Das ist echt ein Verhör - bin ich hier inner Kneipe oder auf einer Polizeiwache...) Und vorher? Essen? ah ja Essen! ESSSSENNNNN! Willi – komma schnell, hier sind welche von Essen. NEINNN, nix Essen, die Leute hier sind aus 99 ESSSEEENNN. Klar, was war: die Wirtsleute kamen aus Dortmund – nee, das war jetzt ´n Witz, natürlich auch aus Essen, und wir Exoten haben auf Anhieb Blutsbrüder gefunden und sind plötzlich mitten drin und voll dabei, und den anderen Gästen ist´s genehm und das Gemurmel setzt wieder ein. Frei Trinken ist in dieser Nacht Ouzo - is doch klar... ...und der Heimweg ist dunkel und weit. Ohne Auto sind wir aufgeschmissen - abgeschnitten von der Außenwelt. Konzerte sind z. Zt. auch so gut wie keine geplant: wir fühlen uns vergessen von Gott und der Welt. Zu den wenigen Gigs, die wir augenblicklich wahrnehmen, fahren wir mit einem Leihwagen – aber das Geld reicht grade mal für den Sprit und den Wagen und den „Schwarzen Krausen“. Unsere Knete ist aufgezehrt – Rücklagen habe wir nie gebildet. Werner (Bauer Plath) stundet uns die Miete (irgendwann geht´s wieder 100 aufwärts, Jungs), mittags wird uns eine warme Mahlzeit von der Bäuerin nach oben gebracht, Abendbrot (aber hallo vom feinsten) gibt´s unten im Neubau, wo der Bauer mit Frau, Tochter und Schwester wohnte. Wir helfen auf dem Hof, wir packen an, wenn´s was zu tun gibt, wir fahren mit dem Trecker raus und sind beim Schlachten mittendrin, da die Vieh-Ställe neben unserem Haus liegen und unser alter guter Kohle-Ofen in der Küche zum Wursten benutzt wird – und diese Würste sind unübertroffen gut: frischeste hausgemachte Leber- und Blutwurst – nie wieder habe ich so leckere Wurst gegessen – so etwas gibt´s nicht mal in den Feinkostläden der Stadt zu kaufen (Dazu muss man grundsätzlich wissen, dass der Eigenbedarf eines Bauern aus einer anderen Ernte ist als das, was er nach draußen verkauft. B.P. baute für sich ökologisch an, als es die Grünen noch garnicht gab. Aber eben nur für sich selbst) Wie gesagt, wir packen mit an und sind mitten beim Schlachten von Gunda der Sau, da kreuzt ein Fernsehteam des SWF für eine Reportage auf. Vor unserem Haus hängt das frisch geschlachtete aufgeklappte Schwein an der Leiter und die Wanne mit Blut steht daneben, wir haben noch das Blut an den Händen und wir singen aus voller Brust und mit tiefer Überzeugung vor dieser Kulisse das passende tiefschürfende Lied: Wer das Scheiden hat erfunden, hat an Liebe nie gedacht: sonst hätt´ er die schönsten Stunden in der Liebe zugebracht. Die Sau nickte. Ich sitze und verbringe zu dieser Zeit schöne Stunden auf unsere Toilette: dem Häuschen mit dem Herzchen in der Tür direkt neben dem Mistgrube. Von hier aus kann ich bei geöffneter Tür in aller Ruhe und Abgeschiedenheit die Katzenmutter beobachten, die ihren Jungen am lebenden Objekt das Mäusejagen lehrt. Oder die Spinnen, die in den Ecken dieses stillen Örtchens filigrane Schlauch-Netze gesponnen haben und bei jeder Netz-Berührung herausgeschossen kommen (wo gibt´s das in der Stadt?). Oder die Bienen, die aus der Jauchegrube unter mir an meinem Hintern vorbei nach draußen an die frische Luft fliegen. Oder 101 den immer geilen Hahn mit seine Hühnerschar, die mit alle Mann unermüdlich den Misthaufen umpicken: echte Lebensqualität. 102 103 Am 30. April war dann nicht der Weltuntergang, sondern wir finden uns abends auf dem Platz unter der Burgruine ein. In dieser Ruine feiern irgendwelche Millionäre aus Mainz einmal im Jahr „Ritterfest“ – als Ritterleute verkleidet und mit vielen Burgfräuleins im Schlepp. Wir aber sind heute von der Dorfjugend eingeladen zum Maifeuer. Es gab Bier und Schnaps (oder umgekehrt) und es wird alles Mögliche verfeuert – auf dass es schön moppllichg (zusammengezogenes neues Wort aus mollich und moppelig) warm ist und auch die Nachbardörfer seh´n, dass wir feiern. Da - plötzlich und unerwartet - sehe ich eine alte gute Bekannte wieder, die da ins lodernde Feuer geschoben werden soll: meine über alles geliebte Klo-Tür. Mit Mühe kann ich grade noch verhindern, dass dieses wirklich für uns lebenswichtig(st)e Teil, das mir mit ihrem Herz mittlerweile so ans Herz gewachsen ist, von den Flammen verzehrt wird. Natürlich muss ich sie auslösen herauskaufen mit einen Kasten Bier (das Geschäft in der Dorfmitte hat für solche Fälle einen Notdienst eingerichtet). Für eine weitere Flasche Schnaps bekomme ich auch die Sitzbank, die eigentlich bisher vor unserem Haus steht, wieder ausgehändigt. Was wir vorher eben nicht wussten: in der Nacht zum 1. Mai gehen die Jugendlichen an den Häusern und Stallungen vorbei und sammeln alles Brennbare ein, was sich ohne Gewalt entfernen lässt (daher war auch das ganze Dorf unterwegs und schaute interessiert in die Flammen – und zu trinken gab es von daher reichlich). Denn wer nicht schnell genug auslöst, muss neu kaufen! Daher jedes Mal eine komplizierte Rechenaufgabe für jeden einzelnen Fall. Wir feiern bis in den frühen Morgen und helfen dann, den Maibaum (mind. 150 m hoch) in der Dorfmitte aufzurichten. Zum Glück waren einige da, die nicht ganz so besoffen sind wir wir und die uns vorsichtig, aber bestimmend zur Seite abdrängen und dieses Wunderwerk deutscher Baumkultur tatsächlich zum Stehen kriegen... Ein weiteres dörfliches Großereignis steht an. Wir machen die 1. Bauerhochzeit unseres Lebens live mit: mit: die Tochter 104 unseres Vermieters heiratet. Allein die Vorbereitungen für so ein Fest dauern schon Wochen (weil das ja quasi eine Dorfangelegenheit ist), und der Polterabend – Tag 1 der Hochzeit -zieht sich von mittags bis tief in die Nacht hinein und ist nicht nur für die Brautleute (der Container ist hinterher rappelvoll und die Mülltonnen inkl. unserer auch mit den Scherben), sondern auch für uns ein recht anstrengender Tag: wir gehören ja quasi zur Familie und müssen voll mitziehen – Prosit hier und Hallo da und Ihr seid die und wir sind das und toll und nett und trallala – und immer ein Schnäpschen dazu. Abends geht es hinauf in´s Gemeindehaus (da passen tatsächlich alle 260 Einwohner rein!) und ich trinke – zu dem, was ich schon den ganzen Tag reingeschüttet habe und was noch gar nicht richtig weiterverarbeitet ist - zum ersten und einzigen Male in meinem Leben Kommodenlack (Jägermeister, ca. 1 ½ Flaschen): ich bin ja sooooo schlecht – und irgendwann und irgendwie auch weg. Am nächsten Morgen – dem eigentlichen Hochzeitstag müssen wir morgens irgendwo hin (weiß nicht mehr warum – wahrscheinlich ein Radio-Termin ) aber früh mittags sind wir wieder da und lernen jetzt beim Kaffeetrinken Menschen kennen, die wir bis dato nur als Bauern mit Blaumann, Mütze und Stiefeln kannten: die hatten sich mit Anzug, Weste, Schlips und Kragen und schwarzen Lack- und Lederschuhen verkleidet. Und ach die Bäuerinnen hatte Kittel und Kopftuch vertauscht mit ausgesucht geschneiderten Stoffen – und alle rochen gut... Im Laufe des Nachmittags lockert sich diese Kleiderordnung aber – vor allem bei den Herren der Schöpfung - zum positiven, (erst oberer Hemdknopf auf, dann Jacke aus, Weste aufgeknöpft, Ärmel kochgekrempelt, Schlips ab) und es wird gefeiert und gegessen und getrunken und getanzt und erzählt und gesungen, eben wie man es aus den alten Geschichten kennt. 105 Mittlerweile sind wir wieder mobil: wir haben uns von einem Bauern im Dorf einen alten Ford gekauft, mit dem wir – wenn uns die Decke auf den Kopf fällt (also so ca. alle 2 Monate) mal schnell nachmittags nach Essen düsen, die Nacht durchmachen, bei Freunden schlafen und am nächsten Tag wieder zurück in die Ruhe fahren. Den Wagen haben wir mit Schultafellack gestrichen, und die Kinder des Dorfes geben ihm nach jedem Regenguss mit bunter Kreide ein neues Outfit. Zudem haben wir uns für den Nahverkehr 2 Motorräder angeschafft: Bernhard ein NSU Max und ich eine Zündapp 100 mit Tankschaltung . Bernhard baut gleich auf der Jungfernfahrt mit dem nicht angemeldeten und unversicherten Teil einen Unfall. Da ich keinen Motorrad-Führerschein habe, fahre ich mit meiner Maschine zur Fahrschule (2 Orte weiter) und nehme dort 1x je Woche am theoretischen Unterricht teil. Für den praktischen Teil (Fahrlehrer: ich muss ja wenigsten mal gesehen haben, ob Sie den Arm richtig raushalten können beim Abbiegen) verabreden wir uns in Simmern, Kreisstadt und Heimat des bekannten Schinderhannes. Ich fahre wohl recht gekonnt und damit zufriedenstellend hinter dem Fahrschulwagen her und werde daher zur Prüfung 106 gemeldet. Der theoretische Teil wird in einer Kneipe abgehalten – zum Praxisteil geht´s (logisch) nach draußen. Als der TÜVMann meine Maschine sieht, ist er hin und weg: das ist das gleiche Modell wie sein aller erstes selbst bewegtes Fahrzeug (wahrscheinlich ist er mit 12 schon damit über den Bauernhof gebrettert und hat Hennen gescheucht): kann ich mal ne Runde fahr´n. Klar – weg ist er. Nach ½ Stunde kommt er wieder, glänzende Augen, sagt: Komm Junge, fahr mal ne 8. Ich fahr ´ne 8 und hab meine Schein (der mich mit Anmelde-, Prüf- und sonstigen Gebühren schlappe 240,- DM gekostet hat!). Jetzt können wir mal schnell nach Mainz oder Koblenz, können andere Gruppen besuchen (Kraan, Guru Guru und alle die, die sich auch aus der Stadt entfernt haben – also fast alle), aber auch zu Konzertbesuchen nach Mainz ins Unterhaus Konkurrenten gucken) oder nach Düsseldorf zu Roxy Music etc. Natürlich bekommen wir auch Besuch: meine Mutter besucht mich (ich muss doch wissen, wo mein Junge ist und wie er lebt). 107 • Die alten Kumpels aus Essen schauen vorbei: Hey Mann, kann ich mal ein paar Tage bei euch wohnen? Klar. • Fans kommen vorbei: Ey hörtma, wieviel Ebenen hat eigentlich die Schöpfungsgeschichte? Mindestens 7? Boahh. • Dieselfahrer-Fans: kann ich mal an eurem Heizölfass volltanken – stinkt zwar, is aber billiger als anner Tanke (klar, die haben uns garnix gegeben). • Unsere Produzenten RUK und Gille L. (Bild rechts mit Bauer Plath etc.) kommen natürlich des Öfteren (Kontrolle oder Sehnsucht - war nicht auszumachen), oft mit irgendwelchen Leuten im Schlepptau • Reporter, Fernsehen, einmal – bei der von der Plattenfirma veranstalteten „Rapunzel“-Tour - sogar eine Busladung voll mit Schreiberlingen aus der Pop- und Musikwelt • Die Bravo(?) schickt die Gewinnerin eines von mir entworfenen W&W- Kreuzworträtsels vorbei: sie hat 1 Tag bei W&W gewonnen (incl. Kuhstallbesichtigung mit uns und Bauer Plath) - was kann es Schöneres geben? Da hatte sie was für´s Leben... 108 Besonders erwähnenswert sind die Besuche von Jerry Berkers, dem Bassisten von Wallenstein – der ein wenig durch den Wind ist. Einmal kommt er - mitten in der Nacht - von Mönchengladbach mit dem Taxi zu uns in den Hunsrück, nur um uns – an der Haustür, er kommt gar nicht erst rein, weil das Taxi ja wartet – zu sagen, wir sollen mal sofort in Herrmann Hesses Sidharta auf Seite xx den 3. Absatz genau lesen: da stünde die ganze Wahrheit des Lebens auf den Punkt gebracht. Dann war er wieder weg (da sagte er wenigsten noch Auf Wiedersehen). Dieses Wiedersehen haben wir einen Monat später. Er will mal so richtig ausspannen und 1 Woche bei uns bleiben - und war nach 2 Tagen (diesmal ohne Gruß) verschwunden. Am Tag später kommt unser Bauer und erzählt, dass Jerry wohl ein Auto geklaut haben soll, was wir eigentlich so gar nicht glauben können und wollen. Das Auto wird einen Tag später in Köln gefunden, und 2 Tage später ist auch Jerry wieder da und erzählt auf Anfrage: Nein, ich habe das Auto nicht geklaut. Ich ging spazieren und da stand das Auto und das Autoradio lief und plötzlich sagte die Stimme aus dem Radio: Fahr mich! Ich setze mich also rein und frage: Wohin? Die Stimme im Radio sagt: nach KölnWahn. Also fahr ich los, nur kurz vor dem Flugplatz hatte ich keinen Sprit mehr – da ließ ich es stehen. Am Flugplatz wusste irgendwie keiner Bescheid, keiner konnte oder wollte mir weiterhelfen, und jetzt bin ich wieder nach hier zurückgetrampt. - Mann, Jerry, kannst Du Dir nicht vorstellen, dass wir mit den Nachbarn und den Leuten hier Theater kriegen, wenn Besuch von uns hier Scheiße baut? Jerry: wieso Theater. Was soll Euch denn passieren? Wisst ihr denn nicht, dass viele Leute ganz oben ihre Hände über Euch halten, weil sie von Euch abhängig sind. Unsere Politiker brauchen Euch doch, ihr seid gradezu existenziell wichtig für die. Die da oben sind auf euch und eure Musik angewiesen, sie wären hilflos ohne Euch! Die 109 hören sich eure Musik über riesige Unterwasserstereoanlagen an, und von und mit den Impulsen, die da rüberkommen, machen die ihre Politik! – Punkt - Aus. Davon ist er nicht abzubringen. Um zu verstehen oder zumindest eine entschuldigende Erklärung zu versuchen, sei hier angeführt, dass Jerry als Bassist einst in einer Band spielte, die zur Truppenerbauung in Vietnam unterwegs war. Bei einem Gig wurden während des Konzertes die 3 Gogo - Girls der Gruppe auf der Bühne abgeschossen – und Jerry war auf einem Trip und kam nie mehr richtig zurück. Er verließ bei einem Konzert auf der Wallenstein/ Witthueser & Westrupp - DeutschlandTour mitten im Stück (die Post ging gerade richtig ab) die 110 Bühne und war ab da nicht mehr zurückzubringen: die Musik wäre ihm einfach zu mächtig, sie würde ihn geradezu überrollen – und dem wäre er nicht gewachsen. Mittlerweile ist er ganz von uns gegangen... 