Margit Weihrich Der Krimi und das wahre Leben

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Margit Weihrich Der Krimi und das wahre Leben
Margit Weihrich
Der Krimi und das wahre Leben
Gesellschaftskonstruktion im modernen Kriminalroman
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Stefanie Abt: Soziale Enquête im aktuellen Kriminalroman. Am Beispiel von
Henning Mankell, Ulrich Ritzel und Pieke Biermann.
(Literaturwissenschaft/Kulturwissenschaft) Wiesbaden: Deutscher
Universitätsverlag 2004. 219 S. Paperback. EUR (D) 35,90.
ISBN: 3-8244-4605-7.
Der Kriminalroman als Gesellschaftsroman
Kriminalromane haben Hochkonjunktur. Stefanie Abt stellt sich die Frage, warum
das so ist und hat zur Beantwortung ein anregendes und unterhaltsames
literaturwissenschaftliches Buch mit soziologischer Färbung vorgelegt, das aber
auch einige wichtige Fragen offen lässt.
Kriminalromane, so ihre These, sind Gesellschaftsromane: Das »eigentlich
Interessante« (S. 13) am neueren Kriminalroman sind die Alltagsprobleme der
literarischen Personen, die vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen
Lagebeschreibung erzählt werden – und diese hat etwas mit der sozialen
Wirklichkeit zu tun.
Abt stellt ihrem Text ein Zitat von Friedrich Glauser voran, wonach man die
Handlung eines Kriminalromans auf eineinhalb Seiten darstellen könne – die
übrigen hundertachtundneunzig Seiten bestünden aus Füllseln, und auf die käme es
an. Stefanie Abt hat sich vorgenommen, diese Füllsel zu untersuchen und sich mit
den »Details« zu befassen, »die den Roman örtlich, zeitlich und sozial in ein klar
definiertes Umfeld stellen« (S. 13). Zum einen will sie zeigen, dass der moderne
Kriminalroman ein »realistischer Roman« (S. 15) ist, der ethnographische Qualität
gewinnt, weil es ihm darum geht, »die Gesellschaft in ihrem Ist-Zustand zu
beschreiben und Veränderungen zu beobachten« (S. 15) 1 . Zum anderen will sie
herausfinden, mit welchen literarischen Mitteln ein solcher Realitätsbezug
hergestellt wird.
Dabei habe dieser Realitätsbezug grundsätzlich eine gesellschaftskritische Basis,
denn die Genreregel verlange es ja, dass »in diesen Realitäten Morde geschehen«
(S. 24). Das Verbrechen deute auf einen Missstand hin, der gesellschaftliche
Ursachen haben könne. 2 Da die Genreregel es weiter erfordere, dass die
Aufklärungsarbeit beschrieben werde, könne die Leserin die ErmittlerInnen bei
deren Informationssuche durch die jeweilige Gesellschaft, ihre Milieus und ihre
Verwerfungen begleiten. Und schließlich solle – eine dritte Genreregel – die
gefährdete Ordnung wieder hergestellt werden, was den Kriminalroman zum
konservativen Genre mache. Wie Abt zeigen wird, wird diese Genreregel im
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modernen Polizeiroman gedehnt, denn die ErmittlerInnen scheitern bei der
Aufklärung ihrer Fälle. Die Suche nach der Lösung eines Falles sieht die Autorin
als ein Angebot der Sinnsuche in einer unübersichtlichen Welt – angesichts der
Komplexität und Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften aber müsse das nicht
glücken.
