68er nach Noten - Computopia GbR

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68er nach Noten - Computopia GbR
Walter Westrupp
68er nach Noten
Alte Geschichten aus deutschen Landen über
Witthüser & Westrupp
1
1. Auflage 2013.
Das Original erschien als stetig verändertes Online-Buch seit 2000 auf
der Internetseite „www.computopia.de“ von Walter Westrupp. Letzte
Änderung dieser Auflage: 31.08.2012
Verlagfreier Druck
Bearbeitet von Daniel Lübke
Happy Birthday Schlucki und Prost darauf, dass deine Leidenschaft nie
verblassen wird und dich auch in Zukunft noch auf die Reise gehen
lässt!
Alle Rechte vorbehalten.
Gedruckt in Deutschland (Printed in Germany)
2
Einleitung
...Viele Dinge zeigt dieser Spiegel,
aber nicht alle waren, wie sie hier stehen.
Manche sind nie geschehen,.
es sei denn, dass jene, die diese Seiten lesen
von Ihrem Pfad abweichen
um sie nachzuholen.
(Frei nach "Das Märchen vom Königssohn" / Bauer
Plath)
68- Oh Mann, war das eine verdammt schöne wilde tolle
affengeile erlebnisreiche emotionsvolle überschwängliche Zeit
– jeder, der aktiv dabei war, der diese Zeit mitgelebt hat, wird
sie niemals vergessen. Es gibt Zeitgenossen, die verdrängen
oder verleugnen ihr Engagement in dieser Zeit, weil dies
eventuell für ihr jetziges heutiges "bürgerliches" Leben und ihre
Karriere einen „Makel“ bedeuten könnte auf ihrem
schneeweißen Party-Jackett. Sie vergessen dabei, dass sie
nicht das wären, was sie heute sind.
Für mich, der ich diese Zeit damals lebte und somit gestaltete,
waren diese Erfahrungen existenziell und damit
richtungsweisend für mein Leben, was im Klartext heißt:
unvergesslich und unkaputtbar.
1968: damit verbunden sind Namen wie Rudi Dutschke, Benno
Ohnesorg, Fritz Teufel, Axel Springer, Benno Ohnesorg, FJS
und Willi Brand, Bader und Meinhof, Ho Chi Ming, Mao und
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Bewegungen wie Uni-Proteste, Demos, Essener Songtage,
Vietnam-Krieg, Hippies, Kommunen, antiautoritäre Erziehung,
Emanzipation in jeder Beziehung: das Auflehnen gegen
bestehende Strukturen und Verhaltensformen.
68er nach Noten: weil diese Zeit - auch musikalisch - neue
Horizonte öffnet.Die Songtage 68 in Essen zeigen das in
plakativer Art der breiten Öffentlichkeit, und im Untergrund
treibt die Subkultur den Zeiger der musikalischen (und damit
verbunden auch textlichen) Bandbreite in nie gekannte KreativBereiche. Wir werfen die Fesseln des etablierten musikalischen
Kulturgutes ab und betreten Neuland – jeder auf seine Art und
Weise. Engagierte Liedermacher wie Franz-Joseph Degenhard
und Dieter
Süverkrüp geben
vielen
Bewegungen
musikalischen
Rückhalt,
NonsensGruppen wie
Insterburg & Co
machen echte
Comedy (da gibt
es diesen Begriff
noch gar nicht), Theater- und Agitatoren-Gruppen wie First
Vienna Working Group mischen das beschauliche WaldeckFestival auf. Und in der Pop-Szene geben Gruppen wie Amon
Düül, Floh de Cologne, Embryo, Limbus, Guru Guru, Tangerine
Dream, Annexus Quam, Jerry Berkers, Bröselmaschine,
Emtidi, Hölderlin, Rufus Zuphall, Wallenstein, Birth Control,
Ashra Tempel, Paul & Limpe Fuchs, Xhol, Can und viele
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andere mehr jetzt den Ton an. Und - mittendrin und voll dabei
sind wir: Witthüser & Westrupp, Pop-Duo mit ausgeflipptem
deutschsprachigem Folk-Rock – Exoten unter den Exoten.
Viele Bereiche der 68er-Bewegung sind mittlerweile von
Insidern und Außenstehenden gebührend beschrieben,
verrissen, gewürdigt worden. Auch die damalige
Musikbewegung ist in vielen Veröffentlichungen durchleuchtet,
rezensiert und in die entsprechenden Schubladen einsortiert. In
Gesprächrunden wird immer wieder versucht, die politische
Bewegung dahinter auszumachen. Dabei waren es - in allen
Bereichen - junge Menschen, die sich von den verstaubten
Vorstellung der Eltern, der Gesellschaft, der Politiker entfernten
- die ihren eigenen Weg suchten abseits der ausgetretenen
Pfade: auf dem Weg zu sich selbst.
Denn zumindest diese Freiheit war durch eine demokratische
Gesellschaftsordnung gegeben - der Mensch ist frei, wenn er
eine Wahl treffen kann. Wir wählten - wenigstens einmal richtig!
Das wahre, das tatsächliche Leben damals– das muss jemand
beschreiben, der es auch gelebt hat. Und das versuche ich –
Autodidakt in der Literatur - mit diesem meinem (Online) Buch.
Ich habe vor langer Zeit (im Oktober 03 sind es 25 Jahre her) in
einer elend dunklen Nacht bei Vollmond einen Arzt kennen
gelernt - er war mit seinen Vögeln unterwegs und ich mit
meinen Hunden: eine tolle lange und total obskure Begegnung,
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die ich in einem Extra Kapitel breit getreten habe. (Siehe im
Anhang)
Also, dieser Doktor (er wurde auch im richtigen Leben mein
Doktor) – ich nenne ihn der Einfachheit halber Dr. Jürgen Remy
alias Doc - fertigt mittlerweile zwar nicht mehr so richtig aktiv
Patienten ab – dennoch ist er Freund geblieben – mein
Freund, auch der Freund meiner Frau (was den geneigten
Leser hoffentlich nicht stört – mich jedenfalls nicht) und er ist
auch Freund und Partner meines Sohnes, mit dem zusammen
er in den neuen Technologien praktiziert (Hardchor und
Software): er gehört zur Familie – samt seiner Frau und seinen
Söhnen und den Enkelkindern - ein wahrer Freund eben...
(Doc & ich bei meiner 1. Objektausstellung 1989)
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Doc ist Schuld, dass ich nun hier sitze und zu schreiben
versuche. Er hat einfach - ohne Vorwarnung - eines Tages
damit angefangen, (s)ein Buch zu schreiben. Nicht mit Block
und Bleistift (das Gekrackel hätte keine Sau lesen können– das
hat nicht mal der Apotheker nach 30 Jahren Zusammenarbeit
mit seinen Rezepten geschafft, und seine Kartengrüße von
unterwegs erfordern ein mindestens 3semestriges Studium der
Hieroglyphe -). Er schrieb sein Buch auf einem Laptop und hat
es mittlerweile [Stand 05.2002] nach 2 Jahren Recherchen und
Schreiberei und Verlagssuche etc. veröffentlicht. Es steht in
gebundener Form in meinem Bücherregal. Ätzend.
Damit hat er mich (wahrscheinlich beabsichtigt? aber dennoch)
schwer unter Druck gesetzt! Ja, ich gebe es offen und ehrlich
zu, das hat mich a) schwer gewurmt (um nicht zu sagen
umgehauen), aber dann auch b) sehr angeturnt. Die Idee zu
einem Buch, zunächst einmal über die Zeit 1967 - 1973 mit
Bernd Witthüser samt dem ganzen wahnsinnigen Drum und
Dran und auch die Zeiten danach mit Freunden und der Walter
h.c. Meier Pumpe schwirrt seit Urzeiten durch meine noch
vorhandene graue Zelle. Doch bisher bekam ich allein bei dem
Gedanken an eine Stichwortsammlung total wassermannatypische kopfschmerzenartige Aussetzer. Bei einem ersten
schüchternen Versuch der logistischen Bearbeitung des
Projektes „Mein Buch“ türmte sich vor mir ein solcher Berg auf
(wie geh ich vor, was ist wichtig, wo bekomme ich
Informationen her und überhaupt, darf ich langatmig
ausschweifen oder muss ich kurz knapp auf den Punkt
kommen, damit der/die hochgeschätzte Leser/in nicht gleich
das Buch wieder zuklappt), dass ich die Realisierung nach nur
sehr kurzem Zögern (ca. 5 Sek. max.) auf die "Zeit nach der
Arbeit" (sprich Rentenalter) verschoben habe: ein Buch soll ja –
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sagt man - bei seiner Veröffentlichung möglichst komplett sein
– und diese Zeit hatte ich nicht - neben all der zermürbenden
Tretmühle Arbeit, dem täglichen Feierabendstress mit Hunden,
Katzen, Gartenarbeit und Renovierungen im Haus, mit Musik
und Objekten und Homepage und Freunden und abends
saufen geh´n etc
Absolut erschwerend kommt dazu, das unsereiner/meinereiner
sich damals natürlich keinerlei Notizen gemacht oder gar
Tagebuch geführt hat. Wir haben weder Kasetten- oder VideoRecorder, Filmkamera oder Fotoapparat unser eigen nennen
dürfen. Klar, es gibt noch Zeitungsschnipsel in irgendwelchen
Ordnern auf dem Dachboden, und da sind auch die Singles
und Lp´s (mittlerweile Cd´s) und die Waschzettel-Texte der
Plattenfirma und alte Textbücher und tatsächlich: in meinem
Schädel unter meinen weißen Haaren Erinnerungsfetzen an
Begebenheiten aus und zu dieser Zeit, die in den weiten
Gehirnwindungen meines Gedächtnisses kurz aufflackern und
dann genau so schnell wieder abtauchen - meist des nacht´s,
wenn die Sonne hinter der blanken Sichel des Mond versinkt,
wenn ich mir vorkomme wie ein Wanderer, der nach Pilga
mekkert, wenn der Holzwurm des Rückschritts auf die Beine
kommt und mich fragt: „Hey Alter – bist Du´s, wo hast Du den
Brösel versteckt?“ und ich nicht einschlafen kann, weil die
Hunde im Traum aufjaulen und die Katzen brummend quer auf
meinem Bett liegen, so dass ich meine Beine bis unters Kinn
ziehen muss, dann fallen mir (trotz meiner im Anfangsstadium
befindlichen Arnheimer, aber auch nur, weil ich mich lange und
ungestört ganz, ganz stark konzentriere auf eine Zeit, die ja
nun auch schon mehr als 35 Jahre her ist und jedes Jahr noch
weiter weg zieht) die alten, fast vergessenen und eigentlich
verschütteten Erinnerungsfetzen, alte Geschichten und besagte
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Begebenheiten ein. (Ich liebe diese endlosen Sätze, meine
Lehrer nie). Vordergründig tauchen da vor meinem inneren
Screen Personen auf, die in irgendeiner Art und Weise
seinerzeit mit bei der Party waren und/oder an denen eine
dieser Geschichten hängt - zumindest eng mit ihnen verknüpft
sind. Ich grübele über Namen nach (die konnte ich mir aber
noch nie merken) und kann erst recht nicht einschlafen - finde
ihn nicht und grüble weiter und er fällt mir verdammt noch mal
trotzdem nicht ein - aber zumindest die Person selber nimmt
langsam Gestalt an: das Gespenst bekommt ein Gesicht –
meist im Morgengrauen, wenn die Vögel draußen zu Brüllen
anfangen.
Um da jetzt ja nix mehr zu vergessen, mach ich mir - egal, wo
ich gerade bin - ständig stichwortartige Notizen auf Zetteln, die
dann überall in der Wohnung herum fliegen – im Bett, am Bett,
unterm Bett, am Klo, auf dem Fernseher, an der Bar, in der
Werkstatt, auf der Fensterbank, im Garten, in der
Butterbrotdose, im Portemonnaie, im Katzenklo... Einmal in der
Woche veranstalte ich eine große Zettelsammlung und hefte
diese Schnipsel penibel ordentlich an meine Pinnwand - das
sieht aus wie ein Bon-Piexer in einer gutgehenden Kneipe.
Einmal im Monat/Jahr/... versuche ich die mittels dieser
Aktionen gesammelten Informationen (ist fast ein Kurzgedicht)
in Prosa-Form zu bringen. Dabei ernenne ich zunächst ich in
einer Nacht- und Nebelaktion alle vorkommenden Personen auch gegen evtl. Widersprüche - zu Mitwirkenden in diesem
Buch: Sie werden alphabetisch in die Darstellerliste eingefügt.
Tauchen diese Gestalten/ Personen / Tiere / Sachen
irgendwann in einer bearbeiteten, ausgefeilten, mittels meines
2-Finger-Eingabesystems aufgeschriebenen und letztendlich –
falls der Speicherplatz auf dem Server reicht - im Internet
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veröffentlichten Geschichte tatsächlich auf, werden sie
automatisch zu Hauptdarstellern. Das ist klasse, das ist toll,
das ist einfach genial, und ich bin ganz alleine drauf gekommen
– das könnte aus einem Handbuch für Web-Autoren stammen
(Vielleicht mein übernächstes Projekt!?).
Ich stelle aufgeschreckt, erschüttert und niedergeschmettert
beim Schreiben fest oder wenn ich mit Freunden oder Lesern
über dieses Machwerk spreche, was noch alles fehlt – dabei ist
es jetzt schon mehr als zu viel für einen alleine. Wo wird es
hinführen, wo soll das enden? Ich brauch dringendst 2-4
Ghostwriter..., und Freunde schicken mir Videos von W&WAuftritten zu - und das alles will be- und verarbeitet werden - ich
muss mind. 100 Jahre alt werden und gesund bleiben (Das ist
quasi ein Befehl nach oben).
Schon mehrfach wurde die Frage gestellt: wann gibt es das
Buch in gebundener Form im Handel zu kaufen? Hier die
offizielle Antwort: frühestens, wenn es fertig ist. Und da sehe
ich schwarz...Dazu stellt sich für mich die Frage: wie viele
Menschen in diesem unseren Land (denn wenn, kommt es
zunächst natürlich deutschsprachig auf den Buchmarkt!)
interessiert dieses Thema und mein Geschreibsel dazu? Und
welcher Verlag ist wahnsinnig genug, das zu drucken (es sei
denn, ich besteche ihn)...und hinterher sitze ich auf der
Erstauflage fest und muss alle Bücher selber lesen. Nein, da
bleibt Euch nur eins: lasst Eure Drucker Nachtschicht machen.
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Zudem wäre ich mit dem Buch auch schon viel weiter
gekommen - ja vielleicht, nein wahrscheinlich wäre ich schon
längst fertig, wenn da nicht plötzlich und unerwartet diese ollen
alten s/w Filmschnipsel aus dem Nirwana aufgetaucht wären,
aus denen ich von April 2004 bis Februar 2005 eine
anderthalbstündige W&W-DVD zusammengebastelt habe. Auf
dieser DVD mit dem Titel "...als wäre es gestern erst
gewesen...", sind nun zumindest einige Kapitel dieses Buches
audiovisuell untermauert und mit bewegten/bewegenden
Bildern belegt
WARNUNG: dem wohlwollend geneigten Leser und den (die
Herren der Schöpfung werden es mir bei gleicher Neigung
nachsehen) von mir noch mehr geschätzten und verehrten
Leserinnen sei an dieser Stelle klar und unmissverständlich
kundgetan, dass die Kapitel einiges an Lesezeit erfordern – das
geht nicht mal so eben Hoppla-Hopp. Wie gesagt: Drucken Sie
die Seiten aus und lesen Sie auf dem Klo, unter der Dusche,
beim GV (=Getränkeverzehr, um hier Missverständnisse
auszuschließen und evtl. Haftpflichtansprüchen vorzubeugen)
Kapitel für Kapitel, veranstalten Sie Lesungen und
Diskussionsrunden mit Gleichgesinnten – kämpfen Sie sich
durch, damit Sie dereinst sagen können: ich war dabei, als es
entstand. Waren Sie dann dabei und wissen irgendwas besser
als ich es weiß: melden Sie sich bitte bei mir (aber Honorare
gibt´s nicht - einem alten gebeutelten und ausgebeuteten
Musiker kann man nicht in die Tasche packen.
P.S. Hinweis: Wenn im Buch eigenartige Wortschöpfungen
oder Buchstaben- Kolonnen auftauchen, dann ist eine unserer
Katzen über die Tastatur gedonnert
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1. Kontakt
Wir möchten dieses Lied noch singen
nur für dich allein
(aus der LP "Lieder von Nonnen, Toten und Vampiren)
Die erste Bekanntschaft – damals ist natürlich überhaupt noch
nicht absehbar (weder für uns selber noch für alle anderen
direkt Beteiligten) was sich aus diesem kurzen Moment heraus
für die Menschheit entwickeln wird - mit dem Menschen und
Musiker Bernhard Witthüser vollzieht sich – von der
Öffentlichkeit fast unbemerkt - Anno 1967 im legendären CityClub, der Szene-Kneipe in der City von Essen a.d. Ruhr, einem
malerischen Bischofsstädtchen am Rande des Baldeneysees.
In diesem In-Pub treffen sich zur Mittagszeit nette junge
sympathische Leute von damals in ihrer Mittagspause, um sich
in angenehmer Atmosphäre bei guter Musik und einem Cocktail
die Zeit zu vertreiben. Einen Gutteil dieses besonderen Flairs
mache ich aus, denn hier, in diesem wunderbaren Club, lege
ich die Platten: Walter W. aus E., seinerzeit knapp 21 Lenze
zählend, bin der Disk-Jockey.
Ich habe, wie
meine Eltern
es von mir
verlangten
und ich es als
folgsamer
Sohn denn
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auch getan habe, zunächst eine lange und ausgedehnte
Schulausbildung hinter mich gebracht und auch eine Lehre
irgendwie so beendet (als Eisenwichser [sprich Betonbauer]
inkl. Gesellenprüfung und -brief) Diesr Brief (siehe links das
Original) sieht zwar aus wie ein Führerschein, aber er war zu
nix nutze - zumindest nicht für mich. Daher „arbeite“ nun lieber
– erstmals abgenabelt vom Elternhaus - als Platten-Reiter im
besagten City-Club. Ich muss ehrlich sagen: dies ist wirklich
eine sehr schöne Arbeit und auch eine tolle neue Erfahrung und dabei im entferntesten nicht so, wie mir von meinen Eltern
immer erzählt wurde mit erhobener Stimme wie: „geh du erst
mal arbeiten, dann weißt Du, was ´ne Mark (ja, damals gab es
noch echtes Geld) wert ist" und anderer solcher existenziellen
Lebensweisheiten. Irgendwas muss ich entweder damals falsch
verstanden haben oder jetzt falsch machen: ich habe freies
Essen, frei Trinken, den ganzen Tag geile Mädels und nette
Jungs um mich herum, lege mir von früh bis spät meine
Lieblingsmusik auf und bekomme auch noch Knete dafür – was
will ein junger gutaussehender (!) Mensch am Anfang seiner
Freiheit und seiner Karriere mehr. Das ist doch was ganz
anderes als diese ätzende Maloche während meiner Lehrzeit
Doch immer nur Plattenauflegen, mit netten Mädels flirten – all
das füllt mich nach einiger Zeit nicht mehr aus. Unruhe befällt
mich, und da ich im Zeichenunterricht durch meine fast genial
zu nennende Kreativität immer wieder positiv aufzufallen
wusste, setze ich diese meine Fähigkeit nun voll für den
Fortbestand meiner beruflichen Existenz ein. Um auch abends
den Laden richtig voll zu bekommen, veranstaltete ich neben
epochalen Bilder-Ausstellungen mit nur Insidern bekannten
einheimischen Meistern mind. 1x monatlich Folklore-Abende,
an denen ich lokalen Gruppen und Künstlern die Möglichkeit
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einräume, wenigstens einmal in ihrem Künstlerleben aus dem
Probekeller herauszukommen und in einer Ecke des Lokals
(nicht zu laut) ihr Können einem desinteressierten Publikum zu
präsentieren... Einer von ihnen ist der mittlerweile schon weit
über die Stadtgrenzen hinaus – fast bis nach Duisburg bekannte Bernhard „Bernd“ Witthueser, der „Protestsänger des
Ruhrgebietes“, der mit Songs von Thomas Rother auftritt,
einem Essener WAZ-Redakteur.
Da Bernd ein ganz interessanter Typ ist und ich ja nun auch
nicht so ganz ohne, entwickelt sich zwangsläufig eine zunächst
recht lose Bekanntschaft...
Als mein Arbeitgeber, der Wirt des City-Clubs Egon Mai, ein
neues Projekt angeht, sind Bernhard und meine unauffällige
Wenigkeit – da wir uns nun schon näherer kennen und ganz
OK finden - mit bei der Party: ein Folk- und Jazzladen mit
täglicher Life-Musik ist geplant, ein Objekt gefunden: der in die
Jahre gekommene urige "Künstlerkeller", ein Kellerlokal am
Gänsemarkt in Essen, ein runter gewirtschafteter Jazzladen,
hat den unschätzbaren Vorteil einer von der Theke
abgegrenzten separaten Bühne mit einem kleinen feinen
extraordinären Zuschauerraum. Wir entwickeln gemeinsam mit
Wirt Egon ein entsprechendes Konzept, die Brauerei sagte
dazu JAWOLL (Jazzer trinken bekannter weise gern mal einige
qcm Gerstenkaltschale) und 1967 öffnet dann das „Podium“
seine Pforten und wird schnell zu einem Begriff im Pott, zu
einer festen Institution im Ruhrgebiet. Ich arbeite dort als DiscJockey, als Pausenclown, Ansager und Musiker, während
Bernhard als Koordinator und Manager für das Life-Musik-
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Programm die Fäden im Hintergrund spinnt und die
auftretenden Künstler engagiert und betreut (diese Erfahrungen
helfen ihm später, als er Geschäftsführer der legendären
Essener Songtage 68 wird). Alles, was Rang und Namen hat in
Jazz und Folk und der Liedermacher – Szene, spielt fortan im
PODIUM – tägliches Musik-Programm ist angesagt: Ob
Liedermacher wie Hannes Wader oder Horst Koch (der mit uns
anschließend jedes Mal seine Gage versoff), ob Dixieland vom
Prager Jazz-Quintett, ob Jasper ten Hoff´s Association P.C.,
Peter Brötzmann, Franz de Byl, Flamenco mit Manolo Lohnes
oder klassisches Guitarrengezupfe vom Folkwang-Dozenten
Beck , Freejazz oder Kabarett: alles, was spielen kann, etwas
zu sagen hat und dazu noch irgendwie bezahlbar ist, tritt auf
unserer kleinen Bühne auf und natürlich auch (un)bekannte (Nachwuchs)
Gruppen und Künstler aus
Essen und Umgebung
(Franz de Byl z.B. hatte hier
seinen ersten Life-Auftritt,
Spontan-Sessions
anwesender Musiker waren
an derTagesordnung und
Ramses, das wahnsinnige
Essener Piano-Unikat, war schließlich immer für ein „Chikago“
gut). Studenten der Folkwang-Musikschule haben hier ein
Podium für experimentelle Musik gefunden (was nicht
unbedingt jedermanns Sache ist und auch oft weit über die
Schmerzgrenze geht). Ansonsten gibt es reichlich Jazz und
Skiffle und Folk von Acryl – und das Konzept stimmt: der Laden
läuft super an. Wir leben gut von der Neugierde der Leute, die
aus dem ganzen Ruhrgebiet, ja selbst aus der elitären Jazz-
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und Landeshauptstadt Düsseldorf angefahren kommen, um
sich ein Bild von unserem Programm zu machen und dabei zu
sein: Man trifft sich, sieht interessante Mitmenschen, wird
gesehen, raucht Gaulloises, Rothändle und Reval ohne Filter
oder dreht Schwarzen Krausen, trinkt Pernod pur oder WhiskyCola: schwarz gekleidete Intellektuelle, schlaghosentragenden
Individualisten, minigekleidete Büromädchen im selbst
gestrickten viel zu weiten Baumwollpullover: der Laden ist
Bühne für Musiker und Publikum.
Als die erste Neugierde befriedigt ist und langsam abklingt,
andere Pop-In-Läden ihre Pforten öffnen und während der
Woche der Besuch
langsam aber stetig
und unaufhaltsam
sinkt, da checken
selbst wir, dass
tägliche Life-Musik auf
die Dauer gesehen
schwer zu finanzieren
ist – dennoch: wir
geben Durchhalteparolen aus und suchen Mäzene (?),
während unser Chef Egon derweil erste graue Haarstränen
bekommt und sein Kontostand langsam, stetig und
unaufhaltsam absäuft...
Eines Nachts – es ist logischerweise stockduster draußen und
auch dumpf-dunkel in unseren Köpfen – spricht Bernhard mit
unheilschwangerem Unterton in der Stimme (wir sind zu dritt im
Podium versackt und so gegen 3 Uhr morgens auf dem
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Heimweg):
Ey, Jungs, watt machen wir
denn jetzt? Ich hab noch keinen Bock auf schlafen. Aber
nirgends ist was los, die Mädels sind alle schon vergeben! Ich
hab ´ne Wahnsinns-Idee: Wir fahren heut Nacht mal zur See!
Watt? Ja, auf dem Baldeneysee – ich hab ein Gummiboot. Wie
Gummiboot, wo? Im Keller! Im Keller is kein Gummiboot! Doch,
bei meiner Mutter im Keller. Hasse ´n Schlüssel? Nee, wir
klingeln! Hasse ma auffe Uhr gekuckt? Egal! Gut, O.K., wir erst
einmal wieder zurück zum Podium, Gin und O-Saft eingepackt,
dann mit dem Taxi zu Muttern, die aus dem Bett geklingelt,
Boot und Pumpe eingeladen und dann ab zum Baldeneysee.
Das Boot, eine Latex-Nussschale mit einem Minipaddel, wird
aufgeblasen und zu Wasser gelassen, die Proviant rein, wir
rein und dann ab Richtung Seemitte. Kurs Süd-Oooost Oooost.
Der Wind pfoff von Luv, ein Hund boll. Die Uferlichter
verschwinden langsam hinter unserem Kielwasser und wir
lassen uns treiben und den Gin kreisen: auch bei uns gehen
langsam die Lampen aus und uns wird nebelig. So treiben wir
in der Seemitte und singen mit unseren hellen Knabenstimmen
Hans-Albers-Lieder in die Stille. Es wird schattig und immer
nebeliger, bis uns auffällt, dass der Nebel jetzt auch noch von
außen kommt. Ermattet sinken wir zurück, erholen uns mit ein
paar kräftigen Schlucken von diesem Schock und von den
Strapazen unserer Gesangseinlagen – da fällt mir ein leises
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wohl bekanntes Geräusch auf: einer furzt - und hört gar nie
nicht auf zu furzen. Nach eingehender Untersuchung stellen wir
dann übereinstimmend fest: es ist keiner von uns! ES IST DAS
BOOT! Und das fängt prompt an, in der Mitte einzuknicken –
wir haben einen Platten, ein riesiges Leck - und Wasser tritt
ein. An Bord bricht sofort die helle blanke Panik aus: wo ist das
verdammte Flickzeug. Es ist irgendwie wohl in der
Werkzeugkiste – und die ist zu Hause. Wir haben die
Rettungsringe vergessen, auch die Rettungsboote sind weg,
wir haben keine Leuchtraketen mit, unser Funkgerät ist
(wahrscheinlich von Piraten gestohlen) nicht mehr da, das
Echolot haben wir in den Schweiz Alpen liegen lassen (wegen
der Akustik). Sind wir verloren? Wo sind die
Seenotrettungskreuzer und die DLRG-Schnellboote, die sonst
zu Hunderten hier herumfahren. Darf es für Lebensretter
überhaupt Feierabend geben? Wir sind verloren. Was für ein
Tod. Was wird in unseren Nachrufen stehen: wahrscheinlich
nichts Gutes. Und wir sind doch noch so verdammt jung.
Während ich verzweifelt und mit nur mäßigem Erfolg versuche,
das Boot während der Fahrt wieder aufzupumpen, paddelt der
zweite Offizier los und Bernhard – er hat sich mittlerweile zum
Kapitän gemacht und übernimmt neben der Verantwortung
auch die Navigation (dabei verwechselt er aber immer
backbord mit links), um uns ans rettende, auf Grund des
Nebels aber nicht auszumachende Ufer zu bringen. Zunächst
landen wir dann natürlich auf der falschen Seite des Sees,
pumpen dort nach, schütteln unsere Schuhe aus und ab geht
es wieder auf´s/in´s Wasser und mit erhöhter Schlagzahl (120)
zurück zum Anlegesteg des „Ruderclub am Baldeneysees“,
den wir nach ca. 20 Stunden (!) finden, nachdem wir wohl den
ganzen See umfahren hatten (ca. 1,5 x Marathonstrecke). Wir
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kriechen auf den Steg, binden mit einem doppelten WindsorKnoten das Boot seefachmännischst an einem Poller fest und
sinken erschöpft, unterkühlt und halbtot (sprich besoffen) auf
die Bretter, die für uns das Überleben bedeuten – und fallen in
einen schock- und ohnmachtsähnlichen Tiefschlaf. Jahre
später erst schrecken wir wieder hoch, aufgeweckt vom
Gebrumme der Rettungshubschrauber – nein, es sind die
Fluggeräusche eines riesigen Bienenschwarmes, ja eines
ganzen Bienenvolkes (ca. 1 Mio.), das um unseren Gin-O-Saft
düst und sich den Rausch seines Lebens ansäuft – den Honig
hätte ich gerne mal probiert. Nach dem wir am Stand der
Gestirne die Uhrzeit bestimmt haben (es muss wohl so gegen
11 Uhr vormittags sein) und anhand der Kerben in der
Gummiboothülle feststellen, dass es Sonntag ist, wir dann
durchzählen und die Besatzung wie auch unsere Knochen als
vollständig befinden, nehmen wir unsere Umgebung wieder
wahr, die uns aber schon längst entdeckt hat: die
Uferpromenade ist voller Sonntag-Morgen-Spaziergänger, die
uns anstarren, als wären wir gerade - von einer GrönlandExpedition zurück kommend - hier gestrandet. Womit sie ja gar
nicht so falsch liegen – wir bieten ein Bild wie aus einem
kanadischen Abenteurerfilm. Nachdem wir Autogramme verteilt
haben, Interviews gegeben und Glückwünsche
entgegengenommen haben, schultern wir unsere Ausrüstung
und machen uns auf den langen Marsch zur nächsten
Bahnstation, um in die Heimat zurückzukommen. Wir sind
verdammt stolz, den Naturgewalten getrotzt zu haben – wir
haben dieses mörderische Abenteuer unbeschadet überlebt,
was natürlich auch unser Selbstwertgefühl ungemein stärkt. Oft
sitzen wir fortan abends im Podium und müssen diese
unglaubliche Geschichte erzählen – na ja, da ist dann auch
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schon mal von Haien die Rede und angreifenden U-Booten –
Seemannsgarn eben. Darauf einen Gin mit O-Saft!
Das Podium – was wir ja schon befürchtet hatten – geht mit
seiner Programmkonzept nach 1 Jahr leider wirklich pleite –
tägliche Life-Musik ohne Publikum ist eben auf Dauer für einen
Normalsterblichen nicht bezahlbar. Neue Pächter mit neuem
Konzept übernehmen nun den
Laden und machen ihn wieder
flott. Leider sind wir für die
auch nicht mehr bezahlbar.
Das finden wir äußerst
schade, aber als Gäste
schuften wir vor Ort jeden
Abend weiter unser Pensum
weg (schließlich gehören wir
quasi zum Inventar und der
Laden ist uns im Laufe der
Jahre irgendwie ans Herz
gewachsen: es ist quasi unser
2. Zuhause mit
Familienanschluß). Aber was
tun? Wir suchen eine
Aufgabe, ein Ziel, eine
sinnvolle Beschäftigung, eine
Herausforderung, eine Daseins berechtigende Tätigkeit.Wer
suchet, der findet: da Gott und die Welt und alle die wir kennen
und kannten und auch all die Anderen, die wir bis dato noch
nicht kennen gelernt haben, studieren oder studiert haben oder
zumindest einmal in ihrem Leben an einer Uni eingeschrieben
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gewesen sein wollen, wird es für uns immer deutlicher: AUCH
WIR WERDEN STUDIEREN!!
Wir müssen studieren, um
gesellschaftlich akzeptabel zu
sein und auf die Dauer auch zu
bleiben. Welcher Makel doch
im Leben, wenn man dereinst
zugeben müsste: nein, ich
habe nicht studiert. Das
Studium soll natürlich für uns
auch nutzbringend sein, und
somit drängt sich quasi von
selbst (um musikalisch
weiterzukommen und sonst
sowieso nicht anderes in Frage
kommt [ohne Abitur bist du für
die meisten Unis irgendwie nur Luft]) zwangsläufig ein MusikStudium auf. Folkwang-Schule ist zu elitär, also machen wir
uns auf die Suche und bestehen auf Anhieb die
Aufnahmeprüfung am Konservatorium in Duisburg und
schreiben uns dort ein: Bernhard für das Studium der Gitarre
und ich das der Zugposaune.
Wir kaufen uns von unserem letzten Geld einen alten
klapprigen Opel bei unserem LieblingsGebrauchtwagenhändler Reintges (damals klein auf´m
Hinterhof, durch die damaligen Umsätze mit uns einer der
größten Autodealer des Ruhrgebietes - weil wir aber in letzter
Zeit [?] nix mehr bei ihm kaufen, jetzt Pleite) und düsen fortan
Tag für Tag in aller Herrgottsfrühe los und studieren wie die
Wilden. Der Titel „Student“ tut unserem Ego ungeheuer gut
(wird Zusatz auf unseren Visitenkarten), zudem lernen wir
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manch Sinnvolles für die Praxis (Fingerhakeln, Schiffe
versenken, blau machen) als auch musiktheoretisches
Grundwissen, ätzend und zäh und - wie früher Erdkunde in der
Schule – im wirklichen täglichen Leben einfach kaum
anwendbar. Mittags geht´s zurück in die Heimat, und da wir
noch keine Aktienpakete in unseren Depots in Macao haben
und auch die Kontoauszüge generell einen Niedrigstand
ausweisen, der weit unter der Überlebensgrenze von
Studenten liegt, begeben wir uns in leibeigenschaftsähnliche
abhängige Beschäftigungsverhältnisse. Ich fahre des
nachmittags mit meinem frisch frisierten vorderradgetriebenen
grünlackierten Zündapp- Super- Maschinenmoped zu der
Essener Uhrenersatzteilfirma Flume, wo ich die Artikel - Kartei
umstellte (ich wusste bis dato gar nicht, aus wie
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vielenverdammt kleinen Teilenchen eine simple normale
Armbanduhr besteht und wie viele Marken es dann noch gibt –
und dazu kommen dann noch Wecker, Wand-, Stand-,
Kuckucks- und Kirchturmuhren ...). Aber ich mache meine
Arbeit wohl oder übel und ganz zufriedenstellend (?) und werde
diesmal nicht sofort nach 3 Tagen rausgeschmissen.
Was mir bei dieser Firma aber den meisten Spaß bereitet:
einmal in der Woche spiele ich nun in der
Betriebsportgemeinschaft Fußball im vorgezogenen halblinken
Mittelfeld. Die Mannschaft verliert dank meiner hervorragenden
Kondition und auf Grund meines immensen Lungenvolumens,
das ich als Blasmusiker nun mal habe und das mich weite
Wege gehen lässt, zwar weiterhin 2-3stellig, nein - ich schieße
sogar mal ein Tor (oder waren es gar 2(!]) und wir verlieren
darob zum ersten und einzigen Mal nicht zu null - klar. Mit
diesem/n Treffer/n führe ich bis zu meinem Ausscheiden
einsam die interne Torschützenliste an.
