FANGESÄNGE
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FANGESÄNGE
FANGESÄNGE akzent 37 im Fußballstadion Zwischen Kult und Leidenschaft Georg Brunner © fotola/© paul prescott Die wenigsten verbinden den Besuch im Fußballstadion mit musikalischem Hochgenuss. Dennoch sind musikalische Elemente und die musikalische Selbstäußerung wesentliche Teile der Stadionerfahrung und werden jede Woche hundert- und tausendfach in Fußballstadien zu Gehör gebracht. Georg Brunner geht der Faszination von Fußballfans, sich musikalisch auszudrücken, auf den Grund und analysiert die Verbindung zwischen Fußballspiel und seiner „Begleitmusik“. Jede Woche das gleiche Bild: Tausende und abertausende Fans pilgern in die Fußball-Arenen, die Kultstätten bzw. Event- und Erlebnistempel des 21. Jahrhunderts. Fußball gilt nach wie vor als die beliebteste Sportart der Deutschen. Das macht sich auch akustisch bemerkbar, nämlich in Fangesängen. Man unterstützt lauthals und leidenschaftlich seinen Verein bzw. grölt den Gegner nieder. Fangesänge findet man – neben dem Liveerlebnis im Stadion – am einfachsten im Internet: Unter dem Stichwort „Fangesänge“ erhält man bei Google etwa 232 000 Einträge; die wohl bedeutendste Fanseite, auf die viele Vereine verweisen, ist www.faengesaenge.de. Fangesänge sind zum Kult geworden. Das hat durchaus Tradition: Schon in der Antike lassen sich Gesänge von Massen bei Sportveranstaltungen nachweisen. Voraus- setzung hierfür ist die Kombination von Sport, Musik und Menschenansammlungen. Die Musik muss massenhaft verbreitet und bekannt sein, was durch eine entsprechend einfache musikalische Struktur befördert wird. Die Sportart – in der Regel ein Mannschaftssport – muss wechselnde Spannungszustände und Höhepunkte (etwa ein Tor) zulassen. Und schließlich müssen diese Sportarten Fangruppen für je eine Mannschaft generieren. Alle diese Merkmale treffen auf den Fußballsport zu. Häufig hört man die Klage von Gesangsund Musikpädagogen, dass heute nicht mehr gesungen wird. Eine Untersuchung zum Singverhalten Jugendlicher von Julia Zink aus dem Jahr 2008 konnte dies nur teilweise bestätigen. Aus einer Liste von 61 Liedern – die Liste bestand aus den am häufigsten in aktuellen Liederbüchern vertretenen Liedern sowie den Top Ten der VIVA TOP 100 Dezember 2007 – kannten die Schüler im Durchschnitt 26, also fast 50 Prozent. 79 Prozent der Befragten gaben an, gerne zu singen. Von den zehn bekanntesten Liedern stammen 50 Prozent aus der Top-Ten-Liste. Auf Platz 1 war Jingle Bells, aber auch Oldies wie Yesterday von den Beatles oder der Queen-Hit We Will Rock You sowie Drafi Deutschers Hit Marmor, Stein und Eisen bricht befanden sich auf den ersten Plätzen. Das heißt: Das allgemeine Liedgut hat sich vom Volkslied zu aktuelle(re)n Titeln gewandelt und umfasst verschiedene Genres. Wie sieht es mit Fangesängen aus? Zunächst lassen sich Fangesänge hierarchisieren. Ganz unten stehen „Primärreaktionen“ wie z. B. rhythmisches Klatschen oder Pfeifen, auch in Verbindung mit rhythmischem Sprechen (z. B. „Fußballfans sind keine Verbrecher“). Auf einer nächsten Stufe folgen Kurzgesänge und auf der höchsten Stufe die eigentlichen Gesänge. Diese greifen weniger auf aktuelle Songs, denn auf Oldies, Traditionals oder Evergreens zurück (z. B. Zieht den Bayern die Lederhosen aus auf Yellow Submarine von den Beatles). Reinhard Kopiez und Guido Brink, die sich 1999 als erste mit den Fangesängen beschäftigten, vertreten die Ansicht, dass es sich bei den Fangesängen um eine Art neues Volkslied handelt, allerdings weniger wegen des Melodieguts, sondern aufgrund der Art des Umgangs mit dem Lied. Gesungen wird aus Leidenschaft in der Gemeinschaft und zwar spontan; Ernst Klusen nennt dies „primärfunktional“. Er formulierte 1989 eine Theorie des Singens und nannte ritualisierte Verhaltensweisen, die hierbei eine wichtige Rolle spielen. Er nennt drei Komponenten: 1. ein nicht alltägliches Getränk, ein Narkotikum 2. eine nicht alltägliche Bewegung, ein Tanz 3. eine nicht alltägliche Kleidung, eine Maske. Im Schutze dieser drei Komponenten 2/14 38 akzent setzt der im Alltag nur selten singende Mensch seine Stimme ein. Alle drei Bedingungen finden sich bei den Fußballfans: Ein oftmals übermäßiger Alkoholgenuss, eine Art ritualisierte Tanzchoreografie (Klatschen über den Köpfen, Werfen der Arme nach vorne, „La ola“-Welle, Hüpfen, tranceartige Zustände) und die Kostümierung („Kutte“ oder Trikot bzw. weitere Accessoires in den Vereinsfarben) oder Gesichtsbemalung begleiten die Gesänge im Stadion. Aus psychoanalytischer Sicht fungiert das (Mit-)Singen dabei als