1. Der Ist-Stand: Vielfalt im Klassenzimmer

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1. Der Ist-Stand: Vielfalt im Klassenzimmer
1.
Der Ist-Stand: Vielfalt im Klassenzimmer
Das Seminar „Verantwortungspartnerschaften interkulturelles Lernen – eine Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts“ baute auf einer Grundannahme auf: In Deutschlands
Klassenzimmern herrscht migrationsbedingt eine immer größere Vielfalt der Kulturen
und Ethnien. Deutschland ist ein Einwanderungsland und hat sich mittlerweile auch zu
den damit verbundenen Herausforderungen und Aufgaben bekannt. Die Grundschulklassenzimmer deutscher Großstädte werden in den kommenden Jahren etwa ein Drittel Kinder mit Migrationshintergrund aufweisen, gebietsweise ist diese Zahl schon Realität. 1
Viele dieser Kinder sind bereits in Deutschland geboren. Auffällig ist bei allen Studien zu
diesem Thema das schlechte schulische Abschneiden der SchülerInnen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund. Es besteht ein
sehr enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, beziehungsweise Milieu, und den
sprachlichen Kompetenzen der SchülerInnen sowie den allgemeinen Schulleistungen. 2
Diese Ergebnisse resultieren, wie angenommen wird, aus mangelnder Chancengleichheit
und mangelnder Förderung leistungsschwächerer Kinder.
„Zukunftsfähig sind nur Gesellschaften, die mit Vielfalt konstruktiv umgehen“. Es ist die
Rede von einer Schicksalsfrage für die Zukunft des Landes. 3 Wenn Deutschland seinen
aktuellen wirtschaftlichen Status bewahren möchte, muss in die Förderung aller Kinder
investiert werden. Es darf keine Bildungsverlierer mehr geben. Über Bildung werden die
gesellschaftlichen Chancen auf gleichberechtigte Teilhabe und Zugehörigkeit geregelt.
Bildung erschließt gemeinsame Werte und ermöglicht somit Identifikation, Zusammengehörigkeit und Respekt. 4 Jedes Kind muss eine faire Chance zum gesellschaftlichen
Aufstieg durch Bildung erhalten. Auch auf moralischer Ebene mahnt die Verantwortung
zu verstärktem Engagement: Verantwortungspartnerschaften heißt auch, sich für andere
und ihr Schicksal einzusetzen. Die Schule einer Einwanderungsgesellschaft benötigt eine
angemessene und realitätsbezogene Herangehensweise an aktuelle Problemstellungen. Sie
muss neuen Herausforderungen gelassen entgegensehen, aber entschieden und kompetent
1
Günther, Herbert: Sprache als Schlüssel zur Integration. Sprachförderung aus pädagogischer Sicht. Weinheim und Basel 2011, S. 49. Günther bezieht sich auf den Bericht des Sachverständigenrates deutscher
Stiftungen für Integration und Migration des Statistische Bundesamtes 2010.
2
Günther, S. 49.
3
Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Integration braucht faire Bildungschancen. Carl Bertelsmann-Preis 2008.
Gütersloh 2008, S. 9.
4
Süssmuth, Rita: Zukunftsfähig sind nur Gesellschaften, die mit Vielfalt konstruktiv umgehen – Migration
und Integration als globale Chance und Herausforderung. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Integration
braucht faire Bildungschancen. Carl Bertelsmann-Preis 2008. Gütersloh 2008, S. 17-25, hier S. 18.