Bernhard gibt derweil Gitarrenunterricht an der Volkhochschule
in Essen – und so halten wir uns finanziell irgendwie am Leben:
Als studierende Sozialfälle ohne Unterstützungsperspektive
leben wir glücklich und zufrieden am Rande des
Existenzminimums in dem unerschütterlichen Bewusstsein,
dass es irgendwann mal besser werden wird und wir die
Mietrückstände ausgleichen können und auch die Deckel im
Podium, die schon Wagenradgröße erreichen, irgendwann mal
bezahlen werden können. Denn Abends/Nachts war zum
Ausgleich der Hormone und zur Pflege mit- und
zwischenmenschlicher Beziehungskisten Besuchs- und
Arbeits-Programme im Podium oder POP-IN und/oder bei
Ampütte angesagt – bis dem Morgen graute.
23
Unsere wilde Studentenzeit dauert fast ein Jahr an, bis uns der
Erfolg überrollt und wir (leider) nicht mehr die Zeit finden,
unsere Dozenten mit unserem Wissen und Können zu
ekstatischen Ausrufen wie „Mein Gott“ oder „Das gibt´s doch
nicht“ bis hin zu „das hab ich ja noch nie gehört“ zu treiben: die
haben uns bis heute nicht überwunden. „Meine“ Firma steht
nach meinem Ausscheiden kurz vor dem Konkurs (keiner findet
mehr was wieder) und den Gitarrenkursus von Bernhard
übernimmt der Gitarrenspieler vom „Wanderclub Mandoline“
aus Essen-Steele/Süd – wir hinterlassen fast nicht zu
schließende Lücken – aber das ficht uns nicht weiter an. Zu
groß, zu mächtig sind neue Herausforderungen und Aufgaben,
die das Leben an uns stellt, als dass wir noch einen müden
Blick zurück hätten werfen können. (Das Leben ist eben
manchmal sehr hart und wirklich ungerecht – aber Klasse).
Außerdem sind wir durch diese unseren eigenen Erfahrungen
zu der Erkenntnis gekommen: Arbeit ist Scheiße – sie hemmt
einen nur bei der kreativen Bewältigung des Daseins / des
Hierseins / des ICH-Seins!
Wir brauchen dringendst – die Veranstalter fragten verstärkt
nach W&W-Postern – neue Plakate. Unsere bisherigen sind
aus , und so setzen wir uns mit unserem Haus- und Hof
Grafiker/Fotografen-Team Volker Bagatzki / Frithjof Hirdes in
Verbindung und besprechen mit den beiden einen originellen
ausgefallenen einzigartigen unverwechselbaren Neuentwurf.
Es sieht mehr nach einem alt-ägytischen
Pyramidenwächterduo als nach einer neudeutschen
24
Folkrockband aus, aber es ist der Knaller – endlich mal wieder
ein künstlerisches Poster mit Stil, mit Aussagekraft, mit
Charisma – ein Kunstgegenstand eben, ein Stück deutscher
Plakatgeschichte, das man sich in´s Wohnzimmer hängt und
wo alle sagen: „Hey Mann, das ist ja supergeil, wo hasse datt
denn her“. Darauf hatte die Welt lange gewartet.
Die Nachfrage ist so riesig, dass die Druckerei kaum mit dem
Druck und wir mit dem Verschicken nicht mehr nachkommen.
Wenn z.B. der ASTA der Uni Münster für einen Auftritt von uns
im dortigen Audimax 100 Poster ordert, dann liegt spätestens
nach 1 Woche die Nachbestellung auf dem Tisch. Grund: die 1.
Lieferung ist zwar ausgehängt, aber mittlerweile von Fans oder
Kunstliebhabern wieder abgehängt und geklaut worden. Die
Poster werden zu einem begehrten Sammlerobjekt, was sich
natürlich in der Szene herumspricht und bei manchen
Zeitgenossen dann leider auch unseriöse (damit vermeide ich
ein schlimmeres Wort) Energien weckt. Pedro Meuerer,
Kampfgefährte zu der damaligen Zeit und bis dato eigentlich
als Freund zu bezeichnen, schließt sich in einer Nacht- und
Nebelaktion mit Poster-Shop-Ecki zusammen, der sich ebenso
in unserem Dunstkreis bewegt. Die beiden drucken – ohne
unser Wissen und ohne Genehmigung der Grafiker (also der
geistigen und auch praktischen Urheber) die Poster nach und
vertreiben Sie in ganz Europa und verdienen sich eine güldene
Nase. Diese Nasenbären. Diese Schweinepriester! Wenn sie
uns wenigstens beteiligt hätten...
Ich habe – nach Jahrenden - zum Glück irgendwann durch
Zufall im „Fährschipp“, einer Kneipe in Essen-Werden bei
meinem Freund Achim Schagen (der uns nie als Beleuchter mit
nach Nepal genommen hat) ein Exemplar entdeckt. In einer
25
großzügigen/-mütigen Anwandlung und einem kleinen Umweg
über Lamberts Arche Noah hat er es mir dann zukommen
lassen und jetzt schmückt und verschönt es meine eigentlich
auch so schon wunderbare Bar: und nach jedem Schluck wird
es wunderbarer...
Über die Stadt Essen muss ich natürlich auch ein paar Worte
verlieren, denn hier lebten wir, hier wirkten wir, hier war unser
"Zuhause" und hier war unser Publikum. Essen ist eine
Großstadt (seinerzeit über 600.000 Einwohner), aber sie
besteht eigentlich aus
einer fast unbewohnten
City - die im Krieg total
zerbombt wurde und
deren übrig gebliebenen
repräsentalen
Häuserwie das alte
Rathaus (links) auch
noch abgerissen wurden
zugunsten von
Warenhäusern - und
vielen eingemeindeten
Vororten, die relativ autark und jeweils die eigentliche Heimat
der Bewohner waren. "Vor Ort" sprach der Schiedsmann
Recht, hier waren die Fußball-Vereine, Schulen,
Schrebergärten, Bergbaukolonien, Parks, Schützenvereine:
hier war man Zuhause - im tiefsten Wiesengrunde. Einkaufen
ging man im Ort - und ein oder zweimal im Jahr in die CITY...
Vom Bewusstsein her waren die Besucher der City also
Kleinstädter, die ihre Kinder an die Hand nehmen, wenn ein
Farbiger entgegen kommt: "Komm sofort her: da kommt ein
Neger!". "Kuck ma da, datt sind Gammler: nimm Dich ja vor die
26
in Acht!". Pflastermaler werden von den Geschäftsleuten
verscheucht, bei Strassenmusikern wird die Polizei gerufen.
Wenn ich mit meiner 1. Skiffle-Gruppe "The Night Revellers"
auf der Strasse spiele, wartet in der Nähe immer unser "Roady"
mit dem Bus bei laufendem Motor. Kommt dann die Warnung
"Achtung, Bullen" rasen wir zum Bullie, düsen los, um 3 Plätze
weiter wieder rauszuspringen - und das Spiel beginnt von
Neuem.
Wir wohnten in einem der
wenigen Miethäuser mitten in
der City auf der Viehofer
Strasse, ganz in der Nähe
unserer Stammlokale
"Podium" und "Pop In".
Nachts war die City
ausgestorben, und wenn wir
morgens durch die
menschenleeren Strassen
nach Hause wankten, wurden
wir permanent von den
Bullen angehalten und mussten unsere Daseinberechtigun
kundtun.
Da wir uns - je nach Stimmungslage - diesem Begehren zu
widersetzen versuchten, wurden wir Stammgäste in der
Hauptwache am Weberplatz, wo es dann des Öfteren auch zu
Handgreiflichkeiten kommt (immer fangen aber die Polizisten
mit dem Scheiss an). Merke: wo sonst niemand ist, fällt der
Einzelne eben besonders auf - vor allem mit langen Haaren
27
und Bart. In Düsseldorf, Berlin oder München, also wirklichen
Metropolen, in denen wir des Öfteren sind, fallen wir überhaupt
nicht auf: niemand dreht sich nach uns um, niemand zeigt mit
Fingern auf uns, niemand hält sein Kind fest: unheimlich.
Die City mit dem Prädikat "Essen, die Einkaufsstadt" ist für uns
als Subkulturler aber geradezu ideal: hier gründen wir unsere 1.
Kommune, hier verschrecken wir die Passanten als 1. Hippies,
hier können wir auf eine nette Art Bürger erschrecken: nicht
von ungefähr entsteht in dieser Zeit der Begriff
"Bürgerschreck". Hier fällt nicht auf, wenn wir auf dem
Burgplatz einen Joint rauchen (kennt ja keiner, nicht mal die
Bullen). Ich leiste zu der Zeit mehr bekifft als nüchtern meinen
Wehrdienst ab. Ich gehe auf LSD arbeiten in "meiner"
Uhrenersatzteilfirma, ohne dass irgend jemandem meine
großen Pupillen aufgefallen wären. Ich fahre im Nachthemd auf
meinem Mofa Brötchen holen, wir können Musik machen oder
hören, wann und wie laut wir wollen, ohne dass ein Nachbar
unter die Decke klopft oder uns die Sicherungen rausdreht.
Und: keiner von uns ist auf das Arbeitsamt angewiesen: jeder
sorgt für seinen Unterhalt selber: ob als Taxifahrer, Musiker,
Kellner, Discjockey, Verkäufer, Hilfsarbeiter, Kneipier,
Musikmanager etc. - und mancher geht sogar einer normalen
Tätigkeit nach.(es gibt tolle Jobs bei der Post und der Stadt,
wenn man entsprechen verkleidet ist). Es gibt keinerlei
Beschaffungskriminalität oder Ähnliches. Wobei wir sowieso
der Meinung sind, dass unsere Eltern uns unseren
Lebensunterhalt schulden: die haben uns ja schließlich in die
Welt gesetzt!
28
Für uns gibt es dennoch nur einige wenige, aber sehr wichtige
Anlaufstellen in Essen. Zunächst das KZ (Kultuzentrum) in der
City. Hier trifft man sich zum Diskutieren, zur Absprache von
irgendwelchen Aktionen - und hier gibt´s für kleine Maus
Warmes zum Essen - inkl. Tabasko und Sambal Olek.
Dann - für uns schon Wichtiger: das Jugendzentrum am Rande
der City. Dort gibt der Leiter, Graf von Schmettow, (und später
auch sein Nachfolger Günter Kropp) uns und vielen Essener
Bands und Musikern eine Heimat: die Möglichkeit zum proben da musste man nicht in einen feuchten kalten Keller -, und er
stellt für Auftritte entsprechende Räume und Säle zur
Verfügung, um das Geprobte vor Publikum einem ersten
Härtetest zu unterziehen. Im JZ hält man zudem Kontakte zu
den anderen Musikern - egal ob von Beatbands,
Jazzformationen und Folk-Gruppen, Unsere ersten Konzerte
bei Kerzenlicht und Rotwein mit den "Liedern von Nonnen,
Toten und Vampiren" veranstalten wir im schönen kleinen
Keller-Saal des JZ - ohne große Anlage, Kissen auf dem
Boden, leise und akustisch: einfach toll.
Das hauseigene Kino ist angesagter Raum zum Knutschen und
Fummeln - mit einem erstklassigem Programm,
zusammengestellt und vorgeführt von H.-P. Hüster, der später
die "Essener Filmtheaterbetriebe" gründet, zu dem neben
vielen kleinen feinen Filmtheatern mittlerweile auch
Deutschlands größter Filmpalast - die Lichtburg - gehört. Mit
seinem damaligen Mitarbeiter Horst Horriar ("Messrs. Hulot")
drehen wir in den Räumen des JZ den avantgardistischen
Musik-Kurz-Film "Konzert für Rock-Band, Sinfonieorchester
29
und elektrische Kaffemühle" - und einige Sequenzen für den
Teebuetelhochebmaschinen-Film (z.B. die
Schöpfungsgeschichte) entstehen in den Werkstätten des JZ wo anders hätten wir so etwas sonst drehen können?
Last not least - ganz in der Nähe des JZ - ist die WAZLokalredaktion mit Thomas Rother als Redakteur und Jochem
Schumann als freiem Mitarbeiter, wo wir aus- und eingehen
und quasi zum Inventar gehören - sehr zum Leidwesen der
Abteilungssekretärin. Thomas Rother war Bernhards Haus- &
Hoftexter und schrieb ihm vor unserer Zeit viele seiner
Bergmannstexte wie "Wenn´s Arschleder zwickt" und war an
Bernhards Ruf als "Protestsänger des Ruhrgebiets"
maßgeblich beteiligt. Für uns schreibt er nun unter Anderem
"Wenn das Karakulschaf blökt" und das wunderschöne "Lass
uns auf die Reise geh´n" - und begleitet den Anfang unseres
Weges journalistisch - was für die "Karriere" von W&W nicht
grade abträglich ist. Sein Lied vom kleinen Revolutionär ist
einer der "Kracher" in unserem 1. Programm und spiegelt
unsere zwar bürgerschreckende, aber eigentlich unpolitische
Grundhaltung wider:
Dem Opa hacke ich das Holzbein an
Damit der Alte nicht mehr laufen kann
Dann stecke ich dem Opa das Holzbein in Brand
Dann haben wir wieder ein Feuer im Land
30
Der Oma nehme ich die Brille weg
Und schmier ihr auf die Gläser Dreck
Dann sagt sie Oma: Danke mein Kind
Ich bin ja sowieso schon fast blind
Der Schwester reiße ich die Puppe entzwei
Aus einem Holzpferd mache ich drei
Dann pinkel ich von unsrem Balkon:
Hurra, es lebe die Revolution!
-
Thomas Rother
31
Viehofer 25
Ich würde alles, was ich hab´, verkaufen
dann kiffen, ficken, fressen, saufen,
den Bürger, der da motzt, erschlagen
und den ewigen Sprung in´s Feuer wagen
(Aus "Wenn ich ein wenig fröhlicher wär´" T&T)
Nach dem Ende meiner Wehrdienstzeit (siehe Anhang) , dieser
jeden guten Staatsbürger irgendwie formenden Zeit, ziehe ich
auch in das Dachgeschoss der Viehofer Str. 25 in Essen. Dort
hat Bernhard schon eine „Wohnung“ – und dort beginnt unsere
Sturm- und Drangzeit. Allein das Wohnen in den 6
„Apartments“ der Etage (gleichbedeutend mit 6 „Wohnungen“,
das entspricht tatsächlichen 6 „Zimmern“, die im normalen
Immobilienmarkt als „Besenkammer“ bezeichnet werden [?!)).
Ich will damit sagen: die sind verdammt klein geraten, und ich
lass jetzt diese störenden Gänsefüße weg und sage nur: jedes
Zimmer hat max. 12m2 und jeweils eine Riesenschräge. dazu
hat jedes Zimmer ein riesiges Kombigerät
(Kühlschrank/Spüle/Herd am Stück) - da bleibt nicht viel für
Möbel. Nicht verschweigen darf man natürlich den Luxus einer
Toilette und einer Dusche - für alle. Diese Art von
Gemeinschaftseigentum (in den 20er-Jahren durchaus üblich)
ist für die „Altbewohner“ total normal, bedeutet aber für
Kommunen-Neueinsteiger bzw. Anfänger - wie ich einer bin eine tiefe Zäsur in seine bisherige Lebensform und somit ein
einschneidendes existenzielles Erlebnis.
Auf meinen 10 m² komme ich mir mit meinen 1,68 vor wie ein
Riese, und rückblickend erscheint mir meine Kammer in der
Kaserne gegen dieses Loch wie ein echtes Luxus-Apartment.
Aber ich habe ein eigenes Zimmer – eigene 4 Wände! Hab ich
die wirklich?
32
Die Türen einer jeden Wohnung stehen generell alle offen und
jeder der Mitbewohner verfügt über mindestens eine StereoAnlage, die den ganzen Tag über zweckentsprechend
betrieben wird. Da entwickelt sich bei dem Versuch, auf der
eigenen Anlage eine Beatles-LP anzuspielen, plötzlich ein
neues einzigartiges quadrofonischen Klangerlebnis, bei dem
die Beatles ihre Besetzung um Eric Burdon, Golden Earing,
Rod Steward und
die Stones
erweitert haben,
und dieser Sound
(?) erinnert
stellenweise dann
an den Free-Jazz,
mit dem manche
FolkwangStudenten abends
im PODIUM ihre
extrem kleine
Fangemeinde
quälen. Durch die
so entstehenden
Schallwellen an
der Oberkante
unseres Hauses ist es das einzige Gebäude in der ganzen
Stadt, das meiner objektiven Meinung nach wackelt, je
nachdem, wer und wie laut Musik abgespielt wird. Doch - man
gewöhnt sich an allem, sogar wenn beim Akt jemand ohne
Vorwarnung hereinkommt, nicht mal ein leises
„Entschuldigung“ für nötig hält, sondern nach Butter fragt oder
warum die Dusche (mal wieder) nicht funktioniert und wer
Putzdienst hat - als hätte ich grade nix anderes im Kopp.
Gemeinsames Frühstücken wird zur festen Einrichtung.
Morgens so gegen 13 Uhr geht einer los und holt frische
Brötchen und all das, was zu einem zünftigen KommunardenFrühstück gehört, einer kocht Kaffee und spült Tassen, ein
33
dritter Mitbewohner geht runter in unser im Erdgeschoss
gelegenes Musikgeschäft, um sich die LP-Neuerscheinungen
auszuleihen, die wir dann beim Frühstück durchhören und
somit immer auf dem neuesten Stand zu bleiben: 08 15-Lps
wurden unverzüglich zurückgegeben in den freien Verkauf, die
hörenswerten, die wir behalten, werden angeschrieben und wenn irgendwann irgendwoher Geld eingeht, wird dieser
manchmal nicht unerhebliche Posten beglichen. Je nach
Anzahl der Platten, zudem abhängig von den Erlebnisberichten
der einzelnen Kommunarden sowie verschiedener aktueller
innerer und äußerer Einflüsse zieht sich so ein Frühstück oft bis
zum Mittag (18:00 Uhr).
Mittags - also ca zwischen 18-19 Uhr - bekochen wir uns
gegenseitig und treiben uns bei der Kreation neuer NudelPfannen-Gerichte in kulinarisch immer höhere und
kochkünstlerisch bisher nicht erforschte Dimensionen. Wenn es
sie gegeben hätte - wir hätten auch Ameisenrüssel und
Heuschreckenunterschenkel verarbeitet – doch auch ohne
diese Zutaten sind diese gemeinsamen Mahlzeiten (nach
Verfeinerung durch extremen Gebrauch von Ketchup, Chili und
Sambal Olek) zum endgültigen Auftakt des Tages und für das
Zusammenleben eine echte Bereicherung.
Grundsätzliche Zwischenbemerkung: Wenn nie oder nur
andeutungsweise von Begegnungen mit dem anderen
Geschlecht berichtet wird, so heißt das nicht, dass wir schwul
sind (was bei einer 2-Mann-Boy-Group oft unterstellt wird).
Diese Leute hätten mal das Gestöhne und Geschreie
tagaus/nachtein miterleben sollen, das man sehr gut noch auf
der Straße miterleben konnte (wir wohnen und arbeiten im 5.
Stock, nur mit Dachluken nach oben – und die Straße ist eine
laute Verkehrsstraße). Das nur zur Klarstellung, denn es soll in
diesem Buch kein Thema sein. Wobei, wenn ich so überlege könnte das ein extra langes Kapitel werden mit wirklich
tiefgreifenden, herzzerreißenden und tragischen Geschichten.
34
Bernhard richtet auf dem Flur ein schwarzes Brett ein, an das
fortan der Putzdienst für die Gemeinschaftsräume
(Klo/Dusche/Flur) angepinnt, der Kochdienst festgelegt,
aktuelle Meldungen der Einzelnen und die „Todesanzeige der
Woche“ ausgehängt werden. In diesen Nachrufen finden wir all
die tollen Reime, die wir später auf der Flipper-Single-B-Seite in
dem Lied „Einst kommt die Nacht, die lange dunkle“
verarbeiten: die Geschichte eines Mannes, der stirbt und dem
seine Freunde am Grab ein Abschiedslied singen und er (also
der Tote) den Deckel noch mal aufklappt und seinen Freunden
auch ein Abschiedslied singt:
Einst kommt die Nacht, die lange dumpfe
wo Deine die Freunde Dir ihr Mitleid schenken
und bei dem alten Mauerstumpfe
Deinen Body in die Grube senken
An Deines Grabes Rande stehen sie
in ihren feinen schwarzen Kutten
mit furchtbar wackeligem Knie
und das Herz tut ihnen bluten
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So stehen sie dort mit leichtem Schauer
und singen dann mit großer Trauer:
Du bist befreit von Leid und Schmerz
geliebtes altes treues Herz
nur Müh´ und Arbeit bis an´s Ende
nun ruhen Deine fleißigen Hände
die immer gern für uns bereit
das danken wir Dir alle Zeit.
Und du denkst, wie schön die Zeit mit jenen war
und singst aus voller Brust ganz hell und klar:
Wir alle wandern durch das Tor des Lebens
den Weg bis in die Ewigkeit
36
und alles Hoffen, Wünschen ist vergebens
der große Meister bestimmt den Lauf der Zeit
So tretet fort, ihr meine Lieben
nehmt Abschied, weint nicht mehr
Heilung konnt´ ich nicht mehr finden
meine Leiden waren viel zu schwer
Nun so ziehe ich von dannen
schließ die müden Äuglein zu
haltet innig treu zusammen
Und gönnet mir die ew´ge Ruh´.
37
Wenn nichts Anderes anliegt, dann ist nachmittags „StadtGang“ angesagt: wir sitzen auf dem Burgplatz, werden von den
Spießern begafft und begaffen die Spießer. In dem Lied „wenn
ich ein wenig fröhlicher wär´“ ist diese Situation sehr treffend
beschrieben.
Unter dem
Motto von
damals
„macht
kaputt, was
Euch
kaputtmacht“
will
„Sternchen“
Sternheimer
eine Bombe
bei Karstadt
deponieren – zum Glück für ihn und uns und die möglichen
Opfer hat er nie Sprengstoff zur Hand – aber verbal war der
Bau schon 10x weggeblasen. Wir persönlich lassen es
langsamer und ruhiger angehen und versuchen die Leute von
unten oder innen zu überzeugen. Wir verteilten Flugblätter „Wie
drehe ich einen Joint “ mit der Anleitung für den großen 3blättrigen – oder den „Almanach der Rauschmittel“ mit
Wirkungsangaben. Unser wirklich gut gemeintes Flugblatt mit
der Anleitung „Wie nehme ich einen Trip richtig“ (12 Regeln,
die nützlich sind für Neueinsteiger, einen Trip richtig
vorzubereiten und zu genießen und einen Horrortrip zu
vermeiden – siehe Anhang) bringt uns die Anzeige eines
Pastors ein, die aber abgeschmettert wird (nach langer Zeit da leben wir schon in Dill und die ganze Angelegenheit wird
beim königlich-hunsrückischen Amtsgericht in Simmern
verhandelt – und die wussten gar nicht, um was es wirklich
ging). (siehe Anhang)
38
Im Sept. 67 veranstalten wir das 1. Essener Love-In. Wir hatten
Jerry Rubins "Do it" gelesen und wollten das Gelesene
(Theorie) nun mit
Leben erfüllen (die
Praxis). Mit anderen
Worten: wir wollten
Fleisch an den
Knochen bringen:
Wir wollen testen,
ob dieses Essen
schon reif für die
Liebe ist. Also
packen wir uns in
Omas Wolldecken,
setzen uns alte
Brillen auf, stecken
uns Blumen ins
Haar und stürmen
zu zweit (in) die
Stadt. Mit diesem
unseren
Spontanangriff
legen wir in
nullkommanix den
zentralen (Kennedy-) Platz Essens lahm. Wir drehen ein paar
Runden um den Brunnen und singen "we shall overcome" und
irgendwas von San Francisco sowie "Fragt uns nicht: woher
und wohin", anschließend laufen wir durch die staunend stehen
gebliebenen Menschen, verteilen unsere mitgebrachten
100(0)e von Blumen (lasst Blumen sprechen, nicht die Politiker)
an die Passanten und geben ihnen wichtige Lebensweisheiten
mit auf ihren steinigen Weg durchs Leben wie: "Liebe Deinen
Nächsten mehr als Dein Portemonnaie – Steigt aus - Fresst
Euer Geld und sterbt daran Liebe, solange Du noch warm
bist..." Wir steigen in´s (Brunnen-) Wasser und umrunden mit
unseren Instrumenten das einzige Mädel, das wirklich stehen
bleibt: die Badende "Jungfrau“ in ihrem Becken. Mittlerweile ist
39
unsere "Kommune" auf 6 Mann angewachsen - das Fernsehen
ist auch endlich eingetroffen und interviewt Zuschauer (die
gehören eingesperrt - bei Adolph... - die sind bekloppt usw.),
Rundfunk und Presse kommen angerast – für das biedere
Essen, das sich ja nun immerhin „Großstadt“ nennt, ein
Medienereignis aller erster Güte (in Düsseldorf, Berlin oder
München hätte sich keine Sau nach uns umgedreht). Aus den
Büros strömen Sekretärinnen und Beamte (das musst Du
gesehen haben - da sind so ‘n paar Irre unterwegs), die
umliegenden Kneipen leeren sich spontan (alles Zechpreller)
und die Menge steht, gafft, staunt...Die City steht für einen
Moment still. Doch hätten wir "BUHHH" geschrien, wären sie
alle vor Schreck weggerannt. Dann kommen aber auch schon
die Bullen und regeln den Verkehr, schirmen uns ab und fragen
nach der Demonstrationserlaubnis, dann kommt noch der
Regen von oben (von unten waren wir ja aufgrund unserer
Kneipp-Einlage schon angefeuchtet) da verteilen sich die Leute
und der BGS konnte seine Wasserwerfer wieder einpacken:
damit geht unsere Love & Peace-Parade friedlich zu Ende –
und wir Bürgerschrecken steigen zufrieden runter ins Podium
und feiern unseren Erfolg – das Leben ist ein wunderbarer,
einzigartiger Spaß.
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41
Nonnen, Tote & Vampire
Welcher Wechsel doch im Leben
tiefe Stille hier und Leid.
Dort - bei arbeitsamen Streben
Jugendglück und Fröhlichkeit
(aus Lieder von Nonnen, Toten und Vampiren)
Musikalisch befinde ich mich plötzlich in einem Vakuum: meine
Skiffle-Band „The Night-Revellers“ hat sich schon vor Urzeiten
wegen Arbeitsmangels aufgelöst, im Posaunenchor bin ich
schon seit Jahrzehnten nicht mehr aktiv, auch der Kantorei
habe ich nach meinem Stimmbruch Ade gesagt und für das
Schulorchester ist aufgrund meines Alters mittlerweile auch
kein Platz mehr frei. Ich spiele zwar von Zeit zu Zeit Tuba in der
Universitäts-Jazzband der Uni Bochum, aber ich bin verzweifelt
auf der Suche nach einer neuen musikalischen
Herausforderung. Da Bernhard mit seinen Songs - er hatte
mittlerweile das Prädikat "Protestsänger des Ruhrgebiets"
angehängt bekommen - auch nicht mehr so richtig glücklich ist
("ich spiel vor Kumpels und hab noch nie im Leben richtig
malocht: die lachen sich ja kaputt über mich") und wir des
Öfteren zusammen musizieren, entwickelt sich irgendwie und wann aus diesem Zusammenspiel die Idee, alte Bänkellieder,
Vampirtexte, Trauer- und Totengedichte, Moritaten und Lyrik
aus alten Büchern, die wir in dieser Zeit lesen, zu vertonen. Mit
Gitarre und Ukulele packen wir die ersten Texte in ein
entsprechendes musikalisches Gewand zu. Es entwickelt sich
dabei im Laufe der Zeit eine eigen-/einzigartige Mischung aus
klerikalem Protestgesang, klassischer Gitarrenmusik mit
traurigen Einschüben und Untermalungen. Bernhards
Gitarrenfertigkeiten und meine Posaunen-, Flöten und
Trompetenkünste kommen dabei voll zum Tragen und
erzeugten eine eigentümlich tragende Stimmung, die eine
jeweils vorhandene Grundstimmung unterstützt und dabei noch
42
genügend Raum für eigene Gedanken und Interpretationen
lässt. Wir bauen weitere Instrumente wie Triangel, dicke Zing,
Xylophon, Windspiel und was so alles in den Räumen rumliegt
und einsetzbar ist, in unsere Kompositionen ein. Oft meditieren
wir nächtelang über einem Thema, lassen die Bandmaschine
mitlaufen und suchen uns dann später die passende Musik zu
einem Text heraus.
Wir erarbeiten ein 1 ½ -stündiges Programm und proben in
jeder freien Minute im JZ Essen, wo der damalige Leiter Graf v.
Schmettow uns glücklicherweise einen Raum überlässt, wo wir
ohne die dummen Kommentare unserer Mitbewohner – also
ungestört - jederzeit üben können. Hausmeister und Personal,
die ab und an teilhaben dürfen an diesem künstlerischen
Entstehungsprozess, sind ein kritisches Publikum und geben
manch saftige ehrliche konstruktive Kritik zum Besten
(manchmal auch noch etwas mehr), aber so kochen wir nicht
nur im eigenen Saft. Als dritter Mann ist Jens Nissen, ein
Geiger aus Essen, mit dabei und Ende 1969 ist es dann endlich
soweit – das Programm steht. Unser 1. öffentliches Konzert
geben wir im kleinen Saal des Jugendzentrum – bei Kerzenlicht
und Rotwein. Ganz in schwarz gekleidet, spielen wir mit
unserem Sammelsurium von mittlerweile ca. 20 Instrumenten
unsere Lieder auf fast dunkler Bühne. Unsere selbst für heutige
Verhältnisse einmalig zu nennende Light-Show besteht aus 2
Strahlern: rotes Licht (Lampe links) bei Liebesliedern, grünes
Licht (Lampe rechts) bei Grab- und Vampirsongs und rot/grün
(also volle Kanne) bei nicht einzuordnenden Songs. Nachdem
sich das Publikum an die eigenartige Atmosphäre gewöhnt hat
und auf unsere ironisch/satirischen Erläuterungen, die wir zu
den einzelnen Liedern geben, mit Zwischenrufen eingehen, ist
der Bann gebrochen – es wird ein großer 1. Erfolg, der uns
zeigt, dass unser Projekt wohl wirklich Zukunft hat. Durch die
Kontakte von Bernhard zu Veranstaltern und mittels diverser
Flugblattaktionen und obskuren Zeitungsanzeigen, aber auch
durch erste Zeitungsartikel und -kritiken über uns sind relativ
schnell Auftritte im Ruhrgebiet gebucht, wir haben erste Radio-
43
Termine: das Projekt „W&W´s Pop-Cabaret“ läuft an. Wir
spielen auf der Studio-Bühne der Stadt Essen, wo uns der
NRZ-Theaterkritiker bescheinigt, dass wir nicht mal Noten
lesen können (dabei war er zum ersten Mal in seinem Leben
zur richtigen Zeit am richtigen Ort - aber das hat er nicht
kapiert), wir tingeln durch die Berliner Kneipen und lernen die
dortige Szene kennen (Insterburg, Wader, Mai, Schobert &
Black etc.), wir sind auf der Waldeck bei den Songfestivals - wir
sind präsent und werden mehr und mehr wahrgenommen.
44
Anfang 1970 haben wir einen Gig in der Wuppertaler Börse: vor
8 (i.W. acht) Personen Publikum spielen wir unser Programm
herunter – ja leiern es ab. Es ist total ätzend, wir fühlen uns
unwohl und sind heilfroh, als der imaginäre Vorhang endlich
fällt und 1 ½ Stunden quälend langes Programm vorbei sind.
Beim Abbau kommt ein Pärchen auf uns zu, das sich diese
unsere miese Show angetan hat – ist ein Bekannter von
Bernhard mit netter Freundin. Nach obligatorischer Begrüßung,
kurzem Händeschütteln und Schulterklopfen incl. der üblichen
Lobhudeleien lädt er uns zum Bierchen ein und offeriert uns
dann - einen Plattenvertrag!?! Das war kein anderer als der
Musik-Journalist
Rolf-Ulrich
Kaiser (kurz
R.U.K) mit seiner
Lebensgefährtin
Gille Lettmann,
die mit dem
Berliner Meisel Verlag
zusammen das
Ohr-Label
gegründet haben
und nun auf der
Suche nach wirklich guten deutschen Gruppen sind. Da ist er
bei uns natürlich genau richtig... Nur: bisher wussten wir das
selber gar nicht! Jetzt aber...
Logo vom
Plattenlabel
„Ohr“
45
Wir sind happy, wir sind aufgeregt wie kleine Kinder, wir fragen
auch nicht nach Prozenten, nur nach einem kleinen Vorschuss,
aber eigentlich nach gar nichts außer: wann und wo können wir
endlich unterschreiben und ins Studio. Der Traum eines jeden
Musikers, entdeckt zu werden, geht für uns bei einem der
schlimmsten Auftritte unserer gesamten musikalischen
Laufbahn in Erfüllung. Der Vertrag wird in Berlin
unterschrieben, und schon im März 1970 fahren wir nach
Hamburg, um unsere 1. LP "Von Nonnen, Toten und Vampiren"
einzuspielen. Die Produktion erfolgt im Studio Fürchtenicht,
einer Art Heimstudio im Wohnzimmer. Arbeiten können wir nur
nachts wegen der Straßengeräusche tagsüber (fehlende
Schallisolierung), und Playback ist auch nicht: alles muss im
Hieb sitzen. Wir haben noch keine überhöhten
Qualitätsansprüche, und wenn bei einem Trompetensolo mal
46
die Spucke in der Kanne brodelt, es aber intonationsmäßig
nichts Großartiges zu nörgeln gibt, dann wird das Ding
abgewinkt.
Für "Studio-Neulinge" schlagen wir uns recht gut, und unser
bewährtes Bühnenmotto „Perfektion ist nicht unsere Stärke“,
mit dem wir hörbare Fehler in´s Menschliche ziehen, kommt
hier voll zum Tragen. Das Schöne bei dieser Arbeit: uns labert
keiner rein, keiner schaut auf die Uhr, keiner erinnert an
Studiokosten - es ist entspanntes, ruhiges und dennoch
konzentriertes Arbeiten.
Als wir dann nach Wochen die 1. Apressung bekommen, höre
ich plötzlich nur noch falschen Töne, jeder noch so kleinen
Fehler lässt mich schaudern, jeder zu späte Einsatz wird zum
gössten Ärgernis - eigentlich kann man jedes einzelne Stück
viel viel besser machen - ja man müsste die ganze Platte auf
den Müll werfen und ganz von vorn anfangen. Dass unsere
Bekannten und Freunde die Produktion "einfach nur toll" finden,
empfinde ich als Mitleid - und ich kann nix mehr ändern...
Das einzig Schöne an der LP war das Plattencover von
Reinhard Hippen, an dem vorne ein Luftballon von OHR
eingearbeitet war.
Doch im Nachhinein muss ich sagen, dass diese 1. LP die
ehrlichste von allen wurde.
47
Von unserem Geiger haben wir uns mittlerweile wieder
getrennt, da er aufgrund seiner aggressiven Fahrtechnik mit
seiner R50 (sprich 500er BMW) laufend verletzt ist. Als
Gastmusiker und Roady ist Charly Weißschädel mit dabei, der
z.B. beim Flipper-Song in einer Schüssel virtuos mit Wasser
planscht. Alles ist tatsächlich handgemachte rein akustische
Musik (neudeutsch „unplugged„ und damit seiner Zeit weit
voraus) ja selbst für damalige Verhältnisse ein Novum.
Innerhalb von nur drei Nächten ist die LP samt Single
eingespielt, und die Präsentation dieser Produktion erfolgt
stilgerecht im Juli 69 im Hamburger DRK-Haus. Wir werden in
Särgen in einen mit Kerzen beleuchten Raum herein getragen,
RUK hält eine kurzweilig launige, mit Grabesstimme
vorgetragene Einführungsrede, dann - klappen wir die Deckel
auf und steigen, bleich geschminkt und schwarz gekleidet, aus
den Särgen heraus und singen den anwesenden Kritikern das
Lied: "Wenn hoch die Sonn steht am Firmament, liegt Graf
Dracula im Sarg und pennt". Wir lassen das Abendglöckchen
ertönen, zeigen die Lilie vom See und lassen das Mütterlein am
Grab des Sohnes weinen: das haben Schreiberlinge, die sonst
Opernkritiken schreiben oder Rockkonzerte besuchen, noch nie
gehört und erlebt - der Gag sitzt..