Abfuhr innerpsychischer Spannungen, wie schon Géza Révész 1972 bemerkte. Es werden durch das Mitschreien Spannungen gelöst, was einen Lustgewinn schafft. Bereits das Kleinkind erfährt, dass es durch Schreien Macht ausüben kann. Schreien kann dabei als Ausdruck der Lust oder Unlust gesehen werden. Diese Funktion wird auch heute noch geteilt. Darüber hinaus gibt es weitere, gerade bei Fangesängen zu beobachtende Funktionen. Singen ist nach Stefanie Stadler Elmer ein Spiel. Singen und Spiel unterliegen gewissen Regeln, schaffen eine bestimmte (positive) Stimmung, haben eine zeitliche Begrenztheit und sie ermöglichen personale, soziale und geistige Verbindungen. Das ständige „Wiederholen und Miteinander tragen dazu bei, dass in singenden Gruppen kollektive Gefühle von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit verstärkt werden“, so Stadler Elmer. In diesem Kontext gewinnt der Begriff „Gruppenlied“, wie er ebenfalls von Ernst Klusen für den Umgang mit dem Lied beschrieben wurde, für Fangesänge an Bedeutung. Jede Gruppe, ob Arbeits-, Feier- oder Kultgruppe, habe demnach ihre eigenen Lieder. Der ursprüngliche Umgang mit diesen sei der eines primärfunktionalen Singens und somit Bestandteil des alltäglichen Lebens, wie z. B. das Martins- und Sternsingen, das Singen in der Kirche, das Singen im Stadion oder das Schlafliedsingen. Kopiez und Brink haben diese These in Bezug auf die Fan2/14 gesänge im Stadion vertreten, denn auch dort hat das Singen Primärfunktion, wo etwa „Fußballgötter“ angerufen werden oder eine bestimmte Verbundenheit mit dem Verein zum Ausdruck kommt. Die Kultgruppe heißt „Fußballfan“. Dessen Singen muss in dieser Funktion auch nicht schön im ästhetischen Sinne sein. Ein kräftiger, gegrölter Vortrag zeichnet die Singweise aus. Das Singen ist geprägt von Leidenschaft. Man setzt seine ganzen Emotionen im Fangesang um. Ein weiterer Aspekt aus dem Bereich der Sozialpsychologie darf in Bezug auf Fangesänge nicht außer Acht gelassen werden: das „Phänomen der Masse“. Hierbei spielen Richtung bzw. Ziel (Bier-, Musikkonsum, Spaß haben), Dichte (Überwindung der Berührungsangst, Enthemmung), Gleichheit (man spürt keinen Unterschied der Individuen; zugleich Uniformitätsdruck), Rhythmus (Händeklatschen, rhythmische Rufe, Singen) und Entladung (Ignorierung der im Alltag geltenden Normen) eine wichtige Rolle. Dies alles lässt sich 1:1 auf die Situation im Stadion übertragen. Werfen wir einen Blick auf die Beziehung Spiel/Fangesänge. Konkrete Spielsituationen oder Vorkommnisse, Torerfolge und die (Re-)Aktionen der gegnerischen Fangruppe bestimmen das musikalische Verhalten. Es sind Reaktionen auf Spannungs- und Entspannungszustände während des Spiels. Die musikalischen Aktivitäten dauern nicht allein die Spielzeit von 90 Minuten an, sondern beginnen meist schon eine Stunde vor Anpfiff im Stadion als eine Art „Einsingen“ und setzen sich über das Spiel hinaus fort. Deshalb sind – je nach Singfreudigkeit der Fangruppe und Spielverlauf – zwischen 100 und 200 musikalische Aktionen keine Seltenheit. Wann setzen aber bestimmte Kulthandlungen ein? Lieder werden vor allem vor und zu Spielbeginn, nach Torerfolgen oder kurz vor dem Ende gesungen, wenn die Partie bereits entschieden ist – d. h. in Situationen, in denen sich die Fans mehrheitlich in einer psychisch entspannten Verfassung befinden. Klatsch-Rhythmen, rhythmisiertes Rufen und Kurzgesänge setzen die Fans bei unentschiedenem Spielstand oder nur knappem Rückstand ihrer Mannschaft zur Anfeuerung ein. Weiterhin wurde festgestellt, dass eine Korrelation zwischen Spielverlauf und Quantität der musikalischen Aktionen besteht. Bleibt das Spiel längere Zeit unentschieden, so werden viele Rhythmen eingesetzt; kam bereits früh ein entscheidender Vorsprung zustande, so erklingen viele und verschiedene Lieder. Bei spielentscheidenden Vorsprüngen kommen darüber hinaus Melodien zum Einsatz, die bislang im Spiel noch keine Verwendung fanden. Was aber bislang praktisch nicht erforscht ist, ist die berechtigte Frage nach der tatsächlichen Wirksamkeit von Fangesängen auf den Spielverlauf. Ein Forschungsdesign nach empirischen Standards (Validität, Reliabilität, Objektivität) in Form einer Interventionsstudie mit einer Kontrollgruppe scheint jedoch sehr unrealistisch zu sein. Bleibt uns also weiter nur, auf die möglichst große Leidenschaft im Kult der Fans zu setzen. Georg Brunner ist Professor für Musik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und beschäftigt sich u. a. mit Fragen der Unterrichtsforschung sowie musiksoziologischen Themen (Musik der rechten Szene, Fangesänge).