Ronald Harwood Furtwängler, Kategorie 04

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Ronald Harwood Furtwängler, Kategorie 04
Ronald Harwood
Furtwängler, Kategorie 04
Was sagt Ihnen der Name Wilhelm Furtwängler? Dirigent, Musiker, Komponist,
einer der gefeiertesten Dirigenten der Musikgeschichte. Gewiss, soviel weiss man
.. Vielleicht besitzen Sie noch Langspielplatten 33 Umdrehungen in der Minute,
CDs wohl nur, wenn Sie spezielle Liebhaber sind, auf der Suche nach technisch
perfektionierten Furtwängler Aufnahmen. Vielleicht erinnert man sich noch dunkel an gewisse Unklarheiten in Furtwänglers Haltung zum Dritten Reich, die aber
- sieht man auf seine geradezu phänomenalen Erfolge und Triumphe nach dem
Krieg - nicht so bedeutungsvoll gewesen sein können. Was soll ein Stück über
einen Musiker, einen Dirigenten, was kann da bühnenwirksam und dazu abendfüllend dargestellt werden? Diese spannende Frage möchte ich in der Einführung
zu beantworten suchen und zugleich auch aufzeigen, wie Theater auch dort, und
vielleicht vor allem dort, echte dramatische Stoffe findet, wo man sie nicht vermutet.
Wilhelm Furtwängler wurde 1886 in Berlin geboren, er studierte in München Klavier und Komposition, begann seine Laufbahn als Korrepetitor in München bei
Felix: Mottl, wirkte dann als Dirigent in Strassburg, Lübeck, Mannheim - gefördert von Bruno Walter - darauf in Wien und wurde 1922 Leiter der Berliner Philharmoniker. Diesen Posten hatte er eigentlich bis zu seinem Tode im Jahre 1954
inne, unterbrochen nur durch zwei Jahre von 1945 - 1947. Auch war er Leiter der
Bayreuther Festspiele und der Berliner Staatsoper.
Furtwängler trat auch als Komponist hervor mit drei Sinfonien, einem Klavierkonzert, mit Violinsonaten. Als Komponist blieb er stilistisch der Spätromantik und
der Tonalität verpflichtet, als Dirigent ebenso: er galt als der herausragende Interpret der Musik des 19. Jahrhunderts, ohne sich allerdings der Moderne ganz
zu verschliessen. Die Genialität seines Dirigierens und Interpretierens hat der
Geiger Yehudi Menuhin in seiner Autobiographie folgendermassen gültig umschrieben:
"Einmal, in Luzern, verglich Furtwängler die Musik mit dem Fliessen eines Stromes: ihm müsse der Dirigent folgen, dabei auch die Topographie beachten, ob
die Flut durch enge Stromschnellen jage oder in die ruhige Ebene hinausführe. Er
hielt nichts von Methode, von metronomischer Strenge, jenen Massen und Gewichten musikalischen Krämertums; er verliess sich auf seine Intuition, die ihn
traumwandlerisch durch die Partitur leitete. Glücklicherweise führte ihn diese Intuition nicht auf Abwege: sie wurde von der Musik geformt, die sie ihrerseits
formte. Wie seine Plattenaufnahmen zeigen, dirigierte er dasselbe Stück niemals
gleich: Jedesmal unterwarf er sich dem Strom, der sich ja inzwischen verändert
haben mochte - vielleicht war es Frühling, und der Fluss floss von geschmolzenem Schnee über, vielleicht hatte es einen trockenen Sommer gegeben oder einen plötzlichen Gewittersturm mit Wolkenbruch ... Furtwängler fühlte sich tief in
seiner Vergangenheit verwurzelt, und er mag geglaubt haben, dass die Verpflanzung in ein anderes Land seine Identität gefährden würde und es tatsächlich eine
ethnische oder gar nationale Seele gebe, deren Melos zu einem Land gehört wie
seine Ebenen und Hügel, und dass seine musikalische Vorstellung am ehesten in
Deutschland, von einem deutschen Orchester gespielt, vor einem deutschen Publikum zu verwirklichen sei."