Es ist ein dicker Presserummel, und weil das Motiv stimmt, ein
ordentliches Echo in den Zeitungen – die ersten Fernsehsender
interessieren sich für uns: wir steigen langsam in neue
Dimensionen auf. (Zeitungsartikel Frankf. Neue Presse, siehe
Anhang)
Witthüser & Westrupp
stilgerecht bei der
Präsentation ihrer ersten
LP „Lieder von Nonnen,
Toten & Vampiren“ beim
Fototermin
48
Im August kommt dann unsere Single auf den Markt (mit „Wer
schwimmt dort?“ und „Einst kommt die Nacht“ (die Essenz aus
den Todesanzeigen der Woche von unserer Pinnwand) - und
im September sind wir schon auf dem legendären FehmarnKonzert dabei (dem ich ein Extra-Kapitel gewidmet habe), im
Oktober spielen wir auf dem Pop- und Blues-Festival in Essen,
dann nach Wien zu Fernsehaufnahmen, Pop-Festival Bremen,
14 Tage München, 1 Woche Mainz, Fernsehaufzeichnung
Wartsaal Baden-Baden, 3 Wochen Gastspiel Berlin bei den
Wühlmäusen, dazu Pressetermine mit dem Stern und diversen
Zeitungen, Promotion-Tour für die LP etc.: nun brechen wir das
Musikstudium ab (ist sowieso nur graue Theorie) und auch
unsere Nebenjobs bleiben auf der Strecke (Arbeit allein macht
eben nicht glücklich): wir können erstmals von unseren Gagen
(über)leben. Doch von nix kommt nix, wie wir bei uns zu Hause
zu sagen pflegen: wir spielen – wenn wir zwischendurch Pause
haben und zu Hause sind - auch weiterhin nächtelang
zusammen Melodien durch, improvisieren über bestimmten
Melodien, nehmen alles auf Tonband auf und erarbeiten uns
(und das ist wirklich ARBEIT - aber schöner, effektiver und
befriedigender als die vorgenannte) einen neuen Fundus an
Musik. Wir testen einen weiteren Musik mit Künstlernamen
"Paul Pudel", der uns aber mit seiner Laute keinen neuen
Impulse geben kann: wir bleiben zunächt mal allein zu zweit...
49
50
Fehmarn
Wer schwimmt so munter dort im Meer
Wer schwimmt in jener Bucht dort hin und her
Wer ist immer lustig und immer froh
und wer erfreut die Kinderherzen so?
(aus "Flipper" - CD Nonnen, Tote, Vampire)
Wir liegen in unseren Zimmern in der Viehofer Straße 25 in
Essen unter´m Dach und erholen uns von den Strapazen der
Podium-Nacht (unsere Stamm- & Szene - Kneipe). Es ist
irgendwann 1970 so gegen 12.00 Uhr mittags - highnoon eigentlich eine Zeit, wo niemand es wagen sollte, bei uns
anzurufen (vor dem Frühstück können wir einfach noch nicht
denken und sind verdammt aggressiv). Am anderen Ende der
langen Leitung Rolf-Ulrich Kaiser, der Macher des Ohr Labels
und unser Produzent. Ich höre Bernhard: "Hast Du mal auf die
Uhr geguckt? Weißt Du eigentlich, wie früh es ist... ? ! ... ...
Wer? Was? Wann? Was ist das? Ein Festival! Wir? Wer spielt
da? Ah ja, verarschen - um diese gottverlassene Zeit. ...Du
spinnst!. Nein, vielleicht, ja, ich melde mich noch mal, wenn ich
sprechen kann." Beim Frühstück erzählt er (ich will jetzt nix von
seiner zittrigen Stimme erwähnen): WIR sollen auf dem größten
Open-Air-Festival auf deutschem Boden spielen - auf der Insel
Fehmarn. Mit dabei alles, was Rang und Namen hat: Rod
Steward, Jimmy Hendrix, Sly & the Family Stone, Emerson
Lake & Palmer, Colosseum, Procol Harum, Mungo Jerry,
Incredable String Band, Renaissance, Peter Green, Taste, Ten
Years after, Ginger Bakers Airforce, Canned Heat...und Gott
und die Welt... und Witthüser & Westrupp.
Ich glaub´s nicht und verschluck mich und krieg Krämpfe und
weiß: das ist zu viel für meine zarte Musiker-Seele Wir Geiern
und lachen und schreien und tanzen – und haben solche Muffe:
20 – 30.000 Leute werden erwartet, und wir mit Ukulele und a-
51
Gitarre und unseren
Liebes- und
Vampirliedern - 2 kleine
Davids gegen den Rest
des Universums. Der
Totenkopf im Vogelkäfig
wackelt bedenklich mit
der Kinnlade – aber wir
rufen RUK zurück und
sagen - natürlich zu.
Mit unserem alten
Mercedes Benz 280Diesel machen wir uns
auf den Weg nach
Fehmarn. Am Eingang
zum Festival-Gelände
abrupter STOP an der
Schranke. Die
freundlichen,
zuvorkommenden,
liebenswürdigen und
hilfsbereiten Ordner von
den Hamburger HellAngels hauen uns erst
mal eine dicke Dülle in
unsere Motorhaube,
heißen uns aufs
herzlichste Willkommen
und wollen unseren
MERCEDES umkippen bis wir ihnen irgendwie
klarmachen können, das
52
wir DIE Top-Acts (?) sind und tatsächlich reindürfen - ja
müssen (was wäre das denn sonst ohne uns für ein Festival
geworden).
Klatschnass geschwitzt fahren wir durch dieses riesige
Festival-Gelände in Richtung Bühne: 10m (oder waren es 100)
hoch, gigantische Ausmaße, Orange-Türme bis in den Himmel.
Wir haben schon einige große Festivals hinter uns - aber so
etwas haben wir wirklich noch nie gesehen - Woodstock in old
old Gernany. Gerade läuft der Soundcheck mit Ginger Baker´s
Air-Force und einigen obergeilen Tänzerinnen – Hey Mann, ist
das irre. Und wir mittendrin...
Wir rauchen uns erst mal eine oder zwei und melden uns dann
in der "Baracke" (Festivalleitungs-Fertighaus mitten auf die
grüne Wiese geklotzt) und wissen sofort, wir sind im Irrenhaus
gelandet und gleich kommen die Bewährungshelfer um die
53
Ecke und legen uns allen hier Zwangsjacken an: eine Hektik
ohne Anfang und Ende, Telefone klingeln, Leute schreien
durcheinander, wo ist denn der schon wieder, wieso sind die
nicht da, wer seid ihr... Die Hell-Angels wollen die Hütte
plattmachen, weil sie noch keine Knete gesehen haben,
Techniker rennen rein raus raus rein, nach 3 Stunden hauen
wir unverrichteter Dinge wieder ab und suchen uns ein schönes
Plätzchen hinter der Bühne, wo wir unser Ein-Mann-Zelt
aufschlagen und einrichten (Hotel ist nicht drin) und machen
uns mit der Umgebung vertraut. Wir besteigen die Bühne und
sind von dem Ausblick erschlagen: überall Zelte und
Plastikfolien, soweit das Auge reicht. Am Horizont Liliputaner
oder noch kleinere Menschleinchen, die heftigst mit ihren
kurzen Armen winken und rudern. Die Bühne selbst – ein
Riesenteller. Wenn vorne eine Gruppe spielt, wird auf dem
hinteren Teil (getrennt durch eine Wand) das Equipment der
vorherigen Gruppe abgebaut und das der nächsten aufgebaut
– per Aufzug werden die Sachen rauf- und runtergefahren.
Wenn die vorne fertig sind und die hinten auch, kommen die
54
Hells, stecken ein paar Holzpfähle in vorgebohrte
Aussparrungen und drehen die ganze Scheibe samt
Gerätschaften und Musikern um 180° - und weiter geht´s mit
Musik - genial.
Irgendwann taucht dann tatsächlich auch mal der Veranstalter
auf und erklärt, dass es für uns keine feste Auftrittszeit gibt –
das wird kurzfristig entschieden. Ist uns aber auch egal, wir
quatschen mit vielen tollen Leuten, machen Musik und all das,
was dazugehört. Das Fest läuft, und mit ihm der große Regen.
Es schüttet ununterbrochen, die Leute stehen, sitzen und
liegen im Schlamm - eingehüllt in Regenjacken, Folien und
Planen und hören sich die Cracks an, die aufpassen müssen,
dass sie über ihre nassen Instrumente und Mikros keinen
gewischt kriegen – es passiert trotzdem.
Die schöne weiße Schleiflackanlage von Sly & the Family
Stone wird klitschnass und dreckig, die Roadies fluchen, die
Atmosphäre ist trotz (oder wegen?) des Regens elektrisch
geladen – die Hells fackeln das schöne Fertighaus ab, weil Sie
mit dem Veranstalter Stress haben – es ist nicht alles vom
Allerfeinsten, was so am Rande passiert. Hendrix soll am
Samstagabend spielen, aber der Regen machte es ihm
unmöglich auf die Bühne zu steigen wegen der Gefahr,
elektrifiziert zu werden. Alle wollten den Hendrix hören - dafür
sind viele schließlich hierhin gekommen... am
Sonntagmorgen(?) soll er nun endgültig spielen - die ganze
Nacht ist dies das Gesprächsthema Nummer eins.
Dann kommt der Sonntagmorgen, und mit ihm die Sonne. Die
vielen Leutchen schälen sich aus ihren Südwestern, das Plastik
wird eingerollt, man trocknet langsam und will Musik hören –
aber keiner macht welche. Der Veranstalter weckt uns - und ab
geht´s. Als wir die Bühne hinaufkommen und als deutschsingendes Duett angekündigt werden, war das eigentlich nur
55
interessant, weil die Leute dabei die Möglichkeit hatten, einen
schönen Platz fürs Hendrix anhören zu finden ... Und was für
‘ne Überraschung wir dann waren. Jimmy Hendrix liegt im Hotel
und ist nicht ansprechbar – aber wir sind da – und damit auch
dran.
56
Der Festivalsonntag
Am Strand unmittelbar neben dem Festivalgelände
57
Jimi Hendrix spielt sein letztes Konzert – auf Fehmarn
58
Wir betreten mit unseren kleinen akustischen Instrumenten die
Riesenbühne – und ernten den ersten donnernden Applaus.
Als die Mikrophone eingenordet sind und mein erster
Ukulelenton über die Menge hinwegrollt, ernten wir Ovationen.
Und als Bernhard bemerkt: "verausgabt euch nicht: gleich
kommt noch Jimmy Hendrix, der soll auch ganz gut sein", da
haben wir gewonnen. Unsere Musik – akustisch, ruhig und
lyrisch – wallt über das Festival-Gelände und wird eins mit dem
sonnigen Morgen. Es ist eine paradiesische Stimmung, ein
unwiederbringliches Erlebnis für uns, wir vergessen unsere
Angst und gehen auf in der Musik. Lustig heiter - wir bringen
Licht in die Seelen der Festival Audienz... Und die wollten
MEHR, und dann NOCH MEHR, .. und als wir zum Abschluss
unsere Flipper-Hymne spielen, dürfen wir erst recht nicht von
der Bühne – Zugaben folgen. Wir - mit Hilfe des Publikums trotzen den Versuche der Veranstalter, den Zeitplan
einzuhalten und Hendrix endlich starten zu lassen: wir waren
so abgefahren und das Publikum mit uns, dass sie den Hendrix
59
warten ließen um uns zu hören... MEHR, MORE und wir
antworten mit einem Satz als Reaktion auf die weiteren
nichtendenwollenden Ovationen “... wir sind eine ganz ganz
junge neue Gruppe und wir haben nur ein sehr beschränktes
Repertoire, und deswegen fangen wir nun wieder von vorne an
".... und wir spielen weiter und Hendrix muss warten…
Wir haben es geschafft. Wie im Traum kommen wir herunter –
Schulterklopfen, Händeschütteln, Interviews geben,
Veranstalteradressen entgegennehmen. Wir wollen uns noch
Alexis Corner anhören, aber alles spricht uns an: irre,
Wahnsinn, unglaublich – für uns auch. Auf Jimmy warten wir
nicht mehr: wir packen ein und hauen ab – es ist einfach zu
mächtig. Die Zeitungen nennen uns hinterher "die Könige von
Fehmarn" – Abräumer des Festivals. Zu hoch gegriffen? Für
uns war es DER GIG schlechthin, trotz vieler anderer
wunderschöner Momente in unserem Musikerleben.
60
TeHoMa
Eines Tages kam ein klarer Geist über mich
(aus Vision I - Bauer Plath)
s ist ein Tag Anno 1968. Plötzlich und unverhofft kommt mit
Donnerklang ein verdammt klarer Geist über uns (kein
Alkohol!). Wir hocken gerade in Bernhard Witthuesers Kammer,
in der 3. Etage der Viehofer 25 (er hat sich mittlerweile
verbessert und ein Zimmer ohne Schräge) – ziemlich versteckt
direkt hinter dem Orgelstudio von Musik Gräf. Während im
Studio selbst mal wieder georgelt wird – also Orgelunterricht
gegeben wird - wollen wir bei einem Tässchen Tee die Lp´s
durchhören, die wir uns mal wieder im Musikgeschäft unten im
Haus ausgeliehen haben, immer wieder auf der Suche nach
interessanten und verwertbaren Neuerscheinungen. Das fällt
aber kurzfristig aufgrund des fürchterlichen Georgels im
Vorraum flach. Also sitzen wir stumm vor dem Totenkopf, der in
seinem Käfig auf dem Schreibtisch steht, haben unsere
dampfenden Tassen mit heißem Wasser vor uns stehen und
tauchen unsere Teebeutel auf und ab
Und jetzt –
plötzlich und
ehrlich völlig
unerwartet weil
ohne
Ankündigung,
ohne
Anmeldung und
selbst vom
Totenkopf nicht
erkannt - kommt
besagter Geist
mit Donnerschall und öffnet uns Geist und Augen – als würden
61
wir uns in einem Spiegel seh´n. Und als wir uns da so sitzen
sehen – quasi von außen – da fällt es uns wie Schuppen aus
den Haaren. Uns wird überdeutlich klar, dass diese Art der
Teezubereitung unzeitgemäß, ja geradezu menschenunwürdig
ist im Zeitalter der tschechischen Revolution, der Raumfahrt
und der elektronischen (nicht zu überhörenden) Orgeln. Louis
Amstrong spielt auf dem Mond Trompete, und wir sitzen hier
und heben und senken unsere Teebeutel in heißes Wasser....
Die Erfindung
Wir schauen uns an und unausgesprochen steht mit
brennenden Lettern in die flirrende Luft: gemeißelt: es gibt noch
kein technisches Hilfsmittel – erfindet es! Eine Maschine muss
her, das ist uns sofort klar, und zwar eine Teebeutel - Hochheb
- Maschine. Also ab an´s Zeichenbrett (?). Innerhalb von nur 1
(i. Worten: einer ) Nacht entwerfen wir eine Maschine, die
Michelangelo nicht besser hätte zeichnen können und die uns
dieses lästige entwürdigende Getue auf elegante Weise
62
abnimmt und dem Teetrinker nun die Zeit gibt,
menschenwürdig zu leben und Sinnvolles zu tun. Mit unseren
Konstruktionsplan rasen wir gleich morgens in die nächste
Schreinerei und lassen uns gemäß den Vorgaben die diversen
Einzelteile fertigen, rasen zurück und bauen an der Werkbank
(Bernhards Schreibtisch) mittels Kompaktkleber und unter der
Zuhilfenahme von Präzisionswerkzeugen wie Laubsäge und
Nagelfeile dieses geniale Objekt zusammen. Zitternd vor
Vorfreude sitzen wir (es ist auch zufällig gerade Nachmittag
geworden und damit sowieso „Teatime“) vor dem fertigen
Objekt und sehen fasziniert zu, wie präzise unsere Maschine
arbeitet und den Teebeutel mittels einer Kurbel und
revolutionärer Teebeutelhaltevorrichtung nun (zugegeben noch
handgetrieben) nahezu vollautomatisch im heißen Wasser
versenkt und bei der nächsten halben Umdrehung tropfend
wieder herauszieht: einfach gigantisch. Da wir trotz Zeit- und
Geldmangels zwei Prototypen gebaut haben, können wir
unisono zu Werke gehen und Tee trinken. Wir vergessen Zeit
und Raum – nach 20 Minuten kurbeln ist der Tee ungenießbar
und kalt – aber das ist nun kein Problem mehr: wir haben ja
jetzt die Maschine entwickelt, mit der dieses monotone Auf und
Ab der Hand in eine menschenwürdige Drehbewegung
umgekehrt wird und uns wieder zu Herren der Schöpfung
macht. Flugs formulieren wir eine Gebrauchsanweisung, die für
einen Normalsterblichen die Bedienung dieser
Wundermaschine zum Kinderspiel macht.
63
Gebrauchsanweisung
Herzlichen Glückwunsch zum Erwerb einer
Teebeutelhochebmaschine (TEHOMA). Diese Maschine wird
weder auf Kaffeefahrten noch auf Messen vertrieben, sondern
ist – da nur in geringer Stückzahl vom Hersteller handgefertigt
– auch nur bei diesem direkt zu beziehen. Sie ist ein
Nebenprodukt der Weltraumforschung und wurde
ausschließlich aus recyclingfähigen Materialien gefertigt. Die
Maschine durchlief nach Fertigstellung alle Qualitätskontrollen.
Sie wurde nach DIN-ISO 4711 gefertigt und erfüllt die Normen
der EU-Richtlinie 007.
Die TEHOMA revolutioniert die Zubereitung von Tee mittels
Teebeuteln auf genial einfache Weise: sie reduziert die bisher
aufwendige und kräftezehrende vertikale Bewegung des
gesamten Armes auf eine angenehm kleine Kreisbewegung der
Hand.
Vor Einsatz der TEHOMA erhitzen Sie bitte Wasser in einer
Tasse (E) und stellen diese dann genau unter den Galgen (C)
in Höhe des Hakens des Hebeseils (D). Den Teebeutel hängen
Sie (Beutel nach unten) mit dem Papierfähnchen an diesen
Haken. Durch leichtes Drehen (ca. ½ Umdrehung) der Kurbel
(A) wird der Teebeutel (B) nun über das elegant über den
Galgen (C) geführte Hebeseil (D) in die Tasse (E) abgesenkt.
Eine weitere ½ Umdrehung zieht den Teebeutel (B) wieder aus
der Tasse (E).
Säubern Sie nach Gebrauch vor allem das Holzbrett
(Grundplatte) der Maschine ausschließlich mit milden
Reinigungsmitteln. Ansonsten ist die TEHOMA wartungsfrei.
Defekte Hebeseile bekommen Sie im einschlägigen
Fachhandel oder beim Hersteller direkt (Best.-Nr.
HebS001/01). Bei sachgemäßer Handhabung werden Sie viel
64
Freude an dieser Maschine haben, die es ihnen mit einer
verdammt langen Laufzeit danken wird.
Wir überlegen, ob wir eine Firma gründen sollen, werden uns
aber nicht einig, welche Gesellschaftsform wir wählen sollen:
direkt an die Börse als TEHOMA AG oder erst mal in Form
einer Teebeutelhochebmaschenen-GbR anfangen. Auch
Copyright-Rechte und Patent-Fragen beschäftigen uns nun.
Sollen wir den Vertrieb über den einschlägigen Teefachhandel
laufen lassen oder direkt über eine Teebeutel-Herstellfirma?
Es gibt viele Probleme, die wir nun haben. Zunächst – quasi in
der Test- und Belastungsphase - gehen wir sehr vorsichtig mit
der Maschine an die Öffentlichkeit (sprich: sobald wir Besuch
haben, kochen wir Tee, egal was die eigentlich trinken wollen).
Und so ergibt sich zwangsläufig aufgrund der Genialität und der
technischen Reife unsere Erfindung, dass unsere Maschine
eine solche Furore im Bekannten- und Freundeskreis macht,
dass wir mit der Produktion kaum noch nachkommen und alle
vorgenannten Problem in den Hintergrund treten und in
Vergessenheit geraten – wir sind selbständige Unternehmer in
einem boomenden Markt – und dazu mit einer
Monopolstellung!
Der Film
Nach der Einführungsphase (alle Bekannten haben mittlerweile
so eine Maschine) beschäftigt uns ( auch im Hinblick auf eine
gesicherte Altersversorgung) der innovative Gedanke, diese
bahnbrechende Erfindung all den Menschen zugänglich zu
machen, die uns (bisher zumindest) noch nicht kennen, die nie
bei uns zu Besuch waren und auch nie sein werden und somit
65
auch nicht unsere TEHOMA (Kurzform für
Teebeutelhochhebmaschine) erleben und erfahren
durften/dürfen. Wir verzichteten kurzerhand auf eine
Marktstudie (wie viele Teetrinker gibt es in Essen /Ruhrgebiet/
Deutschland/ Europa/ weltweit/ Kosmos!). Wir beschließen, uns
nicht an die einschlägige Industrie wenden (die bescheißen
einen ja nur) – wir werden selber kreativ aktiv und nehmen das
Drehbuch für einen Film in Angriff, der in einzelnen Sequenzen
die einfache, aber effektive und flexibel einsetzbare sowie
erleichternd beruhigende Anwendung der TEHOMA in
Situationen des täglichen Lebens zeigen soll.
Einen Kamera-Mann haben wir schnell gefunden. Horst "Hulot"
Horriar, Jungfilmer, Filmvorführer und Partner von J:P: Hüster
im JZ Essen), der erst mit langen Diskussionen von der
Ernsthaftigkeit und dem existenziellen Sinn eines solchen
epochalen Projektes überzeugt werden musste, willigt
schließlich ein, ohne Gage dieses Projekt mit in Angriff zu
nehmen. Er steht fortan mit Rat und Tat und einer für damalige
Verhältnisse recht professionellen Kameraausrüstung zu
Verfügung. Der Film wird genauso gedreht, wie hier
beschrieben, und alles andere passiert auch – er ist der helle
Wahnsinn: selten haben wir so viel Spaß zusammen und so
viel Stress miteinander gehabt..
Zunächst wird die Erfindung als solche nachgestellt. Sie findet
am Originalschauplatz in Bernhards Zimmer hinter Gräfs
Orgelstudio in der Viehofer Str. 25 statt und zeigt zunächst
W&W bei einer herkömmlichen entwürdigenden
Teebereitungszeremonie. Der Gedanke ward geboren, etwas
Neues zu entwickeln. Pläne werden gezeichnet, und 2
Maschinen werden gebaut. Die eigentliche Geburt erfolgt aus
Gründen der Dramaturgie in einer Höhle unterhalb der Ruine
der Isenburg, die oberhalb des Baldeneysees in Essen liegt. In
Zeitlupe kommen wir (Bernhard in schwarzen Sack gehüllt mit
der Maschine in der Hand, ich im weißen Nachthemd) aus der
66
Höhle und springen gemeinsam lachend und uns erfreuend an
unsere Erfindung durch Wald und über Wiesen – die totale
Zweisamkeit. Doch dann – das Böse im Menschen wird hier
sehr deutlich herausgekehrt - will Bernhard mich bescheißen
und unsere gemeinsame Erfindung nur für sich allein(!) nutzen
und haut mit dem Ding ab (der Film wird schneller - Zeitraffer).
Er rast zum Bahnhof Stadtwald, sprintet vorne in der Zug nach
Essen (ich hinten), springt Hbf Essen raus (ich immer hinterher)
und die Hatz geht über die Kettwiger Straße (es ist
Sonntagnachmittag bei gutem Wetter und halb Essen kommt
grade vom Vormittagsspaziergang am Baldeneysee zurück und
macht einen Bummel über diese zentrale Einkaufsstraße der
Innenstadt), quer durch die Biergärten und durch das Café
Overbeck (diese Szene musste wg. Kameraklemmer 2x
wiederholt werden trotz massiver handgreiflicher Proteste des
Personals) bis vor den Altar des Essener Münsters, wo wir uns
dann im Angesicht des Herrn wieder vertragen (der kirchliche
67
und gesellschaftspolitische Auftrag einer professionellen
Verfilmung wird hiermit auch erfüllt) und uns auf eine
halbe/halbe-Verteilung der zu erwartenden Millionen Tantiemen bei den Verwertungsrechten einigen. Wir besiegeln
dies alles mit einem gemeinsamen Tee-Dreh unter der
badenden Jungfrau am Wasserbecken des Kennedy-Platzes:
gemeinsam sind wir stark...
68
1. Sequenz – Der Pokertisch
Tief hängende Kegellampe, 4 Personen (Rocker, dicker Mann
im Unterhemd, alter Mann mit Krücken, Zocker in
Nadelstreifen), jeder mit einem Haufen Scheine vor sich
(Tageseinnahmen aus dem Podium/unsere Szenekneipe).
Langfinger Nadelstreifen-Helmut - heute Wirt des Landsknecht
in Essen - gibt die Karten aus. Alle fangen an zu pfuschen
(Karten im Ärmel, im Strumpf, in der Hosentasche). Alle
erhöhen bis Ultimo, schieben ihre Knete in die Mitte und dann
sagt Langfinger: Ich will sehen. Einer nach dem anderen lässt
die Hosen runter: Full House, Flash, Royal Flash. Langfinger
schaut einmal in die Runde - und lässt dann lässig sein Blatt
auf den Tisch gleiten: 5 Kreuz Asse. Schwenk und Spot auf die
neben seinem Kreuz-Ass-Stempelkissen im gleißenden Licht
stehende TEHOMA. Er dreht mit seinen schma-
69
len Fingern die Kurbel, der Teebeutel hebt und senkt sich und
Langfinger spricht langsam und mit tiefer sonorer Stimme die
für die Mitspieler unheilbestätigenden Worte: „Tut mir leid für
Euch, Jungs, aber mit dieser Maschine verliere ich nie!“.
2. Sequenz – für den Mehrpersonen-Einsatz der TEHOMA
6 gestandene
Mannsbilder
tanzen
(teilweise sehr
dürftig bekleidet
- sprich: sie
waren ganz
einfach nackt))
mit
Musikinstrumenten (Posaune, Geige, Psalter, Gitarre etc.)
zwischen 2 Rammler-Hasen-Karnickel um eine 6 PersonenTEHOMA herum, an der vom
Oberteebeutelhochhebmaschinenmeister mittels der an dem
über den Galgen geführten Teebeutelaufhänghaken
angebrachten Querstange 6 Teebeutel synchron in
entsprechend viele Tassen getaucht werden, was insofern eine
zu große Herausforderung für den Teekocher war, da der
Galgen meist quer hing, wahrscheinlich aufgrund der
Schwerkraft und unterschiedlicher Konsistenten von Wasser
und Teebeutelinhalt (?).Schlusssatz des Teekochers: „Man
ahnt: diese Maschine ist auch kommunenfähig“.
70
3. Sequenz – Wilder Westen
Reiter in schwarz erscheint auf einem Gaul (ist noch eine
positive Beschreibung dieses Kleppers) in einem Hohlweg. Er
reitet auf die Kuppe eines Hügels, schaut sich um, sieht eine
Weide, hobbelt(?) dort sein Pferd an, macht ein Lagerfeuer,
hängt an einem Holzgerüst einen Kessel auf und macht
Wasser heiß. Dann packt er aus seiner Satteltasche eine
zerlegbare Camping-Version der TEHOMA aus. (Derweil geht
der Gaul stiften). Das Eingießen des Wassers aus dem
Riesenkessel in eine kleine Camping-Tasse wird zur
Katastrophe: hätte man ja auch mit der Tasse schöpfen
können. Dann ist auch das Kesselstativ weggebrannt, der Tee
wird kalt und für das Einfangen des Gaules brauchten wir 3
71
Stunden (der Bauer besteht unmissverständlich auf Rückgabe).
Der essentiellen Satz fällt der Jagd zum Opfer und sollte
heißen: „Ob im Zug, im Flugzeug, in Bus, Bahn und Auto oder
per Esel und Pferd: mit dieser Maschine habe ich immer ihren
frischen Tee!“
Folgende Sequenzen werden angedacht, aber leider nie
abgedreht, da andere Projekte Vorrang erhalten hatten:
Pfarrer beim Abendmahl, nachdem er das Brot verteilt und auf
dem Altar den Tee „gedreht“ hat: Nehmet hin und trinket, dies
ist ein Getränk, dass auch der Herr euch so bereitet hätte, hätte
er denn damals schon diese wundersame Maschine zu
Verfügung gehabt“. (Das ist ewige Ungnade einer zu frühen
Geburt)
Mann (Walter) mit seiner Frau (Bernhard) beim Sex in einer
kurzen Pause: „Mit dieser Maschine versage ich nie!“.
Freak beim Teekochen: „Mit dem auf dieser Maschine
gedrehten Tee schmeckt mir mein Ha.-Kuchen doppelt gut, und
die Dreh-Bewegung beim Teekochen erinnert mich immer
wieder an die Drehbewegungen beim Joint-Drehen.“
Lehrer im Physik-Unterricht: „Hier zeige ich Euch ein geradezu
sensationelles Beispiel dafür, wie angewandte
Physikkenntnisse an der Schnittstelle Mensch/Technik das
Leben von Menschen nachhaltig erleichtern und dazu
beitragen, die abendländische Kultur positiv zu beeinflussen im
speziellen Hinblick auf die Umwelt, die eigene Psyche und das
Wohlbefinden von Generationen!“
72
Trips & Träume
Wir trinken dann im wilden Wahn
den Lebertran aus Zellophan
und suchen - ganz spontan
mit jaulendem Sopran beim Vatikan Uran
(aus Trippo Nova - CD Trips und Träume)
Januar 71 fangen wir mit den Proben zum 2. Programm „Trips
& Träume“ an. Als 3. Mann holen wir Bernd „Curny“ Roland
(Ex-No-Bassist, Weg- und Kampfgefährte aus jungen Tagen)
als Bassisten mit ins Boot und damit kommt erstmals Elektronik
in die Gruppe. Damit wir neben ihm bestehen können, setzen
auch wir - neben unseren nach wie vor genutzten AkustikInstrumenten - Verstärker und Elektro-Gitarren ein. Die Musik
wird dadurch sphärisch-schwebend (passend zum Zustand),
die Texte abgehoben und doppelsinnig, eben auch passend
zum Titel und Programm oder auch umgekehrt. Wir üben nach
wie vor im JZ Essen, aber der erste Auftritt erfolgt im März 71
aus Platzgründen in der ausverkauften Aula des
Burggymnasiums in Essen vor einem begeisterten Publikum –
wir sind avanciert zu echten Lokalgrößen. Aufgenommen wird
dieses Konzert von einem WDR-Fernsehteam für ein BandPortrait. Danach werden Schwachstellen ausgemerzt – und
dann geht´s wieder auf Tour. Diesmal ist der Süden
Deutschlands unser Ziel (bisher eher W&W-Diaspora) und
nach erfolgreichen Konzerten gehen am Ende des Monat nach
Stommel ins Studio Dierks, wo die Aufnahmen für die 2.Lp in
Angriff genommen werden. Hier ist nun professionelles
Arbeiten angesagt als bei den Aufnahmen zur ersten LP in
Hamburg: wir spielen Instrument für Instrument einzeln ein –
eine für neue und zunächst hemmende Art der Arbeit. Doch
nach einer Eingewöhnungsphase werden wir locker, die
Atmosphäre im Studio stimmt, und die Arbeit macht allen
Beteiligten mehr und mehr Spaß.
73
Renee
Zucker,
Essener
Urgestein, die
zu Besuch ins
Studio kommt,
wird gleich bei
2 Stücken mit
eingesetzt (sie
erzählte die
Geschichte
von Karlchen
und seinem
Erlebnis mit
den wilden
Riesenhunden
und war mit
ihrer
irrsinnigen Klaviertechnik maßgeblich an der Entstehung des
englischen Walzers beteiligt), auch Dieter Dierks und Gille
Lettmann werden aktiv eingesetzt. Wir können ganz in Ruhe –
total ohne Termin-Stress und
Zeitdruck oder irgendwelche Blicke
auf immer höher werdende
Studiokosten– Dinge ausprobieren
(die Doppelflöten bei Orienta, den
kaputten Walzer, den Posaunenchor
etc.) Gemeinsam wird abgehört,
verworfen, diskutiert, gelacht,
geraucht: es ist eine total relaxte
Stimmung, was man der Produktion
auch anmerkt – das gesamte feeling
ist stimmig. Fans und Zeitungsleute
besuchen uns und erleben Gleiches
(Aachener Nachrichten – siehe Anhang) . Endlich haben die
Kiffer in Deutschland auch mal „eigene“ Songs in der
Landessprache, die sie sich reinziehen können.
74
Unser Song „Nimm eine Joint, mein Freund“, der wie viele
andere Songs dieser Platte auf sämtlichen Indexen steht, wird
bei den Freaks dankbar aufgenommen und heimliche Hymne
der Subkultur. Nicht auf dem Index steht das Eingangslied
dieser Produktion "Lass uns auf die Reise geh´n" mit diesem
schönen Text von Thomas Rother. Dabei erreicht dieses Lied
im Zusammenhang mit den weiteren Songs der LP eine völlig
andere Dimension, als der Autor wohl ursprünglich gemeint hat
und die von den Indexierern gar nicht wahrgenommen werden
kann. Uns ist das alles recht, denn allein 1 Index-Vermerk
spricht sich in Fachkreisen rasend schnell rum - und kurbelt so
der Verkauf der LP an: das Ding läuft super gut.
Welchen Erfolg wir als „Nicht-Schnulzen-Fuzzis“ haben,
bezeugt dann eine von der Fachzeitschrift „Schallplatte“
durchgeführte Befragung bei 70 Fachjournalisten zum
Deutschen Musikpoll 1971 für deutschsprachige Gesang-Duos:
wir landen auf dem 3. Platz (8,6%) nur ganz knapp hinter Adam
75
& Eve. Den gleichen Platz wie wir nehmen dabei Ike & Tina
Turner bei den internationalen Duos ein, und wir liegen sogar
einen Platz vor Paul & Linda McCartney (3,2%) !
Eine Zeichnung von Walter aus der Zeit, als
• die Haare noch dunkel
• die Augen noch glänzend
• die selbst gedrehte "schwarze Krause"
noch schmeckte
• die Mädchen noch Backfische hießen
und so jung
• die Brötchen noch 6 Pfg. kosteten
die Welt noch in Ordnung war.
76
Unsere Titel tauchen in den Hitparaden auf: zunächst in den St.
Pauli- Nachrichten (!), wo neben Sex-Reporten auch ein MusikJournalist sein Unwesen trieb, der uns in sein Herz
geschlossen hat: er puschte uns wie keinen Anderen: „Schöne
anspruchsvolle Musik“.... „Nimm einen Joint und Lass uns auf
die Reise geh´n sind echte Hits, und Ohr sollte deutlich mehr
für W & W tun!“. Wir nehmen hier im Laufe der nächsten 2
Jahre fortwährende Spitzenpositionen ein und belegten mit
"Nimm einen Joint" über 20 Wochen Platz 1 ein. „Lass uns auf
die Reise geh´n“ kommt in der SWF 3-Hitparade, wo wir mit
77
Frank Laufenberg einen weiteren Fan sitzen haben, auf einen
Vorderplatz. Mit Frank, der auch später noch uns und unsere
Musik mit dem Jesuspilz fördert, und mit Manfred Sexauer, der
uns in seine Nachtsendungen einlädt, haben wir zwei
Verbündete im Süden sitzen, die uns auf unserem weiteren
Weg wohlwollend begleiten werden.
Neben diesen Zeiterscheinungen geht der Job natürlich weiter:
der Konzerttermine werden immer mehr. Und dazu dann immer
häufiger Presse-Termine mit dem Stern, mit Zeitungen und
Fachzeitschriften, Platten-Promotion-Radio-Touren durch die
deutschen Sender, Besprechungstermine mit Produzent und
Plattenfirma... Erfolg hat eben seinen Preis – unsere freie Zeit
wird knapper
78
Unterwegs
Lass uns auf die Reise gehn‘!