1
handeln. Die existierende Vielfalt muss, wie auch das Seminar aufzeigte, konstruktiver
genutzt werden. Inklusion statt Exklusion. Miteinander statt gegeneinander. Das sind die
Prämissen. Zentrale Fragen sind auch, wie Konfrontationen vermieden, Kenntnis von
einander ermöglicht, wechselseitige Verständigungs- und Annäherungsprozesse in Gang
gesetzt werden können. 5 Diese Arbeit setzt an diesem Punkt an und möchte am Beispiel
der musischen Projektarbeit einer Schule im Landkreis Marburg-Biedenkopf zeigen, dass
zum einen Integration, nicht nur von SchülerInnen mit Migrationshintergrund, sondern
auch von leistungsschwächeren Kindern mit schwachem sozialen Hintergrund, möglich
ist, zum anderen eine solche Projektarbeit sprachliche und allgemeine Kompetenzen und
somit auch letztlich die allgemeinen schulischen Leistungen der Kinder aktiv verbessern
kann. Süssmuth schreib, dass Integration sich in erster Linie auf lokaler Ebene vollzieht.6
Die Aufführung des Musicalprojektes „Von Hexen und Hühnern“ der Martin-von-ToursSchule in Neustadt/Hessen hat im Schuljahr 2011/12 anschaulich zu Tage gefördert, zu
welchen Leistungen auch schwächere SchülerInnen bei geeigneter Förderung und einer
entsprechenden Lernumgebung fähig sind. Zunächst ist es jedoch zielführend, eine theoretische Betrachtung der aktuellen Situation an deutschen Schulen vorzunehmen, die sich
vorwiegend auf den Aspekt der Integration von SchülerInnen mit Migrationshintergrund
konzentriert.
2.
Aktuelle Situation: Deutschland ist Einwanderungsland
Deutschland besitzt eine große ethnische Vielfalt. Für das Jahr 2011 gilt, dass von den
81,8 Millionen Einwohner Deutschlands 15,962 Millionen einen Migrationshintergrund
haben. Von diesen Personen sind 8,771 Millionen Deutsche und 7,191 Millionen Ausländer. Somit beträgt der Anteil der Deutschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung 10,7 % und der Ausländeranteil 8,8 %. Demzufolge haben ca. 19,5 % der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund. Stellt man sich dies bildlich vor, ist es fast
jede fünfte Person. Den stärksten Zuwachs hat zwischen der letzten Datenerhebung im
Jahr 2005 und jener im Jahr 2011 die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund
aber ohne eigene Migrationserfahrung verzeichnet. Hierbei handelt es sich um die im Inland geborenen Nachkommen von Zuwanderern. Diese Gruppe ist zu differenzieren in
5
6
Vgl. Süssmuth, S. 20.
Süssmuth, S. 22.
2
diejenigen, die in Deutschland geborene Ausländer sind (ca. 1,52 Millionen Personen)
und diejenigen, die als Deutsche mit Migrationshintergrund aber ohne eigene Migrationserfahrung gelten (ca. 3,33 Millionen Personen). 7 Sofern die Elterngeneration dieser
Nachkommen bereits hinreichend integriert wurde, stellt dieser recht hohe Anteil an Zuwanderernachkommen kein Problem dar. Wurde aber eine Integration der Elterngeneration versäumt, setzt sich die daraus resultierende Problematik fort. Wie bereits angedeutet
hat jedes dritte Kind unter sechs Jahren bereits einen Migrationshintergrund. 8 Per Definition sind Personen mit Migrationshintergrund jene „nach 1949 auf das heutige Gebiet der
Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenem Elternteil.“ 9
Wie aus der Einleitung hervorgeht, ist Deutschland nach der Akzeptanz, dass es ein Einwanderungsland ist, bewusst geworden, dass es dringenden Nachholbedarf in der Integration der eingewanderten Personen und ihrer Nachkommen hat. Sprachbarrieren verhindern teilweise in der dritten Generation die aktive Teilhabe der Zuwanderer an der Gesellschaft. Zudem ist die nachholende Integration heute die wichtigste Säule deutscher Integrationspolitik, ein Hinweis darauf, dass präventive und begleitende Integration offenbar
nicht ausreichend erfolgt sind. 10Als Definition von Integration wird die „möglichst chancengleiche Teilhabe an zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wie Wirtschaft
und Arbeitsmarkt, Erziehung, Bildung und Ausbildung, Wohnen und Wohnumfeld, an
den Fürsorge- und Schutzsystemen für Gesundheit und Recht“ verstanden. 11 SÜSSMUTH
ergänzt, dass Integration die Achtung der Grundwerte der EU erfordere. 12 Da die Schulen
die Bildungsorgane unseres Staates sind und eine erfolgreiche Schullaufbahn meist untrennbar mit sozialem Erfolg verbunden ist, wirkt sich dieser Umstand direkt auf den
schulischen Gestaltungsspielraum aus. Integrationsarbeit wurde selbstverständlich bereits
in der Vergangenheit geleistet und auch mit Erfolg. Doch wie die Ergebnisse der PISA7
Migrationsbericht des Statistischen Bundesamtes 2011:
http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht2011.pdf?__blob=publicationFile, S. 155-156. Letzter Zugriff: 20.11.2013
8
9
Günther, S. 49.