Menuhin trifft mit dieser Charakterisierung ins Schwarze. Nicht in erster Linie mit
dem, was er über Furtwänglers Musizieren sagt. Beschreibungen von Musik und
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musikalischer Interpretation verunglücken ohnehin meistens. Aber die letzten
Sätze führen uns nahe an das Stück heran, das wir heute Abend sehen werden,
nämlich, „dass seine musikalische Vorstellung am ehesten in Deutschland, von
einem deutschen Orchester gespielt, vor einem deutschen Publikum zu verwirklichen sei." Mit diesen Worten erfasst Menuhin das ganze Wesen Furtwänglers,
welches sein Verhältnis zur Musik aber auch - und das ist die Thematik des
Stücks - sein Verhältnis zum Dritten Reich und zum Nationalsozialismus bestimmt. Was heisst es, dass eine musikalische Vorstellung nur in Deutschland zu
verwirklichen sei, mit deutschen Musikern und nur vor deutschem Publikum? Bei
diesen Sätzen steigen, denke ich, in uns unangenehme Erinnerungen oder Assoziationen an Hitler Deutschland auf, als ob Musik etwas genuin Deutsches wäre,
wir spüren eine Instrumentalisierung und Zweckentfremdung von Musik für politische Zwecke. Wir denken aber unwillkürlich auch an Beethoven, an Brahms an
Schubert und Schumann, an Wagner und damit wirklich an eine deutsche und
nur-deutsche Musiktradition. Der Begriff "deutsche Musik" führt in ein Dilemma.
Es ist das Dilemma Furtwänglers in den Jahren 1933 - 45. Es geht um seine Haltung und sein Denken im Dritten Reich. Wir müssen ihm auf den Grund zu gehen
versuchen. Hermann Hesse: lässt im Steppenwolf seinen Harry Haller sagen:
"Lange hatte ich über mein merkwürdiges Verhältnis zur Musik nachgedacht und
hatte, einmal wieder, dies ebenso rührende wie fatale Verhältnis zur Musik als
das Schicksal der ganzen deutschen Geistigkeit erkannt. Im deutschen Geist
herrscht das Mutterrecht, die Naturgebundenheit in Form einer Hegemonie der
Musik, wie sie nie ein anderes Volk gekannt hat. Wir Geistigen, statt uns mannhaft dagegen zu wehren und dem Geist, dem Logos, dem Wort Gehorsam zu leisten und Gehör zu verschaffen, träumen alle von einer Sprache ohne Worte, welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestaltbare darstellt. Statt sein Instrument möglichst treu und redlich zu spielen, hat der geistige Deutsche stets gegen das Wort und gegen die Vernunft frondiert und mit der Musik geliebäugelt.
Und in der Musik, in wunderbaren seligen Tongebilden, in wunderbaren holden
Gefühlen und Stimmungen, welche nie zur Verwirklichung gedrängt wurden, hat
der deutsche Geist sich ausgeschwelgt und die Mehrzahl seiner tatsächlichen
Aufgaben versäumt. Wir Geistigen alle waren in der Wirklichkeit nicht zu Hause,
waren ihr fremd und feind."
Deutsches Wesen sei musikalisch, die deutsche Seele habe sich immer der Musik
zugewandt, nicht der Politik. Seele, Tiefe, Romantik, Schönheit, Natur. "Die Welt
ist tief und tiefer als der Tag gedacht" - das ist deutsch. Und Musik ist der irrationale Ausdruck dieser Tiefe. Kunst ist völlig unpolitisch! Politik und Kunst dürfen
niemals in Beziehung gesetzt werden, diese Beziehung gibt es nicht. Sie wäre
Verrat an den geistigen Werten. "Abstrakt und mystisch, also musikalisch, ist das
Verhältnis des Deutschen zur Welt." sagt Thomas Mann.
Dieses Denken wurde vor dem Ersten Weltkrieg zum Programm erhoben. Es gab
auch allen deutschen Intellektuellen - kaum einer ausgenommen - die Grundlage
zu ihrer heute unbegreiflichen Kriegsbegeisterung. Der Krieg ist ein Naturereignis, in ihm weht der grosse Atem der Geschichte. Der Krieg ist nichts Politisches,
er ist das unabänderliche Handeln des Weltgeistes. Auch Politik ist nichts anderes
- Politik ist Natur, Politik entsteht von selbst, entwickelt sich, wie Natur sich entwickelt. Der unpolitische Deutsche - und die Künstler verstanden sich alle als unpolitische Menschen - greift nicht ein in den Lauf der Dinge, er überlässt die Ereignisse dem Strom der Geschichte und seiner unergründlichen Tiefe. So haben
deutsche Künstler gedacht, so dachte auch Furtwängler. Die Politik dem Strom
der Geschichte überlassen, wie Furtwängler -nach Menuhins Meinung - die Musik
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dem Strom der Entwicklung überlässt, dem Strom der Intuition. Thomas Manns
Werk, in dem er sich mit den geistigen Hintergründen des Ersten Weltkriegs auseinandersetzt, heisst bezeichnenderweise "Betrachtungen eines Unpolitischen".