111 Der Energie-Bericht ...und er sah: Der Brösel hatte gewirkt (aus "Der Besuch aus dem Kosmos - Jesuspilz) 1972 treffen wir uns in unserem verwunschen Bauernhaus im Hunsrück, um die musikalische Umsetzung der von dem Schweizer Maler Walter Wegmüller neu gestalteten Tarot-Karten zu besprechen. Wir, das sind Walter Wegmüller selbst, Sergius Golowin (unser Guru aus Interlaken), Gille Lettmann und R.U. Kaiser (die Produzenten), Klaus Schulze, Jürgen Dollase und Witthueser & Westrupp als Musiker und die beiden letztgenannten als Gastgeber. Ziel dieses von langer Hand geplanten Treffens ist, für jede Karte des Spiels eine Idee für Musik und/oder Text festzuhalten, denn das ganze Werk soll Spielkarten und Musik - als Box herausgebracht werden. Um uns auf die Thematik einzustimmen, treffen wir uns also zu einem Arbeitswochenende. Nach einem gemütlichen Kaffeetrinken, zu dem selbstgebackener H-Kuchen gereicht und verzehrt wird, lernen wir zunächst Mond und Magier, Tod 112 und Teufel, den Gehängten und den Hohenpriester und all die anderen persönlich kennen. Wir arbeiten uns in einige Regeln des Spiels und die Bedeutung des keltischen Kreuzes, des astrologischen Kreises ein und werden bekannt gemacht mit Beziehungs- und Entscheidungsspiel u.v.a.m. Soviel Neues und Aufregendes muss verarbeitet werden, und Klaus Schulze hockt sich hinter sein Keyboard und beginnt seine nie enden wollenden endlosen unendlichen Tonschleifen zu spielen. Durch das Fenster sehe ich, wie sich diese Tonschleifen in den Himmel ausbreiten. Wie ein endlos geflochtenes Rohr hängt dieses Gebilde über dem Land, und die Vögel fliegen in den Rohren dieses Geflechtes: sie können gar nicht anders – ich sehe vorher schon , wohin sie fliegen (müssen): links hoch, abwärts und nach rechts und weiter weiter. Sergius betritt den Raum, setzt sich auf den Boden und beginnt – die Hände nach oben offen auf den Knien - seine Beschwörungsformel über die Musik zu legen: Energie Energie Energie... Wir wissen total nicht, was hier abgeht – das hat von uns noch niemand mitgemacht und keiner kann sich vorstellen, was der Meister da heraufbeschwört. Es entsteht eine aufgeladene Spannung im Raum - die Welt scheint einmal kräftig 113 durchzuatmen. Es wird schlagartig dunkel – viel zu früh für diese Tageszeit. Und dann geht die Post ab: sinnflutartige Regenfälle mischen sich mit Blitz und Donner. Noch nie erlebte elektrische Ladungen und Entladungen lassen das Licht in unserem Haus an und ausgehen, die Erde bebt, Sturm zieht auf, das Vieh im Stall schreit – es hört nicht auf. Wir haben erbärmlich Schiss, Muffe, Angst, sind macht- und hilflos und bitten letztendlich Sergius, diesem Spuk ein Ende zu machen. Der lacht, aber als er merkt, dass es uns wirklich nicht gut geht, nickt er, nimmt sich Stiefel und Mantel und marschiert raus und hinein in das Unwetter. Kurze Zeit später beruhigen tatsächlich sich die Energien – es wird wieder hell. Sergius kehrt zurück, nass, jugendlich lachend, wir fragen nach dem Wie, Was, ...er schweigt. Wir arbeiten 2 Tage hart an diesem tollen Projekt - aber zu den Ereignissen des 1. Tages bekommen wir von ihm nichts mehr zu hören. Bauer Plath, unser Vermieter, erzählt uns später: so etwas wie diese Urgewalten hat er in seinem Leben hier im Hunsrück noch nie erlebt, und die 90-jährige Alte von gegenüber bestätigt dies. Drei Gewitter trafen sich über unserem Tal, sie kamen schnell und sie gingen plötzlich. Er (BP) war in diesem Unwetter nach dem Vieh gucken und sah Sergius auf das Feld verschwinden, wo dieser sich hinhockte wie eine Kugel. Der Bauer hörte Gesänge und sah die Gewitter abziehen – auch er sah den direkten Zusammenhang. 114 Und noch ein Bild aus jenen Tagen: Walter Wegmüller (rechts) erklärt Rolf (Rudolf?) Ulrich Kaiser (links) die wirklich wahre Wahrheit seines (RUK´s) Geschäfts Gebarens mittels der Kristallkugel. Walter Wegmüller: "Leider war Herr Kaiser, trotzdem er ja ein sehr bekannter und erfolgreicher Schallplatten - Produzent war, ein ´NICHT HELLHÖRIGER´ " !!! 115 Bauer Plath Hinter den Weißen Bergen nah bei der kleinen Stadt da steht das Haus wo Bauer Plath sich niederlassen hat.. (aus CD Bauer Plath) In der Ruhe liegt die Kraft, sagt man landläufig- und da sind wir ja jetzt tatsächlich life dabei - und hören mit anderen Ohren nun andere Musik: (sta[d]tt Sex & Drugs & Rock´n Roll à la Stones, Burdon, Steward, Bowie etc. haben wir jetzt Incredible String Band, Fairport, Grateful Death, Crosby & Co. oder Walter (Wendy) Carlos im Ohr, lesen nicht mehr Magazine, Tageszeitungen und Jerry Rubins „DO IT“ (amerikanische Variante von "Macht kaputt, was euch kaputt macht"), sondern Tolkien, Castaneda, Indische Märchen, Hesse, Gelpke und Michael Ende, trinken immer mehr Tee satt Kaffee und rauchen mehr Gras als Tabak (denn - wie sagte schon Paracelsus: jedes Gift [?Droge]), richtig dosiert, ist Medizin), und die brauchen wir, um im Kopf wieder frei zu werden. Welcher Wechsel doch im Leben - tiefe Stille dort und Leid, hier - bei arbeitsamen Streben: Jugendglück und Fröhlichkeit (quasi die Bestätigung unseres Liedes aus Nonnen, Tote und Vampire). 116 Wir haben uns akklimatisiert und werden als „die beiden Exoten aus dem Kohlenpott“ aufgenommen in die Dorfgemeinschaft – nicht direkt offiziell, aber sie finden den Presserummel um uns und das Dorf schon sehr interessant. Sie sind sogar bereit, mit dem Diller Männerchor und uns zusammen bei Plattenaufnahmen mitzumachen – das sagt ja wohl alles! Das aktuelle Tagesgeschehen entfernt sich mehr und mehr von uns oder wir von ihm – in unserem Leben zählen fortan andere Wertigkeiten: Was machen die Spinnen am Klo, wie geht es dem wilden (ehemaligen Hof-) Kater Peter, wie stehen die Rüben, kriegen wir die Ernte trocken rein, wann kalbt die Olga... Wir helfen, wann und wo wir können, auf dem Hof, und es macht Spaß (aber wir müssen ja auch nicht jeden Tag ran). Wenn wir z.B. nachts um 4 Uhr – rausgeklingelt von unserem Bauern - beim Nachbarn bei einer schweren Kalbsgeburt mit anpacken und alle Beteiligten nach erfolgreicher Arbeit einen Schnaps trinken, während das neugeborene Kälbchen im Stroh liegt, dann gibt einem das schon etwas mehr als eine durchgesoffenen Nacht in der „Golden Stadt“ beim Prebec in Essen. Wir sind näher dran am Leben, beim Säen und Ernten, beim Gebären und Sterben. Oft sind wir nun bei unserem Bauern zu Gast – eingeladen zum ausgiebig-üppigen Abendessen und anschließender Tresterbrand-Vernichtung - oder er kommt zu uns und besucht uns auf ein Gläschen/Fläschchen Wein.... Wir treffen die Bäuerin im Stall beim Misten und schnacken – oder ihre Schwester beim Einkauf in dem kleinen Lädchen im DorfZentrum, wo die Dorf- und Weltpolitik diskutiert wird. Wir nehmen teil an Dorf-, Schützen- und Feuerwehrfesten, wo auch ein zünftiger Frühschoppen niemanden davon abhält, mit seinem Fahrzeug noch weitere Ziele anzufahren – es gibt nur einen Dorfpolizisten weit und breit, und der feiert immer mit. Trotzdem – für alle Fälle - werden wir eingewiesen: sollte unterwegs mal was passieren: raus und weg und ab in den Wald und 2 Tage warten. Dann wieder auftauchen, einen total verwirrt/verwilderten Eindruck machen und sprachlos von 117 garnix mehr wissen! Zum Glück kommen wir nie in eine solche Situation... Etwas außerhalb des Ortes finden wir ein wunderschönes abgelegenes Plätzchen – nur für uns allein auf einem Felsen über einem Tal (unsere Loreley), Oder besser noch: unser Laurel Canyon: hier den Laurel Canyon Blues von John Mayell zu hören, ist doppelter Genuss - mit Dope nochmal potenziert. Hier sitzen wir stundenlang, den Wald- und Bachgeräuschen hingegeben, Rehe und Füchse beobachtend, dem Falken folgend, in den Dunst hinein träumend: wir suchen den Schlüssel, die blaue Blume, uns. Nicht nur zuschauen, sondern eins werden mit der Natur - die Seele fliegen lassen. Nicht Besucher, sondern Teil des Ganzen. In den Bergen der Schweiz - oberhalb der Baumgrenzen in den Steinhütten der Berglütlis - da waren wir schon nahe dran, jetzt aber sind wir mittendrin. Hier Tolkien lesen ist Heimatgeschichte live. Hier hat der Schäfer seine Hütte, hier steht die alte Mühle, hier ist die wilde Müllkippe (aber schön versteckt), und hier entsteht die Idee zu einer Märchenplatte – wo sonst kann man so etwas planen und realisieren. Endlich wieder (Ausnahme war das 1. Programm 118 von Nonnen, Toten und Vampiren) entstehen Texte ohne Zeitdruck, sind fruchtbare zeitlose Gespräche – mit den Freunden, die uns besuchen, aber auch mit unserem Bauern – an der Tagesordnung. Nichts stört uns in unserer Konzentration - und die Freunde, die uns besuchen in unserer Idylle, turnen uns an – erzählten von ihren Reisen und ihren Erlebnissen, bringen neue Geschichten mit - geben uns Anstöße. Wir geben und nehmen, werden befruchtet: die Saat geht in uns auf - und wir in ihr. Für die Vorbereitung unseres neuen Programms brauchen wir nicht mehr in irgendeine Musik-Akademie mit Jugendherbergscharakter zu fliehen – wir können immer und jederzeit in unserem Haus die Verstärker aufdrehen, können schreien und singen, mixen und probieren (wenn wir es denn wollen): nur die Kühe hören zu – gut, manchmal ist die Milch dann sauer - nicht mehr, nicht weniger! 119 Die Musik wird märchenhafter - naturverbunden und wieder akustischer. Das wir dieses Programm „unserem“ Bauern widmen, ist klar, und auch ein Musikstück auf der gleichnamigen CD widmen wir ihm: hinter den weißen Bergen (Hunsrück), nah bei der kleinen Stadt (Simmern), das steht das Haus, wo Bauer Plath sich niedergelassen hat.... Andere Texte erzählen von unserer Suche nach der „blauen Blume“, nach dem „Schlüssel“, der diese andere, diese „neue Wirklichkeit“ öffnet, die wir – ausgelöst durch diesen unseren Aus- und Umzug – nun erschlossen haben, die für uns zugänglich geworden ist, die wir vor uns sehen - in uns spüren. Der „Rat der Motten“ ist die Geschichte dieser "Suche". Die Motten suchen das Licht, sie sehen es, sie stürzen sich hinein - sie verglühen in der Kerzenflamme. Sie haben das Geheimnis gelüftet: aber zu welchem Preis! Glühen wollten wir auch, aber verglühen nicht. Davon erzählen und singen müssen wir – das ist klar. Aber auch nicht verschweigen, das diese „Idylle“ mit Fallen ausgelegt ist. Wir weisen auf die Gefahr hin, sich blenden zu lassen und den Boden unter den Füssen zu verlieren - auszuflippen. Eine solche "Warnung" finden wir auch in einem alten indischen Märchen und komponieren die "Schlüsselblume", die Geschichte einen Mannes, der den Schlüssel findet, mit dem er das Tor öffnet und sich dann selbst verliert - und damit auch wieder den Schlüssel - und hinterher "innerlich leer" vor einem verschlossen Mysterium steht und den Weg zurück nicht mehr findet. Wir wollen uns auf dem Throne stehen sehen – aber lebendig: „ich war und ich bin“. Wer - wie wir - sich selbst gesucht hat, wird wissen, wovon wir da singen und was wir mit unseren Texten - auch als Lebenshilfe - weitergeben wollen. Für die einen wird es schöne Musik mit schönen Texten sein, für die anderen "wissenden" eine Botschaft. Der Bogen, den wir auf dieser CD schlagen, beginnt bei Novalis ("wenn nicht Zahlen und Figuren sind die Schlüssel 120 aller Kreaturen... wenn alle, die gern singen oder küssen mehr als die Tiefgelehrten wissen... "), geht über die Hymne an unseren Bauern und Freund Werner Plath und endet in einem musikalisch monströsen 10-Minuten-Märchen. Dieses zentrale Werk, quasi unser „Vermächtnis“, das wir in dieser knorrigen Schönheit unseres Hunsrück- Dörfchens erschaffen, ist die "Geschichte vom Königssohn". Hier verarbeiten wir Frodos Erlebnisse aus Tolkiens Herr der Ringe - unserer damaligen Bibel. Und der Schluss dieses Märchens mit seiner fast eschersch zu nennenden Unendlichkeitsformel, die sich selbst auflöst und wieder von vorne anfängt, ist eigentlich schon Hinweis auf ein bevorstehendes Ende von W&W. Im Juni 1972 gehen wir ins Studio Dierks und beginnen die Aufnahmen. Mit dabei sind die „Wallensteiner“ Jürgen Dollase 121 und Jerry Berkers, am Schlagzeug sitzen abwechselnd Harald Großkopf und Tommy Engel (später Bläck Föös) und im Aufnahmeraum das bekannt Trio Kaiser/Diers/Lettmann. Wir basteln an den Sounds (wann gab es jemals mit Geigenbogen gestrichene Gitarren oder einen akustischen Wassersoog wie bei dem Königssohn-Märchen, Psalter- und Harmoniumklänge oder so einen sensationellen Wumm wie bei „Bauer Plath“, wo 10 Musiker mit ihren Füßen auf eine Holzbühne stampfen. Wieder baut Dieter Dierks mit seinen „goldenen Fingern“ einen wunderbaren Sound aus den 40 bis 50 einzelnen Tonspuren und mixt aus allem eine von vorn bis hinten gelungene Lp. Wo wir nun gerade da sind, machen wir auch gleich noch eine Single, bei der Bill Baron, der Gitarrist von Wallenstein, beim „Lied der Liebe“ einen Gitarrensound einspielt, bei dem ihm selbst die Ohren vom Kopfe fallen (er verlässt die gekachelten Kabine, in der sein Gitarren-Verstärker voll aufgedreht steht und spielt sein Solo draußen): und selbst dort ist es noch tierisch laut – aber auf der Single klingt´s und geht ab – und wie: aber Hallöchen, das kann man nicht beschreiben, das muss man hören... Für´s Plattencover nehmen wir vorne natürlich ein Foto von Bauer Plath, zusammen mit uns und Ferkel Eduard. Auf die Rückseite kommt eine märchenhafte Malerei von mir, die ich in den langen Tagen der anfänglichen Ruhe geschaffen habe – mit Engelsgeduld habe ich wochenlang winzig kleine Kästchen mit Filzschreiber ausgemalt und W&W in eine Märchenwelt voller 122 Kräuter, Pilzen und Tiere versetzt. So kommt die LP auf den Markt und wird ein voller Erfolg - und damit geht auch der ganze Stress wieder los mit Terminen und Konzerten...die Ruhe für uns ist vorbei. Bei unseren Live-Auftritten können wir den Sound der Platte nicht wiederholen – wollen es auch gar nicht. Bei Konzerten spielen wir nahezu „unplugged“, ganz selten wird ein Instrument direkt verstärkt. Und da die Nachfrage nach unserem Sound und den Songs stetig steigt (welche Gruppe setzt auf der Bühne [mit 2 Musikern] über 30 teilweise obskure Instrumente ein), kommt uns Dieter Dierks 1973 bei 2 Auftritten (Koblenz und Freiburg) mit seinem mobilen Aufnahmestudio 123 hinterhergefahren und mischt daraus das „Live-Album 68-73“ zusammen, einen Querschnitt durch das gesamte musikalische Schaffen von W&W. Als wir am Ende der Tournee, die mehrere Wochen andauert und uns durch ganz Deutschland führt, nach Dill in unser Häuschen zurückkehren, sind wir leer, wir sind ausgebrannt. Allein der Gedanke, sich jetzt hinzusetzen und ein neues Programm aus dem Boden zu stampfen, wirkt lähmend auf uns – heute würde man sagen: wir sind mental blockiert. Wir sitzen lange Nächte zusammen, hören Musik, schweigen uns an und versuchen herauszuzögern und nicht zu artikulieren, was uns beiden klar ist: ehe wir uns kaputt spielen – ehe wir unseren Spaß an der Musik verlieren, weil andere uns permanent unter Druck setzen – müssen wir aufhören: einen endgültigen Schlussstrich ziehen. Wir sprechen mit unserem Bauern, informieren Produzenten und Plattenfirma – und verlassen bei Nacht und Nebel die Idylle. Als die Live-Do-Lp herauskommt, gibt es W&W schon nicht mehr. 124 Nachsatz Viele Dinge zeigt der Spiegel, und nicht alle werden, wie sie hier scheinen. Manche werden nie geschehen, es sei denn, das jene, die die Bilder seh´n von ihrem Pfad abweichen, um sie zu verhindern.. (aus „Das Mächen vom Königssohn") 5 Jahre haben wir W&W´s zusammen unser Ding gemacht: wir haben zusammen studiert, gesoffen, gestaunt, musiziert, komponiert, meditiert, geraucht, geschluckt, gelacht, gestritten, gelitten und unendlich viel Spaß gehabt und gemacht. Wir sind gefahren, abgefahren, geflippt und geflippt worden, haben erfunden und gefunden, haben gelebt und erlebt: wir haben „Musik“ gemacht. Wir haben Einblick in eine andere Wirklichkeit genommen auf unseren "Reisen", wir haben oft einen Blick unter die Oberfläche getan, wir haben in uns hinein gehört, wir waren in Himmel und Hölle, wir haben uns mit vielen seltsamen Dingen und Berichten beschäftigt und mit vielen „Reisenden“ gesprochen, die von ähnlichen Erfahrungen berichteten: Vieles davon haben wir in unsere Texte gepackt und so verarbeitet. Im Nachhinein wird mir überdeutlich klar, dass wir solche Texte und solche Musik niemals in der Stadt hätten schreiben und spielen können. Wenn ich auf der „Lorelei" saß, dann war ich real in der Welt, die wir in unseren Liedern besangen: zauberhaft, märchenhaft, abseits aller Hektik, über aller Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit. Durch die Konzentration 125 auf "unser Ding" war diese Performance, diese Symbiose von fast religiösen Texten und märchenhafter Musik möglich: Mönche der Musik. Bei unseren Abstechern in die "normale" Welt (nach Essen) stellten wir fest, dass unser Abstand zu den alltäglichen Dingen, zu unseren alten Freunden, unseren Familien immer größer wurde. Unsere Plattenfirma, unsere Produzenten, unsere Berater hatten uns und wollten uns natürlich immer weiter abkapseln, auf Kurs halten. „Unsere Welt“ mit all diesen existenziellen Erfahrungen, mit tollen Bekanntschaften war grenzenlos toll und erfüllend. Doch verdammt: ewig lockt das Weib, lockt das Leben, das Flippen, das neue Alte, das Gewohnte und Vertraute. Der Vogel, der im Käfig sitzt – und sei dieser noch so schön eingerichtet - möchte raus: möchte frei sein. Wir waren – trotz allem - Großstadtkinder geblieben mit unseren Wurzel eben dort: bei unseren alten Freunden, unseren Kneipen, Kinos, MÄDELS, Neon, Geschäften: bei dem pulsierenden Leben. Sollten wir das alles hinter uns lassen – den Abstand immer größer werden lassen und uns hinterher nur noch mit einigen „Weisen“ unterhalten können. Wir hatten ja kein Gelübde abgelegt, keine ewige Askese geschworen: die Mauern waren durchlässig. Unser Produzent Rolf Ulrich Kaiser (kurz RUK genannt) ist seinen Pfad konsequent weitergegangen: abgehoben und irgendwann ohne den Bezug zur Realität. Er hat tolle Sachen geformt und 126 durchgezogen - hatte Visionen - aber kaum jemand konnte oder wollte ihm zuletzt noch folgen, und so lebte er lange verarmt?, (fast) vergessen und unter Verfolgungswahn leidend als "Mr. Null" zusammen mit seiner "Muse" Gille Lettman, dem "Sternenmädchen" in "seiner ko(s)mischen Welt" irgendwo in einer Mietwohnung in der Nähe einer großen deutschen Brauerei am Möhnesee. Aber auch da musste er weichen (weltliche Vermieter wollen nun mal echte € sehen) und so haust er z. Zt. in einer Klosterzelle (war da nicht mal was mit einem Mönch?...) Und: er lebt, auch wenn das viele nicht glauben wollen (Stand 09.2007). Viele seiner Musiker von damals schimpfen heute auf ihn - sind sauer auf ihn - haben gegen ihn prozessiert. Okay - wir hatten alle Scheiß-Verträge. Aber wer hätte uns und vielen anderen damals denn überhaupt einen Plattenvertrag gegeben. Viele Bands (da schließe ich W&W mit ein) wären doch aus ihrem lokalen Umfeld gar nicht raus gekommen, wäre RUK nicht gewesen. Das sollte man bei seiner Bewertung nicht unterschlagen. Das er dann ausgeflippt ist - naja, da ist er nicht der Erste und Einzige aus dieser Szene. Diesen "seinen" Weg wollten (und konnten) wir nicht mitgehen – wir beendeten diese unsere „Reise in eine andere Wirklichkeit“ und traten den Rückweg an: Bernhard nach Berlin und ich zurück nach Essen. Wilde Jahre waren das. Wir haben sie Gott sei Dank nicht nur unbeschadet überstanden (im Gegensatz zu manchem Anderen, der diesen Sprung zwischen mehreren Welten nicht verarbeiten konnten), sondern wir haben existenzielle Erfahrungen gemacht und gesammelt und verinnerlicht, die keiner von uns je missen möchte und wohl auch nie vergessen wird. In dieser Sturm- und Drangzeit hatten wir nur unseren eigenen Rucksack zu tragen, waren wir nur uns selbst Rechenschaft schuldig: wir machten, was wir wollten. 127 Mein Umfeld änderte sich: Frau, Familie, Kind - und damit verbunden wirtschaftliche Zwänge - der Beruf kam dazu, die (alltägliche) Müh(l)e. Die Musik mit der Walter h.c. Meier Pumpe bleibt. Heute sage ich: "Habe einen Sohn gezeugt, ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt: nun kann ich mich zur Ruhe setzen". Also bin ich "Rentner" geworden. Im Klartext: Bin endlich wieder Herr meiner Zeit, ein "freies" Leben ohne Abhängigkeiten fängt jetzt so richtig an: Familie, Freunde, Musik, Computer, Haus, Garten, Hunde, Katzen, Fotografie, Sport, Kino... "Hab´ nun weniger Zeit als früher"! Und bin immer noch ICH: hab mich nie verbogen, hab mich nicht verbiegen lassen. Manche Ziele habe ich im Laufe der Zeit neu gesteckt, erweitert, andere suche ich immer noch... Hab´ keine Kumpel beschissen, niemanden über den Tisch gezogen, keinen gemobbt, bin nie jemandem in den Rücken gefallen: Und kann daher auch heute immer noch in den Spiegel gucken, ohne kotzen zu müssen... Und dann holt mich die W&W-Zeit doch wieder ein. 1985 meldet sich ein Bernhard Mikulski telefonisch und bittet um einen Termin, da er etwas mit mir zu besprechen hat. Er taucht mit seiner Frau Christa auf und erklärt, dass er die W&W-Lp´s neu auflegen will. Rechtliche Fragen bräuchten mich nicht zu interessieren – das würde er alles regeln und evtl. Forderungen der Altherausgeber (die seit Jahren eine immer noch bestehende Nachfrage nicht befriedigen wollten) selbst übernehmen. Eine Zusage von Bernhard Witthüser hat er schon – und meine bekommt er natürlich auch. Und so erscheinen unsere Lieder – fast im Original-Look - wieder in den Läden und werden dankend gekauft, während im Hintergrund ein langer Rechtsstreit tobt, der mich aber nicht weiter tangiert. Bernhard Mikulski, seiner Frau und ihrer Fa. ZYX-Records ist es also zu verdanken, dass es noch heute 128 W&W–Musik – mittlerweile auf CD – gibt: dafür an dieser Stelle (an B. posthum) ein großes Dankeschön. Im Februar 2003 - quasi als Geburtstagsgeschenk - bringt uns der 60. Geburtstag unseres gemeinsamen Freundes „Mr. Ruhrgebiet" Frank Baier, der am selben Tag wie ich Geburtstag hat, zu unserer beider Überraschung wieder zusammen. In Duisburg auf Franks großer Geburtstagsfeier treffen wir uns nach fast 13 Jahren wieder - und ich hab ihn fast nicht wieder erkannt - so gut sieht er aus. Aber so ist das ja immer beim Totgesagten (was auf einem Gerücht beruht, das wiederum auf eine Verwechselung zurückzuführen ist: gestorben ist Bernhard Mikulski und nicht Bernhard Witthüser aus I.). Das mit Bernhard M. tut uns beiden leid, das mit Bernhard W. tut gut. Und - wer hätte das je für möglich gehalten - machen wir nach über 30 Jahren wieder zusammen Musik: zwar keine W&W-Titel, aber einige alte Skiffle-Songs geben wir mit Ukulele und Mandoline zum Besten. Wir haben viel Spaß, das Publikum erst recht, 129 und wir schwelgen in Erinnerungen und stellen übereinstimmend fest: HURRA, wir leben noch... Irgendwie hört es plötzlich überhaupt nicht mehr auf, denn neben alten Freunden von damals tauchen 2004 (wie im TEHOMA-Kapitel beschrieben) alte Filmaufnahmen aus der Versenkung, bekomme ich Videos mit alten W&W-Aufnahmen, melden sich bei Andeutung einer W&W-DVD Freunde dieser unserer Musik aus ganz Europa - und nicht nur alte nostalgische Säcke, die in der Vergangenheit leben. Die "Krautrock"-Ära (!?)" wird auch in Deutschland endlich aufgearbeitet - und auch die beteiligten Musiker und Gruppen dieser Zeit finden Beachtung: in Büchern (Liederbuch Ruhr, Menschen und Projekte in Essen, Zappa Zoff und Zwischentöne, Aufgewachsen in Essen, Folk und Liedermacher an Rhein und Ruhr...), in Sondereditionen (z.B. beim German Rock e.V.) in div. Radiosendungen und im dtsch. Fernsehen (Kopfüber in die 60er, Schwarzes Gold-Musik im Ruhrgebiet...), auf diversen Samplern, und auch im Rocknpopkuseum in Gronau wird man fündig... Dann war es also wohl doch nicht ganz so uninteressant, was wir damals "gelebt" haben. Das würde auch meine Eltern freuen .. Walter 'Westrupp Essen 23.03.2002, letztmalig geändert 05.12.2012 130 ANHANG 131 DOC Dies sind nun zwei Versionen einer Geschichte. Sie stehen hier gleichberechtigt nebeneinander und zeigen, wie Erinnerungen in 25 Jahren zwei Eigendynamiken entwickeln. Und irgendwo dazwischen liegt die Wahrheit ... Walters Version Doktors Version Manche Menschen lernen sich kennen und niemand weiß hinterher genau, wo das war, zu welchem Anlass dies geschah und welche Menschen dabei waren: es war nicht wichtig genug, um den Speicher des Gehirnes damit zu belasten. Manche Bekanntschaften ende n hinterher ebenso und hinterlassen keinerlei Spuren. Es Wenn man alles genau wüsste, wäre Wahrheit keine Schande. Doch unser Hirn bastelt aus kleinen Puzzelteilchen ganze, lange Würmer, die in den Windungen Spuren hinterlassen und vergilben und mit Farbe neu bestrichen zu Variationen der einstigen wahren Geschichte wieder ganz frisch wirken. Nun aus gleichsam doppeltem 132 kommt vor, dass mich Menschen kontaktieren und ich sie nicht zuordnen kann: diese Bits und Bytes sind einfach gelöscht oder unbrauchbar oder einfach nicht gespeichert. Andere Begegnungen hingegen bleiben präsent - bis ans Ende. Und die ganz außergewöhnlichen (so wie diese hier) erzählt man immer wieder, und sie werden noch schöner und toller als sie sowieso schon sind: sie wachsen. Das erinnert ein wenig an Jägerlatein, wo das alte lahmende Wildschein in der Ferne zu einem wilden angreifenden Riesenkeiler wird. Wobei ich sagen muss, Gesichtswinkel die eigentliche Geiergeschichte, die einfach wahr ist, weil sie geschehen ist. Und da das Thema schon hinreißend ist, muss die Geschichte darüber schon eine besondere Würze bekommen. Personen auf Seite a) zwei Mann, sozusagen bereits Freunde, zwischen ihnen ein Vogelbauer (-käfig) mit zwei Wellensittichen, der eine blauweiß, der andere grüngelb, einer männlich und eine(r) weiblich (die so genannten Geier), aber das tut nichts zur Sache. Personen auf Seite b) ein Mann, sozusagen an dieser Stelle noch 133 dass diese unsere Geschichte sich genau so zugetragen hat, wie ich sie hier nun erzähle: Vorspann: Es war Oktober des Jahres 1978, und es war eine Woche, die es so richtig in sich hatte. Lange schon war geplant, dass in dieser Woche (am 12. Oktober - warum gerade an diesem Datum, zumal mitten in der Woche, weiß heute niemand mehr zu erklären) das 5jährige Bestehen der Walter h.c. Meier Pumpe gefeiert werden sollte. Dazu waren ca. 50 Leute eingeladen, u.a. Ulf Poseé (WDR II), Harry Owens (Veranstalter), Bernd Drescher (heute Radio Essen-Chef), jochen ohne Freund, dafür aber neben, vor oder hinter ihm zwei Hunde, beide groß, aber der eine kleiner, somit der andere größer als der eine, der auch wieder der andere sein könnte. Das Sein so betrachtet, könnte verwirrend sein, aber diese Geschichte wird die Lösung bringen. Vorspann: Es war Oktober des Jahres 1977 oder besser 1978 (1979 hat Castro nämlich zum Dr.med. promoviert). (Im Herbst dieses Jahres 2003 haben wir also Silberjubiläum.) Es war Freitag. Es begann somit ein Wochenende. Meine Frau (Elke) war mit unseren beiden Kindern (Knaben) und 134 Kruiper (Galerie Heimershoff), Erwin Weiß (Ruhrgebietsbarde), Theo Windges (Künstler u. Grafiker aus Krefeld) und jede Menge andere interessante Menschen aus dem Dunstkreis der Pumpe. Als wir unseren Hauswirt von unserem Vorhaben unterrichtete n, wurden wir von ihm schriftlich auf die statischen Probleme aufmerksam gemacht, die durch die körperliche Belastung von 50 Menschen auf die Holzbalken des ca. 100 Jahre alten Hauses zukommen würden und wir beim Tanzen nicht durch gleichmäßige Bewegungen das ganze Bauwerk in Schwingungen Sir Henry, unserem Hund (einem Bassett) in die Herbstferien nach Sylt gestartet, um meinen dort urlaubenden Eltern eine Woche angenehmste Unterhaltung zu bieten. Sie fuhren in unserem damals gerade 10 Jahre alt gewordenen MB 280 SE Cabrio (dunkelgruen, 7. Hand) und sind auch angekommen. Mich ließ man allein, weil ich schon einige Jahre selbständig war, was mein Verhalten und meinen Beruf anbetrifft. Dieser war von Grund auf sehr medizinisch, ich praktizierte in 3. Generation an gleichem Ort in der Frintroperstr. 42 in Essen- Borbeck. 135 versetzen sollten und damit zu einem Einsturz bringen würden - und wir die Vrantwortung und...und...und. Dann starb am Wochenende vor dieser geplanten Feier Helgas Opa - ein großer Verlust. Was tun: Trauern oder feiern? Denn Trauern und Feiern: geht das? Nach einer langen Familiensitzung entschieden wir uns für Beides; es wäre nicht in Opas Sinne gewesen, dieses Fest zu verschieben. Es wurde also donnerstags bis in den Morgen gefeiert, am Freitag Morgen ging´s dann quasi im Anschluss zur Arbeit. Von dort holte mich Helga dann per Auto zu Opas Beerdigung ab. Seit 3 Jahren hatte ich einen Partner und schickte deshalb meinen Vater öfter in Urlaub. Da ich an gleicher Stelle auch mein bisheriges Leben verbracht hatte, waren mit mir auch einige Typen herangewachsen, die diesem kleinen Areal in dieser Welt eine besondere Note verliehen. Dass dazu auch mindestens eine Kneipe gehört, gehört sich so und wäre ohne diese auch kaum interessant oder erwähnenswert. Also es war Freitag, das Wochenende drohte, es war „sturmfrei". Den ganzen Tag über hatte ich nichts Besseres zu tun, 136 Unterwegs zum Friedhof zog ich die mitgebrachten Trauersachen an. Das ging ganz gut - bis ich beim Schuhanziehen bemerkte, dass ich 2 rechte Schuhe anhatte. Es sah aus, als könnte ich nur linksherum laufen. Wenn wir auf die Schuhe guckten, dann mussten wir - trotz dieses traurigen Anlasses - lachen, bis die Tränen kamen. Also schnell einen Umweg über zuhause, einen Schuh ausgetauscht und ab zum Friedhof, wo wir in gebührender Form von Opa Abschied nahmen. Im Nachhinein sieht man dann, wie nah Glück und Trauer, Lachen und Weinen, als nachzudenken, wie man denn wohl dieses Wochenende angenehm zerlegen könnte. Nichts ist deshalb nahe liegender als einen guten Freund auf die Autobahn zu locken, um einem behilflich zu sein. Dieser Freund (irgendeiner hat mal begonnen ihn Castro zu nennen) bastelte in Würzburg in der Anatomie an seiner Doktorarbeit. Sonst begeistert über jeden Anruf und jede Untat, war er an diesem Tag eher kleinlaut, was sich bald erklärte, weil nämlich Herr Professor mit dem Finger über das Okular des Mikroskops gewischt hatte und mit grauen Spuren an den Fingern 137 Loslasen und Neies Greifen zusammen liegen, denn genau an diesem Tage - oder besser in der Nacht, nimmt auch die folgende Geschichte ihren Lauf. Wenn man dann noch bedenkt, dass dieser Tag ein Freitag ist, und der auch noch auf einen dreizehnten (13.) fällt, dann ist das zumindest eine Bemerkung wert, denn nicht alles, was an so einem sogenannten „schwarzen" Tag geschieht, ist negativ. Manches stellt sich im Nachhinein als Positivum dar. Aber genug der Vorrede - kommen wir nun zu den knallharten facts: meckerte, Herr Klehn, da haben sie wohl länger nicht dran gearbeitet. Dieser gute Freund war dadurch einfach eingeschüchtert und bedurfte weiterer Drohungen. Diese bestanden in der Bemerkung, unsere Freundschaft gerät in Gefahr, wenn Du nicht sofort ins Auto steigst und die 350 km hinter dich bringst. Er war also pünktlich vor Ort. Wir begrüßten uns herzlich. Wir waren beide sicher, dass unser Wochenende außergewöhnlich wurde, weil das immer so war, so waren wir eben sicher. Nach einem unbedeutenden Abendimbiss steuerten 138 Hauptspann: Es ist eine dieser ungemütlichen verdammt schwarzen Nächte. Die Sichel des Mondes streift, von dunklen Wolken verdeckt, den Sternenhimmel und nur manchmal fällt ein leichter Lichtstreifen auf die Frintroper Strasse in Essen, wo jetzt um 1 Uhr nachts freiwillig niemand mehr zu sehen ist. Ab und zu huscht ein Auto vorbei, sonst hört man nur das Pfeifen des Windes an den Hausecken und in den Bäumen. Ich bekomme das alles hautnah mit, weil ich mit meinen Hunden noch einmal Gassi um den Häuserblock gehe – dick eingemummelt und in tiefer Vorfreude auf wir gegen 20.00 meine Sauna im Keller meines Arzthauses an, die freitags immer für Freunde geöffnet war. Dass diese kamen, war auch sicher. Wie immer war auch für mich ein bildschönes Mädchen dabei, das aber nur mit vorgehaltener Hand meine Schwüre der Bewunderung einatmen konnte. Der Saunaabend verlief ohne Komplikationen und schloss gegen 23.00. Man verabschiedete sich. Castro und ich durchschritten mit leichtem Handtuch in tief schwarzer Nacht unseren Garten, um unser Wohnhaus zu finden. Dies gelang uns ungebrochenen Mutes. 