Statistisches Bundesamt:
http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht2011.pdf?__blob=publicationFile, S. 154. Letzter Zugriff: 25.11.2013.
10
Bade, Klaus J.: Integrationsförderung: Nachholend – begleitend – vorausplanend. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Integration braucht faire Bildungschancen. Carl Bertelsmann-Preis 2008. Gütersloh 2008, S.
171-178, hier S. 173.
11
Vgl. Definition Integration von Bade, Klaus J.: Integrationsförderung, S. 171.
12
Vgl. Süssmuth, S. 20.
3
und OECD Studien der letzten Jahre zeigen, besteht in Deutschland nach wie vor ein enger Zusammenhang zwischen schulischem Bildungserfolg und sozialem Milieu sowie der
Herkunft. Auffällig und somit problematisch dabei: Kinder mit Migrationshintergrund
durchlaufen die Schule meist weniger erfolgreich. 13 Als Faktorenbündel für ge- oder
misslungene Integration gelten: 1) die Soziallage der Eltern und der gesamten Familie, 2)
das Schulsystem, das die Kinder durchlaufen, 3) die politischen Rahmenbedingungen und
4) das Erziehungs- und Bildungspotenzial der Familie. 14 Aufgrund dieser Bedingungen ist
für Deutschland abzuleiten, dass Integration und Migration zentrale Themen der Bildungspolitik sind und sein müssen. Sprache ist dabei der Schlüssel zu einer gelungenen
Teilhabe. Die menschliche Sprache sei der Schlüssel für erfolgreiche Integrationsprozesse
in allen Lebenslagen und –bereichen. Die große, der Sprache innenwohnende kreative
und soziale Kraft sei der eigentliche Motor einer erfolgreich ablaufenden Integration.
Diese sei ein fortwährender und nicht stillstehender Prozess, so GÜNTHER. 15 Somit ist es
Aufgabe der Schulen, bevor andere Prozesse zum Tragen kommen, zunächst die vorhandenen Sprachbarrieren abzubauen. Dies kann intensiv durch Sprachförderklassen geschehen oder integrativ im normalen Unterricht. Allgemein ist wichtig, dass Bildung von Anfang an stattfindet, das bedeutet, dass frühe Sprachförderung und frühkindliche Förderung
massiv zum Integrationsprozess beitragen und Bildung überall stattfindet und stattfinden
muss. 16 Letztlich kann echte Integration nur gelingen, wenn sie auch der Einwanderungsgesellschaft abverlangt wird. 17 Interkulturelles Lernen hat bislang in Theorie und Praxis
einen nachrangigen Stellenwert. 18 Es ist Zeit für Veränderungen. LANPHEN schreibt, dass
jeder Bürger der BRD zum Integrationserfolg seiner zugewanderten Mitmenschen beitragen kann und muss. Damit ist nicht nur die Institution Schule in der Pflicht, sondern jeder
Einzelne.
13
Vgl. Günther: Sprache als Schlüssel zur Integration, S. 49., der sich auf die entsprechenden Ergebnisse
einschlägiger Studien bezieht.
14
Günther, S. 51.
15
Günther S. 8.
16
Günther, S. 56.
17
Lanphen, Judith: Kooperatives Lernen und Integrationsförderung. Eine theoriegeleitete Intervention in
ethnisch heterogenen Schulklassen. Münster, New York, München, Berlin 2011, hier S. 15.
18
Vgl. Süssmuth, S. 20.
4
3.
Konkretes Beispiel: Umgang mit Vielfalt an der integrierten
Martin-von-Tours-Schule (Neustadt in Hessen)
Wie angedeutet, tut ein konstruktiver Umgang mit der in unserer Gesellschaft gegebenen
Vielfalt Not. Heterogenität ist Alltag und für LehrerInnen alltägliche Wirklichkeit. Da
lohnt es, Worthülsen wie „Integration“, „Chancengleichheit“ und „gemeinsames Lernen“
auf ihren Kern hin zu untersuchen und mit Inhalt zu füllen.