Furtwängler war geradezu ein Symbol, die Personifikation schlechthin dieses unpolitischen Deutschen, der seine grosse Kunst, seine grosse Musik in rein geistigen Sphären angesiedelt sieht, in höheren Welten. Er ist der unpolitische Deutsche, der dem, was in seiner Zeit politisch geschah, mit einer unerhörten Verständnislosigkeit gegenüber stand, einer Naivität, die eigentlich beispiellos ist.
Und doch auch nicht ganz. Denn auch der Nationalsozialismus hat seine Wurzeln
in diesem unpolitischen Denken. Hitlers Blut-und-Boden-Romantik und seine Irrationalität sind die Perversion des Tiefen, die Perversion dessen, was Hesse den
Hang zu einer Sprache ohne Worte nennt, welche das Unaussprechliche sagt und
das Ungestaltbare darstellt. Hitlers Ideologie, sein Staat, sind nur möglich gewesen, weil es dieses Unpolitische gab, weil auch das deutsche Volk bereit war, an
eine numinose Vorsehung zu glauben, an einen grossen Atem der Geschichte, an
etwas Mystisches, das mit ungeheuer abstrakten Mitteln und Methoden sich verwirklicht hat. Hitler war nur möglich, weil Deutschland bereit war, das Mystische,
Unpolitische um seiner selbst willen zu glauben. Fehlt aber dem Unpolitischen die
unbedingte Menschlichkeit, die für Furtwängler selbstverständlich war, dann wird
es pervers und verliert alle ordnenden Massstäbe. Dieses Unpolitische, das Furtwängler wie kein Zweiter repräsentierte, ist nicht nur eine Gegenwelt zum Nationalsozialismus, sondern es ist - der Menschlichkeit entkleidet - zugleich sein
Nährboden. Thomas Mann hat diese Gedanken in seinem grossartigen späten
Roman "Doktor Faustus" eindringlich dargestellt. Die musikalische, tiefe, unpolitische deutsche Seele gebiert im Verlust aller menschlichen Massstäbe den Teufel, den Nationalsozialismus in Form von Musik. Wilhelm Furtwängler ist im Dritten Reich in Deutschland geblieben. Er hat die unzähligen Gelegenheiten zur
Flucht nie genutzt, er kam wohl gar nie wirklich auf die Idee. Es war für ihn undenkbar, dass jemand sein Werk als Künstler in irgendeiner Form mit der Politik
der Machthaber in Verbindung bringen könnte. Furtwängler war niemals Nazi, er
war niemals Antisemit, er hat unzähligen Menschen das Leben gerettet, sie vor
dem KZ bewahrt. Er hat menschlich in den Jahren 33 - 45 nicht versagt. Aber
durch seine ungeheure unpolitische Naivität den tatsächlichen Verhältnissen gegenüber hat er sich schuldig gemacht, er hat den Nazi-Machthabern zu Propagandazwecken gedient, er hat zugelassen und nicht verhindert, dass die deutsche Musik, deren Repräsentant er war, in einem unbegreiflichen Masse für die
widerlichsten politischen Zwecke missbraucht wurde, er dirigierte DurchhalteKonzerte in Rüstungsfabriken, er machte Beethoven und Brahms und Mozart zu
Handlangern des Nazi-Regimes, und alles in der festen und absolut ehrlichen und
glaubwürdigen Überzeugung, nichts Unrechtes zu tun, nur der Kunst zu dienen,
die auch in einem Deutschland leben muss, in dem buchstäblich kein Stein mehr
auf dem anderen steht. Furtwängler ist nicht allein: Ich kann Richard Strauss'
"Vier letzte Lieder" nie hören ohne die bange Frage, wie es denn möglich ist,
dass Lieder von einer berückenden und geradezu unglaublichen Schönheit, in
einem Deutschland haben entstehen können, dessen Kultur und Kunst zerstört
und zertreten waren. Doch hören wir Furtwängler selbst; nach dem Krieg, im
Entnazifizierungsprozess, gibt er Folgendes zu Protokoll:
"Nach meiner Auffassung hat die Kunst nichts mit Politik, mit Machtpolitik, mit all
den Dingen, die dem Völkerhass entspringen und ihn hervorbringen, zu tun. Sie
steht über diesen Gegensätzen. Es muss Dinge geben, die von einer Gemeinschaft der Menschheit im Ganzen ausgehen, sie darstellt, von ihr zeugt. Dies zu
sagen ist heute doppelt vonnöten. Solche Dinge sind in erster Linie die Religion,
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dann aber auch die Wissenschaft und nicht zuletzt die Kunst. Gewiss zeugt die
Kunst von der Nation, der sie entstammt, aber von deren Tagespolitik nicht.