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Polizeiromane als Untersuchungsgegenstand
Wie also wird »empirische Realität zum Textmaterial«, und wie wird umgekehrt
»in einem Text Realität konstruiert und mit Inhalt gefüllt«? (S. 19) Abt verfolgt
diese Fragestellung mit einer Analyse der Polizeiromane von Henning Mankell,
Ulrich Ritzel und Pieke Biermann. 3 Wer es nicht weiß: In den Romanen von
Henning Mankell, die in Schonen im Süden Schwedens spielen, ermittelt der
melancholische Kommissar Kurt Wallander, Ulrich Ritzel siedelt seine Romane um
seinen Ermittler Berndorf und dessen Mitarbeiterin Tamar Wegenast in Ulm an und
Pieke Biermanns Karin Lietze ermittelt mit ihrem Team in Berlin. Es handelt sich
hierbei um Polizeikrimis: Sie sind für Abt das ideale Subgenre für ihre
gesellschaftswissenschaftliche Fragestellung, denn die dortigen
»Versuchsanordnungen« (S. 25) setzen, wenn man so will, die ErmittlerInnen unter
sozialen Druck: Sie müssen sich in ein Team einfügen und mit Hierarchien
auseinandersetzen, die extremen Arbeitsanforderungen erzeugen
Vereinbarungsprobleme zwischen Beruf und Privatleben, und da die Polizei eine
staatliche Ordnungsmacht ist, ist immer auch Gesellschaftspolitik ein Thema. So
stehen auch Werte und Normen zur Disposition, und die ProtagonistInnen dürfen
oder müssen ausprobieren, wie es sich lebt, wenn man vom mainstream abweicht. 4
Fiktionaler Text als soziale Welt
Mit welchen Mitteln nun bildet ein fiktionaler Text empirische gesellschaftliche
Konstellationen ab und illustriert gleichzeitig auch, wie diese Realität erlebt wird?
Um das herauszufinden, muss man etwas wissen über die Verfahren des Erzählens
und über die Verfasstheit von Gesellschaften und deren Mechanismen. Man braucht
also Literaturwissenschaft und Soziologie. Abt untersucht deshalb zum einen,
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welche Erzählverfahren benutzt und welche Erzählräume zur Verfügung gestellt
werden, um einen Realitätsbezug zu konstruieren – das ist der
literaturwissenschaftliche Zugang zum Thema; zum anderen fragt sie danach,
»welche Parameter der Realität in einem Text auftauchen« (S. 26) – das ist der
sozialwissenschaftliche.
Über den jeweiligen wissenschaftlichen Hintergrund sowie die jeweiligen
Untersuchungsmethoden erfahren wir nicht viel. 5 In einem winzigen Unterkapitel
mit dem Titel »Methodische Anmerkungen« teilt uns die Autorin mit, sie habe für
die Beantwortung der zweiten Frage Pierre Bourdieu herangezogen und seiner
Anweisung Folge geleistet, »den fiktionalen Text als soziale Welt« (S. 26) zu lesen.
Hierfür habe sie die Bourdieusche »Terminologie« herangezogen: einmal die
[10] Klassenlage, die über den Habitus mit der Person verknüpft ist, zum anderen den
nutzenmaximierenden Einsatz der drei Bourdieuschen Kapitalsorten in
verschiedenen gesellschaftlichen Feldern – »im Text ebenso wie in der
außerliterarischen Welt« (S. 26). Des Weiteren werde »die Terminologie Bourdieus
[…] ergänzt durch Fachbegriffe aus Soziologie, Psychologie und
Politikwissenschaft«(S. 27). In einer Fußnote zitiert sie aus einem Standardwerk der
Literatursoziologie einige Fragen, die »für die Analyse wichtiger Textstellen von
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Belang« seien (S. 26, FN 37). Wer will, kann diese Fragen als eine
Operationalisierung von Bourdieus Anweisung lesen, aber die Autorin scheint
keinen Wert darauf zu legen, über ihr methodisches Vorgehen aufzuklären.