(aus der LP "TRIPS & TRÄUME")
1971 - Es ist Trips & Träume-Zeit und wir sind fast nur noch auf
Achse quer durch Deutschland bis hin ins entfernteste Ausland
(Österreich, Luxemburg, Holland), denn unsere Titel tauchen
jetzt – über Geschmack lässt sich eben nicht streiten - in
diversen Hitparaden auf (z.B. Radio Veronika, Radio
Luxemburg – um hier nur einige zu nennen). Wir sind mehr
unterwegs im Auto als in unseren Betten. Aber übermüdet am
Steuer ist verdammt gefährlich, und so halten wir uns mittels
Captagon und AN1 wach, wenn wir mit unserem Mercedes
Benz 190 D auf Tour sind: Boxen auf dem Dach, flatternde
Plane im Fahrtwind, Instrumente im Kofferraum und dicke Zing
(Trommel) hinter dem Fahrersitz und Karlchen unterm
Fahrersitz. So kann zumindest der Beifahrer seinen Sitz nach
hinten klappen und zwischendurch versuchen, mal eine Mütze
erfrischenden Schlafes mitzukriegen.
Wir sind immer knapp mit und in der Zeit, weil zum Einen unser
Management (also wir selbst) nicht in der Lage sind, die
Auftritte nach Gebieten zu koordinieren (es kommt vor, dass wir
Berlin-Göttingen und zurück 3x in einer Woche zu bewältigen
haben) und zum Anderen wg. der starrköpfigen Veranstalter,
die Termine einfach nicht nach unseren Vorgaben legen
wollen, und dazu dann noch die unkalkulierbaren und nicht
vorherzusehenden Natur-Ereignisse wie Staus, Pannen,
Spritmangel (zum Glück gibt es immer wieder irgendwo
abgestellt Laster, die man an- bzw. abzapfen kann). Teilweise
liegen Veranstaltungsorte aber auch so versteckt (Stadthallen
nicht in der Stadtmitte, Kellerlokale in Erdgeschossen,
Radiostationen in Grünanlagen) oder an Straßen, die es in
unseren Karten gar nicht gibt, so dass wir es manchmal erst
79
zum Schlussakkord schaffen, auf der Bühne zu stehen. Aber es
macht unheimlich Spaß – und wir halten uns über Wasser.
Für Grenzübertritte kalkulieren wir jetzt erfahrungsgemäß
jeweils ½ Tag ein. Da findet eine immer wiederkehrende
Zeremonie statt, auf die Zöllner in jahrelangen Lehrgängen
sorgfältig vorbereitet worden sein müssen: ausgewählte
Spezialbeamte – teilweise mit Hunderudeln - übertreffen sich
gegenseitig bei der Suche nach Drogen und/oder Waffen:
Türfüllungen wurden ausgebaut, Lüftungsschläuche
abmontiert, Sitze rausgenommen, Reserverad und
Radabdeckungen systematisch untersucht, Rahmen abgeklopft
80
und Luftfilter demontiert, Instrumenten-Koffer durchsucht,
Kleidung gefilzt etc.: als wenn wir an solchen jedermann
zugänglichen Plätzen und direkt ins Auge fallenden Stellen
unseren Shit und die Kalaschnikows verstecken würden? Die
halten uns echt für noch bescheuerter, als wir aussehen.
Fahrten nach oder von Berlin nehmen da – man sollte es nicht
glauben - noch eine um Stufen höhere Sonderstellung ein. Man
stelle sich vor: zwei verwilderte „Gammler“ in einem echten
Mercedes – ein gefundenes Fressen für jeden VOPO: wir
werden bei jeder Durchfahrt schikaniert. Bernhard muss sich
laufend Ersatzpapiere (inkl. Passbild) ausstellen lassen, weil
auf seinem Reisepass sein rechtes (oder war´s das hintere)
Ohr nicht ganz zu sehen oder die Haare länger als auf dem
Foto (die wachsen nun mal) oder der Hals ungewaschen und
die rechte Augenbraue falsch gekämmt ist. Ich komme ob
meines äußerst gepflegten Äußeren meist besser weg (kürzere
Haare machen nun mal einen guten Eindruck), aber an einem
besonders guten Tag eines Grenzbeamten war mein Bart
plötzlich zu dick oder zu kurz oder meine Brille nicht richtig
geputzt oder gar eine andere als auf dem Foto. Generell
müssen wir unseren Wagen leer räumen, die Instrumente
zeigen, unsere Aktentaschen leeren (und wehe, es war was
englisch-sprachiges dabei oder eine Undergroundzeitung mit
Sekt & Drops & Helmut Kohl [nein, den gab´s damals ja noch
gar nicht – wir hatten ja unseren FJS]), dann dürfen wir uns
freimachen und bis auf die Unterhosen ausziehen, die
Arschfalte zeigen und den Hoden hochheben und die Vorhaut
zurückziehen).
Bei einer Durchreise reißt uns der Auspuff ab und schleift
funkensprühend über den Boden: wir donnern wir eine
Sternschnuppe durch die DDR-Nacht, die noch finsterer ist als
als eine stockdustere BRD-Nacht. Es dauerte auch gar nicht so
lange, dann haben uns die VOPOs ausgemacht: Unbekanntes
Flugobjekt landet auf der Transitstrecke!. Weil Landen dort
81
verboten ist, zahlen wir zunächst mal 400 DMchen West ohne
Quittung bar auf die Kralle wg. unbefugter Benutzung der
Rollbahn. Um weiter fahren zu dürfen, binden wir mittels
Abschleppseil und mehrerer Spezialverknotungen (6-facher
Windsor mit anschl. Palsteek) den Auspuff soweit hoch, dass
er nicht mehr schleift - und dürfen weiter fahren. Jetzt liegt
unser Wagen wegen der Anlage und der Instrumente hinten
sowieso ziemlich tief, und die Bodenwellen auf der
Transitstrecke sind auch nicht ohne. Die beiden Vopos wissen
das natürlich und begleiteten uns bis zur Grenze und hätten
(wie angedroht) im Wiederholungsfall eines Funkenschlages a)
wieder kassiert b) den Wagen stillgelegt und c) uns eingelocht
wg. wiederholter Gefährdung der rechtschaffenden Bürger und
Bauern des sozialistischen Arbeiterstaates. Wir sind
klatschnass geschwitzt und stinken wie junge Skunks beim
ersten Abgang, als wir diese Fahrt hinter uns haben! Aber es
hat uns stärker gemacht.
82
Bei den Ausreisen dürfen wir mit wenigen Ausnahmen an der
Grenze gleich die Garage anfahren: nicht zum Parken (hier gibt
es kein Motel!). Hier wird nach allen Regeln der Kunst und mit
großem Personalaufwand in aller Ruhe nach RepublikFlüchtlingen gesucht. Dafür muss jedes Mal das Auto zerlegt
(Räder ab, Sitze raus, Türfüllungen ab, Kofferraum leer) sowie
Boxen auseinander genommen, die dicke Zing von den Fellen
befreit, die Instrumentenkoffer entleert werden. In dieser
Beziehung konnten diese tumben Grenzer echt kreativ werden:
Ihnen fiel immer wieder was Neues ein. Wobei wir uns wirklich
viele Gedanken darüber machten, wie groß eigentlich
Republikflüchtlinge im Allgemeinen und vielleicht SpezialFlüchtlinge sein müssen, um in einem Gitarrenkorpus Platz zu
finden? Liliputaner-Artisten, kleingewachsene
Schlangenmenschen, Kinder ohne Wirbelsäulen, die sich durch
die Gitarrenseiten und das Schallloch quetschen können und
es sich in diesem Holzhaus dann gemütlich machen.
Wenn dann kein Flüchtling, kein Shit oder andere subversiven
Materialien gefunden wurden (und wir waren da verdammt
vorsichtig – es werden glücklicherweise nur Lappalien
„entdeckt“) dürfen wir alles wieder zusammenbauen. So lernen
wir Instrumente und Equipment durch und durch kennen, und
unsere Fähigkeiten beim Zusammenbau des Autos hätte für
eine Festeinstellung als Vorarbeiter in der Montagehalle von
Mercedes Benz allemal gereicht – zumal durch das dauernde
auseinander- und wiederzusammenschrauben die Gewinde
immer gängig blieben. Seien wir fair – auch in der BRD sind wir
gefragte Objekte. Im Rahmen von Terroristen-Fahndungen
passen wir in jedes Raster. Wenn wir in eine Straßensperre
fahren (meist an Autobahn-Ausfahrten oder im GrenzenBereich), dann ist aber alle Achtung angesagt. Wenn ein Trupp
von vermummten schwarzgekleideten Elitekämpfern mit
angelegten MP´s und MG´s das Auto umstellen, dann sind
extrem langsame Bewegungsabläufe angesagt. Ein falscher
Griff zum Handschuhfach, eine hastige Hand-Bewegung in
Richtung Hosentasche – nicht auszudenken. Die sind nervös,
83
und wir klatschnass geschwitzt. Ein falsches Wort, ein blöder
Blick, eine missverständliche Beule in der Hose (und Bernhard
hatte ein schönes Rohr) und die hätten uns plattgemacht – so
wirken die zumindest auf uns und so geben die sich auch jedes
Mal – die können zudem auch noch ´ne große Klappe haben die sind ja immer in der Mehrheit. Selbst Bernhard mit seinem
sonst sehr lockerem Mundwerk ist in diesen Situationen ein gar
ruhiger, freundlicher, ja zuvorkommender und äußerst
verträglicher Zeitgenosse. So dürfen wir uns breitbeinig an´s
Auto stützen, werden gekitzelt und (ohne dass man uns
Handschellen anlegt) nach Waffen durchsucht, nach unserer
Dasein-Berechtigung, freundlichst nach dem Sinn und dem
Zweck unserer Autofahrt gefragt, das Auto nach versteckter
Munition, Waffen, Rauschgift und flüchtigen Terroristen
durchsucht – dann dürfen wir tatsächlich weiterfahren und sind
jedes Mal heilfroh, wenn unser Wagen beim ersten
Startversuch anspringt und wir, hurtig - aber auch wieder nicht
zu schnell – vom Ort der Geschehens wegkommen: Blicke wie
Dolche im Rücken.
Unseren an- und aufgestauten Frust von all diesen miesen und
ätzenden Begebenheiten bauen wir bei den wenigen Demos
ab, an denen wir das Vergnügen haben teilnehmen zu dürfen:
fest im Gedächtnis die Anti-FJS-Demo vor dem Saalbau Essen,
wo wir mit Pferdeäpfeln und Farbbeuteln um uns werfen und
dann eine schöne Klopperei mit der Polizei haben – wobei wir
mit unseren Pferdeäpfeln gegen die Gummiknüppel ziemlich
chancenlos sind – von wegen Verhältnismäßigkeit der Mittel?
Den Tritt in meinen Unterleib und die Macke an der Oberlippe
habe ich sowieso schon wieder vergessen, auch das mich ein
Mädchen vorm Einlochen gerettet hat (zum Glück trifft man
immer wieder Zeitgenossen, die diese Lücken schliessen
können) denn schön war es schon – vor Allem und auch wegen
unseres Gemeinschaftsgefühl, das wir bei SpringerhäuserBlockaden oder bei Ho-Chi-Ming-Provokationen, die wir vom
KZ Essen (Kommunikations-Zentrum) aus über Essens
Hauptstraße unternahmen, um brave Bürger zu erschrecken,
84
weiter festigen und vertiefen und auffrischen können - auch
weil das Wasser der Wasserwerfer so gut tat..
85
Der Jesuspilz
Am Anfang war nichts als Brösel
und der Brösel schwebte über allem..
(aus der Schöpfungsgeschichte)
Hier muss ich erst mal wieder weit, weit ausholen (das ist die
von mir kreierte Winnetou-Methode: großen Bogen schlagen
und von hinten ran schleichen, um dann in richtigen Moment...)
und beginne diesmal bei A = Sergius Golowien, unserem
Schweizer Guru. Bei langen intensiven gemeinsamen
Nachtsitzungen mit ihm „bei Kerzenschein und Kräuterwein“
beginnt ein Gedankenaustausch, zunächst ausgehend von
eigenen Erfahrungen mit hintergründigen, doppel- und/oder
mehrdeutigen Geschichten, bei Paracelsus, Gelpke, indischen
Märchen und wir landen schließlich bei den Horror-Geschichten
der Gebrüder Grimm (das hatten vor uns ja auch schon die
Adams aus der gleichnamigen Familiensaga festgestellt - die
Kinder durften wegen dieser schrecklichen Geschichten von
Hexen, wilden Tieren usw. die Schule nicht mehr besuchen).
„Warum“ fragt uns Sergius „gibt es dort ein Rotkäppchen, wo
doch jeder weiß, dass damit der Fliegenpilz gemeint ist?“
„Warum“ fragt er „zieht es Hänsel und Gretel zur „Hexe“?“ Wir
pflückten die Märchen auseinander. „Warum“ fragte er
„erscheinen zu Weihnachten die Engel in den Häusern?“. Weil
der gemeinhin als Tannenbaum bezeichnete Nadelbaum, wenn
er denn eine Eibe war, entsprechende Ausdünstungen hat,
welche dem Einatmer die Engel erscheinen lässt. Und das
muss auch nicht unbedingt Weihnachten sein, das kann sogar
mitten im Sommer beim Rasenmähen passieren, wenn genug
Eiben rumstehen. „Warum“ fragte er weiter „hatte Schiller
immer einen Stechapfel in seiner Schreibtisch-Schublade
gehabt?“ Einfach weil ihm mit diesem Hilfsmittel viel Gutes
einfiel, wie man weiß. Ach ja: „Was für einen Apfel hatten Adam
86
und Eva damals im Paradies?“ „Was für Pfeifen werden
angezündet, wenn ein Märchen erzählt wurde?“ „Was rauchen
denn eigentlich die Indianer?“ Und so ging das immer weiter
und weiter, und Sergius hatte immer noch einen drauf zu
setzen. Wir redeten
nächtelang, ohne
irgendwelche
Gedanken bei uns
selbst, solche Dinge
in unserer eigenen
Musik zu verarbeiten.
(Oder plante da
jemand im
Hintergrund etwas
von langer Hand).
Zufällig (?) fällt uns
damals irgendwie
auch ein Buch aus
England in die
Hände: Allegros Buch
„Der Geheimkult des
heiligen Pilzes“, der
anhand von neuen
Funden in
Mesopotamien und
eigenen intensiven
Forschungsarbeiten
zu dem Schluss
kommt, dass die Geschichten der Bibel auch aus einem
anderen Blickwinkel betrachtet werden können als aus der uns
von der Kirche vermittelten Sicht. All diese Geschichten und
das angelesene Wissen sind unbewusst bei uns schon sehr
stark verinnerlicht und warten nur auf den Kick, den Klick, den
Funken, die zündende Idee, den Anstoß.
Der trifft uns, als die aus Amerika herüberschwappende Welle
der Jesus-People-Bewegung auch Deutschland erfasst: da ist
87
uns (mal wieder) plötzlich ganz klar, wie wir dieses unser
Wissen einsetzen konnten, ja müssen: eine zeitgemäße,
ballastfreie, erfrischende, freakverständliche, ehrliche und
offene musikalische und textliche Neuschöpfung des größten
Bestsellers der Welt zu schreiben. Wir besprechen das mit
Guru Sergius und mit RUK und rennen (komischerweise)
offene Türen ein: genau das braucht die Welt jetzt. Einmal in
Fahrt, setzen wir noch einen drauf mit der wahnwitzigen Idee,
dieses Werk als richtige Oper herauszubringen – mit Engel Backroundchor – alle im Nachthemd, Bernhard (allein wegen
seines unauffälligen Äußeren) als Jesus und ich als
ungläubiger Thomas und Sergius als Gottvater....das wird aber
– angeblich aus Kostengründen – ohne weitere Diskussion
abgewürgt. Schmollend ziehen wir uns zurück in die Einsamkeit
der Musikakademie Remscheid (zum Glück ist zur gleichen Zeit
auch Peter Burschs Bröselmaschine aus Duisburg zugegen
und bringt mit Sängerin Jenny etwas Licht in das Dunkel
unserer Tage!) und dort schrieben wir unsere „Klein“-Version
des Jesus-Pilzes: von der Schöpfungsgeschichte „Am Anfang
war nichts als Brösel“ über die Verteilung und Verbreitung der
„verschlüsselten Botschaft in Bröselform“ bis hin zur
spanischen Variante einer „erfolgreichen“ Apokalypse „Und
siehe da: "der Brösel hat gewirkt“. Wir finden den von uns
geschlagenen Themen-Bogen vollkommen rund, auch
musikalisch finden wir einen dem Thema angemessenen
folkloristischen volksnahen Sound und das Ergebnis somit
fantastisch und gut, die Plattenfirma findet es gar bombastisch,
Sergius sieht die Botschaft gut verpackt und genießbar (wer
sehen will, wird sehen) – nur in den Clubs, in denen wir
auftreten und einige Stücke aus diesem neuen Opus antesten,
kommt die Botschaft nicht so richtig rüber. Vampire, Tote,
Nonnen, Trips & Träume: O.K. – aber von Saulussen zu
Paulussen: ???.
88
Im August geht es ins Studio nach Stommeln, wo die
Aufnahmen zum Jesuspilz anlaufen. Das Dierks-Studio ist
weiter ausgebaut worden, die Technik gigantisch und der Spaß
bei der Arbeit noch größer. Was Dieter Dierks bei den
Aufnahmen an Ideen mit reinbringt (Außenaufnahmen mit LifeAtmo von Treckern, quietschender Schaukel, Düsenjäger etc.)
und was er am
Mischpult
vollbringt, ist
einfach der
Wahnsinn. Wenn
wir sagen: lass
doch die Flöte von
hinten
reinkommen, dann
kam die Flöte von
hinten rein. Mach
den Chor breiter,
dann wird der Chor
breiter. Wir sind
alle auf dem
gleichen Level und
die Ideen werden
ausprobiert und befruchten die gesamte Zusammenarbeit: ein
Team im Zeichen des Pilzes. Hier wird ein Klang geschaffen,
weit und breit, bei dem es mir auch heute noch den Rücken
rauf- und runter läuft, wenn ich unsere Musik höre.
Bei dem spanischen Finale auf der LP hat er aus den 3
eingesetzten Instrumenten (Gitarre, Flöte und Kastagnetten) die wir übrigens nacheinander eingespielt haben und ein
Beispiel dafür ist, welches gemeinsames Gefühl für unsere
Musik wir Beide hatten - eine gigantische Musik gezaubert. Wir
haben ihm oft Danke gesagt, ich möchte es an dieser Stelle
noch einmal wiederholen. Kaisers Kaffe war mit Sicherheit
auch ein Garant dafür, dass Spannung und Konzentration bei
der Arbeit nie nachließen.
89
Im Vorfeld dieser Produktion hatten wir - wie schon erwähnt den unserer Meinung nach wunderbaren Vorschlag mit dem
Engelchor gehabt (auch im Hinblick auf eine evtl. Tournee und
den damit verbundenen gemeinsamen Stunden mit 10-12
netten Sängerinnen) , und diese Idee wird vom Produzenten
wieder aufgegriffen – aber er plädiert (wahrscheinlich wg. der
Schwierigkeit, echte Engel zu besorgen oder um uns einfach
nur diesen Spaß zu versauen) für den Einsatz eines
Kinderchores für die Aufnahmen. Per Zeitungsaufruf melden
sich spontan 60 Kinder zum Vorsingen, und wir wählen aus den
diversen Heintje-, Mirelle- oder Vicki Leandros-Doubles (wo die
Muttis im Nerzmantel vom Gesangsunterricht der Tochter
erzählen und wie gut ihre Kinder sind- aber eben so nervös) die
echten unverbrauchten originalen „Kölschen Jung & Mädels“
(Ich bin der Kölsche Hennes...) aus. Mit diesem Chor nehmen
wir nach intensiven Proben (wir kürzen den Text nach
anfänglichen Schwierigkeiten auf ein erlern- und leicht
singbares „Lalala“) neben dem LP-Titel „Die Erleuchtung“ auch
gleich eine Single und – Novum in der W&W-Geschichte - eine
englische Version mit dem Titel „Magical Land“ auf. Dieter
Dierks hat für diese Aufnahmen (für den POP-Sound) einen
"Studio-Schlagzeuger" besorgt, der das Timing wohl nicht
erfunden hat und Übergangswirbel zaubert, die ihresgleichen in
der Pop-Branche wohl erfolglos zu suchen sind. Den
internationalen Markt haben wir damit nicht erobert (ist mir
zumindest nicht bekannt geworden), aber auf der B-Seite
dieser Single, die wir als "The Magic Group" aufgenommen
haben, ist unsere Reminiszenz an unsere 1. musikalischen
Schritte zu finden: ein skiffeliges Werk mit Waschbrett und
Kazzoo, Posaune und Knopfklavier und dem vielsagenden
Titel: Crazy Inspiration. Damit sind die Aufnahmen fertig und
unwiderruflich im Kasten, es wird abgemischt und die
Produktion läuft an.
90
Jetzt müssen – auf Grund unseren Konzert-Erfahrungen mit
dieser Pilz-Geschichte - unbedingt und schnell neue/andere
Auftrittsorte her. Frage: „Wo kann man ein himmlisches Thema
91
am besten vortragen?“. Großes Schweigen erfüllt den Raum.
Dann eine Stimme (leise, fragend, fast ängstlich): vielleicht in
einer Kirche. WAAAUUU: Das ist wieder mal DIE Idee mit
Donnerhall, und RUK lässt in Zeitungen und Magazinen flugs
diesen unseren Wunsch verkünden, die Kirchen zu füllen mit
einer Botschaft, die auch von Jugendlichen akzeptiert und
verstanden wird: Eure Kirche wird voll mit Menschenkindern,
die eigentlich mit der Kirche nichts am Hut haben. Und siehe
da, wir glauben es kaum, kommen die ersten Anfragen und
mehr und mehr: wir planen eine große Kirchentour durch ganz
Deutschland. Doch wir wollen mit einem Paukenschlag starten
und fragen in der Kirche nach, wo wir beide konfirmiert worden
sind: in der Apostelkirche in Essen. Das Presbyterium tagt und
nach Kampfabstimmung kommt weißer Rauch aus dem Kamin,
es kommt das JA: hier also wird die himmlische WeltUraufführung stattfinden.
20 Fernsehteams, eine Unmenge von Radio- und
Zeitungsleuten belagern die ersten Bank-Reihen der restlos
überfüllten Kathedrale. Es wird ein tolles Konzert (Bernhard
singt verdammt belegt und ich habe bis zum Schluss einen
Tremolo in Stimme und Händen, wie sonst nie wieder erlebt),
aber alles geht gut und wir haben Standing Ovations mit Pfiffen
und Buh-Rufen (aber viel weniger, als wir gehofft haben). Die
„echten“ Jesus-People haben unser Konzert schon vor Ende
protestierend verlassen – was aber niemanden weiter tangiert!
Nach dem Schlussakkord offene Diskussion in der Kirche:
Frage: „Warum in der Kirche?“
Antwort: „weil die sowieso leer stehen und so eine tolle
Akustik haben.“
92
Frage: „Warum eine Jesusoper?“
Antwort: „wir hätten auch eine Rotkäppchen-Oper machen
können, ist auch ´ne dufte Geschichte – aber wer will die schon
hören“.
Frage: „Der Brösel, von dem hier die Rede ist in flüssiger und
fester Form: das soll doch wohl Haschisch heißen?“
Antwort: „wir meinen damit den Urstoff, die Befreiung des
Geistes, die Essenz des Lebens, und wenn das für Sie
Haschisch sein sollte, dann eben auch Haschisch: der Brösel
ist für jeden das, was er hineininterpretiert“.
Frage: "Ihr macht Euch doch nur lustig über die Kirche!"
Antwort: "Darf denn Religion keinen Spaß machen???!
Frage:: "Wer ist „Man“? Der Name GOTT oder „Jesus“ wird in
eurem Opus nie erwähnt?"
Antwort:: ""Man", das sind unserer Meinung nach 4 Götter
gewesen, eine lustige Göttergemeinschaft..."
Frage:: "Wieso heißt die Oper „Jesuspilz“?"
Antwort:: "Jesus bringt Glück, Pilze sind Glückssymbole!"
Frage:: "Steht Jesus für Hasch?"
Antwort:: "Da ist ein gewaltiger Unterschied: Haschisch muss
man kaufen, Jesus hat man in sich."
Frage: "Ihr findet das Evangelium „Dufte“ – ist das nicht sehr
oberflächlich?"
Antwort: "Jesus war bestimmt genau so ein dufter Typ wie wir.
Der hat mit seiner Gruppe bestimmt auch viel Spaß gehabt."
Behauptung: "Man hat den Eindruck, die Oper handelt von
euch und euren Schwierigkeiten! ?"
Antwort: Keine!
(Rheinische Post-Kritik von der Uraufführung – siehe Anhang)
Vor Erscheinen der Platte spielen wir Ausschnitte des
Jesuspilz-Programms bei einer Life-Veranstaltung in Böblingen,
die vom SWF3 aufgenommen werden. Nach der Ausstrahlung
ist die Resonanz so groß, dass 2 dieser Stücke die SWF3Hitparade über Wochen anführen. Als dann die LP
93
herauskommt, sind wir mit weiteren Titeln drin – und damit
werden wir Stammgast bei SWF 3-Sendungen, sowohl im
Radio als auch beim Fernsehen.
Wir tauchen in unzähligen Fernseh- und Radiosendungen auf,
haben Riesenartikel in den Zeitungen: nicht nur Positives
(verblueste Choralklänge im Country-Stil, Rock´n Roll im
Softlook, schön anzuhören), auch Verrisse (hier wird eine
Botschaft missbraucht). Aber unser Produzent sagt immer:
Jungs, nehmt euch das ja nicht zu Herzen: Hautsache, die
schreiben überhaupt über euch. Und die schreiben, und der
Kirchen werden immer mehr, durch die wir jetzt unsere
Tournee starten und für Furore und Aufregung sorgen: Wir
provozieren tolle Demonstrationen von Kirchenmitgliedern vor
den Kirchen, in denen wir spielen wollen/sollen.
Gemeindeglieder beten während unserer Konzerte vor dem
Altar, um zu dokumentieren, dass Ihnen die Kirche gehört und
nicht den zwei "Pilz-Gammlern“. Zwei Kapläne verlassen unser
Konzert in Mensum und sprechen von „Pilzvergiftung“(?). Kritik
an der Veranstaltung, Proteste, Gegendarstellungen und
Widerrufe werden in Leserbriefen öffentlich über die örtlichen
Zeitungen ausgetragen und abgedruckt. Kirchenaustritte
werden angekündigt für den Fall unseres Auftrittes - und auch
vollzogen: wir bringen mit unserer Oper so manche Gemeinde
in Schwingungen – so oder/und so. Denn auch die Kirchen
selbst wackelten: die sind nicht nur voll – die platzen teilweise
aus allen Nähten. Schon Stunden vor Einlass sitzen Dutzende
von Freaks vor den Kirchenportalen, bewaffnet mit Schlafsack,
Joints und Rotwein und warten auf Einlass. Und die Pfarrer
sind happy: endlich mal wieder die Bude voll – „Ja ist denn
schon Weihnachten?“. Ökumenisch sind wir auch: wir spielen
sowohl als auch. Und die Pfarrer sind teilweise auch nicht
ohne: laden uns ins Pfarrhaus ein zum Essen (nur vom
Feinsten), haben ein wirklich gutes Tröpfchen für uns (keinen
Messwein), zeigen uns Bilder von Altären, wo Jesus & CO
inmitten von „Gräsern“ herumturnen, bei deren Anblick jeder
„Kräuter“ - Kundler vor Freude aufjuchzt, finden diesen unseren
94
neuen Weg der Verkündung großartig, weil man auf diese
Weise die Jugend an die Botschaft bringt...
Und auch Fans machen sich Gedanken über die Botschaft:
Frage: "Hör mal, auf wie vielen Ebenen läuft denn eigentlich
diese ganze Geschichte ab?"
Antwort: "Auf sieben...!"
Frage: "So viele? Ich habe erst 5 entdeckt."
Antwort: "Dann sie froh: wenn Du die 7 Ebene erreicht hast,
dann ist´s vorbei mit Dir..."
Frage: Ja aber ihr habt diese 7. Ebene doch schon erreicht und
ihr seid noch da!"
Antwort: "Wir haben eine Sondergenehmigung - von ganz
oben!"
Keine weitere Fragen...
Fast 100 Auftritte in Kirchen bewältigen wir in einem Jahr und
sind damit ein Begriff und eine feste Größe im Show-Bizz –
nicht ohne Konsequenzen für unser Leben. Wir beschliessen wg. des ganzen Rummels um unsere Personen - von Essen
wegzuziehen und in die Einsamkeit des Hunsrücks nach Dill in
ein abgelegenes Bauernhaus zu entfliehen. Wir packen unsere
7 Sachen und verlassen unsere Familien und Freunde, unsere
Kneipen, die Viehofer Str., das Ruhrgebiet, eben alles, was uns
bisher lieb und teuer war, und wandern aus...
95
Dill (Hunsrück)
Wenn die Jahreszeiten ihre Gesichter
offenbaren
und über unserem Tal der Adler Kreist
wenn am Himmel seltene Lichter scheinen
und die blaue Blume reift:
dann ist es Zeit, der Unrast Mantel
umzuhängen
und auf den Pfaden der Vergangenheit
den Weg nach Westen einzuschlagen
Wir gehen Wege, die schon fast vergessen
kaum von Wesen dieser Welt berührt
dorthin, wo das Licht den Schatten
in seiner tiefer Klarheit trifft.
Wo wir Gefährten treffen aus den alten Tagen
mit ihnen reden über die vergang´ne Zeit
um uns an dem Erlebten zu berauschen
Wir erkennen, dass nicht Zahlen und Figuren
sind die Schlüssel aller Kreaturen:
daß alle, die gern singen oder küssen
mehr als die Tiefgelehrten wissen.
Daß man in Märchen und den Gedichten
erkennt die alten Weltgeschichten:
drum lasst uns diesen Tag besingen
(aus der LP Bauer Plath)
96
Wir suchen über Bauern-Fachzeitschriften ein Haus – und
werden tatsächlich schnell fündig in Dill, einer 260-Seelen
Gemeinde im Hunsrück. In das leerstehende alte Bauernhaus
des Bauern Plath ziehen wir 1971 mit Sack und Pack und
Instrumenten ein und können uns nach langer Zeit endlich
wieder auch mit uns selbst beschäftigen und versuchen, Ruhe
zu finden.
Das ist es: alt, klein, schnuckelig am Ortsrand gelegen:
dahinter nur noch Felder und Wälder und Wiesen.
Unten rechtes Fenster: Walters Zimmer, nach hinten heraus
große Küche und Badezimmer.Oben rechts: Musikzimmer,
nach hinten Bernhards Privat-Separee. Links davor (verdeckt
durch Walter und den Mist) die Außentoilette
97
Die große Kirchentour ist vorbei, wir haben uns eingerichtet, die
Bäuerin hat uns einiges von dem Möbelfundus abgetreten, den
sie auf dem Dach des Hauses eingerichtet hat und auf den die
durchziehenden Antiquitätenhändler aus Belgien und Holland
immer gerne einen Blick werfen, aber nicht zum Zug kommen.
Denn auch wenn man hier weitab vom Schuss lebt - die Preise
sind bekannt, und so eine echte Hunsrückbäuerin ist nicht auf
den Kopf
gefallen. Ruhe
tritt in unser
Leben am
Wegesrand, es
wird ruhig,
wirklich ruhig, es
wird verdammt
ruhig. Es ist so
viel Ruhe da,
dass wir unruhig
werden ob dieser
Ruhe. Wir
können mit Ruhe
gar nicht mehr
umgehen, das müssen wir erst einmal lernen. Immer haben wir
das Gefühl, etwas vergessen zu haben oder noch etwas
machen zu müssen.
Erst nach einigen Wochen merken wir, wie dieser Stress von
uns abfällt - wie dieses Gefühl verschwindet, noch dieses
oder/und jenes unbedingt tun zu müssen oder mitzumachen,
weil man sonst etwas verpassen könnte. Hier ist aber nix zu
verpassen - wir fallen in ein endlos tiefes absolut schwarzes
Loch. Am Ende dieses Loches sitzen wir nun und sagen: wir
müssen was tun, mal wieder unter Leute kommen: wo ist die
Kneipe im Ort? Es gibt keine! Es gibt demzufolge auch keine
Disco, es gibt kein Kino, keine Pommes Bude, keine Bude
anne‘ Ecke - nur Bauerhöfe und Misthaufen... Dann nach
98
Jahren der Einsamkeit: ein Gerücht - ein Hinweis - ein
himmlischer Fingerzeig?: im Nachbarort Niedersohren soll eine
Kneipe sein. Hey Mann, also auf und los, 10 Minuten Fußweg
(vorbei an der Ranch von Müllers Mühle) - dann ein
Fußballplatz - ein kleine Ansammlung von Häusern - eine BierReklame. Keine Fa(n)ta Morgana, sondern scheinbar - oder
tatsächlich - eine Kneipe, ein Bistro, eine Wirtschaft, ein Pub,
ein Restaurant, ein wahnsinniges Etablissement - eine OASE:
und sogar mit Leuten drin – Stimmengemurmel dringt aus dem
Fenster. Wir öffnen vorsichtig die Türe und treten leise ein
(aber dennoch zu laut): Totenstille, als wären wir die
Abgesandten des Gehörnten. Augen zu und durch und ab zur
Theke: 2 Bier – 2 Bier? wat sprecht ihr so komisch - ah ihr seid
nicht von hier! Auf der Durchreise? Nein, ihr wohnt hier. In Dill.
(Das ist echt ein Verhör - bin ich hier inner Kneipe oder auf
einer Polizeiwache...) Und vorher? Essen? ah ja Essen!
ESSSSENNNNN! Willi – komma schnell, hier sind welche von
Essen. NEINNN, nix Essen, die Leute hier sind aus
99
ESSSEEENNN. Klar, was war: die Wirtsleute kamen aus
Dortmund – nee, das war jetzt ´n Witz, natürlich auch aus
Essen, und wir Exoten haben auf Anhieb Blutsbrüder gefunden
und sind plötzlich mitten drin und voll dabei, und den anderen
Gästen ist´s genehm und das Gemurmel setzt wieder ein. Frei
Trinken ist in dieser Nacht Ouzo - is doch klar...
...und der Heimweg ist dunkel und weit.
Ohne Auto sind wir aufgeschmissen - abgeschnitten von der
Außenwelt. Konzerte sind z. Zt. auch so gut wie keine geplant:
wir fühlen uns vergessen von Gott und der Welt. Zu den
wenigen Gigs, die wir augenblicklich wahrnehmen, fahren wir
mit einem Leihwagen – aber das Geld reicht grade mal für den
Sprit und den Wagen und den „Schwarzen Krausen“. Unsere
Knete ist aufgezehrt – Rücklagen habe wir nie gebildet. Werner
(Bauer Plath) stundet uns die Miete (irgendwann geht´s wieder
100
aufwärts, Jungs), mittags wird uns eine warme Mahlzeit von der
Bäuerin nach oben gebracht, Abendbrot (aber hallo vom
feinsten) gibt´s unten im Neubau, wo der Bauer mit Frau,
Tochter und Schwester wohnte. Wir helfen auf dem Hof, wir
packen an, wenn´s was zu tun gibt, wir fahren mit dem Trecker
raus und sind beim Schlachten mittendrin, da die Vieh-Ställe
neben unserem Haus liegen und unser alter guter Kohle-Ofen
in der Küche zum Wursten benutzt wird – und diese Würste
sind unübertroffen gut: frischeste hausgemachte Leber- und
Blutwurst – nie wieder habe ich so leckere Wurst gegessen –
so etwas gibt´s nicht mal in den Feinkostläden der Stadt zu
kaufen (Dazu muss man grundsätzlich wissen, dass der
Eigenbedarf eines Bauern aus einer anderen Ernte ist als das,
was er nach draußen verkauft. B.P. baute für sich ökologisch
an, als es die Grünen noch garnicht gab. Aber eben nur für sich
selbst) Wie gesagt, wir packen mit an und sind mitten beim
Schlachten von Gunda der Sau, da kreuzt ein Fernsehteam
des SWF für eine Reportage auf. Vor unserem Haus hängt das
frisch geschlachtete aufgeklappte Schwein an der Leiter und
die Wanne mit Blut steht daneben, wir haben noch das Blut an
den Händen und wir singen aus voller Brust und mit tiefer
Überzeugung vor dieser Kulisse das passende tiefschürfende
Lied: Wer das Scheiden hat erfunden, hat an Liebe nie
gedacht: sonst hätt´ er die schönsten Stunden in der Liebe
zugebracht. Die Sau nickte.