139 mein warmes Bett zuhause. Die Hunde das sind Boris, der Schäferhund und Schnüffel, eine original Tierheim-Senfhündin (da hat jeder seinen Senf beigegeben und eine Bestimmung der Rasse ist dadurch unmöglich geworden) – sehen auch so aus, als hätten sie keinen Bock mehr und ziehen gen Heimat, wo ihre kuscheligen Körbchen auf sie warten. Wir haben unseren Rundgang fast beendet und stehen vor der eisernen Hoftür, die immer so schön quietscht und allen anzeigt, dass sich jemand daran zu schaffen macht, als ein ätzendes Spitzgebell Hauptspann: Nach Betreten meiner Wohnung drohte uns einfältige Langeweile zu berühren. Aber das war nicht von langer Dauer. Der Blick auf die Uhr überzeugte uns, dass die Zeit für noch das ein oder andere Hopfengedeck angemessen sei. Also bestiegen wir unsere Kleider und fassten in der Küche den Plan, das Haus wieder zu verlassen und die eine von den vielen netten Kneipen anzusteuern. Aber nun dauerten uns die beiden Geier auf dem Tisch, für deren Wohlergehen meine Frau vor der Abreise inständig gebeten hatte: "pass bitte schön auf m e i n e Tierchen auf!" Wo könnte uns 140 durch die Nacht gellt. Sofort rasen die beiden Hunde laut giftend los und hätten mich mitgeschleift, wenn ich nicht in letzter Sekunde die Hoftür zu fassen bekommen hätte. Mein Arm ist ausgekugelt, beide Leinen fast gerissen, die Hunde kläffen, in den ersten Fenstern geh´n die Lichter an – ich bin hellauf begeistert und zunächst darauf bedacht, die Hunde zu beruhigen. Das gelingt mir nicht, denn das Fremdgebell kommt näher. Jetzt kann ich auch langsam den Ursprung ausmachen: es ist gar kein Hund. Es nähern sich 2 Gestalten, von denen einer die solches besser gelingen als auf einem späten Ausflug in die „kleine Welt". Wir hatten es ja nicht weit, husch über die Straße, und schon waren wir am Ziel unseres Begehrens. Diese Kneipe, das „Schönebecker Eck", Frintroperstr. 25, ist ein Gasthaus mit etwa 100 Jahre Geschichte, das ist im Ruhrgebiet schon sehr viel. Der Baustil verrät das Alter, damals wurde noch an den Außenwänden mit sehr viel Stuck gearbeitet, die ganze Straße muss einmal so bebaut gewesen sein. Der Krieg hat vieles zerrissen, nur einige wenige Kleinode haben ihn überstanden. Auch 141 wunderbare Gabe besitzt, seiner Kehle diese ätzenden Laute entspringen lassen zu können. Diese zwei Gestalten – gestandene Mannsbilder - tragen zwischen sich ein großes Gestell und kommen langsam und gezielt und unaufhaltsam in meine Richtung, wobei sie versuchen, die gesamte Bürgersteigbreite auszunutzen. Ich hab keinen Bock auf Diskussion, auf Theater, auf weiteres Hundegekläff und sehe zu, dass ich schnellstens den Hauseingang erreiche: ich sammle die Hunde ein, habe den Hinterhof überquert und stecke gerade den Schlüssel mein Eltern- und gleichzeitig Großelternhaus hat einmal so ausgesehen. Was der Krieg damals nicht geschafft hat, hat dann die Bauwut der Städte in den späten 60-ger Jahren umgepflügt, weil doch die Straße zu schmal sei. Nun, die kommt auch heute noch mit der alten Breite aus, so dass ich auch im Vollrausch nicht nach neuen Maßstäben kramen muss, wenn ich sie überqueren will oder muss. Die Eingangstür auf der Vorderseite war bereits geschlossen, durch die Rollladen konnte man noch Licht erspähen, so dass unser Vorhaben nicht abgebrochen 142 in´s Schloss – da hör ich die quietschende Hoftür aufgeh´n: die beiden Gestalten verfolgen mich, sie kommen hinter mir her! Ich schließe die Haustüre auf und versuche, die sich sträubenden Hunde in den Hausflur zu ziehen. Die wollen natürlich wissen, wer oder was da in ihren Bereich einzudringen versucht und ziehen in die andere Richtung – es ist zum Mäusemelken. Ich zerre, ich ziehe, ich fluche, ich verfluche, ich hab´s fast geschafft, will die Türe schnell zuschlagen – da setzt jemand seinen Schuhfuss in die Tür. Ich drück von innen, werden musste. Ich kannte ja die Seitentür, die auch schon sonst einmal eher dem Verlassen der Kneipe gedient hatte. Die war nun zu. Klopfen brachte nichts, denn im Schankraum, den mein Freund und Kegelbruder Freddy besorgte, war es wohl so laut, dass unser Geräusch eher unterging. Guter Rat ist teuer. Aber manchmal hilft der Zufall. Dieser öffnete dann auch nach einer Weile, die dem Wartenden immer länger erscheint, als sie ist, in Form eines mir bis dato nicht bekannten, kleinen Mannes. Dieser kleine Mann war nicht sehr groß, aber trug einen Vollrauschebart, der 143 der/die anderen von draußen. Ich guck durch den kleinen noch offenen Türspalt und säusele in der mir eigenen verbindlichen Art: „Hey Chef, watt is los? Was soll das Theater? Soll ich die Hunde wieder rauslassen? Geht nach Hause, Mutti wartet bestimmt schon auf Euch!“ Aber der Chef will nicht geh´n. Er sagt, nein er nuschelt durch den Türspalt und wedelt dabei mit seiner Fahne: „Mutti ist weggefahren. Wir sind ganz alleine. Ey Mann, Freund, Bruder: lass uns rein.“ „Wie rein: zu wem wollt ihr denn?“ „Wir wollen zu Freddy.“ (Dazu muss ich erklären: wir wohnen über einer Kneipe. Und der Wirt eben angraute. Er war fast sehr bekleidet und war von zwei Hunden umgeben, die uns ob unseres Erscheinungsbildes genauso ungläubig aber umso eindringlicher beäugten wie er, da sie gewohnt waren, ihr Haus ungestört durch dieses Portal zu verlassen, wie auch ich es gewohnt war, dass diese Tür nur mir zu unzeitiger Stunde mit Freuden geöffnet wurde. Das war wohl heute mal etwas anders. Den gerechten Sinn in der Überzeugung, dass wir alle rechtens handelten, ging keiner dem anderen aus dem Weg. Bevor Fäuste im Dunkeln aufeinanderprallen, ist 144 dieser Gaststätte heißt tatsächlich Freddy.) Also vielleicht Freunde von Freddy – ich versuche also, mein Gesicht zu einem etwas freundlicheren Ausdruck zu verzerren und öffne den Spalt ein wenig mehr, um zu sehen, wen ich nun tatsächlich vor mir habe: 2 Herren gesetzteren Alters, der eine schon etwas angegraut mit hellem Vollbart, der andere schwarzhaarig, beide gut beleibt, beide Brillenträger, beide gut gekleidet – scheinbar keine Penner. Besonderes Kennzeichnen: der Grauhaarige hat einen Vogelkäfig in der Hand, in dem zwei Wellensittiche - auf den es guter Brauch, der Dialektik freien Lauf zu lassen. So auch nun. Viele Vergleiche und Beteuerungen wurden gegenseitig auf den Weg gelassen, aber nichts überzeugte. Rhetorische als auch physische Übermacht drohten immer wieder den Weg alles Irdischen zu gehen. Als dann gar nichts half, den Eintritt zu erlangen, musste die verbale Keule angesetzt werden. Diese saß! „Wenn Sie nicht Besitzer eines Eigenheims sind sondern nur Mieter einer billigen Wohnung über einer Kneipe, sind Sie für mich kein Gesprächspartner!" Die Tür war auf, wir betraten erfreut den 145 Boden gekauert – mich und meine beiden Hunde im Auge haben: hoffentlich greifen die nicht an... Zunächst versuche ich den beiden zu erklären, dass der Eingang zur Kneipe vorne an der Straßenfront zu finden und dies hier hinten nur der Eingang für Hausbewohner ist. Nun folgt immer Rede und Gegenrede: Ja, aber vorne ist schon die Rollade runter gelassen und der Eingang zum Gastraum dadurch blockiert. - Dann ist die Kneipe eben schon geschlossen. - Nein, wir haben doch noch Licht gesehen durch eine Ritze in der Rollade. – Dann klopft dort an – Haben wir schon, aber Kneipraum, der uns mit seinen typischen Gerüchen und Geräuschen auch gleich in Besitz nahm. Wundern tat sich das mir im Wesentlichen bekannte Dauerpublikum nur etwas über meine Begleitung, nicht den Freund Castro, der nicht gerade groß ist – den kannte man schon aus derben Vortragen -, nein über die Geier und ihr Haus aus goldähnlichem Drahtgeflecht, rund wie der Erdball, und da, wo sonst die Längs- und Breitengrade sind, waren hier die goldähnlichen Drähte. Auch ein Wasserbecken im Vogelbauer war noch halb gefüllt und die 146 der Wirt reagiert nicht – Der will Euch vielleicht gar nicht sehen. – Doch, wenn er wüsste, das wir hier sind, würde er sich tierisch freuen und sofort aufmachen. Der hört uns sicher nicht: lassen Sie uns doch rein. – Nein (sag ich jetzt mit fester Stimme und versuche zu erklären warum:) Angenommen, wir würden uns kennen und ich will Sie mitten in der Nacht besuchen und klingle bei Ihnen. Sie wollen mich aber nicht sehen und machen also auch nicht auf und stellen sich Vonzuhauseabwesend. Da ich aber annehme, dass Sie doch zu Hause sind und das Klingeln vielleicht nicht gehört haben, klingele beiden Spiegel waren auch noch klar, sie finden im Nachspann noch ihre Bedeutung und Erklärung. Schnell erreichten uns die ersten Hopfenkaltschalen der Marke Stauder, die dem Saunanachbrand den Löschansatz lieferten. Die Geier waren still, denn sie waren ja bei mir, dem Auftrag meiner Frau Elke folgend. Sie standen nebst Behausung auf einem Tisch und äugten dem unbekannten Spiel. Die Gedanken wollten mich nicht verlassen, dass meine kaum verflossenen Worte wohl einem noch Fremden wehgetan 147 ich bei Ihrem Nachbarn, der mir aufmacht und mich ins Haus lässt. Da steh ich dann vor Ihrer Wohnungstür und randaliere dort weiter...Das fänden Sie doch sicherlich auch nicht so super? Sagt der Graumann trocken: „kann mir nicht passieren - ich wohn im Einfamilienhaus!" Das sitzt - ich bekomme einen ganz ganz dicken Hals: ich trete auf den Schuhfuss, der in der Tür steckt, der wird auch schnell zurückgezogen, ich klapp die Tür zu und schließ ab, geh wutschnaubend nach oben, weck meine Helga und erzähle ihr diese unglaubliche Geschichte, denn wenn haben könnten, als sich schon bald die Tür öffnete, und eben dieser Mann die Kneipe betrat. Da dieser Schritt wohl zu seinen Gewohnheiten gehörte, musste dieser Tatbestand erst einmal auf Richtigkeit überprüft werden. Zudem war auch sein Stimmungsbild abzutasten. Er hätte ja, wie schon angedeutet, etwas stinkig sein können. In solchen Situationen ist immer wieder die Spende eines Gemäßes sehr hilfreich. Schauen, wie es angenommen wird. Wird dann noch der Zutrunk bei nicht Ablehnen des Gemäßes auch über 148 ich die jetzt nicht sofort losgeworden wäre, hätte ich die ganze Nacht nicht geschlafen (und das Einschlafen dauerte auch so noch lange genug...) Nachspann: Der nächste Morgen kommt und der Tag geht und ein schöner Abend folgt, an dessen Ende wir uns spontan entscheiden, noch ein Absackerchen zu uns zu nehmen und den Abend in der Kneipe unter uns mit einem schönen Gläschen Gerstenkaltschale zu beschließen - und wir begeben uns 30 Stufen hinunter in die Gasträume unserer Hauskneipe (wer kann so was schon diagonalste Entfernung erwidert, ist man schon etwas sicher. Aber eben noch nicht ganz. Erst ein 2. Gemäß wird richtungweisend. Und diesen wahnsinnigen Versuch haben wir unternommen und durften nun den Abend als gelungen erkennen. Nun näherten wir uns, wir vormaligen Kontrahenten und outeten uns gegenseitig. Dieses Procedere war sehr nachhaltig, da wir doch noch nicht wissen konnten, dass wir mit diesem Akt den Grundstein für eine dauerhafte Freundschaft gelegt hatten. In diesem Punkt sind nun beide Berichte über das Erlebte und das Nachherein völlig 149 vorweisen: eine ganze Kneipe im Haus). Als wir dort nun mit unserem Frischgezapften in der Hand unsere Blicke durch den gut gefüllten Gastraum schweifen lassen – da trifft mich doch der Blitz: meine Brille beschlägt, die Hand mit dem gefüllten Bierglas beginnt zu beben. Ich trinke erst mal schnell ein Schlückchen ab, damit nichts verkleckert, und flüstere leise meiner Frau in´s Ohr: „Du, da, guck mal gleich – aber ganz unauffällig - an die Thekenecke dort hinten. Ich glaub, das ist einer derer von gestern Nacht – Du weißt schon: der Beller!“ Bevor meine Helga unisonor. Dass die Nacht damals noch ihren weiteren Fortgang hatte, wird jeder zu glauben bereit sein, das soll aber der Nachspann berichten. Nachspann: Die Kneipe verließen Castro, die Geier nebst Käfig und ich gegen 4.00 in der Früh. Nur die Straßenlaternen gaben Licht, die Geier haben kurzfristig tief durchatmen können, denn soviel Rauch hatten sie noch nie erlebt, wir hatten zu Hause schon mal kurz Besuch von Rauchern. Nun, wer Hobbys hat, der hat sie auch des Nachts. Eins meiner größten Hobbys war 150 überhaupt gucken kann, fühle ich die Augen des „Fremden“ über mein Anlitz gleiten – und ich sehe Erstaunen über sein bärtiges Gesicht huschen. Er steht auf, bahnt sich mit seinem alles überragenden Körper den Weg durch die Kneipe und kommt auf mich zu. „Hallo“, sagt er „ist es möglich, dass wir uns gestern kennen gelernt haben?“ Kennen gelernt ist gut!!! Ich antworte höflich „Ja, gut möglich: es war zwar dunkel, aber ich glaub, das waren Sie an der Hintertür“. „Dann hätte ich da eine Frage, die mein Herz quält und mit einer entsprechenden Antwort können Sie vielleicht etwas Helligkeit in meine Freitagnacht meine Freunde, die Bäcker, zu besuchen, weil die dann schon arbeiteten. Manche freuten sich, Jahre später haben sie große Eisentore fertigen lassen, um sich gegen mein Hobby zur Wehr zu setzen. Aber damals freuten sie sich eben noch. Also gingen wir zu Ede, eben an der gleichen Straße, Nr. 47, in seine Backstube. Ede nannte sich schon damals Großbäcker, weil seine Nachbarn kleiner waren, Backstube oder Brötchen oder so. Wir durften, weil wir eben noch gerne gesehen waren, auch helfen. So sahen wir bald so weiß aus wie seine Gesellen, die sich auch freuen 151 verdunkelte Seele bringen: hatte ich meinen Vogelkäfig noch dabei?“ Nun, das kann ich ja nun reinen Gewissens bejahen – doch diese eigentlich doch positive Antwort scheint ihn nicht so recht zu befriedigen. Da ich – durch mein langes Leben psychologisch geschult – merke, dass diesen Mann etwas existenzielles bedrückt, frage ich vorsichtig nach: „Warum fragen Sie?