So übertreibt der Klappentext, wenn der davon spricht, dass Abt ihre Krimis »auf
der Grundlage von Bourdieus Kultursoziologie« analysiert. 6 Vielmehr entsteht der
Eindruck, dass sie die Soziologie als eine Sammlung von anregenden
Begrifflichkeiten benutzt. So streut sie hin und wieder Verweise auf Bourdieu eher
als Zierrat in ihren Text ein (S. 87, 104), konfrontiert die Leserin ganz unvermittelt
»mit Luhmanns Systemtheorie« (S. 105) und benutzt die »individuelle
Nutzenmaximierung«, angeblich eines ihrer theoretischen Instrumente, als
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moralische Kritik (S. 85, 121). Dennoch gelingt es ihr meines Erachtens, die fiktive
Welt als eine soziale Welt zu lesen. Vielleicht bedient sie sich einer impliziten
Heuristik, die sich als eine unorthodoxe rationaltheoretische Perspektive
beschreiben ließe. Präferenzen, eingesetzte Mittel und Situationsdefinitionen
verdanken sich dabei zum einen der inkorporierten Sozialstruktur und ihren
Ungleichheiten, scheinen zum anderen aber auch stark von der Person abhängig zu
sein. Hierüber hätte ich gerne mehr erfahren. 7
All das wird bereits in der »Einleitung« (Kapitel 1) vermittelt. Hierauf folgt »Die
Konstruktion von Realitäten und Lebenswelten« (Kapitel 2), sodann »Soziale
Enquête I: Arbeitswelt« (Kapitel 3), »Mediale Enquête: Massenmedien« (Kapitel
4), »Soziale Enquête II: Privatleben« (Kapitel 5) und schließlich ein kurzes 6.
Kapitel, das mit »Auswertung und Zusammenfassung« überschrieben ist. Kapitel 2
bezieht sich auf Abts Frage danach, wie Wirklichkeit durch Erzählverfahren
[12]
konstituiert wird, die Kapitel 3, 4 und 5 behandeln die Frage, inwieweit die
untersuchten Romane »realistische Romane« sind: ob das, was erzählt wird, mit der
sozialen Wirklichkeit europäischer Gesellschaften an der Wende zum 21.
Jahrhundert zu tun hat.
[13] Erzählverfahren
Kapitel 2 verfährt also eher literaturwissenschaftlich als soziologisch: Welche
Textverfahren machen den Polizeikrimi zum Gesellschaftsroman? Der Leserin lernt
die ProtagonistInnen und ihre Lebensumstände kennen: den einsamen Kurt
Wallander, Berndorf und seine KollegInnen und Karin Lietze, ihr Team und ihre
Freundinnen. Abt bleibt zunächst in der fiktiven Welt und macht deutlich, dass es
sich um literarische Personen handelt. Welche Verfahren des Erzählens findet sie
[14]
nun? Henning Mankell diagnostiziert Abt eine realistische Erzählweise, identifiziert
sie als das Erzählverfahren des Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts – und
lässt sie in einer Fußnote frech kommentieren (S. 45, FN 73). Mankell berichtet
zahllose zeitliche und örtliche Details, man erfährt viel darüber, was der Protagonist
tut 8 und denkt – all das soll nach Abt Künstlichkeit vertuschen und das Erzählte
realistisch erscheinen lassen.
Mankell formuliert demnach eine ungebrochene Realität, er erzählt sie (fast
ausschließlich) aus der Perspektive Wallanders, am Ende ziehen sich alle Fäden zu
einem Fall zusammen, der Schuldige wird immer gefasst. Abt fragt sich, ob die
altmodische Erzähltradition dazu passt, dass Mankell von einer
[15] auseinanderfallenden Gesellschaft berichtet. Über das korrumpierte Schweden, das
im Chaos versinkt, wird aus einer einzigen Perspektive und mit einer verbindlichen
Interpretation erzählt – und damit eher Ordnung als Chaos suggeriert. Andererseits
aber hält Abt dafür, dass die realistische Erzählweise die Missstände besonders
deutlich machen kann und dass die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt selbst
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einen Kommentar zur Lage darstellt. Die Figur Wallander, so Abts Fazit, kämpft
um eindeutige Zuordnungen in einer problematisch gewordenen Welt.