Ich sitze und verbringe zu dieser Zeit schöne Stunden auf
unsere Toilette: dem Häuschen mit dem Herzchen in der Tür
direkt neben dem Mistgrube. Von hier aus kann ich bei
geöffneter Tür in aller Ruhe und Abgeschiedenheit die
Katzenmutter beobachten, die ihren Jungen am lebenden
Objekt das Mäusejagen lehrt. Oder die Spinnen, die in den
Ecken dieses stillen Örtchens filigrane Schlauch-Netze
gesponnen haben und bei jeder Netz-Berührung
herausgeschossen kommen (wo gibt´s das in der Stadt?). Oder
die Bienen, die aus der Jauchegrube unter mir an meinem
Hintern vorbei nach draußen an die frische Luft fliegen. Oder
101
den immer geilen Hahn mit seine Hühnerschar, die mit alle
Mann unermüdlich den Misthaufen umpicken: echte
Lebensqualität.
102
103
Am 30. April war dann nicht der Weltuntergang, sondern wir
finden uns abends auf dem Platz unter der Burgruine ein. In
dieser Ruine feiern irgendwelche Millionäre aus Mainz einmal
im Jahr „Ritterfest“ – als Ritterleute verkleidet und mit vielen
Burgfräuleins im Schlepp. Wir aber sind heute von der
Dorfjugend eingeladen zum Maifeuer. Es gab Bier und
Schnaps (oder umgekehrt) und es wird alles Mögliche verfeuert
– auf dass es schön moppllichg (zusammengezogenes neues
Wort aus mollich und moppelig) warm ist und auch die
Nachbardörfer seh´n, dass wir feiern. Da - plötzlich und
unerwartet - sehe ich eine alte gute Bekannte wieder, die da ins
lodernde Feuer geschoben werden soll: meine über alles
geliebte Klo-Tür. Mit Mühe kann ich grade noch verhindern,
dass dieses wirklich für uns lebenswichtig(st)e Teil, das mir mit
ihrem Herz mittlerweile so ans Herz gewachsen ist, von den
Flammen verzehrt wird. Natürlich muss ich sie auslösen herauskaufen mit einen Kasten Bier (das Geschäft in der
Dorfmitte hat für solche Fälle einen Notdienst eingerichtet). Für
eine weitere Flasche Schnaps bekomme ich auch die Sitzbank,
die eigentlich bisher vor unserem Haus steht, wieder
ausgehändigt. Was wir vorher eben nicht wussten: in der Nacht
zum 1. Mai gehen die Jugendlichen an den Häusern und
Stallungen vorbei und sammeln alles Brennbare ein, was sich
ohne Gewalt entfernen lässt (daher war auch das ganze Dorf
unterwegs und schaute interessiert in die Flammen – und zu
trinken gab es von daher reichlich). Denn wer nicht schnell
genug auslöst, muss neu kaufen! Daher jedes Mal eine
komplizierte Rechenaufgabe für jeden einzelnen Fall. Wir feiern
bis in den frühen Morgen und helfen dann, den Maibaum (mind.
150 m hoch) in der Dorfmitte aufzurichten. Zum Glück waren
einige da, die nicht ganz so besoffen sind wir wir und die uns
vorsichtig, aber bestimmend zur Seite abdrängen und dieses
Wunderwerk deutscher Baumkultur tatsächlich zum Stehen
kriegen...
Ein weiteres dörfliches Großereignis steht an. Wir machen die
1. Bauerhochzeit unseres Lebens live mit: mit: die Tochter
104
unseres Vermieters heiratet. Allein die Vorbereitungen für so
ein Fest dauern schon Wochen (weil das ja quasi eine
Dorfangelegenheit ist), und der Polterabend – Tag 1 der
Hochzeit -zieht sich von mittags bis tief in die Nacht hinein und
ist nicht nur für die Brautleute (der Container ist hinterher
rappelvoll und die Mülltonnen inkl. unserer auch mit den
Scherben), sondern auch für uns ein recht anstrengender Tag:
wir gehören ja quasi zur Familie und müssen voll mitziehen –
Prosit hier und Hallo da und Ihr seid die und wir sind das und
toll und nett und trallala – und immer ein Schnäpschen dazu.
Abends geht es hinauf in´s Gemeindehaus (da passen
tatsächlich alle 260 Einwohner rein!) und ich trinke – zu dem,
was ich schon den ganzen Tag reingeschüttet habe und was
noch gar nicht richtig weiterverarbeitet ist - zum ersten und
einzigen Male in meinem Leben Kommodenlack (Jägermeister,
ca. 1 ½ Flaschen): ich bin ja sooooo schlecht – und irgendwann
und irgendwie auch weg.
Am nächsten Morgen – dem eigentlichen Hochzeitstag müssen wir morgens irgendwo hin (weiß nicht mehr warum –
wahrscheinlich ein Radio-Termin ) aber früh mittags sind wir
wieder da und lernen jetzt beim Kaffeetrinken Menschen
kennen, die wir bis dato nur als Bauern mit Blaumann, Mütze
und Stiefeln kannten: die hatten sich mit Anzug, Weste, Schlips
und Kragen und schwarzen Lack- und Lederschuhen
verkleidet. Und ach die Bäuerinnen hatte Kittel und Kopftuch
vertauscht mit ausgesucht geschneiderten Stoffen – und alle
rochen gut... Im Laufe des Nachmittags lockert sich diese
Kleiderordnung aber – vor allem bei den Herren der Schöpfung
- zum positiven, (erst oberer Hemdknopf auf, dann Jacke aus,
Weste aufgeknöpft, Ärmel kochgekrempelt, Schlips ab) und es
wird gefeiert und gegessen und getrunken und getanzt und
erzählt und gesungen, eben wie man es aus den alten
Geschichten kennt.
105
Mittlerweile sind wir wieder mobil: wir haben uns von einem
Bauern im Dorf einen alten Ford gekauft, mit dem wir – wenn
uns die Decke auf den Kopf fällt (also so ca. alle 2 Monate) mal
schnell nachmittags nach Essen düsen, die Nacht
durchmachen, bei Freunden schlafen und am nächsten Tag
wieder zurück in die Ruhe fahren. Den Wagen haben wir mit
Schultafellack gestrichen, und die Kinder des Dorfes geben ihm
nach jedem Regenguss mit bunter Kreide ein neues Outfit.
Zudem haben wir uns für den Nahverkehr 2 Motorräder
angeschafft: Bernhard ein NSU Max und ich eine Zündapp 100
mit Tankschaltung . Bernhard baut gleich auf der Jungfernfahrt
mit dem nicht angemeldeten und unversicherten Teil einen
Unfall. Da ich keinen Motorrad-Führerschein habe, fahre ich mit
meiner Maschine zur Fahrschule (2 Orte weiter) und nehme
dort 1x je Woche am theoretischen Unterricht teil. Für den
praktischen Teil
(Fahrlehrer: ich
muss ja wenigsten
mal gesehen
haben, ob Sie den
Arm richtig
raushalten können
beim Abbiegen)
verabreden wir uns
in Simmern,
Kreisstadt und
Heimat des
bekannten
Schinderhannes.
Ich fahre wohl
recht gekonnt und
damit
zufriedenstellend
hinter dem
Fahrschulwagen
her und werde
daher zur Prüfung
106
gemeldet. Der theoretische Teil wird in einer Kneipe abgehalten
– zum Praxisteil geht´s (logisch) nach draußen. Als der TÜVMann meine Maschine sieht, ist er hin und weg: das ist das
gleiche Modell wie sein aller erstes selbst bewegtes Fahrzeug
(wahrscheinlich ist er mit 12 schon damit über den Bauernhof
gebrettert und hat Hennen gescheucht): kann ich mal ne Runde
fahr´n. Klar – weg ist er. Nach ½ Stunde kommt er wieder,
glänzende Augen, sagt: Komm Junge, fahr mal ne 8. Ich fahr
´ne 8 und hab meine Schein (der mich mit Anmelde-, Prüf- und
sonstigen Gebühren schlappe 240,- DM gekostet hat!). Jetzt
können wir mal schnell nach Mainz oder Koblenz, können
andere Gruppen besuchen (Kraan, Guru Guru und alle die, die
sich auch aus der Stadt entfernt haben – also fast alle), aber
auch zu Konzertbesuchen nach Mainz ins Unterhaus Konkurrenten gucken) oder nach Düsseldorf zu Roxy Music
etc.
Natürlich bekommen wir auch Besuch: meine Mutter besucht
mich (ich muss doch wissen, wo mein Junge ist und wie er
lebt).
107
• Die alten Kumpels aus Essen schauen vorbei: Hey Mann,
kann ich mal ein paar Tage bei euch wohnen? Klar.
• Fans kommen vorbei: Ey hörtma, wieviel Ebenen hat
eigentlich die Schöpfungsgeschichte? Mindestens 7? Boahh.
• Dieselfahrer-Fans: kann ich mal an eurem Heizölfass
volltanken – stinkt zwar, is aber billiger als anner Tanke (klar,
die haben uns garnix gegeben).
• Unsere Produzenten RUK und Gille L. (Bild rechts mit Bauer
Plath etc.) kommen natürlich des Öfteren (Kontrolle oder
Sehnsucht - war nicht auszumachen), oft mit irgendwelchen
Leuten im Schlepptau
• Reporter, Fernsehen, einmal – bei der von der Plattenfirma
veranstalteten „Rapunzel“-Tour - sogar eine Busladung voll mit
Schreiberlingen aus der Pop- und Musikwelt
• Die Bravo(?) schickt die Gewinnerin eines von mir
entworfenen W&W- Kreuzworträtsels vorbei: sie hat 1 Tag bei
W&W gewonnen (incl. Kuhstallbesichtigung mit uns und Bauer
Plath) - was kann es Schöneres geben?
Da hatte sie was für´s Leben...
108
Besonders erwähnenswert sind die Besuche von Jerry Berkers,
dem Bassisten von Wallenstein – der ein wenig durch den
Wind ist. Einmal kommt er - mitten in der Nacht - von
Mönchengladbach mit dem Taxi zu uns in den Hunsrück, nur
um uns – an der Haustür, er kommt gar nicht erst rein, weil das
Taxi ja wartet – zu sagen, wir sollen mal sofort in Herrmann
Hesses Sidharta auf Seite xx den 3. Absatz genau lesen: da
stünde die ganze Wahrheit des Lebens auf den Punkt
gebracht. Dann war er wieder weg (da sagte er wenigsten noch
Auf Wiedersehen).
Dieses Wiedersehen haben wir einen Monat später. Er will mal
so richtig ausspannen und 1 Woche bei uns bleiben - und war
nach 2 Tagen (diesmal ohne Gruß) verschwunden. Am Tag
später kommt unser Bauer und erzählt, dass Jerry wohl ein
Auto geklaut haben soll, was wir eigentlich so gar nicht glauben
können und wollen.
Das Auto wird einen Tag später in Köln gefunden, und 2 Tage
später ist auch Jerry wieder da und erzählt auf Anfrage: Nein,
ich habe das Auto nicht geklaut. Ich ging spazieren und da
stand das Auto und das Autoradio lief und plötzlich sagte die
Stimme aus dem Radio: Fahr mich! Ich setze mich also rein
und frage: Wohin? Die Stimme im Radio sagt: nach KölnWahn. Also fahr ich los, nur kurz vor dem Flugplatz hatte ich
keinen Sprit mehr – da ließ ich es stehen. Am Flugplatz wusste
irgendwie keiner Bescheid, keiner konnte oder wollte mir
weiterhelfen, und jetzt bin ich wieder nach hier zurückgetrampt.
- Mann, Jerry, kannst Du Dir nicht vorstellen, dass wir mit den
Nachbarn und den Leuten hier Theater kriegen, wenn Besuch
von uns hier Scheiße baut? Jerry: wieso Theater. Was soll
Euch denn passieren? Wisst ihr denn nicht, dass viele Leute
ganz oben ihre Hände über Euch halten, weil sie von Euch
abhängig sind. Unsere Politiker brauchen Euch doch, ihr seid
gradezu existenziell wichtig für die. Die da oben sind auf euch
und eure Musik angewiesen, sie wären hilflos ohne Euch! Die
109
hören sich eure Musik über riesige Unterwasserstereoanlagen
an, und von und mit den Impulsen, die da rüberkommen,
machen die ihre Politik! – Punkt - Aus. Davon ist er nicht
abzubringen. Um zu verstehen oder zumindest eine
entschuldigende Erklärung zu versuchen, sei hier angeführt,
dass Jerry als Bassist einst in einer Band spielte, die zur
Truppenerbauung in Vietnam unterwegs war. Bei einem Gig
wurden während des Konzertes die 3 Gogo - Girls der Gruppe
auf der Bühne abgeschossen – und Jerry war auf einem Trip
und kam nie mehr richtig zurück. Er verließ bei einem Konzert
auf der Wallenstein/ Witthueser & Westrupp - DeutschlandTour mitten im Stück (die Post ging gerade richtig ab) die
110
Bühne und war ab da nicht mehr zurückzubringen: die Musik
wäre ihm einfach zu mächtig, sie würde ihn geradezu
überrollen – und dem wäre er nicht gewachsen. Mittlerweile ist
er ganz von uns gegangen...
111
Der Energie-Bericht
...und er sah:
Der Brösel hatte gewirkt
(aus "Der Besuch aus dem Kosmos - Jesuspilz)
1972 treffen wir uns in
unserem verwunschen
Bauernhaus im Hunsrück,
um die musikalische
Umsetzung der von dem
Schweizer Maler Walter
Wegmüller neu gestalteten
Tarot-Karten zu
besprechen. Wir, das sind
Walter Wegmüller selbst,
Sergius Golowin (unser
Guru aus Interlaken), Gille
Lettmann und R.U. Kaiser
(die Produzenten), Klaus
Schulze, Jürgen Dollase
und Witthueser &
Westrupp als Musiker und
die beiden letztgenannten
als Gastgeber. Ziel dieses
von langer Hand geplanten
Treffens ist, für jede Karte des Spiels eine Idee für Musik
und/oder Text festzuhalten, denn das ganze Werk soll Spielkarten und Musik - als Box herausgebracht werden. Um
uns auf die Thematik einzustimmen, treffen wir uns also zu
einem Arbeitswochenende. Nach einem gemütlichen
Kaffeetrinken, zu dem selbstgebackener H-Kuchen gereicht
und verzehrt wird, lernen wir zunächst Mond und Magier, Tod
112
und Teufel, den Gehängten und den Hohenpriester und all die
anderen persönlich kennen. Wir arbeiten uns in einige Regeln
des Spiels und die Bedeutung des keltischen Kreuzes, des
astrologischen Kreises ein und werden bekannt gemacht mit
Beziehungs- und Entscheidungsspiel u.v.a.m.
Soviel Neues und Aufregendes muss verarbeitet werden, und
Klaus Schulze hockt sich hinter sein Keyboard und beginnt
seine nie enden wollenden
endlosen unendlichen
Tonschleifen zu spielen.
Durch das Fenster sehe
ich, wie sich diese
Tonschleifen in den
Himmel ausbreiten. Wie
ein endlos geflochtenes
Rohr hängt dieses Gebilde
über dem Land, und die
Vögel fliegen in den
Rohren dieses Geflechtes:
sie können gar nicht
anders – ich sehe vorher
schon , wohin sie fliegen
(müssen): links hoch,
abwärts und nach rechts
und weiter weiter. Sergius
betritt den Raum, setzt sich
auf den Boden und beginnt
– die Hände nach oben
offen auf den Knien - seine Beschwörungsformel über die
Musik zu legen: Energie Energie Energie...
Wir wissen total nicht, was hier abgeht – das hat von uns noch
niemand mitgemacht und keiner kann sich vorstellen, was der
Meister da heraufbeschwört. Es entsteht eine aufgeladene
Spannung im Raum - die Welt scheint einmal kräftig
113
durchzuatmen. Es wird schlagartig dunkel – viel zu früh für
diese Tageszeit. Und dann geht die Post ab: sinnflutartige
Regenfälle mischen sich mit Blitz und Donner. Noch nie erlebte
elektrische Ladungen und Entladungen lassen das Licht in
unserem Haus an und ausgehen, die Erde bebt, Sturm zieht
auf, das Vieh im Stall schreit – es hört nicht auf. Wir haben
erbärmlich Schiss, Muffe, Angst, sind macht- und hilflos und
bitten letztendlich Sergius, diesem Spuk ein Ende zu machen.
Der lacht, aber als er merkt, dass es uns wirklich nicht gut geht,
nickt er, nimmt sich Stiefel und Mantel und marschiert raus und
hinein in das Unwetter.
Kurze Zeit später beruhigen tatsächlich sich die Energien – es
wird wieder hell. Sergius kehrt zurück, nass, jugendlich
lachend, wir fragen nach dem Wie, Was, ...er schweigt. Wir
arbeiten 2 Tage hart an diesem tollen Projekt - aber zu den
Ereignissen des 1. Tages bekommen wir von ihm nichts mehr
zu hören. Bauer Plath, unser Vermieter, erzählt uns später: so
etwas wie diese Urgewalten hat er in seinem Leben hier im
Hunsrück noch nie erlebt, und die 90-jährige Alte von
gegenüber bestätigt dies. Drei Gewitter trafen sich über
unserem Tal, sie kamen schnell und sie gingen plötzlich. Er
(BP) war in diesem Unwetter nach dem Vieh gucken und sah
Sergius auf das Feld verschwinden, wo dieser sich hinhockte
wie eine Kugel. Der Bauer hörte Gesänge und sah die Gewitter
abziehen – auch er sah den direkten Zusammenhang.
114
Und noch ein Bild aus jenen Tagen:
Walter Wegmüller
(rechts) erklärt Rolf
(Rudolf?) Ulrich
Kaiser (links) die
wirklich wahre
Wahrheit seines
(RUK´s) Geschäfts Gebarens mittels der
Kristallkugel.
Walter Wegmüller:
"Leider war Herr
Kaiser, trotzdem er
ja ein sehr bekannter
und erfolgreicher Schallplatten - Produzent war, ein ´NICHT
HELLHÖRIGER´ " !!!
115
Bauer Plath
Hinter den Weißen Bergen
nah bei der kleinen Stadt
da steht das Haus
wo Bauer Plath sich niederlassen hat..
(aus CD Bauer Plath)
In der Ruhe liegt die Kraft, sagt man landläufig- und da sind wir
ja jetzt tatsächlich life dabei - und hören mit anderen Ohren nun
andere Musik: (sta[d]tt Sex & Drugs & Rock´n Roll à la Stones,
Burdon, Steward, Bowie etc. haben wir jetzt Incredible String
Band, Fairport, Grateful Death, Crosby & Co. oder Walter
(Wendy) Carlos im Ohr, lesen nicht mehr Magazine,
Tageszeitungen und Jerry Rubins „DO IT“ (amerikanische
Variante von "Macht kaputt, was euch kaputt macht"), sondern
Tolkien, Castaneda, Indische Märchen, Hesse, Gelpke und
Michael Ende, trinken immer mehr Tee satt Kaffee und rauchen
mehr Gras
als Tabak
(denn - wie
sagte schon
Paracelsus:
jedes Gift
[?Droge]),
richtig
dosiert, ist
Medizin), und
die brauchen
wir, um im
Kopf wieder
frei zu werden. Welcher Wechsel doch im Leben - tiefe Stille
dort und Leid, hier - bei arbeitsamen Streben: Jugendglück
und Fröhlichkeit (quasi die Bestätigung unseres Liedes aus
Nonnen, Tote und Vampire).
116
Wir haben uns akklimatisiert und werden als „die beiden
Exoten aus dem Kohlenpott“ aufgenommen in die
Dorfgemeinschaft – nicht direkt offiziell, aber sie finden den
Presserummel um uns und das Dorf schon sehr interessant.
Sie sind sogar bereit, mit dem Diller Männerchor und uns
zusammen bei Plattenaufnahmen mitzumachen – das sagt ja
wohl alles! Das aktuelle Tagesgeschehen entfernt sich mehr
und mehr von uns oder wir von ihm – in unserem Leben zählen
fortan andere Wertigkeiten: Was machen die Spinnen am Klo,
wie geht es dem wilden (ehemaligen Hof-) Kater Peter, wie
stehen die Rüben, kriegen wir die Ernte trocken rein, wann
kalbt die Olga... Wir helfen, wann und wo wir können, auf dem
Hof, und es macht Spaß (aber wir müssen ja auch nicht jeden
Tag ran). Wenn wir z.B. nachts um 4 Uhr – rausgeklingelt von
unserem Bauern - beim Nachbarn bei einer schweren
Kalbsgeburt mit anpacken und alle Beteiligten nach
erfolgreicher Arbeit einen Schnaps trinken, während das
neugeborene Kälbchen im Stroh liegt, dann gibt einem das
schon etwas mehr als eine durchgesoffenen Nacht in der
„Golden Stadt“ beim Prebec in Essen. Wir sind näher dran am
Leben, beim Säen und Ernten, beim Gebären und Sterben.
Oft sind wir nun bei unserem Bauern zu Gast – eingeladen zum
ausgiebig-üppigen Abendessen und anschließender
Tresterbrand-Vernichtung - oder er kommt zu uns und besucht
uns auf ein Gläschen/Fläschchen Wein.... Wir treffen die
Bäuerin im Stall beim Misten und schnacken – oder ihre
Schwester beim Einkauf in dem kleinen Lädchen im DorfZentrum, wo die Dorf- und Weltpolitik diskutiert wird. Wir
nehmen teil an Dorf-, Schützen- und Feuerwehrfesten, wo auch
ein zünftiger Frühschoppen niemanden davon abhält, mit
seinem Fahrzeug noch weitere Ziele anzufahren – es gibt nur
einen Dorfpolizisten weit und breit, und der feiert immer mit.
Trotzdem – für alle Fälle - werden wir eingewiesen: sollte
unterwegs mal was passieren: raus und weg und ab in den
Wald und 2 Tage warten. Dann wieder auftauchen, einen total
verwirrt/verwilderten Eindruck machen und sprachlos von
117
garnix mehr wissen! Zum Glück kommen wir nie in eine solche
Situation... Etwas außerhalb des Ortes finden wir ein
wunderschönes abgelegenes Plätzchen – nur für uns allein auf einem Felsen über einem Tal (unsere Loreley), Oder
besser noch: unser Laurel Canyon: hier den Laurel Canyon
Blues von John Mayell zu hören, ist doppelter Genuss - mit
Dope nochmal potenziert. Hier sitzen wir stundenlang, den
Wald- und Bachgeräuschen hingegeben, Rehe und Füchse
beobachtend, dem Falken folgend, in den Dunst hinein
träumend: wir suchen den Schlüssel, die blaue Blume, uns.
Nicht nur zuschauen, sondern eins werden mit der Natur - die
Seele fliegen lassen. Nicht Besucher, sondern Teil des
Ganzen. In den Bergen der Schweiz - oberhalb der
Baumgrenzen in den Steinhütten der Berglütlis - da waren wir
schon nahe dran, jetzt aber sind wir mittendrin. Hier Tolkien
lesen ist Heimatgeschichte live. Hier hat der Schäfer seine
Hütte, hier steht die alte Mühle, hier ist die wilde Müllkippe
(aber schön versteckt), und hier entsteht die Idee zu einer
Märchenplatte – wo sonst kann man so etwas planen und
realisieren. Endlich wieder (Ausnahme war das 1. Programm
118
von Nonnen, Toten und Vampiren) entstehen Texte ohne
Zeitdruck, sind fruchtbare zeitlose Gespräche – mit den
Freunden, die uns besuchen, aber auch mit unserem Bauern –
an der Tagesordnung. Nichts stört uns in unserer Konzentration
- und die Freunde, die uns besuchen in unserer Idylle, turnen
uns an – erzählten von ihren Reisen und ihren Erlebnissen,
bringen neue Geschichten mit - geben uns Anstöße. Wir geben
und nehmen, werden befruchtet: die Saat geht in uns auf - und
wir in ihr.
Für die Vorbereitung unseres neuen Programms brauchen wir
nicht mehr in irgendeine Musik-Akademie mit
Jugendherbergscharakter zu fliehen – wir können immer und
jederzeit in unserem Haus die Verstärker aufdrehen, können
schreien und singen, mixen und probieren (wenn wir es denn
wollen): nur die Kühe hören zu – gut, manchmal ist die Milch
dann sauer - nicht mehr, nicht weniger!
119
Die Musik wird märchenhafter - naturverbunden und wieder
akustischer. Das wir dieses Programm „unserem“ Bauern
widmen, ist klar, und auch ein Musikstück auf der
gleichnamigen CD widmen wir ihm: hinter den weißen Bergen
(Hunsrück), nah bei der kleinen Stadt (Simmern), das steht das
Haus, wo Bauer Plath sich niedergelassen hat.... Andere Texte
erzählen von unserer Suche nach der „blauen Blume“, nach
dem „Schlüssel“, der diese andere, diese „neue Wirklichkeit“
öffnet, die wir – ausgelöst durch diesen unseren Aus- und
Umzug – nun erschlossen haben, die für uns zugänglich
geworden ist, die wir vor uns sehen - in uns spüren. Der „Rat
der Motten“ ist die Geschichte dieser "Suche". Die Motten
suchen das Licht, sie sehen es, sie stürzen sich hinein - sie
verglühen in der Kerzenflamme. Sie haben das Geheimnis
gelüftet: aber zu welchem Preis!
Glühen wollten wir auch, aber verglühen nicht. Davon erzählen
und singen müssen wir – das ist klar. Aber auch nicht
verschweigen, das diese „Idylle“ mit Fallen ausgelegt ist. Wir
weisen auf die Gefahr hin, sich blenden zu lassen und den
Boden unter den Füssen zu verlieren - auszuflippen. Eine
solche "Warnung" finden wir auch in einem alten indischen
Märchen und komponieren die "Schlüsselblume", die
Geschichte einen Mannes, der den Schlüssel findet, mit dem er
das Tor öffnet und sich dann selbst verliert - und damit auch
wieder den Schlüssel - und hinterher "innerlich leer" vor einem
verschlossen Mysterium steht und den Weg zurück nicht mehr
findet. Wir wollen uns auf dem Throne stehen sehen – aber
lebendig: „ich war und ich bin“. Wer - wie wir - sich selbst
gesucht hat, wird wissen, wovon wir da singen und was wir mit
unseren Texten - auch als Lebenshilfe - weitergeben wollen.
Für die einen wird es schöne Musik mit schönen Texten sein,
für die anderen "wissenden" eine Botschaft.
Der Bogen, den wir auf dieser CD schlagen, beginnt bei
Novalis ("wenn nicht Zahlen und Figuren sind die Schlüssel
120
aller Kreaturen... wenn alle, die gern singen oder küssen mehr
als die Tiefgelehrten wissen... "), geht über die Hymne an
unseren Bauern und Freund Werner Plath und endet in einem
musikalisch monströsen 10-Minuten-Märchen. Dieses zentrale
Werk, quasi unser „Vermächtnis“, das wir in dieser knorrigen
Schönheit unseres Hunsrück- Dörfchens erschaffen, ist die
"Geschichte vom Königssohn". Hier verarbeiten wir Frodos
Erlebnisse aus Tolkiens Herr der Ringe - unserer damaligen
Bibel. Und der Schluss dieses Märchens mit seiner fast
eschersch zu nennenden Unendlichkeitsformel, die sich selbst
auflöst und wieder von vorne anfängt, ist eigentlich schon
Hinweis auf ein bevorstehendes Ende von W&W.
Im Juni 1972 gehen wir ins Studio Dierks und beginnen die
Aufnahmen. Mit dabei sind die „Wallensteiner“ Jürgen Dollase
121
und Jerry Berkers, am Schlagzeug sitzen abwechselnd Harald
Großkopf und Tommy Engel (später Bläck Föös) und im
Aufnahmeraum das bekannt Trio Kaiser/Diers/Lettmann. Wir
basteln an den Sounds (wann gab es jemals mit Geigenbogen
gestrichene Gitarren oder einen akustischen Wassersoog wie
bei dem Königssohn-Märchen, Psalter- und Harmoniumklänge
oder so einen sensationellen Wumm wie bei „Bauer Plath“, wo
10 Musiker mit ihren Füßen auf eine Holzbühne stampfen.
Wieder baut Dieter Dierks mit seinen „goldenen Fingern“ einen
wunderbaren Sound aus den 40 bis 50 einzelnen Tonspuren
und mixt aus allem eine von vorn bis hinten gelungene Lp. Wo
wir nun gerade da sind, machen wir auch gleich noch eine
Single, bei der Bill Baron, der Gitarrist von Wallenstein, beim
„Lied der Liebe“ einen Gitarrensound einspielt, bei dem ihm
selbst die Ohren vom Kopfe fallen (er verlässt die gekachelten
Kabine, in der sein Gitarren-Verstärker voll aufgedreht steht und spielt sein Solo draußen): und selbst dort ist es noch
tierisch laut – aber auf der Single klingt´s und geht ab – und
wie: aber Hallöchen, das kann man nicht beschreiben, das
muss man hören...
Für´s Plattencover nehmen wir vorne natürlich ein Foto von
Bauer Plath, zusammen mit uns und Ferkel Eduard. Auf die
Rückseite kommt eine märchenhafte Malerei von mir, die ich in
den langen Tagen
der anfänglichen
Ruhe geschaffen
habe – mit
Engelsgeduld habe
ich wochenlang
winzig kleine
Kästchen mit
Filzschreiber
ausgemalt und
W&W in eine
Märchenwelt voller
122
Kräuter, Pilzen und Tiere versetzt.
So kommt die LP auf den Markt und wird ein voller Erfolg - und
damit geht auch der ganze Stress wieder los mit Terminen und
Konzerten...die Ruhe für uns ist vorbei.
Bei unseren Live-Auftritten können wir den Sound der Platte
nicht wiederholen – wollen es auch gar nicht. Bei Konzerten
spielen wir nahezu „unplugged“, ganz selten wird ein
Instrument direkt verstärkt. Und da die Nachfrage nach
unserem Sound und den Songs stetig steigt (welche Gruppe
setzt auf der Bühne [mit 2 Musikern] über 30 teilweise obskure
Instrumente ein), kommt uns Dieter Dierks 1973 bei 2 Auftritten
(Koblenz und Freiburg) mit seinem mobilen Aufnahmestudio
123
hinterhergefahren und mischt daraus das „Live-Album 68-73“
zusammen, einen Querschnitt durch das gesamte
musikalische Schaffen von W&W.
Als wir am Ende der Tournee, die mehrere Wochen andauert
und uns durch ganz Deutschland führt, nach Dill in unser
Häuschen zurückkehren, sind wir leer, wir sind ausgebrannt.
Allein der Gedanke, sich jetzt hinzusetzen und ein neues
Programm aus dem Boden zu stampfen, wirkt lähmend auf uns
– heute würde man sagen: wir sind mental blockiert. Wir sitzen
lange Nächte zusammen, hören Musik, schweigen uns an und
versuchen herauszuzögern und nicht zu artikulieren, was uns
beiden klar ist: ehe wir uns kaputt spielen – ehe wir unseren
Spaß an der Musik verlieren, weil andere uns permanent unter
Druck setzen – müssen wir aufhören: einen endgültigen
Schlussstrich ziehen.
Wir sprechen mit unserem Bauern, informieren Produzenten
und Plattenfirma – und verlassen bei Nacht und Nebel die
Idylle. Als die Live-Do-Lp herauskommt, gibt es W&W schon
nicht mehr.
124
Nachsatz
Viele Dinge zeigt der Spiegel,
und nicht alle werden, wie sie hier scheinen.
Manche werden nie geschehen,
es sei denn, das jene, die die Bilder seh´n
von ihrem Pfad abweichen, um sie zu verhindern..
(aus „Das Mächen vom Königssohn")
5 Jahre haben wir W&W´s zusammen unser Ding gemacht: wir
haben zusammen studiert, gesoffen, gestaunt, musiziert,
komponiert, meditiert, geraucht, geschluckt, gelacht, gestritten,
gelitten und unendlich viel Spaß gehabt und gemacht. Wir sind
gefahren, abgefahren, geflippt und geflippt worden, haben
erfunden und gefunden, haben gelebt und erlebt: wir haben
„Musik“ gemacht.
Wir haben Einblick in eine andere Wirklichkeit genommen auf
unseren "Reisen", wir haben oft einen Blick unter die
Oberfläche getan, wir haben in uns hinein gehört, wir waren in
Himmel und Hölle, wir haben uns mit vielen seltsamen Dingen
und Berichten beschäftigt und mit vielen „Reisenden“
gesprochen, die von ähnlichen Erfahrungen berichteten: Vieles
davon haben wir in unsere Texte gepackt und so verarbeitet.
Im Nachhinein wird mir überdeutlich klar, dass wir solche Texte
und solche Musik niemals in der Stadt hätten schreiben und
spielen können. Wenn ich auf der „Lorelei" saß, dann war ich
real in der Welt, die wir in unseren Liedern besangen:
zauberhaft, märchenhaft, abseits aller Hektik, über aller
Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit. Durch die Konzentration
125
auf "unser Ding" war diese Performance, diese Symbiose von
fast religiösen Texten und märchenhafter Musik möglich:
Mönche der Musik.
Bei unseren Abstechern in die "normale" Welt (nach Essen)
stellten wir fest, dass unser Abstand zu den alltäglichen
Dingen, zu unseren alten Freunden, unseren Familien immer
größer wurde. Unsere Plattenfirma, unsere Produzenten,
unsere Berater hatten uns und
wollten uns natürlich immer
weiter abkapseln, auf Kurs
halten. „Unsere Welt“ mit all
diesen existenziellen
Erfahrungen, mit tollen
Bekanntschaften war
grenzenlos toll und erfüllend.
Doch verdammt: ewig lockt das
Weib, lockt das Leben, das
Flippen, das neue Alte, das
Gewohnte und Vertraute. Der
Vogel, der im Käfig sitzt – und
sei dieser noch so schön
eingerichtet - möchte raus:
möchte frei sein. Wir waren –
trotz allem - Großstadtkinder
geblieben mit unseren Wurzel
eben dort: bei unseren alten
Freunden, unseren Kneipen,
Kinos, MÄDELS, Neon,
Geschäften: bei dem pulsierenden Leben. Sollten wir das alles
hinter uns lassen – den Abstand immer größer werden lassen
und uns hinterher nur noch mit einigen „Weisen“ unterhalten
können. Wir hatten ja kein Gelübde abgelegt, keine ewige
Askese geschworen: die Mauern waren durchlässig. Unser
Produzent Rolf Ulrich Kaiser (kurz RUK genannt) ist seinen
Pfad konsequent weitergegangen: abgehoben und irgendwann
ohne den Bezug zur Realität. Er hat tolle Sachen geformt und
126
durchgezogen - hatte Visionen - aber kaum jemand konnte
oder wollte ihm zuletzt noch folgen, und so lebte er lange
verarmt?, (fast) vergessen und unter Verfolgungswahn leidend
als "Mr. Null" zusammen mit seiner "Muse" Gille Lettman, dem
"Sternenmädchen" in "seiner ko(s)mischen Welt" irgendwo in
einer Mietwohnung in der Nähe einer großen deutschen
Brauerei am Möhnesee. Aber auch da musste er weichen
(weltliche Vermieter wollen nun mal echte € sehen) und so
haust er z. Zt. in einer Klosterzelle (war da nicht mal was mit
einem Mönch?...) Und: er lebt, auch wenn das viele nicht
glauben wollen (Stand 09.2007).