“ (Ich hätte Psychiater werden sollen). Ja, und dann hören wir eine Geschichte, wie wir selten eine gehört haben (und das irre ist: sie ist wahr): Seine Frau ist in Urlaub gefahren und hat ihm aufgetragen, sich konnten, vor allem, wenn wir noch etwas Trinkbares bei uns hatten. Wir hatten meistens, man kennt ja die Bedürfnisse des anderen, das sind besondere Fähigkeiten bei Arbeitsmedizinern. Also kneteten wir im Teich und gaben die Portionen auf die Waage. Die Geier im Bauer standen auf dem Boden. Sie hatten die Bemehlung, die uns ebenso zufällig traf, wie sie, nicht so gerne. Also nutzten sie ihre Flügel, um den Ballast abzuschütteln. Irgendwann maulte dann ein Geselle: „Boh, wenn morgen ein Kunde Vogelfedern im Brötchen findet, dann wird et im Umfeld ganz schön stinken." Was 152 während ihrer Abwesenheit um die beiden Wellensittiche zu kümmern. Das hat er sehr ernst genommen und hat diese beiden Vögelchen mit auf seine Kneip(en)kur genommen, auf dass er sie immer im Auge habe. Nur – irgendwo, irgendwie und irgendwann in der Nacht sind die Vögel wohl flügge geworden und abhanden gekommen, denn als er des morgens (immerhin im eigenen Bett) erwacht, sind die Vögel nicht mehr da. Und nun ist er auf der Suche nach ihnen und dem Ort, wo sie zuletzt gesichtet wurden, um ihren Verbleib vielleicht doch noch festzustellen und die beiden zurück blieb mir anders übrig, die Stellung zu halten, als Castro zu bitten, die Geier aus dem Gefechtsbereich zu befördern. Ich dachte, er hätte den kurzen Weg nach Hause nicht gescheut, aber er nahm den noch kürzeren und stellte sie vor den Eingang des Geschäfts von Ede, also vor das Haus. Nach Abschluss unserer Hauptarbeitszeit in der Backstube, wählten wir den Heimweg. Im Ehebett angekommen, bemerkten wir, dass wir die Geier vergessen hatten. Noch mal in die Hosen zu steigen, war zu mühsam und auch nicht gerade produktiv, also nahmen wir uns 153 zu bekommen, da ihn ansonsten der geballte Zorn seiner Gattin treffen wird (und der muss wohl ganz furchtbar sein). Tja, der Mann ist zwar nicht am Boden, aber wir nehmen seine Sorgen sehr ernst - wir spaßen und scherzen, erzählen uns Tiergeschichten (er über seinen Basset und wir über unsere Hunde) und er ist ist gar nicht so übel wie auf den ersten Blick, wir trinken das eine und das andere zusammen und erzählen und lernen uns kennen und sind uns irgendwann auch gar nicht mehr unsympathisch – und da er sich als Arzt outet und in unserer direkten vorab den Schlaf. Castro hat wohl ohne innere Uhr geschlafen, denn er sprang schon kurz nach Sonnenaufgang, gegen 11.30 aus den Federn, um nach dem Federvieh Ausschau zu halten. Ich habe mich noch mal auf die andere Seite gedreht, wurde dann aber auch wach, als er nach 5 Stunden noch nicht wieder eingetroffen war. Sollte es so sein, dass die lieben Tierchen weggeflogen sein könnten oder gar bösen Buben gefolgt sein könnten. Die Tiefsinnigkeit war nicht aus zu malen, die mich ergriff. (Phase 1) Irgendwann kam Castro 154 Nachbarschaft praktiziert und wir als "Tutrocken" (relativ frisch Zugezogene) doch noch einen in der Gegend und auch sonst und na ja: wir wünschen ihm viel Glück bei der weiteren Suche nach seinen Vögeln und verabschieden uns gegen Morgen mit den gar schon fast freundschaftlich zu nennenden Worten: „Man sieht sich“. Und wie das Leben manchmal so spielt – 2 Wochen später bin ich schlecht: mich zieht es im Kreuz und damit in die Praxisräume schräg gegenüber zu diesem Doktor, und er erkennt mich und ich ihn - und nach der Untersuchung zurück, sehr traurig, denn alle Bekannten, die er an diesem Tag im Umkreis von Sittichflugstunden aufgesucht hatte, waren sprachlos und entschlossen, durch heftiges Kundtun des Ereignisses für seine verbale Verbreitung zu sorgen. Bevor mich Phase 2 erfasste, haben wir den Samstagabend gediegen begangen. Die Trauer über den Verlust kam aber noch nicht zum richtigen Höhepunkt. Das gelang Castro erst mit seinem Abschied am Sonntagmittag. In der nun erlebten Einsamkeit beschlichen mich Endsinne (eigentliche Phase 2). Frauen können in ihrem 155 frage ich ihn natürlich nach dem Fortgang der Geschichte mit seinen Vögeln. Und er erzählt: Nachdem er wusste, dass er die Vögel in der Kneipe noch hatte (was ihm auch einige Gäste bestätigten), führt ihn sein Weg zu Ede, dem begnadeten Krustenbrotbäcker auf der nächsten Ecke, wo er wohl die letzte Station in besagter Nacht eingelegt hatte, um dort beim Backen zu helfen (?) und das eine oder andere Bierchen zu leeren. Und hier hat er, um Federn in den Brötchen zu vermeiden (was nach Ansicht von Ede die Kundschaft zu falschen Schlüssen bringen könnte) und die Nacht mangelnden Verständnis für Männertaten sehr grausam sein. Sie verabscheuen den Krieg, aber sie entfachen ihn. Das Hirn fetzt, es holt aus, es stößt an die Hülle, die Augen werden dadurch wackelig, auch schon mal feucht. Aber Humor ist in solchen Fällen eher unsinnig, zumindest wenig hilfreich. Ach ja, Hilfe findet man bei der Telefonseelsorge in Form der Schwiegermutter. Das ist, wenn sie richtig ist, und das war sie, die beste Lösung. Weil sie einen besser kennt als die eigene Tochter und auch viel einsichtiger ist als dieselbe, erwartet man eben verständiges 156 lau war, den Vogelbauer samt Inhalt nach draußen auf den Bürgersteig vor der Bäckerei gestellt - und ihn dort vergessen. Am nächsten Morgen (oder war es gar Mittag) war der Käfig weg. Trotzdem die Straße sehr belebt ist, fanden sich keine Zeugen, die etwas über den Verbleib berichten konnten. Was tun? Der Tag der Rückkehr seiner lieben Frau näherte sich. Tierheim, Polizei, Feuerwehr: keine Geier gefunden. Letzter Rettungsversuch: eine Suchanzeige in der Zeitung. Nach Durchgabe des Anzeigentextes erfolgte ein Rückruf der Gehör. So war es dann auch anfänglich. Ihr guter Ratschlag, geh doch zu Karstadt und kauf zwei neue Geier, reichte mir nicht, weil ich doch wusste, für diesen dämlichen Käfig, ein Erbstück geringeren Wertes meiner lieben Großeltern, gab es keinen Klon. Also blieb mir keine andere Wahl, Elke ein wenig den Verlust zu beichten. Was meine Schwiegermutter zu der Äußerung veranlasste: „na bitte, wenn Du lebensmüde bist!" Nun saß ich so in meinem Sessel, ganz allein, Angst machte mich nieder, Angstschweiß benetzte meine Glieder, bis auf eins, auch das war 157 Anzeigenannehmerin, ob er bei dem durchgegebenen Text bleiben wolle und ob der wirklich so in Ordnung wäre. JAWOHL: „2 Wellensittiche samt Vogelbauer entflogen. Sachdienliche Hinweise an Telefon-Nr. Belohnung". Am übernächsten Tag erscheint die Anzeige, und gegen 11:00 wird ihm ein Telefonat durchgestellt mit dem Hinweis: eine heiße Spur im Vögelfall. Am anderen Ende der Leitung wird ihm zu verstehen gegeben, dass man dort im Besitze eines Vogelbauers mit 2 Vögeln wäre: er solle Vögel und Käfig weg. Nun gut, ich rief zu mir, sei ein Mann und hör auf mit dem Gezeter und gehe in den Krieg. Ich griff zum Hörer, wählte die Vorwahl, verwählte mich nicht, wählte die eigentliche Anschlussnummer. Eine noch glückliche Stimme entbot mir den Gruß. Doch dann, nach meinen ersten Worten brach das Unwetter los. Grausam, verächtlich, Tierschinder, die Worte überschlugen sich und begruben mich. Ich hörte nur noch Polizei, Tierschutzverein, Anzeige in der WAZ (Phase 3). Ich war nach dem Auflegen wie erlöst und sogleich gehorsam, die Polizei 158 beschreiben. Er beschreibt die Vögel (wie will man 2 Wellensittiche beschreiben), aber zum Bauer kann er detaillierte Angaben machen: der habe mehrere Spiegel, da seine Frau zum Luxus neigen würde. Nun, das käme hin und man verabredet, dass der „Finder" die Geier in die Praxis bringt. Nach einer halben Stunde kommt die Sprechstundenhilfe hereingesaust und flüstert ihm in´s Ohr: da ist so ein Penner mit einem Vogelbauer: wir haben den sofort in´s Untersuchungszim mer 2 gesteckt, damit den hier keiner sieht und die anderen Patienten nicht hatte nichts gesehen, der Tierschutzverein fühlte sich auch kaum zuständig. Es musste Montag werden. Und es ward. Zurück an meinem Schreibtisch ging ich meiner Aufgabe nach und behandelte meine Patienten und auch die von meinem Partner, der auch die Herbstferien genoss. Also Ablenkung war reichlich gegeben, meine Damen (so nannte ich meine Helferinnen) waren sehr lieb zu mir, denn sie hatten schon am Wochenende mein Missgeschick genüsslich eingesogen. Die erste Pause ließ mich den Hörer vom Telefon abheben. „Hier ist die 159 abgeschreckt werden. Der Obdachlose erzählt auf Nachfrage, er habe den Vogelbauer im Schlosspark gefunden, wo er mit dem lebenden Inhalt bei Mondenschein auf einer Bank gestanden hätten, und aus Mitleid - und weil die beiden so alleine und er auch und die Nacht so dunkel und sie alle 3 doch dann nicht mehr alleine... habe er sie zu sich genommen. Egal, ob die Geschichte nun stimmte oder nicht: die Vögel waren wieder da. 20 DM wechselten den Besitzer (und was sind schon DM 20 gegen einen lebenslänglichen Bannstrahl einer verbitterten Ehefrau), der Tippelbruder wurde Anzeigenannahme der WAZ Essen", „hier ist – ja hier ist", ich nannte meinen Namen. Ich gab die Anzeige auf: "Zwei Sittiche nebst Käfig Nähe Fliegenbusch (d.i. ein Verkehrsknotenpunkt direkt nebenbei) verloren. Telfonnummer:…". Danke, auf Wiederhören. Das geschah nach zwei Minuten. Die ungläubige WAZAngestellte wollte meinen Text nicht verstehen. Brauchte sie doch auch nicht, sie sollte ihn doch nur drucken lassen. Also am Dienstag stand die Anzeige in der Zeitung. Ich arbeitete wieder sehr freundlich 160 über den Hintereingang entsorgt und die Welt hatte ihren Mittelpunkt wiedergefunden und kam wieder zur Ruhe. Ja, das ist die ganze Geschichte. Geschrieben mit dem Füllfederhalter der Wahrheit: meiner Wahrheit. Und ich lasse diese meine Geschichte auch von meiner Frau Helga gegenlesen, denn die war bei einigen Aktionen ja direkt dabei bzw. ist stehenden Fußes immer direkt informiert worden über den jeweiligen Stand der Dinge. Und als wir eben, wie wir es nach dem Essen eigentlich immer zu tun pflegen, bei einem und friedlich, im Nacken immer noch dieses komische Gefühl (Phase 1-3), einige nennen so was ein schlechtes Gewissen. Ich kannte das bisher nicht, so glaubte ich ihnen. 10.30. Meine Damen stellten mir ein Gespräch durch. „Hier ist Herr Walpurgis, Sie haben da eine Anzeige in der Zeitung." Ich kannte den Herrn Walpurgis noch nicht, war es doch ein sehr schöner, zur Situation fast passender Name, so ein bisschen Goethe, wie wohltuend bei der Faust im Nacken. Unser Gespräch zog sich etwas hin, denn er 161 Gläschen noch zusammen sitzen und die Geschehnisse des Tages Revue passieren lassen und ich erzähle, dass ich an dieser Geschichte sitze und die jetzt zu Ende schreiben will, da kommen diese Erinnerungen auch noch einmal bei ihr hoch. Und wir stellen übereinstimmend fest, dass aus dieser Begebenheit, die nicht gesteuert oder forciert war von irgendeiner Stelle (es sei denn von ganz oben!) sich eine tiefe Freundschaft und Verbundenheit in einer Art und Weise entwickelt hat zwischen beiden Familien, übergegriffen hat auf Eltern und Kinder, wie es schöner nicht sein wollte genau wissen, wie die Tierchen aussähen, auch den Käfig ließ er sich exakt beschreiben – bis hin zu den beiden Spiegeln – denn meine Frau neige zum Luxus, tat ich ihm vorfreudig kund. Nachdem ich ihm seine Wohnadresse abgeschnüffelt hatte, wusste ich, dass er in einem Obdachlosenheim in der Nachbarschaft wohnte, und auch, dass diese Klientel bei meinem Partner versorgt wurde. Da die meisten von ihnen unter Bewährung standen, wirkten meine Vorwürfe Wunder. Die Geier waren binnen 20 Minuten wohlbehalten wieder bei mir. Sie 162 kann. Beispiele: • unsere Eltern (Jürgens beide und Mutter meine, jeweils 94 Jahre alt) besuchen zusammen ein Konzert von mir. • wir Väter gehen über Jahre zusammen mit unseren Kindern und deren Freunden jeden Freitag Squash spielen • Sven (Sohn Dr.) und Thomas (Sohn meiniger) studieren zusammen, firmieren zusammen und gehen nebenher zusammenarbeiten (und sind nicht schwul) • und diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Nein, diese Nacht möchte ich nie missen und sage Danke - auch boten keine Zeichen einer Belästigung und waren auch nicht exsicciert, denn Herr Walpurgis – ein hoch gewachsener, sehr dünner Vertreter seines Geschlechtes wie auch sein Begleiter, das glatte Gegenstück, ein kleiner Dicker hatten den Tierchen wohl regelmäßig Körnchen und andere Flüssigkeit angeboten. Getreu dem Wahlspruch: Vögeln sollst Du stündlich frisches Wasser geben. Wir wurden mit einem Zwanni (gebietsübliche Bezeichnung für einen Schein der 20,- DM Güte) schnell handelseinig, und sie verabschiedeten sich gebührend, hatte doch ihr nächtlicher 163 an Castro, Jürgens Zeugen und Helga, meine Zeugin.. Ich sehe gerade: trotz engerer Spalte (?) ist meine Geschichte immer noch kürzer aber Dr. Jürgen Remy ist eben auch geübter im Schreiben (Rezepte und so). Ich will jetzt auch nicht die Sache mit der Q & Q zur Sprache bringen, aber schließen mit dem Satz: Freundschaft ist doch was Tolles. Spaziergang und die Lüge, sie hätten die Tiere im Schlosspark gefunden, einen lohnenden Abschluss ohne negativen Nachgeschmack gefunden. Ich legte mein Haupt auf meinen Schreibtisch, betrachtete den Käfig nebst Inhalt und habe laut für sehr lange Minuten gelacht. Dann griff ich zum Telefon und erreichte meinen Vater auf Sylt. Auf meine Bemerkung „Entwarnung" rasselte es wieder Unverständnis. Wenn er mich zu fassen kriegen könnte, wären Handgreiflichkeiten nicht von der Hand zu weisen, denn meine 164 Frau hätte ihm drei Tage seines Lebens gestohlen. Hier in Essen, sozusagen zu Hause, bei meinen alten und besonders meinen neuen Freunden wurde das ganz anders gesehen. Ja sogar so nachhaltig, dass diese Geschichte einfach Innbegriff einer Kontaktsuche und findung geworden ist. Die Jahre haben der Geschichte Glanz und Glimmer verliehen. Heute lachen und witzeln alle Beteiligten über das Erlebte. Selbst Castro hat damals seine Promotion mit bestem Erfolg durchstanden. Und auch aus dem von 165 Elke angedrohten Hausverbot ist dank meiner hartnäckigen Intervention nichts geworden. (Was geworden wäre, wenn die Geschichte anders ausgegangen wäre, ist kaum zu sagen, sie hätte wohlmöglich auch die mir angedrohte Scheidung umgesetzt). Und Walter Westrupp bringt die Wahnsinnsgeschichte in sein Buch, und ich in meins, weil wir doch unsere Versionen nur abgleichen wollten. Freundschaft ist doch was Tolles. 