Ritzel indes erzählt nach Abt mithilfe bewusster Fiktionalisierung eine gebrochene
Realität. Mehrere gleichberechtigte ProtagonistInnen bieten mehrere Sichtweisen
auf die Welt an, so dass die Leserin wählen kann, mit wem sie sich identifizieren
[16] möchte. Zudem webt Ritzel weitere literarische Texte in den Krimi ein und entlarvt
so auch den Text erster Ordnung als fiction. Die Genreregel, dass durch die
Ermittlungen die Ordnung wieder hergestellt wird, wird verletzt: die Fälle werden
zwar gelöst, die Schuldigen aber nicht gefasst.
Pieke Biermann schließlich entwirft mithilfe des Prinzips der methodischen
Reihung eine erratische Realität. In ihren Krimis wirbeln viele Leute mit ihren
Lebens- und Alltagsgeschichten herum, die nichts mit den jeweiligen
Kriminalfällen zu tun haben – und auch was der Fall ist und ob es überhaupt einer
ist, ist keineswegs klar. Wo sich bei Mankell alle Fäden am Ende zusammenziehen
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und bei Ritzel wenigstens noch Berndorf weiß, was gespielt wird, gibt es bei
Biermann gar keine Zusammenhänge mehr – wenn doch, dann wird deren
Künstlichkeit überdeutlich. Die Fälle werden nicht mehr aufgeklärt, und wenn ja,
dann nicht durch die Polizei. Realität kann nicht mehr erkannt werden, so die
Botschaft, sie ist nicht dechiffrierbar, und Biermanns Sätze fliegen auseinander.
Auch hier unternimmt Abt eine vorsichtige Bewertung der Erzählverfahren: Ritzel
und Biermann problematisieren die Konstruktion von Realität und zeigen durch
ihre Erzählverfahren, dass die Dechiffrierbarkeit der Wirklichkeit nicht mehr
gelingt. Beide reflektieren die Fiktionalität auf einer Metaebene. Ritzel vertuscht
nicht wie Mankell die Künstlichkeit des Romans, sondern hebt durch den Einschub
anderer literarischer Texte, die den Zusammenhang stiften, die Künstlichkeit
[18] hervor. Bei Biermann findet sich das Chaos der Großstadt Berlin im Chaos aus
Erzählfäden und unvollständigen Sätzen wieder. Es ist klar, dass Abt die
Erzählverfahren ihrer AutorInnen entsprechend der Reihenfolge der Analysen
bewertet: Mankell gefällt ihr am wenigsten, Ritzel besser und Biermann findet sie
richtig gut.
[19] Lebenswelten
In den Kapiteln 3, 4 und 5 geht die Autorin der Frage nach, ob in den von ihr
untersuchten Romanen gesellschaftliche Realität thematisiert und kritisiert wird,
wie dies im klassischen Gesellschaftsroman der Fall war. In Kapitel 3, in dem es
um die Arbeitswelt geht, untersucht sie zudem, ob es der Polizei gelingt, die
Ordnung wiederherzustellen, wie es die Genreregeln verlangen – und wenn nein,
woran dies scheitert. Hier erst folgt Abt Bourdieus Anweisung, die Romane als eine
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soziale Welt zu lesen und untersucht die »Erzählräume« Arbeitswelt,
Massenmedien und Privatleben, denen sie jeweils ein Kapitel widmet. Das liest sich
recht kurzweilig, auch weil Abt zu jedem ihrer Fragenkomplexe alle drei
literarischen Welten miteinander vergleicht. Die Leserin wird von der Autorin in
die erzählte soziale Welt hinein- und dort herumgeführt und erfährt so allerlei
Erhellendes über das Personal der Romane und deren Handlungsumstände.
In Kapitel 3, das die Arbeitswelt behandelt, vergleicht Abt die Art der
»Verbrechen«, die »Ermittlungen«, die »Hierarchien« und die Rolle der »Frauen in
der Arbeitswelt« und destilliert aus genau beobachteten Episoden viele interessante
[21]
Erkenntnisse. Was die Verbrechen betrifft, sind die Täter bei Mankell Menschen,
die nicht mehr gebraucht werden; Schuld ist die Politik, die den Rechtsstaat in
Frage stellt. In Berndorfs Welt ist es ein unterirdisches Wurzelwerk, das die Täter
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motiviert – wie zum Beispiel eine nationalsozialistische Vergangenheit. Pieke
Biermann indes breitet einen »Flickenteppich zwischenmenschlicher Beziehungen
aus« (S. 88). Die Verbrechen sind zwar im privaten Bereich angesiedelt, immer
aber gesellschaftlich überformt.