Bildquelle:http://www.facebook.com/pages/Martin-von-Tours-Schule-NeustadtHessen/533881660026227. Letzter Zugriff: 26.11.2013
Die Martin-von-Tours-Schule im hessischen Neustadt ist eine integrierte Gesamtschule
und weist eine hohe Zahl an SchülerInnen mit Migrationshintergrund auf. Nahe dem mittelhessischen Industriestandort Stadtallendorf gelegen, haben sich im Zuge deutscher
Gastarbeiterpolitik der Vergangenheit viele vorwiegend türkischstämmige Familien dort
angesiedelt. Auch gehen in Neustadt zahlreiche SchülerInnen mit Migrationshintergrund
zur Schule, deren Eltern in den 1990er Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion zurück
nach Deutschland gesiedelt sind. Exakte Zahlen liegen mir leider nicht vor, da diese Da-
5
ten offenbar vom System nicht erfasst werden. 19 Jedoch berichtete mir meine Kontaktlehrerin Frau Krapp, man müsse in den ersten Klassen die Kinder ohne jeglichen Migrationshintergrund geradezu suchen. Ethnische Heterogenität und somit auch sprachliche
Heterogenität sind an der Martin-von-Tours-Schule Alltag. Dies ist ein weiterer Grund,
weshalb die Schule den Weg von einer kooperativen zu einer integrierten Gesamtschule
mit offenem Ganztagsangebot beschritten hat. Sie hat ihren eigenen Weg zum Umgang
mit vorhandener Vielfalt gefunden. Selbstorganisiertes Lernen ist ein großes Thema, es
wird Wert darauf gelegt, dass jedes Kind seiner Begabung entsprechend individuell gefördert und gefordert wird. Auch behinderte SchülerInnen werden inklusiv im Klassenverband betreut. Im Leitbild der Schule heißt es: "Durch selbstständiges, soziales und
gemeinschaftliches Lernen entwickeln sich die Kinder zu starken Persönlichkeiten und
erreichen den für sie höchstmöglichen Schulabschluss." 20 Vielfalt soll als Ressource genutzt werden, Ziel ist das gemeinsame Leben und Lernen. Der folgende Zeitungsbericht
zeigt komprimiert das Schulkonzept auf und berichtet auch über aktuelle Probleme der
Schule, die auch Erwähnung finden müssen:
19
Die Gesamtzahl der SchülerInnen liegt derzeit bei 527. Jedoch wurde die Website zuletzt im Mai 2013
aktualisiert. Vgl.: http://www.region-mittelhessen.de/leben-inmittelhessen/schulwegweiser/gesamtschulen/sww/alle/Martin-von-Tours-Schule%2BNeustadt/index.html.
Letzter Zugriff: 26.11.2013.
20
Homepage der Martin-von-Tours-Schule: http://www.martin-von-tours-schule.de/index.php/2012-09-0512-21-53/leitbild-zukunft. Letzter Zugriff: 26.11.2013.
6
Quelle des Zeitungsberichtes vom 12.09.2012: http://www.martin-von-toursschule.de/index.php/archiv/2012-09-12-11-11-38/2012-09-13-18-34-51/schulentwicklung
Ausgehend von dem in verschiedenen Studien bemängelten Punkt "Chancengleichheit"
muss das Konzept der integrierten Gesamtschule in Neustadt gelobt werden. Auslese und
frühe Differenzierung finden nicht statt. Es wird gefordert und gefördert, integriert und
binnendifferenziert. Natürlich stößt auch dieses Konzept an seine Grenzen, denn SchülerInnen und Eltern müssen mit dem Lehrpersonal an einem Strang ziehen. Wie bereits erwähnt, kann Integration nur funktionieren, wenn beide Seiten daran arbeiten. Für Frau
Krapp ist Integration im schulischen Bereich dann gelungen, "wenn man eine Konversationsform gefunden hat, die übereinstimmt. Wenn man dieselbe Sprache spricht, wenn man
sich versteht, wenn man die gleichen gesellschaftlichen und sozialen Regeln kennt und
akzeptiert. Sprache ist das Instrument, um miteinander zu interagieren." Sie betont auch,
dass das schulische Miteinander gut funktioniere, obwohl die Kinder zu Hause oft in eine
andere Welt eintauchten, die sich von der schulischen stark unterscheide. Auch sprachlich, denn zu großen Teilen werde zu Hause die Muttersprache gesprochen, was sich leider auch häufig in den Schulleistungen der Kinder niederzuschlagen droht. Dem wird
durch Förderunterricht, der auch gezielte Sprachförderung enthält, vorgebeugt. In dem
7
vorliegenden Zeitungsartikel wird das "optimale Förderkonzept" ausdrücklich betont. Zu
dieser hoch geschätzten Förderung gehört das offene Ganztagsangebot der Schule. Hierin
findet sich auch die Theater-AG wieder, der ich aus gutem Grund meine Aufmerksamkeit
widmen möchte.