166 Wehrdienst des W. Westrupps Die Wege des Herrn sind unergründlich: er lässt es zu, dass ich 1968 meinen Dienst für das Volk antreten muss. Dreimal hatte meine Cola-Therapie wunderbar angeschlagen: ich wurde wegen zu hohen Blutdrucks zurückgestellt. Als ich diese großen Mengen Cola nicht mehr sehen, geschweige denn trinken kann, werde ich prompt eingezogen. Fortan kämpfe ich nicht nur gegen die Russen, ich kämpfe fortwährend um meine Bart, muss laufend in die Gaskammer, werde getrietzt, bekomme den Wochenendurlaub gestrichen. Ich bin (k)ein guter, aber ein lu(i)stiger Soldat, der immer wieder tollen Stress mit seinen Vorgesetzten hat - verschlafen, Schuhe nicht geputzt, Haare zu lang, patzige Antworten gegeben, in die falsche Richtung geguckt, mit der 167 falschen Hand gegrüßt: die ganze Palette rauf und runter eben. Mein einziges Plus ist meine wunderbare Sopran-Stimme: ich brülle beim Stubenappell - als Stubenältester bin ich per Gesetz dazu verpflichtet - so laut meine Meldung, dass die ganze Kaserne stramm steht. Nach einem ½ Jahr Eingewöhnungs- und Anpassungszeit werde ich aufgrund meiner hervorragenden kämpferischen Veranlagungen in die Kaserne Essen-Kray versetzt. Dort werde ich nun ganz neu eingekleidet und bekomme (ich gebe zu: nicht ganz gegen meinen Willen) neue wunderbare Kleider - und alle diese schönen Sachen sind irgendwie reichlich groß: der Helm sitzt auf Augenhöhe, die Jackenärmel sind ca. 10 cm zu lang bzw. meine Arme zu kurz, der Mantel erreicht Zeltdimensionen und schleift über den Boden, und mein Beinkleid (das man wg. des langen Mantels leider nicht mehr sehen kann) wirkt wie eine Korkenzieherhose Marke Volkschullehrer. Als ich damit zum ersten Mal Torwache schieben darf und in Ausübung meiner Pflicht heldenhaft den Kommandanten kontrolliere, ist dieser so erfreut ob meines Outfits, dass er mich stehenden Fußes zum Wachhabenden beförderte und vom aktiven Wachdienst abzieht (er murmelt dabei etwas von Schädigung des Ansehens der Bundeswehr in der Öffentlichkeit?). 168 Als dann endlich irgendwann (nach entsprechend lancierten Nachrichten) allgemein endlich bekannt wird, dass ich ein echter Künstler und damit ein echter Outsider, werde ich - auch dank meiner Bekanntschaft mit den Schwimmern von Essen 06, die alle guten Jobs wie Waffenkammer, Schreibstube etc. innehaben - mit der Maßgabe, meinen mittlerweile auf Schnauzbart geschrumpften Bart auf das wirklich "Notwendigste" zu kürzen, als Ordonanz in´s Kasino versetzt, wo ich fortan unter Einsatz aller meiner damals schon vorhandenen handwerklichen und intellektuellen Fähigkeiten Kaffee koche, Billard spiele, Küchenschaben unter den Kartoffeln verstecke und nach Feierabend mit meinem Oberfeld den „Goldenen Anker“ in Duisburg besuche. Der durchaus gewollte positive Effekt der Versetzung: ich bin nahe der Heimat, kann aufgrund des Schichtdienstes wieder als Disc-Jockey (im Bistro) arbeiten und bin zurück in der Szene. Ich habe ein warmes Zimmer, ich habe frei Essen und trinken, ich bekomme einen zugegeben kargen Sold, aber kann mir nebenher einiges dazuverdienen: es geht mir gut. 1969 werde ich nicht unehrenhaft als Stabssoldat entlassen. Damit ist das Kapitel "Dienst für den Staat" aber nicht abgeschlossen. Als Begründer der 169 "Jesuspilz"-Bewegung stelle ich den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung: und da geht es erst mal richtig los 170 Kriegsdienstverweigerung des W. Westrupps Den harten Dienst am/für´s Vaterland habe ich heldenhaft und ohne nennenswerte Verletzungen von 1968 bis 1969 abgeleistet und überstanden nur das war ja quasi gewissermaßen Späßchen in Friedenszeiten. Mir wird mit etwas Abstand dann auch klar und deutlich: noch mal willst Du so etwas nicht mitmachen - vor allem nicht, wenn´s mal richtig kracht....Was soll ich denn auch bei einem Ernstfall machen, außer meine Haut und die der mir Anvertrauten zu retten. Bei meiner äußerst ehrenhaften Entlassung aus dem Dienst für unser Volk habe ich ein Schreiben erhalten, in dem mir unter dem Blausiegel der Verschwiegenheit mitgeteilt wird, dass ich mich im Ernstfall an einer Brücke (welche sage ich nicht, das ist Geheimsache - und ich bin entsprechend vergattert) einfinden soll, um diese zu verteidigen! Ich habe aber doch nur kellnern und Billiard spielen gelernt! Daher nehme ich an, dass ich dort die aktiven Kämpfer mit Getränken versorgen sollte - im Granatenhagel einen Cai Pirinja servieren - und vielleicht ein bisschen Ukulele spiele im Bombenhagel. Aber wer hört mir da zu? Neee, das kann es doch nicht sein. 171 Ich beschließe daher nach schweren inneren K(r)ämpfen, den dornenreichen und langen Weg eines Kriegsdienstverweigerungsverfahrens zu beschreiten. Ich bereite mich mit Freunden/innen, Insidern, Rechtsanwälten und anderen Fachleuten aus unserem Dunstkreis auf dieses Verfahren vor und formuliere meinen Antrag nach bestem Gewissen und stelle ihn an einem verregneten Tag Ende September.1969. Flugs nach 2 Monaten werde ich aufgefordert, diese meine Gründe (in Ruhe) noch einmal ausführlich und schriftlich so zu fixieren (Werdegang, berufliche (?) Pläne, Lebenslauf, Hobbies, gemeinnützige Tätigkeiten etc.) , auf dass die Jury bei ihrer Entscheidung meine gesamte Persönlichkeit und mein sittliches Verhalten entsprechend zu berücksichtigen in der Lage sein würde. Zudem soll ich 2 Zeugen mit Postleitzahl (also wohl festem Wohnsitz) aufbieten, die meinen drängenden Wusch und die innere Qual, die Ursache dieses Verlangens nach Verweigerung war, bestätigen können. Die ersten Punkte erfülle ich schnell - dafür gibt´s ja genügend Vorlagen (auch wenn´s damals das Internet noch nicht gibt). Jetzt noch 2 Zeugen. Da ist zunächst unsere langjährige 172 Weggefährtin Bärbel Saß, die mir schriftlich bestätigt, dass ich schon immer (also solange sie mich kennt) gegen Krieg bin. Das untermauert sie mit Zitaten und Aussprüchen, die ich während verschiedener Gelegenheiten von mit gegeben habe: • auf einem Sockel am Burgplatz sitzend und ein Soldat in Uniform vorbeigeht:das sieht nicht gut aus - sowas möchte ich nie mehr tragen. • auf einer Fete bei Kuno, als sich mir ein Mädchen mit den Worten verweigert, ich sollte mal an die Soldaten in Vietnam denken: die könnten auch nicht immer, wenn sie wollten: Siehst Du: Krieg ist Scheiße. • als wir auf dem Weg zu einer Demo an einer Kaserne vorbeikommen: die armen Schweine da drin - was haben die vom wirklichen Leben. • bei der Durchsicht einer Underground-Zeitung, in der ein Paar beim Beischlaf abgelichtet ist: Es dürfte nur noch mit Waffen der Liebe geschossen werden, und zwar im Bett. • als ich einmal von Erich Dittges mit dessen Frau im Bett überrascht wurde (in Erichs Bett):: Erich, wir müssen diese Sache gewaltlos bereinigen. • als ich "Tolkien" lese: selbst in der Literatur ist Krieg furchtbar - wie dann erst im wirklichen Leben. 173 Der 2. Zeuge ist Berhard Witthueser, Mitbegründer der von uns ins Leben gerufenen Jesus-Pilz-Bewegung. Leider liegt mir das Originalschreiben nicht mehr vor, ich weiß aber noch, das hier viele Brösel-Zitate aus dem Positionspapier der Bewegung angeführt waren, die für uns ja nun quasi Gesetz waren und alle untermauerten, dass ich quasi als ein Apostel einzustufen sei und meine religiösen Grundwerte mir den Dienst mit einer Waffe unmöglich machen. Das Schreiben ist mit Buntstiften wunderbar ummalt, Fliegenpilze und Hanfblätter sind auf wundersame Art mit eingearbeitet: geradezu ein Kunstwerk - eigentlich viel zu schade für einen Wehrdienstverweigerung - Ausschuss. Ende April werde ich dann zur mündlichen Verhandlung geladen. Leider kenne ich mich in Düsseldorf nicht so richtig aus und bin zur geforderten Zeit in Duisburg (da weiß ich besser Bescheid - hier bin ich schließlich fünf mal gemustert worden). Die kennen mich auch noch, sind sehr hilfsbereit und erklären mir den Weg nach Düsseldorf, und mit nur 75-minütiger Verspätung erreiche ich abgehetzt den Ausschuss in D´dorf, aber da wollen die mich nicht mehr vernehmen mit dem vorgeschobenen Argument, ich hätte keinen gültigen Personalausweis dabei. 174 Was brauch ich einen Ausweis, wenn ich persönlich anwesend bin... Eine erneute Einladung geht (wahrscheinlich wie immer auf dem Postwege) irgendwie verloren, so dass ich nicht persönlich erscheinen kann/darf, was dem Ausschuss sehr lieb zu sein scheint: sie entscheiden im Mai 1970 gegen mich mit der Begründung, ich müsste mir die Aussagen meiner beiden Zeugen anlasten lassen... Mein Antrag wird einfach abgelehnt. Das trifft mich schwer - aber es wirft mich nicht aus der Bahn. Nachdem wir die Jesus-Pilz-Bewegung in Deutschland publik gemacht und unsere Missionarstour durch die deutschen Kirchen hinter uns haben, greife ich dieses bisher unbefriedigend verlaufene Kapitel wieder auf. Im März 1972 formuliere ich von Dill aus (wo wir jetzt unser Domizil haben) meinen Einspruch wie folgt: Sehr geehrte Herren, liebe Freunde, liebes Kreiswehrersatzamt, bezugnehmend...blah blah...meine Gründe: 1. Ich bin religiöser Musiker und Missionar, also oft unterwegs, und das meist für längere Zeiträume. Daher erreicht mich Post (die ich mir immerhinterherschicken lasse) oftmals 175 verspätet: denn kommt die Post dort an, bin ich meist schon wieder weg. Deshalb bitte ich, mir Vorladungen zu von Ihnen anberaumten Terminen mit einer Frist von mind. 1 Jahr zu schicken - das müsste für Sie doch eine Kleinigkeit sein. 2. blah blah 3. Ihre Begründung, meine ernstgemeinten und ehrlichen Argumente seien "sophistische Gedankenverdrehungen", gehen in keinster Weise auf den Kern meiner schweren Gewissensnöte ein. 4. blah blah 5. Wenn die Aussagen des Zeugen Bernhard "Clear Light" Witthüser, den ich wegen seiner tiefen religiösen Einstellung schätze und hoch verehre und auf dessen moralisches Urteilsvermögen ich allergrößten Wert lege, mir von Ihnen "zur Last gelegt" werden, dann ist das (auch von allen meinen Freunden, Bekannten, Verwandten) nicht nachzuvollziehen: alle seine Aussagen sprechen doch für mich. Aber das können Sie nicht verstehen, wenn Sie einen Staat vertreten, der ohne Zögern Menschen zeigt, die Gewalttaten verüben, der es aber ablehnt, ein Paar beim Beischlaf zu zeigen. Da stimmt doch etwas bei der Wertsetzung dieses Staates nicht. Ich bin der Meinung, dass die Menschen ständig miteinander schlafen sollen, wann immer sie wollen. Dies ist die Anerkennung der Realität, die mich umgibt und alle meine Freundinnen und 176 Freunde auch (Abs. II der Jesus-Pilz-BewegungGrundsatzerklärung). 6. In meinem Leben versuche ich, meinen eigenen Weg zu gehen: weg von Realitäten, die "ihre" Zivilisation geschaffen hat. Ein Dienst mit der Waffe für "ihre" Gesellschaft, die nicht die meine sein kann, ist für mein Gewissen unmöglich und steht im krassen Gegensatz zu Abs. III der "JesusPilz-Bewegung-Grundsätze", die hier die "Revolutionsziele der Yippies" neuformuliert: totale Entwaffnung aller Menschen, angefangen bei der Polizei und bei der Armee. Das schließt alle Waffen ein, also neben Gewehren, Pistolen, Raketen, sämtlichen ABC-Waffen auch Gummiknüppel, -geschosse und Totschläger etc. ein. Da ich davon ausgehe, dass diese meine Auffassungen Ihnen nachvollziehbar aufzeigen, dass ich nicht der rechte Kämpfer für "ihre" Ideen bin, schicke ich Ihnen anbei schon einmal vorab meinen Wehrpass zurück: bei Ihnen ist er besser aufgehoben. In der Hoffnung, nichts mehr von Ihnen zu hören, verbleibe ich mit fröhlichem Gruß und Grüß Gott W.W. P.S. Viele Grüße auch von meinem Freund Bernhard Witthüser 177 Tja, das sitzt. Dachte ich - wie gesagt: wir schreiben März 1972. Doch schon zwei Wochen später wird mir mitgeteilt, dass ich diesen meinen Einspruch verspätet eingereicht habe. (Frist war angeblich Mitte Juni 1970 abgelaufen). Aber: was sind 2 Jahre, wenn´s um mein Gewissen geht, wenn es um meine innere ehrlich Überzeugung geht: die wechsele ich doch nicht jährlich wie meine Unterhose... Die Sache ruht jetzt, aber in mir sieht das ganz anders aus. Täglich überkommt mich beim morgendlichen Gang zum Briefkasten ein beklemmendes Gefühl, und ist ein länglicher blauer Brief im Kasten, falle ich jedes Mal in eine tiefe Ohnmacht: das muss der EINBERUFUNGSBEFEHL sein. Ich mache keinen Brief mehr auf, verklebe sogar kurzzeitig den Briefkastenschlitz. Aber da erreichen mich die GEMA-Abrechnungen nicht mehr - also geht das Zittern weiter. Und dann, im Jänner 1979, ist das Schreiben da: nach 3 Wochen kann ich mich überwinden und plane die Öffnung. Wie bei einer Bombenentschärfung habe ich alle Familienmitglieder und die Hunde weggeschickt. Ich gehe in den Keller: bei Kerzenlicht reiße ich vorsichtig den Umschlag auf: Jawohl - betrifft 178 meinen Einberufungsbescheid. Ich lege mir das Seil um den Hals - aber es ist kein Stuhl da. Ich will mir die Tränen abwischen - und habe auch meine Taschentuch vergessen. Also nehme ich das Scheiben (dann ist es doch wenigstens noch für etwas gut) und will mir die Tränen abwischen da sehe ich, das dieser Bescheid meinen bisherigen Einberufungsbescheid für den Verteidigungsfall aufhebt und ich mit einem neuen Bescheid vorerst nicht zu rechnen habe. YIPPIE - ich habe überlebt. Aber 10 Jahre Papierkrieg reichen mir vollkommen: Friede auf Erden 179 Wie nehme ich einen Trip richtig? Ein W&W Flugblatt: Wir haben viele Lieder in Trips und über Trips gemacht. Wir hatten gute Trips; viele Leute haben schlechte Trips. Warum? Sie haben sich nicht darauf vorbereitet, sondern sie wegen irgendeiner Mode konsumiert. Wir wollen euch helfen. Denn der Trip an sich ist nichts Schlechtes. Wer ihn falsch nimmt, der macht ihn schlecht. Was wir hier über den Trip sagen, gilt für Haschisch, Mariuhana und LSD, NIE für Heroin. Nimm es nicht; es tötet dich. Und du wirst NIEMALS die Schönheit eines Trips erleben. Aus der kanadischen Zeitung „Georgia Straight“ übernehmen wir eine Reiseanleitung. Sie bezog sich dort auf „Sunshine“, den stärksten und schönsten aller LSD-Trips. Wir haben sie etwas umformuliert. Somit gilt sie allgemein für Trips und auch für Hasch. So solltest du die 13 Regeln lesen. Denke daran: Trips sind Schlüssel, dein Leben und den Kosmos dir aufzuschließen. WER SIE GEDANKENLOS UND HEMMUNGSLOS FRISST, WIRD NIE DIE SCHÖNHEIT SEHEN! Trips sind gut für deinen Körper, für deinen Geist und für Deine Seele. Aber NUR wenn du sie 180 sinnvoll benutzt. Diese Anleitung wird dir helfen. Sei vorsichtig! 13 Regeln, die du dabei unbedingt beachten musst: 1. Nimm den Trip als ein schönes, religiöses Sakrament! 2. Plane Deinen Trip sorgfältig! Mache dich wenigstens für zwei Tage von Job, Verantwortung und alltäglicher Routine frei. Dadurch hast du einen freien Tag für deinen Trip und einen weiteren freien Tag, auszuruhen und über ihn nachzudenken. 3. Den Trip solltest Du in einer Umgebung nehmen, die für dich besonders angenehm ist! Es ist töricht, Acid in einer chaotischen Situation zu nehmen oder mit zu vielen Leuten um dich herum. Nimm es nicht bei einer Demonstration! 4. Ein ruhiger Abend zu Hause oder ein Nachmittag in einem Park sind gute Gelegenheiten. 