Kunst steht in Wahrheit, obwohl von ihnen ausgehend, über den Nationen. Es ist
die politische Funktion der Kunst, gerade in unserer Zeit überpolitisch zu sein.
Wenn ich daher als unpolitischer, überpolitischer Künstler in Deutschland blieb,
so habe ich schon dadurch aktive Politik gegen den Nationalsozialismus getrieben. Denn der Nationalsozialismus kennt nur eine politisierende Kunst an. Ich
wusste, dass Deutschland sich in einer furchtbaren Krise befand. Es war meine
Aufgabe, der deutschen Musik, für die ich mich verantwortlich fühlte, soweit es in
meinen schwachen Kräften lag, über diese Krise hinweg zu helfen. Das war vom
Ausland aus nicht möglich. Das Wesen der Musik besteht nicht darin, dass man
mit ihr etwas demonstriert - das war Hitlers Auffassung; ihr Wesen ihre Rechtfertigung liegt in ihr selbst. Die Sorge, vom Nationalsozialismus für seine Propaganda missbraucht zu werden, musste für mich zurücktreten vor der grösseren Sorge, die deutsche Musik, soweit es ging, in ihrem Bestand zu erhalten, mit deutschen Orchestern, mit deutschen Menschen weiterhin Musik zu machen"
Die Worte sprechen für sich. Wie kann ein Mensch nach 12 Jahren der Entbehrungen, ein Mensch, der als Künstler ausgenützt worden ist nach 12 Jahren noch
immer nicht gemerkt haben, welchen Dienst er seiner deutschen Musik wirklich
geleistet hat. Wie ist es möglich, dass ein hochintelligenter Mensch und hochsensibler Künstler in ehrlicher Absicht einer Kunst gedient hat, die in den Händen
der Machthaber nur ein Propagandamittel war? Und wie ist es möglich, dass ein
Mensch und Künstler an deutsche Musik glauben kann, wenn Millionen von Menschen in den Gaskammern ermordet werden? Und trotzdem kann man sich auch
dem Edeln und Vornehmen in den Worten Furtwänglers nicht verschliessen. Was
er sagt, ist trotz allem glaubwürdig. Auch wir spüren, dass es in Beethovens und
Schuberts Musik ein Unzerstörbares gibt, das über alles - auch über die Schrecken des Krieges - hinwegzutragen im Stande ist. Wer Furtwänglers Musik hört,
glaubt ihm, über alle vernünftigen Argumente hinweg. Das ist das Furchtbare
und Tröstliche zugleich. Von diesen Dingen handelt unser Stück heute Abend.
Der Konflikt zwischen dem reinen Künstler und der Gesellschaft hat eine grosse
literarische Tradition. Goethes Tasso steht in ihr, Tasso der reine Dichter und
Künstler, der sich den Regeln des Hofes von Ferrara nicht beugen kann und will
und deswegen vom Hofe verbannt wird. Thomas Manns "Tonio Kröger" und sein
"Tod in Venedig" stehen in dieser Tradition. Tonio Kröger, der erkennen muss,
dass ihn seine Geistigkeit und sein Dichterturn von der Gesellschaft und "den
Wonnen der Gewöhnlichkeit" trennen und einsam machen. Aber auch Gottfried
Keller steht in dieser Tradition: Viggi Störteler, der sich ohne Talent ein grosser
Dichter glaubt, verkommt, weil die Gesellschaft ihn nicht mehr ernst nimmt.
Man kann das Thema des Künstlers in seinem Gegensatz zur Politik ironisch behandeln, wie Gottfried Keller, heute Abend jedoch ist der Konflikt ein ernster: Es
ist der Konflikt zwischen dem unpolitischen Künstler Furtwängler und seinem
Verhalten im Dritten Reich und den Amerikanern, die nach dem Krieg ehrlich versucht haben, Deutschland zu entnazifizieren. Der Autor Ronald Harwood zeigt
diesen Konflikt auf in den Einvernahmen, denen sich Furtwängler 1946 stellen
musste. Auf der einen Seite steht der Major Arnold, der niemals das deutsche
Wesen Furtwänglers verstehen kann, auf der anderen steht Furtwängler selbst,
der letztlich ebenso verständnislos den Wesen des Amerikaners gegenübersteht.
Am Schluss bleibt alles offen. Keiner gewinnt, die Seiten nähern sich einander
kaum an. Am Schluss steht die Sympathie des Zuschauers für beide Seiten: für
die ehrliche und offene Art des Amerikaners, der sich redlich bemüht, Verbrechen
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aufzuklären und zu sühnen und ebenso für die vornehme und edle Art Furtwänglers, der unverbrüchlich an eine Kunst über den Gegensätzen glaubt.
24. März 2001
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