4.
Das Musical-Projekt „Von Hexen und Hühnern“ 2011/12
Das Musical "Von Hexen und Hühnern" 21 wurde als Gemeinschaftsprojekt der TheaterAG unter der Leitung von Frau Christiane Krapp, der Chor-AG unter der Leitung von
Frau Claudia Maurer sowie der Kunst-AG, der Frau Ulrike Schreiner vorstand, zur Aufführung gebracht. Es war ein voller Erfolg auf ganzer Linie und hat mich persönlich aufgrund der fantastischen Leistungen der Kinder sehr begeistert.
Bildquelle: http://www.martin-von-tours-schule.de/index.php/archiv/integrierte-gesamtschule/2012-01-2515-25-49/monatsmenue-juni-11-12/boeser-zauber
21
Text und Musik von Markus Munzer-Dorn
8
Quelle des Zeitungsberichtes vom Juni 2012: http://www.martin-von-toursschule.de/index.php/archiv/2012-09-12-11-11-38/2012-09-13-18-34-51/qhuehnerhaufenq
Für das Seminar "Verantwortungspartnerschaften interkulturelles Lernen" ist dieses Musical-Projekt von Interesse, weil es ein gutes Beispiel für Integration und gemeinsames
Lernen ist. Von den 42 beteiligten SchülerInnen haben 15 einen Migrationshintergrund,
was 35,7% der Kinder ausmacht. Für die Chor-AG lässt sich das Bild beispielhaft etwas
genauer differenzieren, da mir hier das notwendige Hintergrundwissen vorliegt. Von 16
Kindern haben sieben einen direkten Migrationshintergrund. Fünf SchülerInnen kommen
aus schwierigen Familienverhältnissen, haben schwerwiegende Lernschwächen oder massive gesundheitliche Beeinträchtigungen. Den Kindern merkte man von ihren persönlichen Problemen und Hintergründen auf der Bühne nichts an. Mit Hingabe sangen sie ihre
Stücke und das mit einer für einen Kinderchor erstaunlichen Professionalität.
Wie kam es dazu?
9
4.1
Gemeinsam voneinander miteinander lernen?
Über Theaterarbeit als integrierendes Moment
Hinter der gelungenen Aufführung des Musicals steckt ein hartes Stück Arbeit aller Beteiligten, nicht zuletzt auch der SchülerInnen. Die Kunst war es, aus einer sehr heterogenen
Gruppe eine spiel- und singfähige Gruppe zu entwickeln, die in der Lage ist, ihr Projekt
selbstbewusst und mit Spielfreude zu präsentieren. Wie bereits erwähnt, brachten die
Kinder die unterschiedlichsten Voraussetzungen mit. Frau Krapp betonte im Gespräch,
dass es für die Theaterarbeit allgemein vollkommen unerheblich sei, ob jemand in
Deutsch oder Mathematik schlecht sei. Wichtig sei, dass jeder "hier so gut mitmacht, wie
er kann." Für jeden finde sich eine passende Rolle. Die Regeln der Theater- und Chorarbeit sind klar definiert: "Wie unterstützen uns gegenseitig. Wir lachen nicht übereinander,
weil wir noch nicht gleich alles können müssen, denn wir sind hier, um zu lernen. Wir
machen uns gegenseitig Mut. Wenn jemand etwas gut gemacht hat, dann wird geklatscht.
Es wird niemand ausgegrenzt." Was ist der Theorie einfach klingt, ist für die SchülerInnen durchaus ein längerer Lernprozess. Auf meine Frage, ob solche Regeln am Anfang
der Probenphase gemeinsam erarbeitet werden, antwortete Frau Krapp, dass sie sich bemühe, den SchülerInnen situativ deutlich zu machen, welches Verhalten erwünscht und
richtig ist. Beispielsweise, wenn jemand über einen anderen Spieler lacht. "Dann klären
wir so etwas gleich, wenn es passiert." Es funktioniert.