181 5. Habe beim Trip Musik, Essen und überhaupt Dinge in deiner Nähe, die du besonders magst. Ihre Schönheit wir tausendfach gesteigert. (Gute Musik: Grateful Dead, Incredible String Band) 6. Nimm den Trip nur, wenn du dich wohlfühlst. Nicht, wenn du depressiv oder traurig bist! Mische auf keinen Fall Acid mit größeren Mengen Alkohol oder anderen Drogen. Kaufe nur bei Leuten, denen du vertrauen kannst und die es selbst geprüft haben. 7. Es liegt sehr an den Leuten um dich herum, wie dein Trip wird! Wähle sie sorgfältig aus. Du solltest sie unbedingt kennen und ihnen vertrauen können. Wer maximal reisen will, sollte es in kleinen Gruppen von zwei bis drei Leuten tun. 8. Nimm deinen ersten Trip möglichst mit einem nahen persönlichen Freund, der genug Erfahrung mit Trips hat! Dein Freund sollte möglichst mehr oder weniger „unten“ bleiben, um dir helfen zu können, dich durch deinen Trip zu führen! 9. Diskutiert, was jeder von euch für den gemeinsamen Trip vorhat – tiefe spirituelle 182 Erfahrung, nahe persönliche Erlebnisse mit anderen Leuten, Verständnis von Musik oder was immer. So ist es auf jeden Fall einfacher, dorthin zu gelangen. 10. Der beste Rat im Trip: Flute mit dem Trip! Hänge dich nicht an schmerzvolle Szenen; verliere dich nicht in schönen Szenen. Geräts du an etwas Unangenehmes, dann fixiere deine Aufmerksamkeit nicht darauf. Flute zu anderen Bildern... und du kommst zu neuer Schönheit. 11. Denke daran, dass der Trip ein Werkzeug ist! Yoga, Meditation und Fasten sind andere Werkszeuge für visionäre Erfahrung. (Fasten vor einem Trip kann ihn erhöhen). 12. Nimm die Visionen, die dir durch das Werkzeug gegeben worden sind, in dein praktisches, alltägliches Leben. Mit ihnen erfährst du unmittelbar Schönheit und Möglichkeiten all dessen, was unserer Zivilisation geraubt worden ist. 13. Es braucht sehr viel Selbstdisziplin und viele harte Arbeit mit anderen Leuten, die Welt, die du jeden Tag siehst, durch eine Welt der Liebe zu ersetzen. 183 Vor deinem ersten Trip oder auch, wenn deine Trips bisher verkorkst waren oder du nur zufällig Glück hattest, solltest Du unbedingt die ersten Seiten von Timothy Learies Buch „Politik der Ekstase“ lesen. Das ist ein Muss! – Außerdem empfehlen wir folgende Bücher: a) Roland Gelpkes „Drogen und Seelenerweiterung“ , Roland Steckels „Bewußtseinserweiternde Drogen". 184 Frankfurter Neue Presse Zu den Liedern v. Nonnen, Toten und Vampiren Gille Lettmann im Oktober 1970 Grausige Lieder von W & W: Vampire, Nonnen, Tote Jetzt singt er Lieder von Vampiren, Nonnen und Toten: Innerhalb von zwei Jahren hat sich der Protestsänger Bernd Witthüser gewandelt. Schrie er früher, antwortet er heute sanft, marschierte er früher auf den Straßen, holte sich Strafanzeigen, so zieht er sich heute zurück und formuliert leiser. Witthüsers neues Programm mit seinem Freund Walter Westrupp heißt: "Lieder von Vampiren, Nonnen und Toten" und ist jetzt als Schallplatte bei Ohr/Metronome erschienen, aus teurem Kitsch und schrecklichem Martyrium, immer grausig übersteigert, auf daß niemand so recht weiß, wie er darauf reagieren soll. So sorgen die beiden für Schauder und Schrecken, für Unwohlsein und Unsicherheit, die durchaus zum Nachdenken provozieren können. Sie erzählen merkwürdige Geschichten und begleiten sich dabei mit Gitarre, Trommel, Xylophon, Posaune, Trompete und anderen Instrumenten. In W-&-Ws-Popkabarett gaukeln Schmetterlinge, weint ein Mütterlein, werden blaue Blumen mit viel Ironie gedüngt, wird 185 von Billie von nebenan erzählt, von Flipper, Mönchen, Nonnen, Vampiren und Gräbern aus Großmutters Gruselkästchen und irgendwie und –wann wird dem Zuschauer klar, daß diese Form der Unterhaltung nicht so harmlos ist, wie sie zu sein scheint. Sie hat zwar eine Erholungsfunktion, genau wie anspruchsvolle Musik, aber – die Idylle ist mit Fallen ausgelegt. 186 Aachener Nachrichten Zu Trips & Träume Petra Stenzke im April 71 Pop-Musik aus deutschen Landen Trips und Träume Von draußen sieht’s aus, wie ein biederer Kaufmannsladen (ist es übrigens auch), aber wenn man die Tür des Hauses Hauptstraße Nummer 33 in Stommeln bei Köln passiert hat, vorbei an sauren Gurken, Drops und anderen Lebensmitteln,durch die gute Wohnstube des Kaufmannes Dierks marschiert ist und einen düsteren Hof durchwandert hat – dann steht man unvermutet in einem der modernsten Aufnahmestudios Deutschlands. Hier, in dem kleinen, muffigen, verqualmten Raum tummeln sich: drei Mädchen, ein Techniker, der auch mal singt, wenn’s drauf ankommt, Rolf-Ulrich Kaiser, deutscher Pop-Kolumnist und Pressemann des Metronomelabels "Ohr", die beiden deutschen Pop-Barden Bernd Witthüser und Walter Westrupp – und Karlchen, eine achtwöchige Hündin, die Schnürsenkel, Handtaschen, Kulis, Liedertexte und menschliche Gliedmaßen anknabbert, und Karlchen heißt, weil ihren Besitzern, Witthüser und Westrupp, partout kein Mädchenname einfallen wollte. Diesem kleinen schwarzen Biest von Hund, das mit Vorliebe Geleehimbeeren schleckt, ist auch ein Song gewidmet, aber das später. 187 Hier im Studio Dierks nehmen Witthüser und Westrupp ihre neue LP "Trips und Träume" auf, wir dürfen zusehen. Es ist der vorletzte von sechs Aufnahmetagen. Man hat am Tage vorher bis in die späte Nacht geschuftet, trotz allem ist die Atmosphäre gut, keine Gereiztheit ist bemerkbar, von einigen kleinen Wortgeplänkeln abgesehen. Das Geheimnis ist vielleicht, daß niemand Witthüser und Westrupp reinredet. Rolf-Ulrich Kaiser, Vertreter des "Mutterhauses", mischt sich nicht ein. Die Musiker dürfen ganz allein bestimmen, was auf der LP erscheint, eine Maxime des Ohr-Labels. Gerade bastelt man gemeinsam an einem Song, der gewiß einer der schönsten, wenn nicht der schönste überhaupt der ganzen LP werden wird: "Auf der Suche nach einem neuen Weg / klopfen wir an die Himmelstüre. / Ein Mann namens Petrus öffnet ganz sacht und fragt / Seid ihr es, die da kommen sollen, uns den Shiet zu bringen? / Wir streichen aus alle, die wir kennen, uns eingeschlossen / unt treten ein in den ewigen Frühling / Wir sehen die himmlischen Heerscharen mit den ewigen Joints auf ihren Wolken sitzen / und ihr Gesang steigt unaufhaltsam in den Händen der Sonne." Hier soll ein Chor einsetzen, aber Witthüser und Westrupp haben sich noch nicht entschlossen: Soll einer singen, soll ein Chor singen, wenn ja, was? Etwa "uh...," oder nur einfach "mm" oder "Lei, lei"? Man eingit sich schließlich mit den beiden singenden Mädchen auf "lei, lei...", denn das klingt mehr nach Fröhlichkeit, nach jointgeschwängerter Glückseligkeit. Dieses Stück ist unwahrscheinlich stimmungsvoll, da paßt jede Note zum Text. Nachdem die Gruppe zufrieden ist, gibt es in Dierks guter Stube erstmal Steaks und Fritten. Die Mädchen, die getrampt 188 sind, um nach Stommeln zu kommen, erzählen von Erlebnsissen mitälteren Herren, die sie mitgenommen haben. Nicht sehr schmeichelhaft. Ein Sozialarbeiter war auch dabei. Nach Dienstschluß? Witthüser erzählt uns was von seiner und Westrupps Musik, die jetzt übrigens auch noch von einem dritten Mann gemacht wird; der alte Name aber bleibt. Wie eigentlich Leute, die bislang von Gruseligem (Toten, Vampiren etc.) und Lustigem (Wer schwimmt dort? Flipper...) sangen und ursprünglich vom Protestsong kommend (Bernd Witthüser war lange Zeit als "Protestsänger des Ruhrgebiets" bekannt und sang in Zechen) – wie also solche Leute ausgerechnet dazu kommen, jetzt von Rauschgift – besser: Rauschmitteln, einem doch recht unpopulären Thema, zu singen, wollen wir wissen. Witthüser meint dazu, daß sie lange Zeit eine Art Clowns für die Leute waren. Man lachte ja auch massig über die zwei, wenn sie vom kinderlieben Delphin Flipper sangen, Witze rissen, Schock verbreiteten. Aber: Witthüser und Westrupp wollen keine Clowns mehr sein. Jetzt singen sie das, was sie persönlich erlebten, empfanden. Sie setzen ihre Träume in Musik um. Sie vertreten konsequent eine heitere Haschisch-Philosophie, wie man sie bei Arlo Guthrie oder in Easy Rider findet. Überdies wollen sie möglichst viele Leute mit ihrer Musik glücklich machen, wollen sie dazu anregen, selbst Musik zu machen -–einfach so. ohne große Anlagen, just for fun. Witthüser und Westrupp selbst machen eine Musik, die nicht kompliziert klingt, die zum Nachahmen reizt. Sie, die Weltmeister im Waschbrett-Spielen, haben ein reiches Instrumentarium: Posaune (Westrupp spielt auf der neuen LP mit sich selbst im Quartett), Trommel, Trompete, Zimbel, Ukulele, Xylophon, Flöte, Chromonika, Gitarre, Harmonica – und Psalter. Mit diesem aus der Schulzeit und dem Orffschen Musikwerk bekannten Streichinstrument passiert zu fortgeschrittener Stunde noch etwas Lustiges. Walter Westrupp 189 ist etwas verstimmt: sein Walzer, nur mit Klampfe gespielt, klingt zu fad. Das Mädchen Renée und Witthüser gehen mit in den Aufnahmeraum. Renée spielt Klavier, Witthüser Gitarre und Westrupp entdeckt zu seinem Entzücken eben diesen Psalter. Alle spielen mit Hingebung richtig schön falsch und schräg. Im anderen Raum, am Aufnahmetisch, herrscht unverhüllte Munterkeit: Techniker, Freundin, Ohr-Leute und Journalisten ömmeln sich vor Lachen, denn – alles wird aufgezeichnet. Unt als Witthüser und Westrupp es nachher mit Lachtränen im Augenwinkel hören, wird beschlossen: Das "Concerto grosso" kommt mit auf "Trips und Träume". Dann wird ein Lied auf Karlchen und seine phantastische Traumreise zu den großen bösen Hunden von Renée auf Band gesprochen, und dann geht’s ans Mischen. Als erstes der Titelsong: Nimm einen Joint, mein Feund / that spends all Leut‘ Freud, mein Freund / some people say hasch makes lasch / but give me the joint" und so weiter und so weiter. Es ist schon fast Mitternacht, aber man will die LP schnell fertig machen, denn sie soll vielleicht in einem Monat schon erscheinen. Witthüser und Westrupp wollen ihre Vampir-, Nonnen- und Toten-Songs noch nicht völlig aus dem Repertoire verbannen, weil der Vorrat an neuen Songs noch nicht groß genug ist, und weil man das Publikum langsam an die neue Linie gewöhnen will. – Von Witthüser und Westrupp erschienen bis jetzt folgende Platten: "Liefer von Vampiren, Nonnen und Toten", Ohr OMM 56002; "Wer schwimmt dort?" (Single) Ohr OS 57002. 190 Rheinische Post Zum Jesuspilz Klaus Wilhelm Kerscht im November 1971 Die Weltschöpfung als Pop-Effekt Uraufführung der Jesusoper in der Essener Apostelkirche Die Weltschöpfung wird als ein gelungener Popeffekt dargestellt – "man knipste das Licht an". Der Sündenfall sehr amüsant: Satan bringt ein Quentchen Unberechenbarkeit in die friedliche aber etwas langweilige Paradieslandschaft. "Hört mal her, Jungs", so spricht der Auferstandene zu seinen Jüngern. Durch Texte dieser Art und auch durch die Mittel der Popmusik wurde die Bibel verfremdet in der ersten deutschen Jesusoper "Jesuspilz", die in der Essener Apostelkirche uraufgeführt wurde. Der Name "Jesuspilz" ist insofern irreführend, als keine opernmäßige Szenerie ausgestaltet wurde, sondern mehr oratorienhaft Texte aus dem Alten und Neuen Testament aneinandergereiht sind. Darüber hinaus ist auch der Name "Jesus", der in der Oper nicht vorkommt, nach Aussage der Akeure mehr zufällig gewählt worden. Die beiden Dichter und Komponisten und einzigen Sänger und Musiker der Jesusoper, Walter Westrupp und Bernd Witthüser – bekannt durch Auftritte bei Popfestivals und durch zwei Langspielplatten – erklärten, eine Wandlung durchgemacht zu haben, an deren Ende neue religiöse Erfahrungen stünden. Darum wollten sie das 191 Evangelium durch ihre Musik "jedermann zugänglich machen". Der neue Glaube an Jesus läßt sich auf einen Nenner bringen: "Durch Jesus findet jeder zu sich selbst." Die biblische Botschaft wird hierbei stark verkürzt. Doch das kann man kaum den Musikern zum Vorwurf machen in einer Zeit, wo die Theologen ständig neue Jesusse finden und erfinden. So klein die Popgruppe von nur zwei Mann ist, so reichhaltig ist das Instrumentarium (Gitarren, Flöten, Orgel, Schlagzeug aller Art, Mundharmonika und sogar indische Tablas). Die Musiker beherrschen ihr Instrumentarium, das sie in immer neuen Kombinationen verwenden. Also nur eine neue Variante der Jesuswelle, amüsant, schockierend, banal, je nach dem Standpunkt? Die Szenerie hat noch einen anderen Hintergrund. Warum sie gerade in einer Kirche spielten, wurden die Musiker gefragt. Mit gleichbleibend freundlichem Lächeln, das auch bei bissiger Kritik nicht verschwand (und das machte die jungen Musiker besonders sympathisch), antworteten sie: "Ach, diese Kirche hat so eine gute Akkustik, und sie steht die ganze Woche über leer und selbst am Sonntag wird sie nur für ein paar alte Leute gebraucht. Da dachten wir uns: So kriegt sie wieder einmal einen vernünftigen Zweck." Tatsächlich war die Kirche voll von Jugendlichen, die bei aller auch vorhandenen Kritik meist stürmisch applaudierten. Was evangelische und katholische Kirchen heute nicht fertigbringen, trotz aller Reformen der Liturgie: Ein neues Interesse am Gottesdienst zu schaffen – hier wird über die Musik eine Begegnung mit dem Religiösen gesucht. Kaum einen störte, daß die Texte oft erschreckend simpel waren – bei dem Lied: "Besuch aus dem Kosmos" wurde sogar gefragt, ob das "vertonter Däniken" sei. Vielleicht muß Religion wieder so einfach anfangen, nachdem lange Zeit hindurch die Kirche die 192 Jugend nicht mehr erreicht hat und – man sollte niemals alle Schuld der Kirche geben – die Jugend gleichzeitig sich nicht mehr von der Kirche erreichen lassen wollte. Und darum sollte man, trotz einiger bedenklicher Randerscheinungen, nicht alles als Mode oder als "schnellvergessene Jesuswelle, auf der zur Zeit alle Musiker mitschwimmen wollen", abtun. Dahinter steht eine neue Sehnsucht, eine neue Erwartung, ein Advent – woher, wohin? 