Viele seiner Musiker von damals schimpfen heute auf ihn - sind
sauer auf ihn - haben gegen ihn prozessiert. Okay - wir hatten
alle Scheiß-Verträge. Aber wer hätte uns und vielen anderen
damals denn überhaupt einen Plattenvertrag gegeben. Viele
Bands (da schließe ich W&W mit ein) wären doch aus ihrem
lokalen Umfeld gar nicht raus gekommen, wäre RUK nicht
gewesen. Das sollte man bei seiner Bewertung nicht
unterschlagen. Das er dann ausgeflippt ist - naja, da ist er nicht
der Erste und Einzige aus dieser Szene. Diesen "seinen" Weg
wollten (und konnten) wir nicht mitgehen – wir beendeten diese
unsere „Reise in eine andere Wirklichkeit“ und traten den
Rückweg an: Bernhard nach Berlin und ich zurück nach
Essen.
Wilde Jahre waren das. Wir haben sie Gott sei Dank nicht nur
unbeschadet überstanden (im Gegensatz zu manchem
Anderen, der diesen Sprung zwischen mehreren Welten nicht
verarbeiten konnten), sondern wir haben existenzielle
Erfahrungen gemacht und gesammelt und verinnerlicht, die
keiner von uns je missen möchte und wohl auch nie vergessen
wird. In dieser Sturm- und Drangzeit hatten wir nur unseren
eigenen Rucksack zu tragen, waren wir nur uns selbst
Rechenschaft schuldig: wir machten, was wir wollten.
127
Mein Umfeld änderte sich: Frau, Familie, Kind - und damit
verbunden wirtschaftliche Zwänge - der Beruf kam dazu, die
(alltägliche) Müh(l)e. Die Musik mit der Walter h.c. Meier
Pumpe bleibt. Heute sage ich: "Habe einen Sohn gezeugt, ein
Haus gebaut, einen Baum gepflanzt: nun kann ich mich zur
Ruhe setzen". Also bin ich "Rentner" geworden. Im Klartext: Bin
endlich wieder Herr meiner Zeit, ein "freies" Leben ohne
Abhängigkeiten fängt jetzt so richtig an: Familie, Freunde,
Musik, Computer, Haus, Garten, Hunde, Katzen, Fotografie,
Sport, Kino...
"Hab´ nun weniger Zeit als früher"! Und bin immer noch ICH:
hab mich nie verbogen, hab mich nicht verbiegen lassen.
Manche Ziele habe ich im Laufe der Zeit neu gesteckt,
erweitert, andere suche ich immer noch... Hab´ keine Kumpel
beschissen, niemanden über den Tisch gezogen, keinen
gemobbt, bin nie jemandem in den Rücken gefallen: Und kann
daher auch heute immer noch in den Spiegel gucken, ohne
kotzen zu müssen...
Und dann holt mich die W&W-Zeit doch wieder ein. 1985
meldet sich ein Bernhard Mikulski telefonisch und bittet um
einen Termin, da er etwas mit mir zu besprechen hat. Er taucht
mit seiner Frau Christa auf und erklärt, dass er die W&W-Lp´s
neu auflegen will. Rechtliche Fragen bräuchten mich nicht zu
interessieren – das würde er alles regeln und evtl. Forderungen
der Altherausgeber (die seit Jahren eine immer noch
bestehende Nachfrage nicht befriedigen wollten) selbst
übernehmen. Eine Zusage von Bernhard Witthüser hat er
schon – und meine bekommt er natürlich auch. Und so
erscheinen unsere Lieder – fast im Original-Look - wieder in
den Läden und werden dankend gekauft, während im
Hintergrund ein langer Rechtsstreit tobt, der mich aber nicht
weiter tangiert. Bernhard Mikulski, seiner Frau und ihrer Fa.
ZYX-Records ist es also zu verdanken, dass es noch heute
128
W&W–Musik – mittlerweile auf CD – gibt: dafür an dieser
Stelle (an B. posthum) ein großes Dankeschön.
Im Februar 2003 - quasi als Geburtstagsgeschenk - bringt uns
der 60. Geburtstag unseres gemeinsamen Freundes „Mr.
Ruhrgebiet" Frank Baier, der am selben Tag wie ich Geburtstag
hat, zu unserer beider Überraschung wieder zusammen. In
Duisburg auf Franks großer Geburtstagsfeier treffen wir uns
nach fast 13 Jahren wieder - und ich hab ihn fast nicht wieder
erkannt - so gut sieht er aus. Aber so ist das ja immer beim
Totgesagten (was auf einem Gerücht beruht, das wiederum auf
eine Verwechselung zurückzuführen ist: gestorben ist Bernhard
Mikulski und nicht Bernhard Witthüser aus I.). Das mit Bernhard
M. tut uns beiden leid, das mit Bernhard W. tut gut. Und - wer
hätte das je für möglich gehalten - machen wir nach über 30
Jahren wieder zusammen Musik: zwar keine W&W-Titel, aber
einige alte Skiffle-Songs geben wir mit Ukulele und Mandoline
zum Besten. Wir haben viel Spaß, das Publikum erst recht,
129
und wir schwelgen in Erinnerungen und stellen
übereinstimmend fest: HURRA, wir leben noch...
Irgendwie hört es plötzlich überhaupt nicht mehr auf, denn
neben alten Freunden von damals tauchen 2004 (wie im
TEHOMA-Kapitel beschrieben) alte Filmaufnahmen aus der
Versenkung, bekomme ich Videos mit alten W&W-Aufnahmen,
melden sich bei Andeutung einer W&W-DVD Freunde dieser
unserer Musik aus ganz Europa - und nicht nur alte
nostalgische Säcke, die in der Vergangenheit leben. Die
"Krautrock"-Ära (!?)" wird auch in Deutschland endlich
aufgearbeitet - und auch die beteiligten Musiker und Gruppen
dieser Zeit finden Beachtung: in Büchern (Liederbuch Ruhr,
Menschen und Projekte in Essen, Zappa Zoff und
Zwischentöne, Aufgewachsen in Essen, Folk und Liedermacher
an Rhein und Ruhr...), in Sondereditionen (z.B. beim German
Rock e.V.) in div. Radiosendungen und im dtsch. Fernsehen
(Kopfüber in die 60er, Schwarzes Gold-Musik im Ruhrgebiet...),
auf diversen Samplern, und auch im Rocknpopkuseum in
Gronau wird man fündig... Dann war es also wohl doch nicht
ganz so uninteressant, was wir damals "gelebt" haben.
Das würde auch meine Eltern freuen ..
Walter 'Westrupp
Essen 23.03.2002, letztmalig geändert 05.12.2012
130
ANHANG
131
DOC
Dies sind nun zwei Versionen einer Geschichte.
Sie stehen hier gleichberechtigt nebeneinander
und zeigen,
wie Erinnerungen in 25 Jahren zwei
Eigendynamiken entwickeln.
Und irgendwo dazwischen liegt die Wahrheit ...
Walters Version
Doktors Version
Manche Menschen
lernen sich kennen und
niemand weiß hinterher
genau, wo das war, zu
welchem Anlass dies
geschah und welche
Menschen dabei waren:
es war nicht wichtig
genug, um den
Speicher des Gehirnes
damit zu belasten.
Manche
Bekanntschaften ende
n hinterher ebenso und hinterlassen
keinerlei Spuren. Es
Wenn man alles genau
wüsste, wäre Wahrheit
keine Schande. Doch
unser Hirn bastelt aus
kleinen Puzzelteilchen
ganze, lange Würmer,
die in den Windungen
Spuren hinterlassen
und vergilben und mit
Farbe neu bestrichen
zu Variationen der
einstigen wahren
Geschichte wieder
ganz frisch wirken.
Nun aus gleichsam
doppeltem
132
kommt vor, dass mich
Menschen kontaktieren
und ich sie nicht
zuordnen kann: diese
Bits und Bytes sind
einfach gelöscht oder
unbrauchbar oder einfach nicht
gespeichert.
Andere Begegnungen
hingegen bleiben
präsent - bis ans Ende.
Und die ganz
außergewöhnlichen (so
wie diese hier) erzählt
man immer wieder, und
sie werden noch
schöner und toller als
sie sowieso schon sind:
sie wachsen. Das
erinnert ein wenig an
Jägerlatein, wo das alte
lahmende Wildschein in
der Ferne zu einem
wilden angreifenden
Riesenkeiler wird.
Wobei ich sagen muss,
Gesichtswinkel die
eigentliche
Geiergeschichte, die
einfach wahr ist, weil
sie geschehen ist. Und
da das Thema schon
hinreißend ist, muss die
Geschichte darüber
schon eine besondere
Würze bekommen.
Personen auf Seite a)
zwei Mann, sozusagen
bereits Freunde,
zwischen ihnen ein
Vogelbauer (-käfig) mit
zwei Wellensittichen,
der eine blauweiß, der
andere grüngelb, einer
männlich und eine(r)
weiblich (die so
genannten Geier), aber
das tut nichts zur
Sache.
Personen auf Seite b)
ein Mann, sozusagen
an dieser Stelle noch
133
dass diese unsere
Geschichte sich genau
so zugetragen hat, wie
ich sie hier nun erzähle:
Vorspann:
Es war Oktober des
Jahres 1978, und es
war eine Woche, die es
so richtig in sich hatte.
Lange schon war
geplant, dass in dieser
Woche (am 12. Oktober
- warum gerade an
diesem Datum, zumal
mitten in der Woche,
weiß heute niemand
mehr zu erklären) das
5jährige Bestehen der
Walter h.c. Meier
Pumpe gefeiert werden
sollte. Dazu waren ca.
50 Leute eingeladen,
u.a. Ulf Poseé (WDR II),
Harry Owens
(Veranstalter), Bernd
Drescher (heute Radio
Essen-Chef), jochen
ohne Freund, dafür
aber neben, vor oder
hinter ihm zwei Hunde,
beide groß, aber der
eine kleiner, somit der
andere größer als der
eine, der auch wieder
der andere sein könnte.
Das Sein so betrachtet,
könnte verwirrend sein,
aber diese Geschichte
wird die Lösung
bringen.
Vorspann:
Es war Oktober des
Jahres 1977 oder
besser 1978 (1979 hat
Castro nämlich zum
Dr.med. promoviert).
(Im Herbst dieses
Jahres 2003 haben wir
also Silberjubiläum.) Es
war Freitag. Es begann
somit ein Wochenende.
Meine Frau (Elke) war
mit unseren beiden
Kindern (Knaben) und
134
Kruiper (Galerie
Heimershoff), Erwin
Weiß
(Ruhrgebietsbarde),
Theo Windges (Künstler
u. Grafiker aus Krefeld)
und jede Menge andere
interessante Menschen
aus dem Dunstkreis der
Pumpe. Als wir unseren
Hauswirt von unserem
Vorhaben unterrichtete
n, wurden wir von ihm
schriftlich auf die
statischen Probleme
aufmerksam gemacht,
die durch die
körperliche Belastung
von 50 Menschen auf
die Holzbalken des ca.
100 Jahre alten Hauses
zukommen würden und wir beim Tanzen
nicht durch
gleichmäßige
Bewegungen das ganze
Bauwerk in
Schwingungen
Sir Henry, unserem
Hund (einem Bassett)
in die Herbstferien nach
Sylt gestartet, um
meinen dort
urlaubenden Eltern eine
Woche angenehmste
Unterhaltung zu bieten.
Sie fuhren in unserem
damals gerade 10
Jahre alt gewordenen
MB 280 SE Cabrio
(dunkelgruen, 7. Hand)
und sind auch
angekommen.
Mich ließ man allein,
weil ich schon einige
Jahre selbständig war,
was mein Verhalten
und meinen Beruf
anbetrifft. Dieser war
von Grund auf sehr
medizinisch, ich
praktizierte in 3.
Generation an gleichem
Ort in der Frintroperstr.
42 in Essen- Borbeck.
135
versetzen sollten und
damit zu einem Einsturz
bringen würden - und
wir die Vrantwortung
und...und...und.
Dann starb am
Wochenende vor dieser
geplanten Feier Helgas
Opa - ein großer
Verlust. Was tun:
Trauern oder feiern?
Denn Trauern und
Feiern: geht das? Nach
einer langen
Familiensitzung
entschieden wir uns für
Beides; es wäre nicht in
Opas Sinne gewesen,
dieses Fest zu
verschieben. Es wurde
also donnerstags bis in
den Morgen gefeiert,
am Freitag Morgen
ging´s dann quasi im
Anschluss zur Arbeit.
Von dort holte mich
Helga dann per Auto zu
Opas Beerdigung ab.
Seit 3 Jahren hatte ich
einen Partner und
schickte deshalb
meinen Vater öfter in
Urlaub. Da ich an
gleicher Stelle auch
mein bisheriges Leben
verbracht hatte, waren
mit mir auch einige
Typen
herangewachsen, die
diesem kleinen Areal in
dieser Welt eine
besondere Note
verliehen. Dass dazu
auch mindestens eine
Kneipe gehört, gehört
sich so und wäre ohne
diese auch kaum
interessant oder
erwähnenswert.
Also es war Freitag,
das Wochenende
drohte, es war
„sturmfrei". Den ganzen
Tag über hatte ich
nichts Besseres zu tun,
136
Unterwegs zum
Friedhof zog ich die
mitgebrachten
Trauersachen an. Das
ging ganz gut - bis ich
beim Schuhanziehen
bemerkte, dass ich 2
rechte Schuhe anhatte.
Es sah aus, als könnte
ich nur linksherum
laufen. Wenn wir auf die
Schuhe guckten, dann
mussten wir - trotz
dieses traurigen
Anlasses - lachen, bis
die Tränen kamen. Also
schnell einen Umweg
über zuhause, einen
Schuh ausgetauscht
und ab zum Friedhof,
wo wir in gebührender
Form von Opa
Abschied nahmen.
Im Nachhinein sieht
man dann, wie nah
Glück und Trauer,
Lachen und Weinen,
als nachzudenken, wie
man denn wohl dieses
Wochenende
angenehm zerlegen
könnte. Nichts ist
deshalb nahe liegender
als einen guten Freund
auf die Autobahn zu
locken, um einem
behilflich zu sein.
Dieser Freund
(irgendeiner hat mal
begonnen ihn Castro zu
nennen) bastelte in
Würzburg in der
Anatomie an seiner
Doktorarbeit. Sonst
begeistert über jeden
Anruf und jede Untat,
war er an diesem Tag
eher kleinlaut, was sich
bald erklärte, weil
nämlich Herr Professor
mit dem Finger über
das Okular des
Mikroskops gewischt
hatte und mit grauen
Spuren an den Fingern
137
Loslasen und Neies
Greifen zusammen
liegen, denn genau an
diesem Tage - oder
besser in der Nacht,
nimmt auch die
folgende Geschichte
ihren Lauf.
Wenn man dann noch
bedenkt, dass dieser
Tag ein Freitag ist, und
der auch noch auf einen
dreizehnten (13.)
fällt, dann ist das
zumindest eine
Bemerkung wert, denn
nicht alles, was an so
einem sogenannten
„schwarzen"
Tag geschieht, ist
negativ. Manches stellt
sich im Nachhinein als
Positivum dar.
Aber genug der Vorrede
- kommen wir nun zu
den knallharten facts:
meckerte, Herr Klehn,
da haben sie wohl
länger nicht dran
gearbeitet. Dieser gute
Freund war dadurch
einfach eingeschüchtert
und bedurfte weiterer
Drohungen. Diese
bestanden in der
Bemerkung, unsere
Freundschaft gerät in
Gefahr, wenn Du nicht
sofort ins Auto steigst
und die 350 km hinter
dich bringst. Er war
also pünktlich vor Ort.
Wir begrüßten uns
herzlich. Wir waren
beide sicher, dass
unser Wochenende
außergewöhnlich
wurde, weil das immer
so war, so waren wir
eben sicher.
Nach einem
unbedeutenden
Abendimbiss steuerten
138
Hauptspann:
Es ist eine dieser
ungemütlichen
verdammt schwarzen
Nächte. Die Sichel des
Mondes streift, von
dunklen Wolken
verdeckt, den
Sternenhimmel und nur
manchmal fällt ein
leichter Lichtstreifen auf
die Frintroper Strasse in
Essen, wo jetzt um 1
Uhr nachts freiwillig
niemand mehr zu sehen
ist. Ab und zu huscht
ein Auto vorbei, sonst
hört man nur das
Pfeifen des Windes an
den Hausecken und in
den Bäumen. Ich
bekomme das alles
hautnah mit, weil ich mit
meinen Hunden noch
einmal Gassi um den
Häuserblock gehe –
dick eingemummelt und
in tiefer Vorfreude auf
wir gegen 20.00 meine
Sauna im Keller meines
Arzthauses an, die
freitags immer für
Freunde geöffnet war.
Dass diese kamen, war
auch sicher. Wie immer
war auch für mich ein
bildschönes Mädchen
dabei, das aber nur mit
vorgehaltener Hand
meine Schwüre der
Bewunderung einatmen
konnte. Der
Saunaabend verlief
ohne Komplikationen
und schloss gegen
23.00. Man
verabschiedete sich.
Castro und ich
durchschritten mit
leichtem Handtuch in
tief schwarzer Nacht
unseren Garten, um
unser Wohnhaus zu
finden. Dies gelang uns
ungebrochenen Mutes.
139
mein warmes Bett
zuhause. Die Hunde das sind Boris, der
Schäferhund und
Schnüffel, eine original
Tierheim-Senfhündin
(da hat jeder seinen
Senf beigegeben und
eine Bestimmung der
Rasse ist dadurch
unmöglich geworden) –
sehen auch so aus, als
hätten sie keinen Bock
mehr und ziehen gen
Heimat, wo ihre
kuscheligen Körbchen
auf sie warten.
Wir haben unseren
Rundgang fast beendet
und stehen vor der
eisernen Hoftür, die
immer so schön
quietscht und allen
anzeigt, dass sich
jemand daran zu
schaffen macht, als ein
ätzendes Spitzgebell
Hauptspann:
Nach Betreten meiner
Wohnung drohte uns
einfältige Langeweile
zu berühren. Aber das
war nicht von langer
Dauer. Der Blick auf die
Uhr überzeugte uns,
dass die Zeit für noch
das ein oder andere
Hopfengedeck
angemessen sei. Also
bestiegen wir unsere
Kleider und fassten in
der Küche den Plan,
das Haus wieder zu
verlassen und die eine
von den vielen netten
Kneipen anzusteuern.
Aber nun dauerten uns
die beiden Geier auf
dem Tisch, für deren
Wohlergehen meine
Frau vor der Abreise
inständig gebeten
hatte: "pass bitte schön
auf m e i n e Tierchen
auf!" Wo könnte uns
140
durch die Nacht gellt.
Sofort rasen die beiden
Hunde laut giftend los
und hätten mich
mitgeschleift, wenn ich
nicht in letzter Sekunde
die Hoftür zu fassen
bekommen hätte. Mein
Arm ist ausgekugelt,
beide Leinen fast
gerissen, die Hunde
kläffen, in den ersten
Fenstern geh´n die
Lichter an – ich bin
hellauf begeistert und
zunächst darauf
bedacht, die Hunde zu
beruhigen. Das gelingt
mir nicht, denn das
Fremdgebell kommt
näher.
Jetzt kann ich auch
langsam den Ursprung
ausmachen: es ist gar
kein Hund. Es nähern
sich 2 Gestalten, von
denen einer die
solches besser
gelingen als auf einem
späten Ausflug in die
„kleine Welt". Wir
hatten es ja nicht weit,
husch über die Straße,
und schon waren wir
am Ziel unseres
Begehrens.
Diese Kneipe, das
„Schönebecker Eck",
Frintroperstr. 25, ist ein
Gasthaus mit etwa 100
Jahre Geschichte, das
ist im Ruhrgebiet schon
sehr viel. Der Baustil
verrät das Alter, damals
wurde noch an den
Außenwänden mit sehr
viel Stuck gearbeitet,
die ganze Straße muss
einmal so bebaut
gewesen sein. Der
Krieg hat vieles
zerrissen, nur einige
wenige Kleinode haben
ihn überstanden. Auch
141
wunderbare Gabe
besitzt, seiner Kehle
diese ätzenden Laute
entspringen lassen zu
können. Diese zwei
Gestalten – gestandene
Mannsbilder - tragen
zwischen sich ein
großes Gestell und
kommen langsam und
gezielt und
unaufhaltsam in meine
Richtung, wobei sie
versuchen, die gesamte
Bürgersteigbreite
auszunutzen.
Ich hab keinen Bock auf
Diskussion, auf
Theater, auf weiteres
Hundegekläff und sehe
zu, dass ich
schnellstens den
Hauseingang erreiche:
ich sammle die Hunde
ein, habe den Hinterhof
überquert und stecke
gerade den Schlüssel
mein Eltern- und
gleichzeitig
Großelternhaus hat
einmal so ausgesehen.
Was der Krieg damals
nicht geschafft hat, hat
dann die Bauwut der
Städte in den späten
60-ger Jahren
umgepflügt, weil doch
die Straße zu schmal
sei. Nun, die kommt
auch heute noch mit
der alten Breite aus, so
dass ich auch im
Vollrausch nicht nach
neuen Maßstäben
kramen muss, wenn ich
sie überqueren will oder
muss.
Die Eingangstür auf der
Vorderseite war bereits
geschlossen, durch die
Rollladen konnte man
noch Licht erspähen, so
dass unser Vorhaben
nicht abgebrochen
142
in´s Schloss – da hör
ich die quietschende
Hoftür aufgeh´n: die
beiden Gestalten
verfolgen mich, sie
kommen hinter mir her!
Ich schließe die
Haustüre auf und
versuche, die sich
sträubenden Hunde in
den Hausflur zu ziehen.
Die wollen natürlich
wissen, wer oder was
da in ihren Bereich
einzudringen versucht
und ziehen in die
andere Richtung – es
ist zum Mäusemelken.
Ich zerre, ich ziehe, ich
fluche, ich verfluche, ich
hab´s fast geschafft, will
die Türe schnell
zuschlagen – da setzt
jemand seinen
Schuhfuss in die Tür.
Ich drück von innen,
werden musste. Ich
kannte ja die Seitentür,
die auch schon sonst
einmal eher dem
Verlassen der Kneipe
gedient hatte. Die war
nun zu. Klopfen brachte
nichts, denn im
Schankraum, den mein
Freund und
Kegelbruder Freddy
besorgte, war es wohl
so laut, dass unser
Geräusch eher
unterging. Guter Rat ist
teuer. Aber manchmal
hilft der Zufall. Dieser
öffnete dann auch nach
einer Weile, die dem
Wartenden immer
länger erscheint, als sie
ist, in Form eines mir
bis dato nicht
bekannten, kleinen
Mannes. Dieser kleine
Mann war nicht sehr
groß, aber trug einen
Vollrauschebart, der
143
der/die anderen von
draußen. Ich guck
durch den kleinen noch
offenen Türspalt und
säusele in der mir
eigenen verbindlichen
Art: „Hey Chef, watt is
los? Was soll das
Theater? Soll ich die
Hunde wieder
rauslassen? Geht nach
Hause, Mutti wartet
bestimmt schon auf
Euch!“ Aber der Chef
will nicht geh´n. Er sagt,
nein er nuschelt durch
den Türspalt und wedelt
dabei mit seiner Fahne:
„Mutti ist weggefahren.
Wir sind ganz alleine.
Ey Mann, Freund,
Bruder: lass uns rein.“
„Wie rein: zu wem wollt
ihr denn?“ „Wir wollen
zu Freddy.“ (Dazu muss
ich erklären: wir
wohnen über einer
Kneipe. Und der Wirt
eben angraute. Er war
fast sehr bekleidet und
war von zwei Hunden
umgeben, die uns ob
unseres
Erscheinungsbildes
genauso ungläubig
aber umso
eindringlicher beäugten
wie er, da sie gewohnt
waren, ihr Haus
ungestört durch dieses
Portal zu verlassen, wie
auch ich es gewohnt
war, dass diese Tür nur
mir zu unzeitiger
Stunde mit Freuden
geöffnet wurde. Das
war wohl heute mal
etwas anders. Den
gerechten Sinn in der
Überzeugung, dass wir
alle rechtens handelten,
ging keiner dem
anderen aus dem Weg.
Bevor Fäuste im
Dunkeln
aufeinanderprallen, ist
144
dieser Gaststätte heißt
tatsächlich Freddy.)
Also vielleicht Freunde
von Freddy – ich
versuche also, mein
Gesicht zu einem etwas
freundlicheren
Ausdruck zu verzerren
und öffne den Spalt ein
wenig mehr, um zu
sehen, wen ich nun
tatsächlich vor mir
habe: 2 Herren
gesetzteren Alters, der
eine schon etwas
angegraut mit hellem
Vollbart, der andere
schwarzhaarig, beide
gut beleibt, beide
Brillenträger, beide gut
gekleidet – scheinbar
keine Penner.
Besonderes
Kennzeichnen: der
Grauhaarige hat einen
Vogelkäfig in der Hand,
in dem zwei
Wellensittiche - auf den
es guter Brauch, der
Dialektik freien Lauf zu
lassen. So auch nun.
Viele Vergleiche und
Beteuerungen wurden
gegenseitig auf den
Weg gelassen, aber
nichts überzeugte.
Rhetorische als auch
physische Übermacht
drohten immer wieder
den Weg alles
Irdischen zu gehen. Als
dann gar nichts half,
den Eintritt zu erlangen,
musste die verbale
Keule angesetzt
werden. Diese saß!
„Wenn Sie nicht
Besitzer eines
Eigenheims sind
sondern nur Mieter
einer billigen Wohnung
über einer Kneipe, sind
Sie für mich kein
Gesprächspartner!" Die
Tür war auf, wir
betraten erfreut den
145
Boden gekauert – mich
und meine beiden
Hunde im Auge haben:
hoffentlich greifen die
nicht an...
Zunächst versuche ich
den beiden zu erklären,
dass der Eingang zur
Kneipe vorne an der
Straßenfront zu finden
und dies hier hinten nur
der Eingang für
Hausbewohner ist. Nun
folgt immer Rede und
Gegenrede: Ja, aber
vorne ist schon die
Rollade runter gelassen
und der Eingang zum
Gastraum dadurch
blockiert. - Dann ist die
Kneipe eben schon
geschlossen. - Nein, wir
haben doch noch Licht
gesehen durch eine
Ritze in der Rollade. –
Dann klopft dort an –
Haben wir schon, aber
Kneipraum, der uns mit
seinen typischen
Gerüchen und
Geräuschen auch
gleich in Besitz nahm.
Wundern tat sich das
mir im Wesentlichen
bekannte
Dauerpublikum nur
etwas über meine
Begleitung, nicht den
Freund Castro, der
nicht gerade groß ist –
den kannte man schon
aus derben Vortragen -,
nein über die Geier und
ihr Haus aus
goldähnlichem
Drahtgeflecht, rund wie
der Erdball, und da, wo
sonst die Längs- und
Breitengrade sind,
waren hier die
goldähnlichen Drähte.
Auch ein
Wasserbecken im
Vogelbauer war noch
halb gefüllt und die
146
der Wirt reagiert nicht –
Der will Euch vielleicht
gar nicht sehen. –
Doch, wenn er wüsste,
das wir hier sind, würde
er sich tierisch freuen
und sofort aufmachen.
Der hört uns sicher
nicht: lassen Sie uns
doch rein. – Nein (sag
ich jetzt mit fester
Stimme und versuche
zu erklären warum:)
Angenommen, wir
würden uns kennen und
ich will Sie mitten in der
Nacht besuchen und
klingle bei Ihnen. Sie
wollen mich aber nicht
sehen und machen also
auch nicht auf und
stellen sich
Vonzuhauseabwesend.
Da ich aber annehme,
dass Sie doch zu
Hause sind und das
Klingeln vielleicht nicht
gehört haben, klingele
beiden Spiegel waren
auch noch klar, sie
finden im Nachspann
noch ihre Bedeutung
und Erklärung.
Schnell erreichten uns
die ersten
Hopfenkaltschalen der
Marke Stauder, die
dem Saunanachbrand
den Löschansatz
lieferten. Die Geier
waren still, denn sie
waren ja bei mir, dem
Auftrag meiner Frau
Elke folgend. Sie
standen nebst
Behausung auf einem
Tisch und äugten dem
unbekannten Spiel.
Die Gedanken wollten
mich nicht verlassen,
dass meine kaum
verflossenen Worte
wohl einem noch
Fremden wehgetan
147
ich bei Ihrem Nachbarn,
der mir aufmacht und
mich ins Haus lässt. Da
steh ich dann vor Ihrer
Wohnungstür und
randaliere dort
weiter...Das fänden Sie
doch sicherlich auch
nicht so super? Sagt
der Graumann trocken:
„kann mir nicht
passieren - ich wohn im
Einfamilienhaus!"
Das sitzt - ich bekomme
einen ganz ganz dicken
Hals: ich trete auf den
Schuhfuss, der in der
Tür steckt, der wird
auch schnell
zurückgezogen, ich
klapp die Tür zu und
schließ ab, geh
wutschnaubend nach
oben, weck meine
Helga und erzähle ihr
diese unglaubliche
Geschichte, denn wenn
haben könnten, als sich
schon bald die Tür
öffnete, und eben
dieser Mann die Kneipe
betrat. Da dieser Schritt
wohl zu seinen
Gewohnheiten gehörte,
musste dieser
Tatbestand erst einmal
auf Richtigkeit überprüft
werden. Zudem war
auch sein
Stimmungsbild
abzutasten. Er hätte ja,
wie schon angedeutet,
etwas stinkig sein
können.
In solchen Situationen
ist immer wieder die
Spende eines
Gemäßes sehr hilfreich.
Schauen, wie es
angenommen wird.
Wird dann noch der
Zutrunk bei nicht
Ablehnen des
Gemäßes auch über
148
ich die jetzt nicht sofort
losgeworden wäre,
hätte ich die ganze
Nacht nicht geschlafen
(und das Einschlafen
dauerte auch so noch
lange genug...)
Nachspann:
Der nächste Morgen
kommt und der Tag
geht und ein schöner
Abend folgt, an dessen
Ende wir uns
spontan entscheiden,
noch ein Absackerchen
zu uns zu nehmen und
den Abend in der
Kneipe unter uns mit
einem schönen
Gläschen
Gerstenkaltschale zu
beschließen - und wir
begeben uns 30 Stufen
hinunter in die
Gasträume unserer
Hauskneipe (wer kann
so was schon
diagonalste Entfernung
erwidert, ist man schon
etwas sicher. Aber
eben noch nicht ganz.
Erst ein 2. Gemäß wird
richtungweisend. Und
diesen wahnsinnigen
Versuch haben wir
unternommen und
durften nun den Abend
als gelungen erkennen.
Nun näherten wir uns,
wir vormaligen
Kontrahenten und
outeten uns
gegenseitig. Dieses
Procedere war sehr
nachhaltig, da wir doch
noch nicht wissen
konnten, dass wir mit
diesem Akt den
Grundstein für eine
dauerhafte
Freundschaft gelegt
hatten. In diesem Punkt
sind nun beide Berichte
über das Erlebte und
das Nachherein völlig
149
vorweisen: eine ganze
Kneipe im Haus). Als
wir dort nun mit
unserem
Frischgezapften in der
Hand unsere Blicke
durch den gut gefüllten
Gastraum schweifen
lassen – da trifft mich
doch der Blitz: meine
Brille beschlägt, die
Hand mit dem gefüllten
Bierglas beginnt zu
beben. Ich trinke erst
mal schnell ein
Schlückchen ab, damit
nichts verkleckert, und
flüstere leise meiner
Frau in´s Ohr: „Du, da,
guck mal gleich – aber
ganz unauffällig - an die
Thekenecke dort hinten.
Ich glaub, das ist einer
derer von gestern Nacht
– Du weißt schon: der
Beller!“
Bevor meine Helga
unisonor. Dass die
Nacht damals noch
ihren weiteren Fortgang
hatte, wird jeder zu
glauben bereit sein, das
soll aber der
Nachspann berichten.
Nachspann:
Die Kneipe verließen
Castro, die Geier nebst
Käfig und ich gegen
4.00 in der Früh. Nur
die Straßenlaternen
gaben Licht, die Geier
haben kurzfristig tief
durchatmen können,
denn soviel Rauch
hatten sie noch nie
erlebt, wir hatten zu
Hause schon mal kurz
Besuch von Rauchern.
Nun, wer Hobbys hat,
der hat sie auch des
Nachts.
Eins meiner größten
Hobbys war
150
überhaupt gucken kann,
fühle ich die Augen des
„Fremden“ über mein
Anlitz gleiten – und ich
sehe Erstaunen über
sein bärtiges Gesicht
huschen. Er steht auf,
bahnt sich mit seinem
alles überragenden
Körper den Weg durch
die Kneipe und kommt
auf mich zu. „Hallo“,
sagt er „ist es möglich,
dass wir uns gestern
kennen gelernt haben?“
Kennen gelernt ist gut!!!
Ich antworte höflich „Ja,
gut möglich: es war
zwar dunkel, aber ich
glaub, das waren Sie an
der Hintertür“. „Dann
hätte ich da eine Frage,
die mein Herz quält und mit einer
entsprechenden
Antwort können Sie
vielleicht etwas
Helligkeit in meine
Freitagnacht meine
Freunde, die Bäcker, zu
besuchen, weil die
dann schon arbeiteten.
Manche freuten sich,
Jahre später haben sie
große Eisentore
fertigen lassen, um sich
gegen mein Hobby zur
Wehr zu setzen. Aber
damals freuten sie sich
eben noch.
Also gingen wir zu Ede,
eben an der gleichen
Straße, Nr. 47, in seine
Backstube. Ede nannte
sich schon damals
Großbäcker, weil seine
Nachbarn kleiner
waren, Backstube oder
Brötchen oder so. Wir
durften, weil wir eben
noch gerne gesehen
waren, auch helfen. So
sahen wir bald so weiß
aus wie seine Gesellen,
die sich auch freuen
151
verdunkelte Seele
bringen: hatte ich
meinen Vogelkäfig noch
dabei?“ Nun, das kann
ich ja nun reinen
Gewissens bejahen –
doch diese eigentlich
doch positive Antwort
scheint ihn nicht so
recht zu befriedigen. Da
ich – durch mein langes
Leben psychologisch
geschult – merke, dass
diesen Mann etwas
existenzielles bedrückt,
frage ich vorsichtig
nach: „Warum fragen
Sie?“ (Ich hätte
Psychiater werden
sollen). Ja, und dann
hören wir eine
Geschichte, wie wir
selten eine gehört
haben (und das irre ist:
sie ist wahr): Seine
Frau ist in Urlaub
gefahren und hat ihm
aufgetragen, sich
konnten, vor allem,
wenn wir noch etwas
Trinkbares bei uns
hatten. Wir hatten
meistens, man kennt ja
die Bedürfnisse des
anderen, das sind
besondere Fähigkeiten
bei Arbeitsmedizinern.
Also kneteten wir im
Teich und gaben die
Portionen auf die
Waage. Die Geier im
Bauer standen auf dem
Boden. Sie hatten die
Bemehlung, die uns
ebenso zufällig traf, wie
sie, nicht so gerne. Also
nutzten sie ihre Flügel,
um den Ballast
abzuschütteln.