Ein kleines Beispiel zu Integration in die Gruppe und gemeinsamen Lernen: Schülerin L.
befand sich zum Startpunkt der Proben in der ersten Klasse und war die kleinste, ein sehr
zartes, ruhiges Mädchen. L. wollte gerne mitmachen, sie konnte allerdings keinen Ton
singen und war sehr schüchtern. Oft brach sie in Tränen aus und meinte, sie könne das
nicht. Auch ihre Mutter war sich hinsichtlich der Fähigkeiten ihrer Tochter unsicher und
äußerte gegenüber der Lehrerin ihre diesbezüglichen Ängste. Zu einer Probe, so berichtete mir Frau Krapp, kam L. ganz verweint und meinte zu den anderen Kindern mit piepsiger Stimme "Ich schaff das nicht!". Die anderen Kinder und die Lehrerin hätten darauf
reagiert, indem sie ihr sagten, dass sie das schaffen würde und dass die Gruppe sie unterstütze. "Wir helfen dir. Da hat sie sich gefreut dann und in kleinen Schritten ihre Rolle
gemeistert. Jetzt braucht sie keine Unterstützung in der Form mehr, sondern steht hier und
kann das." Frau Krapp bezieht sich beim letzten Teil des Satzes auf die Gegenwart. L. hat
nicht nur mit der Unterstützung der anderen Kinder und der intensiven Betreuung durch
10
die Lehrerin das Singen recht ordentlich gelernt, sondern auch ihre persönliche Herausforderung gemeistert und einen schönen Auftritt gehabt. "Für ihre Persönlichkeitsentwicklung hat ihr das Musical wirklich sehr viel gebracht.", so Frau Krapp. Deshalb wirkt
sie jetzt auch beim neuen Singspiel, einer Adaption von "Cinderella", mit. Hier macht sie
einen selbstbewussten, integrierten Eindruck.
Entwicklungspsychologisch betrachtet hat das Theaterspielen einige Vorteile zu bieten.
Spielverhalten und kognitive Entwicklung beeinflussen einander, Kreativität wird gefördert. Auf das Sprachverhalten wirkt sich das Spiel hinsichtlich Wortschatzerweiterung,
Flüssigkeit der Rede, Lesefähigkeit und syntaktischer Differenzierung als wesentliche
Punkte aus. 22
4.2
Bericht: Hospitation der aktuellen Proben zu "Cinderella" 23
Meine Beobachtung einer aktuellen Probe der neuen Produktion der Theater-AG war aufschlussreich. Sehr schön konnte ich gruppendynamische Prozesse beobachten, die unter
den Kindern entstehen. Schnell wurde deutlich, dass die SchülerInnen die Prämisse "jeder
ist gleichwichtig, egal, was für eine Rolle er hat" sehr gut verinnerlicht haben. Die Kinder
begegnen einander tatsächlich mit Respekt. An einigen Stellen erinnern sie sich gegenseitig an Elemente des zu probenden Spiels, wie etwa, dass dem imaginären Publikum der
Rücken nicht zugedreht werden darf und helfen sich bei "Texthängern". Sie lernen miteinander und auch voneinander. Gesten und Mimik werden beim Spielpartner abgeschaut,
reflektiert und auf die eigene Figur angewendet. Die aktuelle Theater-AG ist dabei aus
den Klassen zwei, drei und vier zusammengesetzt, es handelt sich um etwa 15 Kinder, gut
die Hälfte davon mit Migrationshintergrund. Seit den Herbstferien steht das Stück fest
und die Proben haben langsam begonnen. Die SchülerInnen haben nicht nur ihre Rollen
samt ihren Eigenschaften selbst bestimmt, sondern sich auch die Namen sowie die Geschichte rund um das Motiv "Cinderella" ausgedacht. Die Leiterin der AG integrierte diese Geschichten in das Stück und so ergab sich ein gemeinsam mit den Kindern verfasstes
Singspiel. Meine Frage an Frau Krapp, wie schwächere oder desintegrierte Kinder in die
Gruppe aufgenommen und eingebunden werden, beantwortete sich über die bereits ge22
Eichholz, Rolf/Friderichs, Gudrun: Integration von Ausländer- und Aussiedlerkindern. Unter besonderer
Berücksichtigung der polnischen Aussiedlerkinder. Frankfurt am Main et. al. 1992, hier S. 89.