Was den Umgang mit Hierarchien betrifft, vermischt Wallander Berufliches mit
Privatem, was Abt nicht professionell findet; bei Biermann setzen Sympathien
Hierarchien außer Kraft und Antipathien verstärken sie. Im Kapitel über »Frauen in
der Arbeitswelt« arbeitet Abt Wallanders Einstellung zu Frauen als geprägt von
gesellschaftlichen Vorurteilen heraus, während Berndorfs Kollegin Wegenast eine
Frau liebt und deshalb in der Ulmer Polizei »wie ein Fremdkörper« (S. 137) wirkt.
Bei Pieke Biermanns Personal geht es unter anderem um Vereinbarkeitsprobleme
berufstätiger Mütter und deren Folgen für ihre berufliche Präsenz. Hier lässt sich
exemplarisch zeigen, wie Abt zu belegen versucht, dass die Romane
gesellschaftliche Realität thematisieren: Sie zitiert als einen Nachweis für die
Realitätsnähe des Erzählten einen sozialkundlich aufbereiteten Artikel 9 über die
Auswirkungen der Doppelbelastung von Frauen auf ihren beruflichen Aufstieg.
Bourdieu braucht sie dafür nicht.
Die Rolle der Massenmedien – in der Arbeitswelt und im Privatleben der
ProtagonistInnen – wird in Kapitel 4 untersucht und vor allem deshalb als wichtig
erachtet, weil es im Kriminalroman wie auch in den Medien um die Suche nach
Informationen geht. Natürlich werden die Medien in den untersuchten Romanen
kritisiert – sie konkurrieren mit der Polizei um Informationen und nutzen sie
unverantwortlich – und die Leserin erfährt u. a. gut beobachtete Details über
Wallanders Medienkonsum: Während er über die Presse die üblichen Vorurteile
drischt, ist er in seiner privaten Mediennutzung so passiv und antriebslos wie auch
sonst in seinem Privatleben.
Kapitel 5 widmet Abt dem Privatleben. Wallander hat damit riesige Probleme und
spiegelt noch einmal die desolate Situation der Beziehungslosigkeit in Schweden:
Auch ihn braucht keiner mehr. Berndorf findet im Privaten ein glückliches
Refugium, wenn Abt auch zwischen Berndorf und seiner Partnerin gängige
Rollenmuster entdeckt. Für Lietze und ihre FreundInnen und KollegInnen ist das
Privatleben die Gegenwelt, in der noch Sinn gestiftet werden kann – das gilt indes
nicht für die traditionelle Familie. Die glücklichen Konstellationen finden sich fast
alle in alternativen Lebensformen. Abt fragt sich, ob mit der Kernfamilie
abgerechnet wird und konstatiert, dass Familie bei Mankell ein Ort der Gewalt und
bei Ritzel ein Ort der Verdrängung ist. Bei Biermann arbeiten Familien mit
Ausgrenzung – und können so nicht glücklich werden.
Dass Abt genau, engagiert und gut gelaunt beobachtet, macht diese Kapitel so
unterhaltsam. Die berichteten Details machen den Charme des Buches aus, auch
wenn man mitunter nicht mehr genau weiß, welchen Stellenwert sie in Bezug auf
die gestellten Fragen haben. So sind es in gewisser Weise auch hier die Füllsel, die
das Buch lesenswert machen.