193 Der Stern schrieb 1972 Zu Bauer Plath Um dem Show-Rummel zu entgehen, flüchteten die PopSänger Witthüser und Westrupp aufs Land. Dort leben und musizieren sie bei Bauer Plath in einem urlaten Haus. Frotzelt das Duo: Bald tanzen auch die Kühe Beat Im idyllischen Hunsrück-Dorf Dill ist die Welt wieder in Ordnung. Noch vor wenigen Monaten war das anders. Da schrickte die 300-Seelen-Gemeinde plötzlich aus ihrem Frieden auf, als zwei wild aussehende Gestalten ganz unbekümmert in ein Haus an der Hauptstraße des Dorfes zogen. Inzwischen haben sich die Wogen wieder geglättet. Es sprach sich nämlich schnell herum, daß es sich bei den neuen Mitbürgern um zwei ruhige, friedliebende und sogar bekannte Musikanten namens Witthüser und Westrupp handelte. "Die Leute hier halten uns für harmlose Verrückte", erzählt Walter Westrupp, 26 Jahre alt, bärtig, pummelig, mit Nickelbrille vor den verschmitzten Augen. Kompagnon Bernd Witthüser – zwei Jahre älter, hager, mit schulterlangem Haar – ergänzt grinsend: "Aber in unser Haus traut sich doch keiner recht ´rein. Irgendwie sind wir denen noch nicht geheuer". Dabei gehören "W und W" zu den liebenswertesten und originellsten Erscheinungen der bundesdeutschen Pop-Szene. So wie sie sind – etwas versponnen, verträumt, in sich gekehrt 194 -, passen sie in keine Show-Schablone. Bei ihnen steht der Spaß an der eigenen Musik und nicht das Geldverdienen an erster Stelle. Deshalb waren sie auch über den Tournee- und Fernseherfolg ihrer Jesus-Oper "Der Jesus-Pilz" nicht einmal besonders glücklich. "Wir hatten keine ruhige Minute mehr" berichten die gebürtigen Essener, "sobald wir über die Straße gingen, wurden wir von irgendjemand doof angequatscht". Wieder träumen gelernt Um diesem lästigen Rummel zu entkommen, flüchteten die "Clowns der Pop-Welt" (so ein Kritiker) kurz entschlossen aufs Land – ins friedliche Dorf Dill. "Hier lernten wir wieder das Träumen, fanden zu uns selbst zurück", schwärmen die beiden. Die Harmonie ist vollkommen, seit sie mit einem braven Bürger von Dill Freundschaft geschlossen haben. Mit Bauer Plath. Ihm gehört das über 100 Jahre alte Häuschen, das Bernd und Walter für bescheidene 150 Mark monatlich mieteten. "Anfangs war er natürlich ein bißchen mißtrauisch", erzählt das Duo, "aber das hat sich schnell gelegt, nachdem wir ein paarmal auf dem Feld mitgeholfen haben". Auch der Herr über einen Bauernhof, viel Land, fünf Schweine und 15 Kühe läßt nichts auf seine neuen Untermieter kommen. "Die sind schwer in Ordnung", lobt er. Nicht ohne Grund, denn sie helfen fleißig bei der Rüben- oder Kartoffelernte mit, bringen das Heu mit ein, füttern das Vieh, misten die Ställe aus, "und oft sitzen wir bis in die Nacht hinein bei Kerzenschimmer und Kräuterwein", so der Text ihres Liedes vom Bauern Plath. Bauer Plath besungen Ihrem aufgeschlossenen Hausherrn haben die Sänger jetzt ihre neueste Langspielplatte gewidmet. Unter dem Titel "Bauer 195 Plath" besingen sie in romantischen Beat-Melodien die Idylle auf dem Land, erzählen Märchen aus dem Dorf und feiern ihr "glückliches, sorgenloses Leben". Mit ebenso romantischen, aber tiefsinnigeren Liedern stellt sich das Gespann Mitte November im Fernsehen vor. In der WDR-Dokumentation "Über die Schwierigkeiten eines deutschen Dichters, geehrt zu werden", singen sie Texte von Heinrich Heine. Regisseur Paul Karalus prophezeit: "Mit diesen Melodien wird der Dichter sicher auch bei der heutigen Jugend populär". Witthüser und Westrupp wollen jedoch noch jemandem zur Popularität verhelfen: dem Männergesangverein von Dill. Mit diesen 20 stimmgewaltigen Dorfbewohnern soll die nächste Platte produziert werden. Grinst das Duo: "Demnächst tanzen hier sogar die Kühe im Beat-Rhytmus". 196 Interview Bernd Witthüser (mal gespannt, was er heute wieder bringen wird. Nich?) Bei „Nimm einen Joint mein Freund“ verdunkelte sich der Himmel Als sich in den 1970er Jahren die deutschen Musiker vom amerikanischem ‚Yeah, Yeah‘ (W. Ulbricht) befreiten, mischte ganz vorne das Duo WITTHÜSER & WESTRUPP mit. Bis heute legendär sind ihre Alben über Joints, Jesuspilze und ihren Vermieter Bauer Plath. Westrupp ist abgetaucht, aber Bernd Witthüser tourt durch die Welt und macht immer wieder Station beim wunderbaren Burg-Herzberg-Festival. 197 Wir sprachen mit dem Elektriker, Protestsänger und ewig Reisenden. WAHRSCHAUER: Deine Musik findet in den Medien nicht statt, manch Einwohner kann mit dem Begriff Krautrock gar nichts anfangen. Meine Tochter antwortete zum Beispiel, als ich sie befragte, ob sie sich das Burg-HerzbergFestival so vorgestellt hat, wie sie es erleben konnte: „Ich dachte eher an so Hippiezeugs wie „Am Tag als Conny Kramer starb“. Bernd Witthüser: Wenn die Sängerin von „Am Tag als Conny Kramer starb" damals bei mir und nicht bei Peter Bursch Gitarrenunterricht bekommen hätte, wäre sie wohl besser drauf gekommen! 198 W: Irgendwann hat man Westrupp und dich in das Fach Krautrock gesteckt, wie würdest Du diese Musik bezeichnen? BW: Krautrock war, wie Renate Krötenschwanz von den AMON DÜÜL schon sagte: aus Germania kommender gebröselter Rock. W: War es das, was WITTHÜSER & WESTRUPP gespielt haben? BW: Ne, WITTHÜSER & WESTRUPP haben absolut keinen Krautrock gespielt, mehr Krautfolk oder später Cosmickrautfolk oder so was. W: Wie kam das Duo WITTHÜSER & WESTRUPP zusammen? 199 BW: Ich war bereits seit einigen Jahren als Protestsänger (des Ruhrgebiets) unterwegs, hatte Texte von Thomas Rother vertont und gesungen, bin aber nicht so ganz glücklich dabei gewesen. 1968 passierten die Essener Songtage, wo ich aufgetreten bin und in der Organisation beschäftigt war. Dann sah ich diese ganzen tollen Musiker auf dem Festival und beschloss umgehend einen neuen Weg zu gehen. Westrupp und ich arbeiteten damals in einer Kneipe in Essen, er als Diskjockey, ich als Kellner und musikalischer Direktor. Ich fragte Westrupp; ob er mitmachen wollte, mit seinem ‚Ja‘ fing alles an. W: Seid ihr in das ganze Krautrock-Gewese hineingerutscht? BW: Unsere Plattenfirma hat uns sicherlich in diese Ecke gerückt. Man hatte zuerst die Idee uns 200 zu so etwas wie T-REX aufzubauen. Mit uns zwei Querköpfen ging das aber gar nicht. W: Liedermacher passt doch eher, zumal Du heute als solcher durch die Welt tourst. BW: Noch eher bin ich ein Liederverwurster. W: Seid ihr ohne Vorzeichen ans Musik machen gegangen, oder hatte WITTHÜSER & WESTRUPP Idole? BW: Vorbilder hat man immer. Ganz früher, als ich in einer Skiffle Group spielte, hieß mein Idol Lonny Donegan, dann tauchten Bob Dylan auf und Dieter Süverkrüpp. Bei WITTHÜSER & WESTRUPP drehte es sich um die INCREDIBLE STRING BAND und um INSTERBURG & CO. 201 W: Ihr geltet als Erfinder der „TeebeutelHochhebemaschine“. Was ist das für ein Gerät? Existiert es noch? BW: Diese Vorrichtung verwandelte eine Drehbewegung in eine Auf- und Abbewegung. Ein Teebeutel hing an einem Haken und wurde durch kurbeln in eine Tasse mit heißem Wasser ein- und ausgetaucht. Teeästheten gehen jedoch davon aus, dass der Teebeutel einmal im heißen Wasser liegend nicht mehr bewegt werden darf, da des Tees Kraft sich nur so frei und voll entfalten kann. So geschah es leider, dass dieses urige Maschinchen nicht seinen Platz auf dem Markt erobern konnte. Ich glaube, Westrupp hat noch ein Exemplar. Wobei immer noch nicht geklärt ist, wer der eigentliche Urheber ist. 202 W: Manche eurer Texte sind schön verworren. Zitat: ‚Die sieben Erzengel bringen uns unsere ewigen Joints, gemeinsam schweben wir zu den immer grünen Liebewesen und stimmen ein in den Lobgesang der Engel auf Lordy Drug‘. Konnte man solche Zeilen im normalen Zustand entwickeln? BW: Auf keinen Fall. Man muss sich frei schwebend in einem unnormalen Zustand befinden, dann in eine epileptische Umlaufbahn um sich selbst übergehen und am Ende versuchen, sich an das Erlebte zu erinnern und dieses ganz schnell zu Papier bringen. W: Welche Mittel kamen zum Einsatz? BW: Ein Eid verbietet es mir hier Details zu nennen! 203 W: Und stehst Du noch voll hinter euren ganzen Liedern? BW: Ich habe da nie so richtig dahinter gestanden, mehr drauf. Zumal ich das alles sehr ironisch, satirisch aufgefasst habe. Heute sehe ich die Lieder mehr als eine Erinnerung an eine wunderbare Epoche meines Lebens. W: Wie war das mit den anderen Bands dieser Zeit? Wenn man heute manch Platte von mittlerweile vergessenen Gruppen anhören will, gehört viel Mut dazu, denn es klingt einfach schlecht. Wurde irgendwann alles genommen, um auf der Krautwelle zu schwimmen? 204 BW: Es gab damals nicht diese ganzen technischen Hilfsmittelchen im Studio, wie Soundkorrektur oder Stimmverbesserer, und weiß der Henker was die alles machen (können). Ich glaube, wenn du den heutigen Gruppen die Technik wegnehmen würdest, würde ein großer Teil der Musik wieder scheiße klingen. W: Warum tauchen auf heutigen Samplern sogar Lindenberg, RATTLES und die SCORPIONS auf? BW: Wird wohl nicht mehr lange dauern, dann kommen Freddy, Heino und Konsorten auch noch dazu. W: Die Religion spielte bei WITTHÜSER & WESTRUPP eine große Rolle, wobei es dabei 205 weniger um die Kirche ging, sondern um „Gebrösel“ und andere wichtige Substanzen. Da gibt es das Album „Der Jesuspilz – Musik vom Evangelium“, mit dem ihr sogar durch Kirchen touren konntet. Wurden dabei eure Neuinterpretationen (statt Wasser, Erde und Luft nahmt ihr Gebrösel) überhört oder war die Kirche damals auch auf dem Trip? BW: In Deutschland lief die Jesuswelle an und dabei tauchte das Buch „Geheimkult der heiligen Pilze“ auf, oder so, worin der Autor meinte, dass die Urchristen sich an geheimen Plätzen trafen und gemeinsam Fliegenpilze einpfiffen und auf den Trip gingen. Es war deren Gottesdienst und dabei symbolisierte das Kreuz den Fliegenpilz. Wenn dieser Rausch nach 2 oder 3 Tagen endete, kam die Wiederauferstehung. Wir arbeiteten die Bibel auf der Bröselbasis um und heraus kam „Der Jesuspilz“. Die Plattenfirma hatte eine mordsmäßige Pressekampagne angeleiert. Da 206 das Ding ein wenig esoterisiert und nicht richtig ausgereift war, gab es jede Menge Verrisse. Irgendwie bekam die Kirche mit, dass da etwas mit moderner Musik und Kirche lief und nutzte die Chance, um ihre Buden wieder voll zu kriegen. Sogar der Sender Vatikan berichtete darüber. W: „Bauer Plath“, aufgenommen 1972, beschäftigt sich mit Tolkiens „Herr der Ringe“. Ihr ward der Zeit voraus. BW: Wir waren nach Dill im Hunsrück auf einen Bauernhof gezogen und fingen an, an der neuen Platte zu arbeiten. Dabei lag das Buch „Der Herr der Ringe“ auf dem Tisch und inspirierte kräftig. Aus der Schweiz kam Sergius Golowin hinzu, Spezialist für Märchen und große Zusammenhänge. Es tauchten weitere Musiker auf und wir entwickelten nach und nach das Konzept. Der Song „Der Rat der Motten“ zum 207 Beispiel entstand eines Abends bei Kerzenlicht im Wohnzimmer. Das Fenster stand offen und herein flogen Motten, die das Kerzenlicht umschwirrten und schließlich in der Flamme landeten. So einfach gehen manchmal Lieder. Kommerziell war das Album nicht so schlecht, allerdings: So richtig verdienen konnten nur die Verlage. Immerhin kommt selbst jetzt noch manchmal was an Tantiemen rüber, falls einer sich an mich erinnert. W: Nach Woodstock liefen es in den komischsten Städten Deutschlands Open Air Veranstaltungen.Fehmarn wird Dir dabei wohl unvergesslich bleiben: Ihr kamt kurzfristig, es regnete und wurdet mehr gefeiert als Jimi Hendrix. Wie hast Du diese Tage erlebt? BW: Der Manager Kaiser hatte mitten in der Nacht angerufen, dass wir nach Fehmarn fahren sollen, dort ging das Fehmarn Festival mit Hendrix, SLY 208 AND FAMILY, FACES, die SCHERBEN, Fotzmann Jones über die Bühne. Kein fester Gig für uns, mehr so eine standby Geschichte, aber immerhin: Spritkostenerstattung, freier Eintritt, frei parken, frei zelten und 10 Flensburger. Der Daimler war noch einmal angesprungen, obwohl die Batterie ziemlich am Ende war. Mit dabei: Theodore Arsdonk, die stetig Fingernägel säubernde Begleitperson. Wir pennten im Auto, Arsdonk hingegen im kleinen Beizelt. Früh werde ich wach:„Beand! Beand!“ tönt es aus dem Zelt, „bring Tempos, ist sich alles auffe Hand gegangen“. Frohen Mutes fahren wir schließlich nach Norden. Im Schlamm steckende Autos überall, und grimmige Nordbären. Am nächsten Morgen das gleiche Bild, nur noch schlimmer: dicke, dunkle Wolken in greifbarer Nähe, trotzdem gute Stimmung. Hendrix, der als Erster auftreten sollte, 209 kam nicht und kam nicht und kam nicht. Es flogen mittlerweile Treibholz, Bierkannen und anderes unspezifiziertes Material in Richtung Bühne. Dann kam einer von der Organisation und suchte Musiker, die sich auf die Bühne trauten, sozusagen als Vorgruppe von Hendrix. Ich sah Westrupp an und er mich und wir beide nickend den Organisator. Der rief gleich: „Macht hin, ihr seid dran. Aber auf eigene Gefahr“. Wir hin zum tief im Schlamm steckenden Daimler und das ganze Technikzeugs auf die von allen Göttinnen verlassene Bühne schleppen, immer wieder vorbeisausendem Treibholz ausweichen, kurz den Sound checken und auf geht der Himmel. Ich schwöre es: Die Sonne kommt durch. ‚Wie heißt ihr?‘, höre ich es rufen. Ich hatte es vor Aufregung vergessen und rief zurück: ‚Bröselmann, und wir spielen gleich „Nimm einen Joint mein Freund‘. Und siehe: Der Himmel verdunkelte sich wieder. Von tausenden Joints wehte der Rauch zu uns 210 über die Bühne. Alles klar und wunderbar! Wie wir das Lied vom Flipper spielen, sehe ich denselben Delphin sich drüben in der Ostsee tummeln, sogar mit Morgenlatte. Irgendwann nach dem Konzert kommt ein Bauer mit seinem Traktor und zieht den Daimler aus dem Schlamm. Den Bruder dieses Bauern sollte ich später im Hunsrück kennen lernen, der hieß Plath, Bauer Plath. Es stellte sich nach dem Konzert heraus, dass die Lichtmaschine im Arsch war. So fuhren wir energiesparend, mit Standlicht, ohne Bremslichter, Blinker oder Anlasser zurück nach Essen. W: Als es die kleine DDR noch gab, hatte ich keine Chance auf Schallplatten mit eurer Musik. So richtig kam ich auf den Dreh, gleich nach der Wende. Nun habe ich mir schon Vieles besorgt: Alben von WITTHÜSER & 211 WESTRUPP, KRAFTWERK, GURU GURU, CAN, KRAAN, HÖLDERLIN, NOVALIS. Was empfiehlst Du Neueinsteigern, von wem sollen sie die Finger lassen? BW: Auf jeden Fall überall mal rein hören, irgendetwas ist immer! W: 1973 habt Ihr euch getrennt. BW: Ich war ziemlich fertig, einer von den 2000 Trips muss wohl schlecht gewesen sein und Walter zog es nach Essen zur Mutti. W: Du bist etwas untergegangen. Erst jetzt nimmt man Bernd Witthüser wieder richtig wahr, besonders beim Burg-Herzberg-Festival. 212 BW: Ich war nicht untergegangen, sondern weg. Hatte einen langen Trip nach Indien unternommen, war dort auf die Idee gekommen Straßenmusik zu machen. Zurück in Berlin baute ich Instrumente und bin damit auf den Kurfürstendamm Es ging sofort gut los. Von dieser Musik konnte ich gut leben und spielte nur noch was und wann ich wollte. Gewohnt habe ich im Auto. 1977 spielte ich mit einem Kollegen in Italien auf einem Dorffest. Ein Fernsehjournalist entdeckte uns und brachte uns ins Fernsehen. Wir wurden in Italien rasch berühmt. Nach einigen Monaten hatte ich keinen Bock mehr auf TV und verkündete deshalb mitten in der Sendung, dass jetzt Schluss wäre und ich wieder auf die Straße zurückkehre. Dieser Schritt machte uns zu kleinen Stars und es ging richtig los: Wir spielten jahrelang auf Festen in ganz Italien. Mein Wohnsitz ist seit einiger Zeit die Toskana. 213 Vor 5 - 6 Jahren wollte ich was Neues beginnen. Ich schaffte mir meine alten Songs wieder drauf und fing an als Bernd Witthüser in Deutschland aufzutreten. W: Dein aktuelles Album gibt es nur auf Vinyl. Darauf sind „Jahreszeiten“, „Fröhlicher“ und „Wexel“ aus früheren Zeiten. BW: Ja, Jahreszeiten stammt von „Bauer Plath“, „Fröhlicher“ ist von „Lieder von Toten, Nonnen und Vampiren“, wie auch „Wexel“. W: Was ist mit deinem Partner Westrupp los? BW: Also, über Westrupp möchte ich mich nicht weiter auslassen, der Kerl nervt mich. 214