23
Hospitation am 21.11.2013, 13.30-15.00 bei der Theater-AG unter der Leitung von Frau Krapp.
11
nannten Grundsätze. Für die Theaterarbeit ist es nur wichtig, Theater spielen zu wollen.
Andere Schulleistungen sind nebensächlich. Solange sich jeder ernsthaft bemüht -und das
merken die Kinder- ist er oder sie ein Teil der Gruppe und wird auch so behandelt. An
dieser Stelle lohnt es, kurz auf ein Beispiel zurückzukommen. Schüler B., mit Migrationshintergrund, hat bis zum Alter von sechs Jahren fast kein Wort gesprochen, weder
Deutsch noch seine Muttersprache. Diese Entwicklungsstörung hat wohl psychische Ursachen, näheres erfuhr ich nicht. Nach dem Besuch der Vorklasse befindet er sich jetzt in
Jahrgangsstufe zwei und hat kleine Fortschritte gemacht. Mittlerweile verweigert er das
Sprechen nicht mehr systematisch, indem er den Mund zupresst und schweigt. Jetzt hat er
sich sogar freiwillig für die Theater-AG angemeldet und bringt sich ein so gut er kann.
Bei meinem Besuch, so teilte mir Frau Krapp später mit, hat er das erste Mal seinen
"Satz" im Fluss der Handlung ohne direkte Aufforderung gesagt. Es handelte sich um das
Wort "Gnädigste!", verbunden mit einer schönen Verbeugung, der Rest seiner Rolle ist
ohne Text. Jedes Kind wird einbezogen und ist für das Gelingen des Stücks wichtig, das
ist die Botschaft, die immer vermittelt wird. Für Schüler B. beurteilt Frau Krapp die Theaterarbeit als lehrreich. Er habe eine unsichere, schwache Persönlichkeit, sei sehr leistungsschwach. Hier könne er seine Hemmungen überwinden. Dies hat er bereits ein Stück
weit getan, indem er bei meinem Besuch sogar vor jemand Fremden seinen Part gespielt
hat. Bei der Aufführung werden ihn der Erfolg und der Applaus der Menschen um Längen in seiner Entwicklung voranbringen, da ist sich Frau Krapp sicher. Ein weiterer Schüler, M., konnte zu Beginn der Proben äußerst schlecht lesen. Mittlerweile liest er seinen
Einsatz immerhin flüssig und kann dem Spielverlauf folgen, während er auf seine Textzettel blickt. Es ist wahrscheinlich, dass das Theaterspielen auch einen Beitrag für die
Sprachförderung leistet. Denn: Abstrakte Worte wie beispielsweise "königlicher Hof"
müssen von den SchülerInnen mit Sinn gefüllt werden. Wieder und wieder lesen sie ihre
Rollen, sprechen ihren Text, lernen ihn auswendig und spielen dann mit eingeübter Bewegung gemeinsam mit den anderen Kindern.
12
5.
Das Fazit: Lichtblicke
Dass die zukunftsfähige Schule einer Einwanderungsgesellschaft sich dieser anpassen und
andere Schwerpunkte als in der Vergangenheit setzen muss, ist eine längst bekannte Tatsache. Dass Integration, Förderung aller Kinder gleichermaßen für das Ziel der Chancengleichheit, Binnendifferenzierung im Unterricht und allgemein ein angemessener Umgang
mit Heterogenität erfolgen muss, ist bei vielen Schulen angekommen. Die LehrerInnen
der Martin-von-Tours-Schule sind sich des Wandels bewusst und diese Schule dient als
ein gutes Beispiel für den Betrachtungsaspekt "Schulen im Wandel". Ob speziell dieser
Schule der Wandel dauerhaft gelingt und die integrative Schulform in Neustadt überleben
kann, ist, wie der Zeitungsartikel vom 12.09.2012 gezeigt hat, noch nicht gewiss. Fakt ist,
dass sich im Kleinen um Chancengleichheit und Integration bemüht wird. Besonders hervorzuheben ist im Falle dieser Hausarbeit die musische, projektbezogene Theater- und
Chorarbeit. Als Fazit kann man ziehen, dass es überall auch Lichtblicke gibt: Die Schulbesuche während des Seminars haben es gezeigt und meine eigene Erfahrung durch meine Hospitation und den Kontakt mit der Martin-von-Tours-Schule bestätigen diesen Eindruck: Der Wandel ist in den Köpfen der Menschen angekommen. Jedes Kind wird gebraucht. Auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels können keine "Ressourcen", und Kinder werden durchaus als Ressource betrachtet, verschwendet werden.