Irgendwann maulte
dann ein Geselle: „Boh,
wenn morgen ein
Kunde Vogelfedern im
Brötchen findet, dann
wird et im Umfeld ganz
schön stinken." Was
152
während ihrer
Abwesenheit um die
beiden Wellensittiche
zu kümmern. Das hat er
sehr ernst genommen
und hat diese beiden
Vögelchen mit auf seine
Kneip(en)kur
genommen, auf dass
er sie immer im Auge
habe. Nur – irgendwo,
irgendwie und
irgendwann in der
Nacht sind die Vögel
wohl flügge geworden
und abhanden
gekommen, denn als er
des morgens (immerhin
im eigenen Bett)
erwacht, sind die Vögel
nicht mehr da. Und nun
ist er auf der Suche
nach ihnen und dem
Ort, wo sie zuletzt
gesichtet wurden, um
ihren Verbleib vielleicht
doch noch festzustellen
und die beiden zurück
blieb mir anders übrig,
die Stellung zu halten,
als Castro zu bitten, die
Geier aus dem
Gefechtsbereich zu
befördern. Ich dachte,
er hätte den kurzen
Weg nach Hause nicht
gescheut, aber er nahm
den noch kürzeren und
stellte sie vor den
Eingang des Geschäfts
von Ede, also vor das
Haus.
Nach Abschluss
unserer
Hauptarbeitszeit in der
Backstube, wählten wir
den Heimweg. Im
Ehebett angekommen,
bemerkten wir, dass wir
die Geier vergessen
hatten. Noch mal in die
Hosen zu steigen, war
zu mühsam und auch
nicht gerade produktiv,
also nahmen wir uns
153
zu bekommen, da ihn
ansonsten der geballte
Zorn seiner Gattin
treffen wird (und der
muss wohl ganz
furchtbar sein).
Tja, der Mann ist zwar
nicht am Boden, aber
wir nehmen seine
Sorgen sehr ernst - wir
spaßen und scherzen,
erzählen uns
Tiergeschichten (er
über seinen Basset und
wir über unsere
Hunde) und er ist ist
gar nicht so übel wie
auf den ersten Blick, wir
trinken das eine und
das andere zusammen
und erzählen und
lernen uns kennen und
sind uns irgendwann
auch gar nicht mehr
unsympathisch – und
da er sich als Arzt outet
und in unserer direkten
vorab den Schlaf.
Castro hat wohl ohne
innere Uhr geschlafen,
denn er sprang schon
kurz nach
Sonnenaufgang, gegen
11.30 aus den Federn,
um nach dem
Federvieh Ausschau zu
halten. Ich habe mich
noch mal auf die
andere Seite gedreht,
wurde dann aber auch
wach, als er nach 5
Stunden noch nicht
wieder eingetroffen
war. Sollte es so sein,
dass die lieben
Tierchen weggeflogen
sein könnten oder gar
bösen Buben gefolgt
sein könnten. Die
Tiefsinnigkeit war nicht
aus zu malen, die mich
ergriff. (Phase 1)
Irgendwann kam Castro
154
Nachbarschaft
praktiziert und wir als
"Tutrocken" (relativ
frisch
Zugezogene) doch
noch einen in der
Gegend und auch sonst
und na ja: wir wünschen
ihm viel Glück bei der
weiteren Suche nach
seinen Vögeln und
verabschieden uns
gegen Morgen mit den
gar schon fast
freundschaftlich zu
nennenden Worten:
„Man sieht sich“.
Und wie das Leben
manchmal so spielt – 2
Wochen später bin ich
schlecht: mich zieht es
im Kreuz und damit in
die Praxisräume schräg
gegenüber zu diesem
Doktor, und er erkennt
mich und ich ihn - und
nach der Untersuchung
zurück, sehr traurig,
denn alle Bekannten,
die er an diesem Tag
im Umkreis von
Sittichflugstunden
aufgesucht hatte,
waren sprachlos und
entschlossen, durch
heftiges Kundtun des
Ereignisses für seine
verbale Verbreitung zu
sorgen. Bevor mich
Phase 2 erfasste,
haben wir den
Samstagabend
gediegen begangen.
Die Trauer über den
Verlust kam aber noch
nicht zum richtigen
Höhepunkt. Das gelang
Castro erst mit seinem
Abschied am
Sonntagmittag. In der
nun erlebten
Einsamkeit beschlichen
mich Endsinne
(eigentliche Phase 2).
Frauen können in ihrem
155
frage ich ihn natürlich
nach dem Fortgang der
Geschichte mit seinen
Vögeln. Und er erzählt:
Nachdem er wusste,
dass er die Vögel in der
Kneipe noch hatte (was
ihm auch einige Gäste
bestätigten), führt ihn
sein Weg zu Ede, dem
begnadeten
Krustenbrotbäcker auf
der nächsten Ecke, wo
er wohl die letzte
Station in besagter
Nacht eingelegt hatte,
um dort beim Backen
zu helfen (?) und das
eine oder andere
Bierchen zu leeren. Und
hier hat er, um Federn
in den Brötchen zu
vermeiden (was nach
Ansicht von Ede die
Kundschaft zu falschen
Schlüssen bringen
könnte) und die Nacht
mangelnden
Verständnis für
Männertaten sehr
grausam sein. Sie
verabscheuen den
Krieg, aber sie
entfachen ihn. Das Hirn
fetzt, es holt aus, es
stößt an die Hülle, die
Augen werden dadurch
wackelig, auch schon
mal feucht. Aber Humor
ist in solchen Fällen
eher unsinnig,
zumindest wenig
hilfreich. Ach ja, Hilfe
findet man bei der
Telefonseelsorge in
Form der
Schwiegermutter. Das
ist, wenn sie richtig ist,
und das war sie, die
beste Lösung. Weil sie
einen besser kennt als
die eigene Tochter und
auch viel einsichtiger ist
als dieselbe, erwartet
man eben verständiges
156
lau war, den
Vogelbauer samt Inhalt
nach draußen auf den
Bürgersteig vor der
Bäckerei gestellt - und
ihn dort vergessen. Am
nächsten Morgen (oder
war es gar Mittag) war
der Käfig weg.
Trotzdem die Straße
sehr belebt ist, fanden
sich keine Zeugen, die
etwas über den
Verbleib berichten
konnten. Was tun? Der
Tag der Rückkehr
seiner lieben Frau
näherte sich.
Tierheim, Polizei,
Feuerwehr: keine Geier
gefunden. Letzter
Rettungsversuch: eine
Suchanzeige in der
Zeitung. Nach
Durchgabe des
Anzeigentextes erfolgte
ein Rückruf der
Gehör. So war es dann
auch anfänglich. Ihr
guter Ratschlag, geh
doch zu Karstadt und
kauf zwei neue Geier,
reichte mir nicht, weil
ich doch wusste, für
diesen dämlichen Käfig,
ein Erbstück geringeren
Wertes meiner lieben
Großeltern, gab es
keinen Klon. Also blieb
mir keine andere Wahl,
Elke ein wenig den
Verlust zu beichten.
Was meine
Schwiegermutter zu der
Äußerung veranlasste:
„na bitte, wenn Du
lebensmüde bist!"
Nun saß ich so in
meinem Sessel, ganz
allein, Angst machte
mich nieder,
Angstschweiß benetzte
meine Glieder, bis auf
eins, auch das war
157
Anzeigenannehmerin,
ob er bei dem
durchgegebenen Text
bleiben wolle und ob
der wirklich so in
Ordnung wäre.
JAWOHL:
„2 Wellensittiche samt
Vogelbauer entflogen.
Sachdienliche Hinweise
an Telefon-Nr.
Belohnung".
Am übernächsten Tag
erscheint die Anzeige,
und gegen 11:00 wird
ihm ein Telefonat
durchgestellt mit dem
Hinweis: eine heiße
Spur im Vögelfall. Am
anderen Ende der
Leitung wird ihm zu
verstehen gegeben,
dass man dort im
Besitze eines
Vogelbauers mit 2
Vögeln wäre: er solle
Vögel und Käfig
weg.
Nun gut, ich rief zu mir,
sei ein Mann und hör
auf mit dem Gezeter
und gehe in den Krieg.
Ich griff zum Hörer,
wählte die Vorwahl,
verwählte mich nicht,
wählte die eigentliche
Anschlussnummer.
Eine noch glückliche
Stimme entbot mir den
Gruß. Doch dann, nach
meinen ersten Worten
brach das Unwetter los.
Grausam, verächtlich,
Tierschinder, die Worte
überschlugen sich und
begruben mich. Ich
hörte nur noch Polizei,
Tierschutzverein,
Anzeige in der WAZ
(Phase 3). Ich war nach
dem Auflegen wie
erlöst und sogleich
gehorsam, die Polizei
158
beschreiben. Er
beschreibt die Vögel
(wie will man 2
Wellensittiche
beschreiben), aber zum
Bauer kann er
detaillierte Angaben
machen: der habe
mehrere Spiegel, da
seine Frau zum Luxus
neigen würde. Nun, das
käme hin und man
verabredet, dass der
„Finder" die Geier in die
Praxis bringt. Nach
einer halben Stunde
kommt die
Sprechstundenhilfe
hereingesaust und
flüstert ihm in´s Ohr: da
ist so ein Penner mit
einem Vogelbauer: wir
haben den sofort
in´s Untersuchungszim
mer 2 gesteckt, damit
den hier keiner sieht
und die anderen
Patienten nicht
hatte nichts gesehen,
der Tierschutzverein
fühlte sich auch kaum
zuständig. Es musste
Montag werden. Und es
ward. Zurück an
meinem Schreibtisch
ging ich meiner
Aufgabe nach und
behandelte meine
Patienten und auch die
von meinem Partner,
der auch die
Herbstferien genoss.
Also Ablenkung war
reichlich gegeben,
meine Damen (so
nannte ich meine
Helferinnen) waren
sehr lieb zu mir, denn
sie hatten schon am
Wochenende mein
Missgeschick
genüsslich eingesogen.
Die erste Pause ließ
mich den Hörer vom
Telefon abheben. „Hier
ist die
159
abgeschreckt werden.
Der Obdachlose erzählt
auf Nachfrage, er habe
den Vogelbauer im
Schlosspark gefunden,
wo er mit dem lebenden
Inhalt bei
Mondenschein auf einer
Bank gestanden hätten,
und aus Mitleid - und
weil die beiden so
alleine und er auch und
die Nacht so dunkel und
sie alle 3 doch dann
nicht mehr alleine...
habe er sie zu sich
genommen. Egal, ob
die Geschichte nun
stimmte oder nicht: die
Vögel waren wieder da.
20 DM wechselten den
Besitzer (und was sind
schon DM 20 gegen
einen lebenslänglichen
Bannstrahl einer
verbitterten Ehefrau),
der Tippelbruder wurde
Anzeigenannahme der
WAZ Essen", „hier ist –
ja hier ist", ich nannte
meinen Namen. Ich gab
die Anzeige auf: "Zwei
Sittiche nebst Käfig
Nähe Fliegenbusch (d.i.
ein
Verkehrsknotenpunkt
direkt nebenbei)
verloren.
Telfonnummer:…".
Danke, auf
Wiederhören. Das
geschah nach zwei
Minuten. Die
ungläubige WAZAngestellte wollte
meinen Text nicht
verstehen. Brauchte sie
doch auch nicht, sie
sollte ihn doch nur
drucken lassen.
Also am Dienstag stand
die Anzeige in der
Zeitung. Ich arbeitete
wieder sehr freundlich
160
über den Hintereingang
entsorgt und die Welt
hatte ihren Mittelpunkt
wiedergefunden und
kam wieder zur Ruhe.
Ja, das ist die ganze
Geschichte.
Geschrieben mit dem
Füllfederhalter der
Wahrheit: meiner
Wahrheit. Und ich lasse
diese meine Geschichte
auch von meiner Frau
Helga gegenlesen,
denn die war bei
einigen Aktionen ja
direkt dabei bzw. ist
stehenden Fußes
immer direkt informiert
worden über den
jeweiligen Stand der
Dinge.
Und als wir eben, wie
wir es nach dem Essen
eigentlich immer zu tun
pflegen, bei einem
und friedlich, im
Nacken immer noch
dieses komische Gefühl
(Phase 1-3), einige
nennen so was ein
schlechtes Gewissen.
Ich kannte das bisher
nicht, so glaubte ich
ihnen.
10.30. Meine Damen
stellten mir ein
Gespräch durch. „Hier
ist Herr Walpurgis, Sie
haben da eine Anzeige
in der Zeitung." Ich
kannte den Herrn
Walpurgis noch nicht,
war es doch ein sehr
schöner, zur Situation
fast passender Name,
so ein bisschen
Goethe, wie wohltuend
bei der Faust im
Nacken.
Unser Gespräch zog
sich etwas hin, denn er
161
Gläschen noch
zusammen sitzen und
die Geschehnisse des
Tages Revue passieren
lassen und ich erzähle,
dass ich an dieser
Geschichte sitze und
die jetzt zu Ende
schreiben will, da
kommen diese
Erinnerungen auch
noch einmal bei ihr
hoch. Und wir stellen
übereinstimmend fest,
dass aus dieser
Begebenheit, die nicht
gesteuert oder forciert
war von irgendeiner
Stelle (es sei denn von
ganz oben!) sich eine
tiefe Freundschaft und
Verbundenheit in einer
Art und Weise
entwickelt hat zwischen
beiden Familien,
übergegriffen hat auf
Eltern und Kinder, wie
es schöner nicht sein
wollte genau wissen,
wie die Tierchen
aussähen, auch den
Käfig ließ er sich exakt
beschreiben – bis hin
zu den beiden Spiegeln
– denn meine Frau
neige zum Luxus, tat
ich ihm vorfreudig kund.
Nachdem ich ihm seine
Wohnadresse
abgeschnüffelt hatte,
wusste ich, dass er in
einem
Obdachlosenheim in
der Nachbarschaft
wohnte, und auch, dass
diese Klientel bei
meinem Partner
versorgt wurde. Da die
meisten von ihnen
unter Bewährung
standen, wirkten meine
Vorwürfe Wunder. Die
Geier waren binnen 20
Minuten wohlbehalten
wieder bei mir. Sie
162
kann.
Beispiele:
• unsere Eltern (Jürgens
beide und Mutter
meine, jeweils 94 Jahre
alt) besuchen
zusammen ein Konzert
von mir.
• wir Väter gehen über
Jahre zusammen mit
unseren Kindern und
deren Freunden jeden
Freitag Squash spielen
• Sven (Sohn Dr.) und
Thomas (Sohn
meiniger) studieren
zusammen, firmieren
zusammen und gehen
nebenher
zusammenarbeiten
(und sind nicht schwul)
• und diese Liste lässt
sich beliebig fortsetzen.
Nein, diese Nacht
möchte ich nie missen
und sage Danke - auch
boten keine Zeichen
einer Belästigung und
waren auch nicht
exsicciert, denn Herr
Walpurgis – ein hoch
gewachsener, sehr
dünner Vertreter seines
Geschlechtes wie auch
sein Begleiter, das
glatte Gegenstück, ein
kleiner Dicker hatten
den Tierchen wohl
regelmäßig Körnchen
und andere Flüssigkeit
angeboten. Getreu dem
Wahlspruch: Vögeln
sollst Du stündlich
frisches Wasser geben.
Wir wurden mit einem
Zwanni (gebietsübliche
Bezeichnung für einen
Schein der 20,- DM
Güte) schnell
handelseinig, und sie
verabschiedeten sich
gebührend, hatte doch
ihr nächtlicher
163
an Castro, Jürgens
Zeugen und Helga,
meine Zeugin..
Ich sehe gerade: trotz
engerer Spalte (?) ist
meine Geschichte
immer noch kürzer aber Dr. Jürgen Remy
ist eben auch geübter
im Schreiben (Rezepte
und so). Ich will jetzt
auch nicht die Sache
mit der Q & Q zur
Sprache bringen, aber
schließen mit dem Satz:
Freundschaft ist doch
was Tolles.
Spaziergang und die
Lüge, sie hätten die
Tiere im Schlosspark
gefunden, einen
lohnenden Abschluss
ohne negativen
Nachgeschmack
gefunden.
Ich legte mein Haupt
auf meinen
Schreibtisch,
betrachtete den Käfig
nebst Inhalt und habe
laut für sehr lange
Minuten gelacht. Dann
griff ich zum Telefon
und erreichte meinen
Vater auf Sylt. Auf
meine Bemerkung
„Entwarnung" rasselte
es wieder
Unverständnis. Wenn
er mich zu fassen
kriegen könnte, wären
Handgreiflichkeiten
nicht von der Hand zu
weisen, denn meine
164
Frau hätte ihm drei
Tage seines Lebens
gestohlen.
Hier in Essen,
sozusagen zu Hause,
bei meinen alten und
besonders meinen
neuen Freunden wurde
das ganz anders
gesehen. Ja sogar so
nachhaltig, dass diese
Geschichte einfach
Innbegriff einer
Kontaktsuche und findung geworden ist.
Die Jahre haben der
Geschichte Glanz und
Glimmer verliehen.
Heute lachen und
witzeln alle Beteiligten
über das Erlebte.
Selbst Castro hat
damals seine
Promotion mit bestem
Erfolg durchstanden.
Und auch aus dem von
165
Elke angedrohten
Hausverbot ist dank
meiner hartnäckigen
Intervention nichts
geworden. (Was
geworden wäre, wenn
die Geschichte anders
ausgegangen wäre, ist
kaum zu sagen, sie
hätte wohlmöglich auch
die mir angedrohte
Scheidung umgesetzt).
Und Walter Westrupp
bringt die
Wahnsinnsgeschichte
in sein Buch, und ich in
meins, weil wir doch
unsere Versionen nur
abgleichen wollten.
Freundschaft ist doch
was Tolles.
166
Wehrdienst des W. Westrupps
Die Wege des Herrn sind unergründlich: er lässt
es zu, dass ich 1968 meinen Dienst für das Volk
antreten muss. Dreimal hatte meine Cola-Therapie
wunderbar angeschlagen: ich wurde wegen zu
hohen Blutdrucks zurückgestellt. Als ich diese
großen Mengen Cola nicht mehr sehen,
geschweige denn trinken kann, werde ich prompt
eingezogen. Fortan kämpfe ich nicht nur gegen die
Russen, ich kämpfe fortwährend um meine Bart,
muss laufend in die Gaskammer, werde getrietzt,
bekomme den Wochenendurlaub gestrichen. Ich
bin (k)ein guter, aber ein lu(i)stiger Soldat, der
immer wieder tollen Stress mit seinen
Vorgesetzten hat - verschlafen, Schuhe nicht
geputzt, Haare zu lang, patzige Antworten
gegeben, in die falsche Richtung geguckt, mit der
167
falschen Hand gegrüßt: die ganze Palette rauf und
runter eben. Mein einziges Plus ist meine
wunderbare Sopran-Stimme: ich brülle beim
Stubenappell - als Stubenältester bin ich per
Gesetz dazu verpflichtet - so laut meine Meldung,
dass die ganze Kaserne stramm steht.
Nach einem ½ Jahr Eingewöhnungs- und
Anpassungszeit werde ich aufgrund meiner
hervorragenden kämpferischen Veranlagungen in
die Kaserne Essen-Kray versetzt. Dort werde ich
nun ganz neu eingekleidet und bekomme (ich
gebe zu: nicht ganz gegen meinen Willen) neue
wunderbare Kleider - und alle diese schönen
Sachen sind irgendwie reichlich groß: der Helm
sitzt auf Augenhöhe, die Jackenärmel sind ca. 10
cm zu lang bzw. meine Arme zu kurz, der Mantel
erreicht Zeltdimensionen und schleift über den
Boden, und mein Beinkleid (das man wg. des
langen Mantels leider nicht mehr sehen kann)
wirkt wie eine Korkenzieherhose Marke
Volkschullehrer. Als ich damit zum ersten Mal
Torwache schieben darf und in Ausübung meiner
Pflicht heldenhaft den Kommandanten kontrolliere,
ist dieser so erfreut ob meines Outfits, dass er
mich stehenden Fußes zum Wachhabenden
beförderte und vom aktiven Wachdienst abzieht
(er murmelt dabei etwas von Schädigung des
Ansehens der Bundeswehr in der Öffentlichkeit?).
168
Als dann endlich irgendwann (nach entsprechend
lancierten Nachrichten) allgemein endlich bekannt
wird, dass ich ein echter Künstler und damit ein
echter Outsider, werde ich - auch dank meiner
Bekanntschaft mit den Schwimmern von Essen
06, die alle guten Jobs wie Waffenkammer,
Schreibstube etc. innehaben - mit der Maßgabe,
meinen mittlerweile auf Schnauzbart
geschrumpften Bart auf das wirklich
"Notwendigste" zu kürzen, als Ordonanz in´s
Kasino versetzt, wo ich fortan unter Einsatz aller
meiner damals schon vorhandenen
handwerklichen und intellektuellen Fähigkeiten
Kaffee koche, Billard spiele, Küchenschaben unter
den Kartoffeln verstecke und nach Feierabend mit
meinem Oberfeld den „Goldenen Anker“ in
Duisburg besuche. Der durchaus gewollte positive
Effekt der Versetzung: ich bin nahe der Heimat,
kann aufgrund des Schichtdienstes wieder als
Disc-Jockey (im Bistro) arbeiten und bin zurück in
der Szene. Ich habe ein warmes Zimmer, ich habe
frei Essen und trinken, ich bekomme einen
zugegeben kargen Sold, aber kann mir nebenher
einiges dazuverdienen: es geht mir gut. 1969
werde ich nicht unehrenhaft als Stabssoldat
entlassen.
Damit ist das Kapitel "Dienst für den Staat" aber
nicht abgeschlossen. Als Begründer der
169
"Jesuspilz"-Bewegung stelle ich den Antrag auf
Kriegsdienstverweigerung: und da geht es erst mal
richtig los
170
Kriegsdienstverweigerung des W. Westrupps
Den harten Dienst am/für´s Vaterland habe ich
heldenhaft und ohne nennenswerte Verletzungen
von 1968 bis 1969 abgeleistet und überstanden nur das war ja quasi gewissermaßen Späßchen in
Friedenszeiten. Mir wird mit etwas Abstand dann
auch klar und deutlich: noch mal willst Du so
etwas nicht mitmachen - vor allem nicht, wenn´s
mal richtig kracht....Was soll ich denn auch bei
einem Ernstfall machen, außer meine Haut und
die der mir Anvertrauten zu retten.
Bei meiner äußerst ehrenhaften Entlassung aus
dem Dienst für unser Volk habe ich ein Schreiben
erhalten, in dem mir unter dem Blausiegel der
Verschwiegenheit mitgeteilt wird, dass ich mich im
Ernstfall an einer Brücke (welche sage ich nicht,
das ist Geheimsache - und ich bin entsprechend
vergattert) einfinden soll, um diese zu verteidigen!
Ich habe aber doch nur kellnern und Billiard
spielen gelernt! Daher nehme ich an, dass ich dort
die aktiven Kämpfer mit Getränken versorgen
sollte - im Granatenhagel einen Cai Pirinja
servieren - und vielleicht ein bisschen Ukulele
spiele im Bombenhagel. Aber wer hört mir da
zu? Neee, das kann es doch nicht sein.
171
Ich beschließe daher nach schweren inneren
K(r)ämpfen, den dornenreichen und langen Weg
eines Kriegsdienstverweigerungsverfahrens zu
beschreiten.
Ich bereite mich mit Freunden/innen, Insidern,
Rechtsanwälten und anderen Fachleuten aus
unserem Dunstkreis auf dieses Verfahren vor und
formuliere meinen Antrag nach bestem Gewissen
und stelle ihn an einem verregneten Tag Ende
September.1969.
Flugs nach 2 Monaten werde ich aufgefordert,
diese meine Gründe (in Ruhe) noch einmal
ausführlich und schriftlich so zu fixieren
(Werdegang, berufliche (?) Pläne, Lebenslauf,
Hobbies, gemeinnützige Tätigkeiten etc.) , auf
dass die Jury bei ihrer Entscheidung meine
gesamte Persönlichkeit und mein sittliches
Verhalten entsprechend zu berücksichtigen in der
Lage sein würde. Zudem soll ich 2 Zeugen mit
Postleitzahl (also wohl festem Wohnsitz)
aufbieten, die meinen drängenden Wusch und die
innere Qual, die Ursache dieses Verlangens nach
Verweigerung war, bestätigen können.
Die ersten Punkte erfülle ich schnell - dafür gibt´s
ja genügend Vorlagen (auch wenn´s damals das
Internet noch nicht gibt). Jetzt noch 2 Zeugen. Da
ist zunächst unsere langjährige
172
Weggefährtin Bärbel Saß, die mir schriftlich
bestätigt, dass ich schon immer (also solange sie
mich kennt) gegen Krieg bin. Das untermauert sie
mit Zitaten und Aussprüchen, die ich während
verschiedener Gelegenheiten von mit gegeben
habe:
• auf einem Sockel am Burgplatz sitzend und ein
Soldat in Uniform vorbeigeht:das sieht nicht gut
aus - sowas möchte ich nie mehr tragen.
• auf einer Fete bei Kuno, als sich mir ein
Mädchen mit den Worten verweigert, ich sollte mal
an die Soldaten in Vietnam denken: die könnten
auch nicht immer, wenn sie wollten: Siehst Du:
Krieg ist Scheiße.
• als wir auf dem Weg zu einer Demo an einer
Kaserne vorbeikommen:
die armen Schweine da drin - was haben die
vom wirklichen Leben.
• bei der Durchsicht einer Underground-Zeitung, in
der ein Paar beim Beischlaf abgelichtet ist: Es
dürfte nur noch mit Waffen der Liebe
geschossen werden, und zwar im Bett.
• als ich einmal von Erich Dittges mit dessen Frau
im Bett überrascht wurde (in Erichs Bett):: Erich,
wir müssen diese Sache gewaltlos bereinigen.
• als ich "Tolkien" lese: selbst in der Literatur ist
Krieg furchtbar - wie dann erst im wirklichen
Leben.
173
Der 2. Zeuge ist Berhard Witthueser,
Mitbegründer der von uns ins Leben
gerufenen Jesus-Pilz-Bewegung. Leider liegt mir
das Originalschreiben nicht mehr vor, ich weiß
aber noch, das hier viele Brösel-Zitate aus dem
Positionspapier der Bewegung angeführt waren,
die für uns ja nun quasi Gesetz waren und alle
untermauerten, dass ich quasi als ein Apostel
einzustufen sei und meine religiösen Grundwerte
mir den Dienst mit einer Waffe unmöglich machen.
Das Schreiben ist mit Buntstiften wunderbar
ummalt, Fliegenpilze und Hanfblätter sind auf
wundersame Art mit eingearbeitet: geradezu ein
Kunstwerk - eigentlich viel zu schade für einen
Wehrdienstverweigerung - Ausschuss.
Ende April werde ich dann zur mündlichen
Verhandlung geladen. Leider kenne ich mich in
Düsseldorf nicht so richtig aus und bin zur
geforderten Zeit in Duisburg (da weiß ich besser
Bescheid - hier bin ich schließlich fünf mal
gemustert worden). Die kennen mich auch noch,
sind sehr hilfsbereit und erklären mir den Weg
nach Düsseldorf, und mit nur 75-minütiger
Verspätung erreiche ich abgehetzt den Ausschuss
in D´dorf, aber da wollen die mich nicht mehr
vernehmen mit dem vorgeschobenen Argument,
ich hätte keinen gültigen Personalausweis dabei.
174
Was brauch ich einen Ausweis, wenn ich
persönlich anwesend bin...
Eine erneute Einladung geht (wahrscheinlich wie
immer auf dem Postwege) irgendwie verloren, so
dass ich nicht persönlich erscheinen kann/darf,
was dem Ausschuss sehr lieb zu sein scheint: sie
entscheiden im Mai 1970 gegen mich mit der
Begründung, ich müsste mir die Aussagen meiner
beiden Zeugen anlasten lassen... Mein Antrag wird
einfach abgelehnt.
Das trifft mich schwer - aber es wirft mich nicht aus
der Bahn. Nachdem wir die Jesus-Pilz-Bewegung
in Deutschland publik gemacht und unsere
Missionarstour durch die deutschen Kirchen hinter
uns haben, greife ich dieses bisher unbefriedigend
verlaufene Kapitel wieder auf. Im März 1972
formuliere ich von Dill aus (wo wir jetzt unser
Domizil haben) meinen Einspruch wie folgt:
Sehr geehrte Herren, liebe Freunde, liebes
Kreiswehrersatzamt,
bezugnehmend...blah blah...meine Gründe:
1. Ich bin religiöser Musiker und Missionar, also oft
unterwegs, und das meist für längere Zeiträume.
Daher erreicht mich Post (die ich
mir immerhinterherschicken lasse) oftmals
175
verspätet: denn kommt die Post dort an, bin ich
meist schon wieder weg. Deshalb bitte ich, mir
Vorladungen zu von Ihnen anberaumten Terminen
mit einer Frist von mind. 1 Jahr zu schicken - das
müsste für Sie doch eine Kleinigkeit sein.
2. blah blah
3. Ihre Begründung, meine ernstgemeinten und
ehrlichen Argumente seien "sophistische
Gedankenverdrehungen", gehen in keinster Weise
auf den Kern meiner schweren Gewissensnöte
ein.
4. blah blah
5. Wenn die Aussagen des Zeugen Bernhard
"Clear Light" Witthüser, den ich wegen seiner
tiefen religiösen Einstellung schätze und hoch
verehre und auf dessen moralisches
Urteilsvermögen ich allergrößten Wert lege, mir
von Ihnen "zur Last gelegt" werden, dann ist das
(auch von allen meinen Freunden, Bekannten,
Verwandten) nicht nachzuvollziehen: alle seine
Aussagen sprechen doch für mich. Aber das
können Sie nicht verstehen, wenn Sie einen Staat
vertreten, der ohne Zögern Menschen zeigt, die
Gewalttaten verüben, der es aber ablehnt, ein
Paar beim Beischlaf zu zeigen. Da stimmt doch
etwas bei der Wertsetzung dieses Staates nicht.
Ich bin der Meinung, dass die Menschen ständig
miteinander schlafen sollen, wann immer sie
wollen. Dies ist die Anerkennung der Realität, die
mich umgibt und alle meine Freundinnen und
176
Freunde auch (Abs. II der Jesus-Pilz-BewegungGrundsatzerklärung).
6. In meinem Leben versuche ich, meinen eigenen
Weg zu gehen: weg von Realitäten, die "ihre"
Zivilisation geschaffen hat. Ein Dienst mit der
Waffe für "ihre" Gesellschaft, die nicht die meine
sein kann, ist für mein Gewissen unmöglich und
steht im krassen Gegensatz zu Abs. III der "JesusPilz-Bewegung-Grundsätze", die hier die
"Revolutionsziele der Yippies" neuformuliert: totale
Entwaffnung aller Menschen, angefangen bei der
Polizei und bei der Armee. Das schließt alle
Waffen ein, also neben Gewehren, Pistolen,
Raketen, sämtlichen ABC-Waffen auch
Gummiknüppel, -geschosse und Totschläger etc.
ein.
Da ich davon ausgehe, dass diese meine
Auffassungen Ihnen nachvollziehbar aufzeigen,
dass ich nicht der rechte Kämpfer für "ihre" Ideen
bin, schicke ich Ihnen anbei schon einmal vorab
meinen Wehrpass zurück: bei Ihnen ist er besser
aufgehoben.
In der Hoffnung, nichts mehr von Ihnen zu hören,
verbleibe ich
mit fröhlichem Gruß und Grüß Gott
W.W.
P.S. Viele Grüße auch von meinem Freund
Bernhard Witthüser
177
Tja, das sitzt. Dachte ich - wie gesagt: wir
schreiben März 1972. Doch schon zwei Wochen
später wird mir mitgeteilt, dass ich diesen meinen
Einspruch verspätet eingereicht habe. (Frist war
angeblich Mitte Juni 1970 abgelaufen). Aber: was
sind 2 Jahre, wenn´s um mein Gewissen geht,
wenn es um meine innere ehrlich Überzeugung
geht: die wechsele ich doch nicht jährlich wie
meine Unterhose...
Die Sache ruht jetzt, aber in mir sieht das ganz
anders aus. Täglich überkommt mich beim
morgendlichen Gang zum Briefkasten ein
beklemmendes Gefühl, und ist ein länglicher
blauer Brief im Kasten, falle ich jedes Mal in eine
tiefe Ohnmacht: das muss der
EINBERUFUNGSBEFEHL sein. Ich mache keinen
Brief mehr auf, verklebe sogar kurzzeitig den
Briefkastenschlitz. Aber da erreichen mich die
GEMA-Abrechnungen nicht mehr - also geht das
Zittern weiter.
Und dann, im Jänner 1979, ist das Schreiben da:
nach 3 Wochen kann ich mich überwinden und
plane die Öffnung. Wie bei einer
Bombenentschärfung habe ich alle
Familienmitglieder und die Hunde weggeschickt.
Ich gehe in den Keller: bei Kerzenlicht reiße ich
vorsichtig den Umschlag auf: Jawohl - betrifft
178
meinen Einberufungsbescheid. Ich lege mir das
Seil um den Hals - aber es ist kein Stuhl da. Ich
will mir die Tränen abwischen - und habe auch
meine Taschentuch vergessen. Also nehme ich
das Scheiben (dann ist es doch wenigstens noch
für etwas gut) und will mir die Tränen abwischen da sehe ich, das dieser Bescheid meinen
bisherigen Einberufungsbescheid für den
Verteidigungsfall aufhebt und ich mit einem neuen
Bescheid vorerst nicht zu rechnen habe.
YIPPIE - ich habe überlebt.
Aber 10 Jahre Papierkrieg reichen mir
vollkommen:
Friede auf Erden
179
Wie nehme ich einen Trip richtig?
Ein W&W Flugblatt:
Wir haben viele Lieder in Trips und über Trips
gemacht. Wir hatten gute Trips; viele Leute haben
schlechte Trips. Warum? Sie haben sich nicht
darauf vorbereitet, sondern sie wegen irgendeiner
Mode konsumiert. Wir wollen euch helfen. Denn
der Trip an sich ist nichts Schlechtes. Wer ihn
falsch nimmt, der macht ihn schlecht. Was wir hier
über den Trip sagen, gilt für Haschisch, Mariuhana
und LSD, NIE für Heroin. Nimm es nicht; es tötet
dich. Und du wirst NIEMALS die Schönheit eines
Trips erleben.
Aus der kanadischen Zeitung „Georgia Straight“
übernehmen wir eine Reiseanleitung. Sie bezog
sich dort auf „Sunshine“, den stärksten und
schönsten aller LSD-Trips. Wir haben sie etwas
umformuliert. Somit gilt sie allgemein für Trips und auch für Hasch. So solltest du die 13 Regeln
lesen. Denke daran: Trips sind Schlüssel, dein
Leben und den Kosmos dir aufzuschließen. WER
SIE GEDANKENLOS UND HEMMUNGSLOS
FRISST, WIRD NIE DIE SCHÖNHEIT SEHEN!
Trips sind gut für deinen Körper, für deinen Geist
und für Deine Seele. Aber NUR wenn du sie
180
sinnvoll benutzt. Diese Anleitung wird dir helfen.
Sei vorsichtig!
13 Regeln, die du dabei unbedingt beachten
musst:
1.
Nimm den Trip als ein schönes, religiöses
Sakrament!
2.
Plane Deinen Trip sorgfältig! Mache dich
wenigstens für zwei Tage von Job, Verantwortung
und alltäglicher Routine frei. Dadurch hast du
einen freien Tag für deinen Trip und einen
weiteren freien Tag, auszuruhen und über ihn
nachzudenken.
3.
Den Trip solltest Du in einer Umgebung
nehmen, die für dich besonders angenehm ist! Es
ist töricht, Acid in einer chaotischen Situation zu
nehmen oder mit zu vielen Leuten um dich herum.
Nimm es nicht bei einer Demonstration!
4.
Ein ruhiger Abend zu Hause oder ein
Nachmittag in einem Park sind gute
Gelegenheiten.
181
5.
Habe beim Trip Musik, Essen und
überhaupt Dinge in deiner Nähe, die du
besonders magst. Ihre Schönheit wir tausendfach
gesteigert. (Gute Musik: Grateful Dead, Incredible
String Band)
6.
Nimm den Trip nur, wenn du dich
wohlfühlst. Nicht, wenn du depressiv oder traurig
bist! Mische auf keinen Fall Acid mit größeren
Mengen Alkohol oder anderen Drogen. Kaufe nur
bei Leuten, denen du vertrauen kannst und die es
selbst geprüft haben.
7.