Herkunft darf nicht mehr allein über Zukunft bestimmen. Erfolgswege müssen ermöglicht
werden, Kulturen für einander erschlossen werden. Dazu leistet die Theaterarbeit einen
wichtigen Beitrag. Durch das Musical lernten jene SchülerInnen mit Migrationshintergrund den groben Inhalt des deutschen Märchens von Jorinde und Joringel kennen. Theaterspielen fördert allgemein die geistige und emotionale Entwicklung der Kinder hin zu
mündigen, aktiv partizipierenden Gliedern unserer Gesellschaft. Anerkennung und Wertschätzung für einander werden, gemeinsam mit den Inhalten, gelernt. Jeder ist wichtig.
Und jeder trägt für den anderen eine Verantwortung.
13
6.
Literatur und Quellenangaben
Bade, Klaus J.: Integrationsförderung: Nachholend – begleitend – vorausplanend. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Integration braucht faire Bildungschancen. Carl BertelsmannPreis 2008. Gütersloh 2008, S. 171-178.
Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Integration braucht faire Bildungschancen. Carl Bertelsmann-Preis 2008. Gütersloh 2008.
Eichholz, Rolf/Friderichs, Gudrun: Integration von Ausländer- und Aussiedlerkindern.
Unter besonderer Berücksichtigung der polnischen Aussiedlerkinder. Frankfurt am Main
et. al. 1992.
Günther, Herbert: Sprache als Schlüssel zur Integration. Sprachförderung aus pädagogischer Sicht. Weinheim und Basel 2011.
Lanphen, Judith: Kooperatives Lernen und Integrationsförderung. Eine theoriegeleitete
Intervention in ethnisch heterogenen Schulklassen. Münster, New York, München, Berlin
2011.
Süssmuth, Rita: Zukunftsfähig sind nur Gesellschaften, die mit Vielfalt konstruktiv umgehen - Migration und Integration als globale Chance und Herausforderung. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Integration braucht faire Bildungschancen. Carl Bertelsmann-Preis
2008. Gütersloh 2008, S. 11-25.
Internet- und Bildquellen:
Auf der Suche nach mehr Schülern. Quelle des Zeitungsberichtes vom 12.09.2012:
http://www.martin-von-tours-schule.de/index.php/archiv/2012-09-12-11-11-38/2012-0913-18-34-51/schulentwicklung
Der Hofstaat wird zum gackernden Hühnerhaufen. Quelle des Zeitungsberichtes vom Juni
2012: http://www.martin-von-tours-schule.de/index.php/archiv/2012-09-12-11-1138/2012-09-13-18-34-51/qhuehnerhaufenq
14
Homepage der Martin-von-Tours-Schule: http://www.martin-von-toursschule.de/index.php/2012-09-05-12-21-53/leitbild-zukunft. Letzter Zugriff: 26.11.2013
Migrationsbericht des Statistischen Bundesamtes 2011:
http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migratio
nsbericht-2011.pdf?__blob=publicationFile Letzter Zugriff: 20.11.2013
Schüler und Lehrer der Martin-von-Tours-Schule:
Bildquelle: http://www.facebook.com/pages/Martin-von-Tours-SchuleNeustadtHessen/533881660026227. Letzter Zugriff: 26.11.2013
Schülerzahlen der Martin-von-Tours-Schule :
http://www.region-mittelhessen.de/leben-inmittelhessen/schulwegweiser/gesamtschulen/sww/alle/Martin-von-ToursSchule%2BNeustadt/index.html. Letzter Zugriff: 26.11.2013.
Von Hexen und Hühnern - Aufführung. Bildquelle: http://www.martin-von-toursschule.de/index.php/archiv/integrierte-gesamtschule/2012-01-25-15-25-49/monatsmenuejuni-11-12/boeser-zauber
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