Es liegt sehr an den Leuten um dich
herum, wie dein Trip wird! Wähle sie sorgfältig
aus. Du solltest sie unbedingt kennen und ihnen
vertrauen können. Wer maximal reisen will, sollte
es in kleinen Gruppen von zwei bis drei Leuten
tun.
8.
Nimm deinen ersten Trip möglichst mit
einem nahen persönlichen Freund, der genug
Erfahrung mit Trips hat! Dein Freund sollte
möglichst mehr oder weniger „unten“ bleiben, um
dir helfen zu können, dich durch deinen Trip zu
führen!
9.
Diskutiert, was jeder von euch für den
gemeinsamen Trip vorhat – tiefe spirituelle
182
Erfahrung, nahe persönliche Erlebnisse mit
anderen Leuten, Verständnis von Musik oder was
immer. So ist es auf jeden Fall einfacher, dorthin
zu gelangen.
10.
Der beste Rat im Trip: Flute mit dem Trip!
Hänge dich nicht an schmerzvolle Szenen; verliere
dich nicht in schönen Szenen. Geräts du an etwas
Unangenehmes, dann fixiere deine
Aufmerksamkeit nicht darauf. Flute zu anderen
Bildern... und du kommst zu neuer Schönheit.
11.
Denke daran, dass der Trip ein Werkzeug
ist! Yoga, Meditation und Fasten sind andere
Werkszeuge für visionäre Erfahrung. (Fasten vor
einem Trip kann ihn erhöhen).
12.
Nimm die Visionen, die dir durch das
Werkzeug gegeben worden sind, in dein
praktisches, alltägliches Leben. Mit ihnen erfährst
du unmittelbar Schönheit und Möglichkeiten all
dessen, was unserer Zivilisation geraubt worden
ist.
13.
Es braucht sehr viel Selbstdisziplin und
viele harte Arbeit mit anderen Leuten, die Welt, die
du jeden Tag siehst, durch eine Welt der Liebe zu
ersetzen.
183
Vor deinem ersten Trip oder auch, wenn deine
Trips bisher verkorkst waren oder du nur zufällig
Glück hattest, solltest Du unbedingt die ersten
Seiten von Timothy Learies Buch „Politik der
Ekstase“ lesen. Das ist ein Muss! – Außerdem
empfehlen wir folgende Bücher: a) Roland
Gelpkes „Drogen und Seelenerweiterung“ ,
Roland Steckels „Bewußtseinserweiternde
Drogen".
184
Frankfurter Neue Presse
Zu den Liedern v. Nonnen, Toten und Vampiren
Gille Lettmann im Oktober 1970
Grausige Lieder von W & W:
Vampire, Nonnen, Tote
Jetzt singt er Lieder von Vampiren, Nonnen und Toten:
Innerhalb von zwei Jahren hat sich der Protestsänger Bernd
Witthüser gewandelt. Schrie er früher, antwortet er heute sanft,
marschierte er früher auf den Straßen, holte sich
Strafanzeigen, so zieht er sich heute zurück und formuliert
leiser.
Witthüsers neues Programm mit seinem Freund Walter
Westrupp heißt: "Lieder von Vampiren, Nonnen und Toten" und
ist jetzt als Schallplatte bei Ohr/Metronome erschienen, aus
teurem Kitsch und schrecklichem Martyrium, immer grausig
übersteigert, auf daß niemand so recht weiß, wie er darauf
reagieren soll. So sorgen die beiden für Schauder und
Schrecken, für Unwohlsein und Unsicherheit, die durchaus zum
Nachdenken provozieren können.
Sie erzählen merkwürdige Geschichten und begleiten sich
dabei mit Gitarre, Trommel, Xylophon, Posaune, Trompete und
anderen Instrumenten.
In W-&-Ws-Popkabarett gaukeln Schmetterlinge, weint ein
Mütterlein, werden blaue Blumen mit viel Ironie gedüngt, wird
185
von Billie von nebenan erzählt, von Flipper, Mönchen, Nonnen,
Vampiren und Gräbern aus Großmutters Gruselkästchen und
irgendwie und –wann wird dem Zuschauer klar, daß diese
Form der Unterhaltung nicht so harmlos ist, wie sie zu sein
scheint. Sie hat zwar eine Erholungsfunktion, genau wie
anspruchsvolle Musik, aber – die Idylle ist mit Fallen ausgelegt.
186
Aachener Nachrichten
Zu Trips & Träume
Petra Stenzke im April 71
Pop-Musik aus deutschen Landen
Trips und Träume
Von draußen sieht’s aus, wie ein biederer Kaufmannsladen (ist
es übrigens auch), aber wenn man die Tür des Hauses
Hauptstraße Nummer 33 in Stommeln bei Köln passiert hat,
vorbei an sauren Gurken, Drops und anderen
Lebensmitteln,durch die gute Wohnstube des Kaufmannes
Dierks marschiert ist und einen düsteren Hof durchwandert hat
– dann steht man unvermutet in einem der modernsten
Aufnahmestudios Deutschlands. Hier, in dem kleinen, muffigen,
verqualmten Raum tummeln sich: drei Mädchen, ein Techniker,
der auch mal singt, wenn’s drauf ankommt, Rolf-Ulrich Kaiser,
deutscher Pop-Kolumnist und Pressemann des
Metronomelabels "Ohr", die beiden deutschen Pop-Barden
Bernd Witthüser und Walter Westrupp – und Karlchen, eine
achtwöchige Hündin, die Schnürsenkel, Handtaschen, Kulis,
Liedertexte und menschliche Gliedmaßen anknabbert, und
Karlchen heißt, weil ihren Besitzern, Witthüser und Westrupp,
partout kein Mädchenname einfallen wollte. Diesem kleinen
schwarzen Biest von Hund, das mit Vorliebe Geleehimbeeren
schleckt, ist auch ein Song gewidmet, aber das später.
187
Hier im Studio Dierks nehmen Witthüser und Westrupp ihre
neue LP "Trips und Träume" auf, wir dürfen zusehen. Es ist der
vorletzte von sechs Aufnahmetagen. Man hat am Tage vorher
bis in die späte Nacht geschuftet, trotz allem ist die Atmosphäre
gut, keine Gereiztheit ist bemerkbar, von einigen kleinen
Wortgeplänkeln abgesehen. Das Geheimnis ist vielleicht, daß
niemand Witthüser und Westrupp reinredet. Rolf-Ulrich Kaiser,
Vertreter des "Mutterhauses", mischt sich nicht ein. Die Musiker
dürfen ganz allein bestimmen, was auf der LP erscheint, eine
Maxime des Ohr-Labels.
Gerade bastelt man gemeinsam an einem Song, der gewiß
einer der schönsten, wenn nicht der schönste überhaupt der
ganzen LP werden wird:
"Auf der Suche nach einem neuen Weg / klopfen wir an die
Himmelstüre. / Ein Mann namens Petrus öffnet ganz sacht und
fragt / Seid ihr es, die da kommen sollen, uns den Shiet zu
bringen? / Wir streichen aus alle, die wir kennen, uns
eingeschlossen / unt treten ein in den ewigen Frühling / Wir
sehen die himmlischen Heerscharen mit den ewigen Joints auf
ihren Wolken sitzen / und ihr Gesang steigt unaufhaltsam in
den Händen der Sonne."
Hier soll ein Chor einsetzen, aber Witthüser und Westrupp
haben sich noch nicht entschlossen: Soll einer singen, soll ein
Chor singen, wenn ja, was? Etwa "uh...," oder nur einfach "mm"
oder "Lei, lei"? Man eingit sich schließlich mit den beiden
singenden Mädchen auf "lei, lei...", denn das klingt mehr nach
Fröhlichkeit, nach jointgeschwängerter Glückseligkeit. Dieses
Stück ist unwahrscheinlich stimmungsvoll, da paßt jede Note
zum Text.
Nachdem die Gruppe zufrieden ist, gibt es in Dierks guter
Stube erstmal Steaks und Fritten. Die Mädchen, die getrampt
188
sind, um nach Stommeln zu kommen, erzählen von
Erlebnsissen mitälteren Herren, die sie mitgenommen haben.
Nicht sehr schmeichelhaft. Ein Sozialarbeiter war auch dabei.
Nach Dienstschluß? Witthüser erzählt uns was von seiner und
Westrupps Musik, die jetzt übrigens auch noch von einem
dritten Mann gemacht wird; der alte Name aber bleibt.
Wie eigentlich Leute, die bislang von Gruseligem (Toten,
Vampiren etc.) und Lustigem (Wer schwimmt dort? Flipper...)
sangen und ursprünglich vom Protestsong kommend (Bernd
Witthüser war lange Zeit als "Protestsänger des Ruhrgebiets"
bekannt und sang in Zechen) – wie also solche Leute
ausgerechnet dazu kommen, jetzt von Rauschgift – besser:
Rauschmitteln, einem doch recht unpopulären Thema, zu
singen, wollen wir wissen. Witthüser meint dazu, daß sie lange
Zeit eine Art Clowns für die Leute waren. Man lachte ja auch
massig über die zwei, wenn sie vom kinderlieben Delphin
Flipper sangen, Witze rissen, Schock verbreiteten. Aber:
Witthüser und Westrupp wollen keine Clowns mehr sein. Jetzt
singen sie das, was sie persönlich erlebten, empfanden. Sie
setzen ihre Träume in Musik um. Sie vertreten konsequent eine
heitere Haschisch-Philosophie, wie man sie bei Arlo Guthrie
oder in Easy Rider findet. Überdies wollen sie möglichst viele
Leute mit ihrer Musik glücklich machen, wollen sie dazu
anregen, selbst Musik zu machen -–einfach so. ohne große
Anlagen, just for fun. Witthüser und Westrupp selbst machen
eine Musik, die nicht kompliziert klingt, die zum Nachahmen
reizt.
Sie, die Weltmeister im Waschbrett-Spielen, haben ein reiches
Instrumentarium: Posaune (Westrupp spielt auf der neuen LP
mit sich selbst im Quartett), Trommel, Trompete, Zimbel,
Ukulele, Xylophon, Flöte, Chromonika, Gitarre, Harmonica –
und Psalter. Mit diesem aus der Schulzeit und dem Orffschen
Musikwerk bekannten Streichinstrument passiert zu
fortgeschrittener Stunde noch etwas Lustiges. Walter Westrupp
189
ist etwas verstimmt: sein Walzer, nur mit Klampfe gespielt,
klingt zu fad. Das Mädchen Renée und Witthüser gehen mit in
den Aufnahmeraum. Renée spielt Klavier, Witthüser Gitarre
und Westrupp entdeckt zu seinem Entzücken eben diesen
Psalter. Alle spielen mit Hingebung richtig schön falsch und
schräg. Im anderen Raum, am Aufnahmetisch, herrscht
unverhüllte Munterkeit: Techniker, Freundin, Ohr-Leute und
Journalisten ömmeln sich vor Lachen, denn – alles wird
aufgezeichnet. Unt als Witthüser und Westrupp es nachher mit
Lachtränen im Augenwinkel hören, wird beschlossen: Das
"Concerto grosso" kommt mit auf "Trips und Träume".
Dann wird ein Lied auf Karlchen und seine phantastische
Traumreise zu den großen bösen Hunden von Renée auf Band
gesprochen, und dann geht’s ans Mischen. Als erstes der
Titelsong:
Nimm einen Joint, mein Feund / that spends all Leut‘ Freud,
mein Freund / some people say hasch makes lasch / but give
me the joint"
und so weiter und so weiter. Es ist schon fast Mitternacht, aber
man will die LP schnell fertig machen, denn sie soll vielleicht in
einem Monat schon erscheinen.
Witthüser und Westrupp wollen ihre Vampir-, Nonnen- und
Toten-Songs noch nicht völlig aus dem Repertoire verbannen,
weil der Vorrat an neuen Songs noch nicht groß genug ist, und
weil man das Publikum langsam an die neue Linie gewöhnen
will. – Von Witthüser und Westrupp erschienen bis jetzt
folgende Platten: "Liefer von Vampiren, Nonnen und Toten",
Ohr OMM 56002; "Wer schwimmt dort?" (Single) Ohr OS
57002.
190
Rheinische Post
Zum Jesuspilz
Klaus Wilhelm Kerscht im November 1971
Die Weltschöpfung als Pop-Effekt
Uraufführung der Jesusoper in der Essener Apostelkirche
Die Weltschöpfung wird als ein gelungener Popeffekt
dargestellt – "man knipste das Licht an". Der Sündenfall sehr
amüsant: Satan bringt ein Quentchen Unberechenbarkeit in die
friedliche aber etwas langweilige Paradieslandschaft. "Hört mal
her, Jungs", so spricht der Auferstandene zu seinen Jüngern.
Durch Texte dieser Art und auch durch die Mittel der Popmusik
wurde die Bibel verfremdet in der ersten deutschen Jesusoper
"Jesuspilz", die in der Essener Apostelkirche uraufgeführt
wurde.
Der Name "Jesuspilz" ist insofern irreführend, als keine
opernmäßige Szenerie ausgestaltet wurde, sondern mehr
oratorienhaft Texte aus dem Alten und Neuen Testament
aneinandergereiht sind. Darüber hinaus ist auch der Name
"Jesus", der in der Oper nicht vorkommt, nach Aussage der
Akeure mehr zufällig gewählt worden. Die beiden Dichter und
Komponisten und einzigen Sänger und Musiker der Jesusoper,
Walter Westrupp und Bernd Witthüser – bekannt durch Auftritte
bei Popfestivals und durch zwei Langspielplatten – erklärten,
eine Wandlung durchgemacht zu haben, an deren Ende neue
religiöse Erfahrungen stünden. Darum wollten sie das
191
Evangelium durch ihre Musik "jedermann zugänglich machen".
Der neue Glaube an Jesus läßt sich auf einen Nenner bringen:
"Durch Jesus findet jeder zu sich selbst." Die biblische
Botschaft wird hierbei stark verkürzt. Doch das kann man kaum
den Musikern zum Vorwurf machen in einer Zeit, wo die
Theologen ständig neue Jesusse finden und erfinden.
So klein die Popgruppe von nur zwei Mann ist, so reichhaltig ist
das Instrumentarium (Gitarren, Flöten, Orgel, Schlagzeug aller
Art, Mundharmonika und sogar indische Tablas). Die Musiker
beherrschen ihr Instrumentarium, das sie in immer neuen
Kombinationen verwenden.
Also nur eine neue Variante der Jesuswelle, amüsant,
schockierend, banal, je nach dem Standpunkt? Die Szenerie
hat noch einen anderen Hintergrund. Warum sie gerade in
einer Kirche spielten, wurden die Musiker gefragt. Mit
gleichbleibend freundlichem Lächeln, das auch bei bissiger
Kritik nicht verschwand (und das machte die jungen Musiker
besonders sympathisch), antworteten sie: "Ach, diese Kirche
hat so eine gute Akkustik, und sie steht die ganze Woche über
leer und selbst am Sonntag wird sie nur für ein paar alte Leute
gebraucht. Da dachten wir uns: So kriegt sie wieder einmal
einen vernünftigen Zweck." Tatsächlich war die Kirche voll von
Jugendlichen, die bei aller auch vorhandenen Kritik meist
stürmisch applaudierten.
Was evangelische und katholische Kirchen heute nicht
fertigbringen, trotz aller Reformen der Liturgie: Ein neues
Interesse am Gottesdienst zu schaffen – hier wird über die
Musik eine Begegnung mit dem Religiösen gesucht. Kaum
einen störte, daß die Texte oft erschreckend simpel waren – bei
dem Lied: "Besuch aus dem Kosmos" wurde sogar gefragt, ob
das "vertonter Däniken" sei. Vielleicht muß Religion wieder so
einfach anfangen, nachdem lange Zeit hindurch die Kirche die
192
Jugend nicht mehr erreicht hat und – man sollte niemals alle
Schuld der Kirche geben – die Jugend gleichzeitig sich nicht
mehr von der Kirche erreichen lassen wollte. Und darum sollte
man, trotz einiger bedenklicher Randerscheinungen, nicht alles
als Mode oder als "schnellvergessene Jesuswelle, auf der zur
Zeit alle Musiker mitschwimmen wollen", abtun. Dahinter steht
eine neue Sehnsucht, eine neue Erwartung, ein Advent –
woher, wohin?
193
Der Stern schrieb 1972
Zu Bauer Plath
Um dem Show-Rummel zu entgehen, flüchteten die PopSänger Witthüser und Westrupp aufs Land. Dort leben und
musizieren sie bei Bauer Plath in einem urlaten Haus. Frotzelt
das Duo:
Bald tanzen auch die Kühe Beat
Im idyllischen Hunsrück-Dorf Dill ist die Welt wieder in
Ordnung. Noch vor wenigen Monaten war das anders. Da
schrickte die 300-Seelen-Gemeinde plötzlich aus ihrem Frieden
auf, als zwei wild aussehende Gestalten ganz unbekümmert in
ein Haus an der Hauptstraße des Dorfes zogen.
Inzwischen haben sich die Wogen wieder geglättet. Es sprach
sich nämlich schnell herum, daß es sich bei den neuen
Mitbürgern um zwei ruhige, friedliebende und sogar bekannte
Musikanten namens Witthüser und Westrupp handelte. "Die
Leute hier halten uns für harmlose Verrückte", erzählt Walter
Westrupp, 26 Jahre alt, bärtig, pummelig, mit Nickelbrille vor
den verschmitzten Augen. Kompagnon Bernd Witthüser – zwei
Jahre älter, hager, mit schulterlangem Haar – ergänzt grinsend:
"Aber in unser Haus traut sich doch keiner recht ´rein.
Irgendwie sind wir denen noch nicht geheuer".
Dabei gehören "W und W" zu den liebenswertesten und
originellsten Erscheinungen der bundesdeutschen Pop-Szene.
So wie sie sind – etwas versponnen, verträumt, in sich gekehrt
194
-, passen sie in keine Show-Schablone. Bei ihnen steht der
Spaß an der eigenen Musik und nicht das Geldverdienen an
erster Stelle. Deshalb waren sie auch über den Tournee- und
Fernseherfolg ihrer Jesus-Oper "Der Jesus-Pilz" nicht einmal
besonders glücklich. "Wir hatten keine ruhige Minute mehr"
berichten die gebürtigen Essener, "sobald wir über die Straße
gingen, wurden wir von irgendjemand doof angequatscht".
Wieder träumen gelernt
Um diesem lästigen Rummel zu entkommen, flüchteten die
"Clowns der Pop-Welt" (so ein Kritiker) kurz entschlossen aufs
Land – ins friedliche Dorf Dill. "Hier lernten wir wieder das
Träumen, fanden zu uns selbst zurück", schwärmen die beiden.
Die Harmonie ist vollkommen, seit sie mit einem braven Bürger
von Dill Freundschaft geschlossen haben. Mit Bauer Plath. Ihm
gehört das über 100 Jahre alte Häuschen, das Bernd und
Walter für bescheidene 150 Mark monatlich mieteten.
"Anfangs war er natürlich ein bißchen mißtrauisch", erzählt das
Duo, "aber das hat sich schnell gelegt, nachdem wir ein
paarmal auf dem Feld mitgeholfen haben". Auch der Herr über
einen Bauernhof, viel Land, fünf Schweine und 15 Kühe läßt
nichts auf seine neuen Untermieter kommen. "Die sind schwer
in Ordnung", lobt er. Nicht ohne Grund, denn sie helfen fleißig
bei der Rüben- oder Kartoffelernte mit, bringen das Heu mit ein,
füttern das Vieh, misten die Ställe aus, "und oft sitzen wir bis in
die Nacht hinein bei Kerzenschimmer und Kräuterwein", so der
Text ihres Liedes vom Bauern Plath.
Bauer Plath besungen
Ihrem aufgeschlossenen Hausherrn haben die Sänger jetzt ihre
neueste Langspielplatte gewidmet. Unter dem Titel "Bauer
195
Plath" besingen sie in romantischen Beat-Melodien die Idylle
auf dem Land, erzählen Märchen aus dem Dorf und feiern ihr
"glückliches, sorgenloses Leben". Mit ebenso romantischen,
aber tiefsinnigeren Liedern stellt sich das Gespann Mitte
November im Fernsehen vor. In der WDR-Dokumentation
"Über die Schwierigkeiten eines deutschen Dichters, geehrt zu
werden", singen sie Texte von Heinrich Heine. Regisseur Paul
Karalus prophezeit: "Mit diesen Melodien wird der Dichter
sicher auch bei der heutigen Jugend populär".
Witthüser und Westrupp wollen jedoch noch jemandem zur
Popularität verhelfen: dem Männergesangverein von Dill. Mit
diesen 20 stimmgewaltigen Dorfbewohnern soll die nächste
Platte produziert werden. Grinst das Duo: "Demnächst tanzen
hier sogar die Kühe im Beat-Rhytmus".
196
Interview Bernd Witthüser
(mal gespannt, was er heute wieder bringen wird.
Nich?)
Bei „Nimm einen Joint mein
Freund“ verdunkelte sich der
Himmel
Als sich in den 1970er Jahren die deutschen
Musiker vom amerikanischem ‚Yeah, Yeah‘ (W.
Ulbricht) befreiten, mischte ganz vorne das Duo
WITTHÜSER & WESTRUPP mit. Bis heute
legendär sind ihre Alben über Joints, Jesuspilze
und ihren Vermieter Bauer Plath. Westrupp ist
abgetaucht, aber Bernd Witthüser
tourt durch die Welt und macht immer wieder
Station beim wunderbaren Burg-Herzberg-Festival.
197
Wir sprachen mit dem Elektriker, Protestsänger
und ewig Reisenden.
WAHRSCHAUER: Deine Musik findet in den
Medien nicht statt, manch Einwohner kann mit
dem Begriff Krautrock gar nichts anfangen.
Meine Tochter antwortete zum Beispiel, als ich
sie befragte, ob sie sich das Burg-HerzbergFestival so vorgestellt hat, wie sie es erleben
konnte: „Ich dachte eher an so Hippiezeugs
wie „Am Tag als Conny Kramer starb“.
Bernd Witthüser: Wenn die Sängerin von „Am Tag
als Conny Kramer starb" damals bei mir und nicht
bei Peter Bursch Gitarrenunterricht bekommen
hätte, wäre sie wohl besser drauf gekommen!
198
W: Irgendwann hat man Westrupp und dich in
das Fach Krautrock gesteckt, wie würdest Du
diese Musik bezeichnen?
BW: Krautrock war, wie Renate Krötenschwanz
von den AMON DÜÜL schon sagte: aus Germania
kommender gebröselter Rock.
W: War es das, was WITTHÜSER & WESTRUPP
gespielt haben?
BW: Ne, WITTHÜSER & WESTRUPP haben
absolut keinen Krautrock gespielt, mehr Krautfolk
oder später Cosmickrautfolk oder so was.
W: Wie kam das Duo WITTHÜSER &
WESTRUPP zusammen?
199
BW: Ich war bereits seit einigen Jahren als
Protestsänger (des Ruhrgebiets) unterwegs, hatte
Texte von Thomas Rother vertont und gesungen,
bin aber nicht so ganz glücklich dabei gewesen.
1968 passierten die Essener Songtage, wo ich
aufgetreten bin und in der Organisation beschäftigt
war. Dann sah ich diese ganzen tollen Musiker auf
dem Festival und beschloss umgehend einen
neuen Weg zu gehen. Westrupp und ich
arbeiteten damals in einer Kneipe in Essen, er als
Diskjockey, ich als Kellner und musikalischer
Direktor. Ich fragte Westrupp; ob er mitmachen
wollte, mit seinem ‚Ja‘ fing alles an.
W: Seid ihr in das ganze Krautrock-Gewese
hineingerutscht?
BW: Unsere Plattenfirma hat uns sicherlich in
diese Ecke gerückt. Man hatte zuerst die Idee uns
200
zu so etwas wie T-REX aufzubauen. Mit uns zwei
Querköpfen ging das aber gar nicht.
W: Liedermacher passt doch eher, zumal Du
heute als solcher durch die Welt tourst.
BW: Noch eher bin ich ein Liederverwurster.
W: Seid ihr ohne Vorzeichen ans Musik
machen gegangen, oder hatte WITTHÜSER &
WESTRUPP Idole?
BW: Vorbilder hat man immer. Ganz früher, als ich
in einer Skiffle Group spielte, hieß mein Idol Lonny
Donegan, dann tauchten Bob Dylan auf und Dieter
Süverkrüpp. Bei WITTHÜSER & WESTRUPP
drehte es sich um die INCREDIBLE STRING
BAND und um INSTERBURG & CO.
201
W: Ihr geltet als Erfinder der „TeebeutelHochhebemaschine“. Was ist das für ein
Gerät? Existiert es noch?
BW: Diese Vorrichtung verwandelte eine
Drehbewegung in eine Auf- und Abbewegung. Ein
Teebeutel hing an einem Haken und wurde durch
kurbeln in eine Tasse mit heißem Wasser ein- und
ausgetaucht. Teeästheten gehen jedoch davon
aus, dass der Teebeutel einmal im heißen Wasser
liegend nicht mehr bewegt werden darf, da des
Tees Kraft sich nur so frei und voll entfalten kann.
So geschah es leider, dass dieses urige
Maschinchen nicht seinen Platz auf dem Markt
erobern konnte. Ich glaube, Westrupp hat noch ein
Exemplar. Wobei immer noch nicht geklärt ist, wer
der eigentliche Urheber ist.
202
W: Manche eurer Texte sind schön verworren.
Zitat: ‚Die sieben Erzengel bringen uns unsere
ewigen Joints, gemeinsam schweben wir zu
den immer grünen Liebewesen und stimmen
ein in den Lobgesang der Engel auf Lordy
Drug‘. Konnte man solche Zeilen im normalen
Zustand entwickeln?
BW: Auf keinen Fall. Man muss sich frei
schwebend in einem unnormalen Zustand
befinden, dann in eine epileptische Umlaufbahn
um sich selbst übergehen und am Ende
versuchen, sich an das Erlebte zu erinnern und
dieses ganz schnell zu Papier bringen.
W: Welche Mittel kamen zum Einsatz?
BW: Ein Eid verbietet es mir hier Details zu
nennen!
203
W: Und stehst Du noch voll hinter euren
ganzen Liedern?
BW: Ich habe da nie so richtig dahinter gestanden,
mehr drauf. Zumal ich das alles sehr ironisch,
satirisch aufgefasst habe. Heute sehe ich die
Lieder mehr als eine Erinnerung an eine
wunderbare Epoche meines Lebens.
W: Wie war das mit den anderen Bands dieser
Zeit? Wenn man heute manch Platte von
mittlerweile vergessenen Gruppen anhören
will, gehört viel Mut dazu, denn es klingt
einfach schlecht. Wurde irgendwann alles
genommen, um auf der Krautwelle zu
schwimmen?
204
BW: Es gab damals nicht diese ganzen
technischen Hilfsmittelchen im Studio, wie
Soundkorrektur oder Stimmverbesserer, und weiß
der Henker was die alles machen (können). Ich
glaube, wenn du den heutigen Gruppen die
Technik wegnehmen würdest, würde ein großer
Teil der Musik wieder scheiße klingen.
W: Warum tauchen auf heutigen Samplern
sogar Lindenberg, RATTLES und die
SCORPIONS auf?
BW: Wird wohl nicht mehr lange dauern, dann
kommen Freddy, Heino und Konsorten auch noch
dazu.
W: Die Religion spielte bei WITTHÜSER &
WESTRUPP eine große Rolle, wobei es dabei
205
weniger um die Kirche ging, sondern um
„Gebrösel“ und andere wichtige Substanzen.
Da gibt es das Album „Der Jesuspilz – Musik
vom Evangelium“, mit dem ihr sogar durch
Kirchen touren konntet. Wurden dabei eure
Neuinterpretationen (statt Wasser, Erde und
Luft nahmt ihr Gebrösel) überhört oder war die
Kirche damals auch auf dem Trip?
BW: In Deutschland lief die Jesuswelle an und
dabei tauchte das Buch „Geheimkult der heiligen
Pilze“ auf, oder so, worin der Autor meinte, dass
die Urchristen sich an geheimen Plätzen trafen
und gemeinsam Fliegenpilze einpfiffen und auf
den Trip gingen. Es war deren Gottesdienst und
dabei symbolisierte das Kreuz den Fliegenpilz.
Wenn dieser Rausch nach 2 oder 3 Tagen endete,
kam die Wiederauferstehung. Wir arbeiteten die
Bibel auf der Bröselbasis um und heraus kam
„Der Jesuspilz“. Die Plattenfirma hatte eine
mordsmäßige Pressekampagne angeleiert. Da
206
das Ding ein wenig esoterisiert und nicht richtig
ausgereift war, gab es jede Menge Verrisse.
Irgendwie bekam die Kirche mit, dass da etwas mit
moderner Musik und Kirche lief und nutzte die
Chance, um ihre Buden wieder voll zu kriegen.
Sogar der Sender Vatikan berichtete darüber.
W: „Bauer Plath“, aufgenommen 1972,
beschäftigt sich mit Tolkiens „Herr der Ringe“.
Ihr ward der Zeit voraus.
BW: Wir waren nach Dill im Hunsrück auf einen
Bauernhof gezogen und fingen an, an der neuen
Platte zu arbeiten. Dabei lag das Buch „Der Herr
der Ringe“ auf dem Tisch und inspirierte kräftig.
Aus der Schweiz kam Sergius Golowin hinzu,
Spezialist für Märchen und große
Zusammenhänge. Es tauchten weitere Musiker
auf und wir entwickelten nach und nach das
Konzept. Der Song „Der Rat der Motten“ zum
207
Beispiel entstand eines Abends bei Kerzenlicht im
Wohnzimmer. Das Fenster stand offen und herein
flogen Motten, die das Kerzenlicht umschwirrten
und schließlich in der Flamme landeten. So
einfach gehen manchmal Lieder. Kommerziell war
das Album nicht so schlecht, allerdings: So richtig
verdienen konnten nur die Verlage. Immerhin
kommt selbst jetzt noch manchmal was an
Tantiemen rüber, falls einer sich an mich erinnert.
W: Nach Woodstock liefen es in den
komischsten Städten Deutschlands Open Air
Veranstaltungen.Fehmarn wird Dir dabei wohl
unvergesslich bleiben: Ihr kamt kurzfristig, es
regnete und wurdet mehr gefeiert als Jimi
Hendrix. Wie hast Du diese Tage erlebt?
BW: Der Manager Kaiser hatte mitten in der Nacht
angerufen, dass wir nach Fehmarn fahren sollen,
dort ging das Fehmarn Festival mit Hendrix, SLY
208
AND FAMILY, FACES, die SCHERBEN,
Fotzmann Jones über die Bühne. Kein fester Gig
für uns, mehr so eine standby Geschichte, aber
immerhin: Spritkostenerstattung, freier Eintritt, frei
parken, frei zelten und 10 Flensburger.
Der Daimler war noch einmal angesprungen,
obwohl die Batterie ziemlich am Ende war. Mit
dabei: Theodore Arsdonk, die stetig Fingernägel
säubernde Begleitperson. Wir pennten im Auto,
Arsdonk hingegen im kleinen Beizelt. Früh werde
ich wach:„Beand! Beand!“ tönt es aus dem Zelt,
„bring Tempos, ist sich alles auffe Hand
gegangen“.
Frohen Mutes fahren wir schließlich nach Norden.
Im Schlamm steckende Autos überall, und
grimmige Nordbären. Am nächsten Morgen das
gleiche Bild, nur noch schlimmer: dicke, dunkle
Wolken in greifbarer Nähe, trotzdem gute
Stimmung. Hendrix, der als Erster auftreten sollte,
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kam nicht und kam nicht und kam nicht. Es flogen
mittlerweile Treibholz, Bierkannen und anderes
unspezifiziertes Material in Richtung Bühne. Dann
kam einer von der Organisation und suchte
Musiker, die sich auf die Bühne trauten,
sozusagen als Vorgruppe von Hendrix. Ich sah
Westrupp an und er mich und wir beide nickend
den Organisator. Der rief gleich: „Macht hin, ihr
seid dran. Aber auf eigene Gefahr“. Wir hin zum
tief im Schlamm steckenden Daimler und das
ganze Technikzeugs auf die von allen Göttinnen
verlassene Bühne schleppen, immer wieder
vorbeisausendem Treibholz ausweichen, kurz den
Sound checken und auf geht der Himmel. Ich
schwöre es: Die Sonne kommt durch. ‚Wie heißt
ihr?‘, höre ich es rufen. Ich hatte es vor Aufregung
vergessen und rief zurück: ‚Bröselmann, und wir
spielen gleich „Nimm einen Joint mein Freund‘.
Und siehe: Der Himmel verdunkelte sich wieder.
Von tausenden Joints wehte der Rauch zu uns
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über die Bühne. Alles klar und wunderbar! Wie wir
das Lied vom Flipper spielen, sehe ich denselben
Delphin sich drüben in der Ostsee tummeln, sogar
mit Morgenlatte.
Irgendwann nach dem Konzert kommt ein Bauer
mit seinem Traktor und zieht den Daimler aus dem
Schlamm. Den Bruder dieses Bauern sollte ich
später im Hunsrück kennen lernen, der hieß Plath,
Bauer Plath. Es stellte sich nach dem Konzert
heraus, dass die Lichtmaschine im Arsch war. So
fuhren wir energiesparend, mit Standlicht, ohne
Bremslichter, Blinker oder Anlasser zurück nach
Essen.
W: Als es die kleine DDR noch gab, hatte ich
keine Chance auf Schallplatten mit eurer
Musik. So richtig kam ich auf den Dreh, gleich
nach der Wende. Nun habe ich mir schon
Vieles besorgt: Alben von WITTHÜSER &
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WESTRUPP, KRAFTWERK, GURU GURU,
CAN, KRAAN, HÖLDERLIN, NOVALIS. Was
empfiehlst Du Neueinsteigern, von wem sollen
sie die Finger lassen?
BW: Auf jeden Fall überall mal rein hören,
irgendetwas ist immer!
W: 1973 habt Ihr euch getrennt.
BW: Ich war ziemlich fertig, einer von den 2000
Trips muss wohl schlecht gewesen sein und
Walter zog es nach Essen zur Mutti.
W: Du bist etwas untergegangen. Erst jetzt
nimmt man Bernd Witthüser wieder richtig
wahr, besonders beim Burg-Herzberg-Festival.
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BW: Ich war nicht untergegangen, sondern weg.
Hatte einen langen Trip nach Indien
unternommen, war dort auf die Idee gekommen
Straßenmusik zu machen. Zurück in Berlin baute
ich Instrumente und bin damit auf den
Kurfürstendamm Es ging sofort gut los. Von dieser
Musik konnte ich gut leben und spielte nur noch
was und wann ich wollte. Gewohnt habe ich im
Auto. 1977 spielte ich mit einem Kollegen in Italien
auf einem Dorffest. Ein Fernsehjournalist
entdeckte uns und brachte uns ins Fernsehen. Wir
wurden in Italien rasch berühmt. Nach einigen
Monaten hatte ich keinen Bock mehr auf TV und
verkündete deshalb mitten in der Sendung, dass
jetzt Schluss wäre und ich wieder auf die Straße
zurückkehre. Dieser Schritt machte uns zu kleinen
Stars und es ging richtig los: Wir spielten jahrelang
auf Festen in ganz Italien. Mein Wohnsitz ist seit
einiger Zeit die Toskana.
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Vor 5 - 6 Jahren wollte ich was Neues beginnen.
Ich schaffte mir meine alten Songs wieder drauf
und fing an als Bernd Witthüser in Deutschland
aufzutreten.
W: Dein aktuelles Album gibt es nur auf Vinyl.
Darauf sind „Jahreszeiten“, „Fröhlicher“ und
„Wexel“ aus früheren Zeiten.
BW: Ja, Jahreszeiten stammt von „Bauer Plath“,
„Fröhlicher“ ist von „Lieder von Toten, Nonnen und
Vampiren“, wie auch „Wexel“.
W: Was ist mit deinem Partner Westrupp los?
BW: Also, über Westrupp möchte ich mich nicht
weiter auslassen, der Kerl nervt mich.
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