[26] Die Suche nach dem Sinn
Das nur viereinhalb Seiten kurze Kapitel 6 kündigt eine »Auswertung und
Zusammenfassung« an. Dort bescheinigt Stefanie Abt dem Polizeikrimi, ein
Medium gesellschaftlicher Selbstbeobachtung zu sein. So wie die ErmittlerInnen
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für die Lösung ihres Falles nach Informationen suchen, richtet sich diese Suche
auch auf die Besonderheiten und Missstände der jeweiligen Gesellschaft. Freilich
haben die KommissarInnen zunehmend Schwierigkeiten, die relevanten
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Informationen zu finden, um ihre Fälle zu lösen und die soziale Ordnung
wiederherstellen zu können. Was für die Ermittlungsarbeit gilt, gilt auch für die
Untersuchung der Gesellschaft – die soziale Enquête. Während sich Mankell
akribisch auf die Darstellung der Ermittlungsarbeit konzentriert und sein
Kommissar noch daran glaubt, verstehen zu können, was vor sich geht, haben
Ritzel und Biermann grundsätzliche erkenntnistheoretische Probleme.
Während in Ystad niemand daran zweifelt, dass die Zeichen etwas bedeuten, 10
sind sich Berndorf und seine KollegInnen da nicht mehr so sicher. Karin Lietze und
ihr Team finden in der fragmentierten Wirklichkeit keinen Sinn mehr. Hier stehen
die Welten vieler Personen nur noch unverbunden nebeneinander. Vor allem Pieke
Biermann wird von der Autorin attestiert, sie nähere sich den »Inhalten der
literarischen Moderne«, weil sie sich von einem mimetischen Realismus
abgewendet habe und die Probleme der Erkenntnis von Wirklichkeit zum Thema
[28] mache. 11 Biermann und Ritzel dehnen die Genreregeln, während Mankell sie
(zumindest fast) einhält. Doch Stefanie Abt hält das Motiv der Suche jenseits aller
Formen des Erzählens für eine zukunftsträchtige Angelegenheit: »Die Frage, wie in
einer uneindeutigen Realität eine Lösung und damit ein Sinn gefunden werden
kann, ist für uns alle von außerordentlicher Bedeutung« (S. 213) – und deshalb
brauche man sich keine Sorgen um die Zukunft des Kriminalromans zu machen.
[29] Erzählverfahren und Realitätsbezug bei Stefanie Abt
Zum Abschluss stelle ich die beiden Untersuchungsfragen Stefanie Abts an ihren
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eigenen Text.
Welche Möglichkeit hat Stefanie Abt gewählt, um ihre Beobachtungen in
Textmaterial zu verwandeln? Ich sehe ein gelungenes Hin- und Herspringen
zwischen drei Ebenen der Darstellung: der Interpretation der Intention der
AutorInnen, der Beschreibung der Erzählweisen und der Analyse des Handelns der
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fiktiven Akteure in einer Weise, die sie als reale Personen erscheinen lässt. Der
Eindruck verstärkt sich, als es sich die Autorin gelegentlich leistet, diese Personen
in ihrem Verhalten zu kritisieren; manchmal macht sie sich sogar lustig, so zum
Beispiel über Wallanders ewiges Gejammer.
Was die Frage nach dem Realitätsbezug betrifft, muss man fragen, ob Abts Text der
innertextlichen Wirklichkeit der Romane von Mankell, Ritzel und Biermann
entspricht. Das kann jede Leserin selbst überprüfen. Denn wunderbarerweise steht
[32] bei diesem Untersuchungsgegenstand das Material der Öffentlichkeit zur
Verfügung, was bei qualitativen soziologischen Untersuchungen ja in der Regel
nicht der Fall ist. Ich kann also nur empfehlen, das Buch von Stefanie Abt und die
besprochenen Krimis zu lesen.
Dr. Margit Weihrich
ISIFO e.V. München
(Institut für sozialwissenschaftliche Information und Forschung)
Holzstraße 13 b
DE - 80469 München
Ins Netz gestellt am 17.10.2005
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Joachim Linder. Sie
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Conny Habbel.
Empfohlene Zitierweise:
Margit Weihrich: Der Krimi und das wahre Leben. Gesellschaftskonstruktion im
modernen Kriminalroman. (Rezension über: Stefanie Abt: Soziale Enquête im aktuellen
Kriminalroman. Am Beispiel von Henning Mankell, Ulrich Ritzel und Pieke Biermann.
Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2004.)
In: IASLonline [17.10.2005]
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Datum des Zugriffs: 27.02.2008
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Anmerkungen
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Die Rezensentin ist Soziologin und befindet, dass die Diagnose des Ist-Zustands
einer Gesellschaft und die Beobachtung sozialen Wandels auch die Aufgaben
soziologischer Gesellschaftsdiagnose sind. Damit findet die Soziologie in der
Gegenwartsliteratur eine ernstzunehmende Konkurrentin, zumal sich
SchriftstellerInnen auch als gute BeobachterInnen relevanter sozialer Mechanismen
bewähren. SoziologInnen nutzen deshalb zum einen Romane als empirisches
Material und analysieren zum anderen »die Gesellschaft der Literatur« (Thomas
Kron / Uwe Schimank (Hg.): Die Gesellschaft der Literatur. Opladen: Verlag Barbara
Budrich 2004).
Meines Erachtens stellt Mord die persönliche Sicherheit zur Disposition, die zu
gewähren eine fundamentale Aufgabe des Staates ist. Dass dieser dazu nicht in der
Lage ist, führt auch zur Kritik an der Aufklärungsarbeit der Polizei. Als
Repräsentantin des Staates sollte sie wenigstens hier erfolgreich sein.
Die Auswahl wird nicht schlüssig begründet (dies nimmt gerade einmal 10 Zeilen in
Anspruch). Deutsche und schwedische Krimis würden herangezogen, weil der
Kriminalroman eine internationale Gattung sei. »Vorwiegend sollen jedoch deutsche
Polizeikrimis analysiert werden« (S. 28). Aber warum? Wirklich problematisch aber
ist Abts Bemerkung, dass sich aus der Themenstellung ergebe, »dass hierfür
ausschließlich Romane mit gesellschaftskritischer Komponente von Belang sind« (S.
28). Ich hatte es eigentlich so verstanden, dass das eine der zu prüfenden
Ausgangshypothesen sei.
Dass es sich bei den von ihr untersuchten Romanen um Serien handelt, bekommt
indes keinen systematischen Stellenwert. Dabei kann man den Seriencharakter im
Sinne einer Paneluntersuchung nutzen und – zum Beispiel – die Veränderung und
Stabilität der »Alltäglichen Lebensführung« der ProtagonistInnen untersuchen (vgl.
Margit Weihrich / Günter G. Voß: Alltägliche Lebensführung und soziale Ordnung
im Kriminalroman. In: Thomas Kron / Uwe Schimank (Hg.): Die Gesellschaft der
Literatur (Anm. 2), S. 313–340).
Abt schreibt, dass sie sich für ihre Fragestellung und deren Bearbeitung an Ulrich
Schulz-Buschhaus orientiert hat, aber wir erfahren nicht viel mehr, als dass für ihn
der Kriminalroman »die Interessen einer sozialen und/oder politischen Enquête« (S.
22) befördern kann und dass es auch für ihn nicht nur darauf ankommt, was erzählt
wird, sondern auch, wie es erzählt wird. Der Terminus »Enquête« taucht bei Abt
ganz prominent im Titel und in zwei zentralen Kapitelüberschriften auf, aber es wird
nirgendwo erklärt, warum sie ihn verwendet. Dass er bei Schulz-Buschhaus
vorkommt, ist natürlich eine heiße Spur, die ich aber hier nicht weiter verfolgen
kann.
In der Literaturliste findet sich nur ein einziger Artikel von Bourdieu.
Es geht ja um zwei verschiedene Fragen: Was machen die Figuren in einer
bestimmten Welt? Und inwieweit korrespondiert die Textwelt mit einer bestimmten
außerliterarischen Sozialwelt? Fiktive Akteure in fiktiven Welten werden in
Übereinstimmung mit sozialen Mechanismen handeln müssen, wenn ihr Handeln
verstehbar sein soll. Der nutzenmaximierende Einsatz der Kapitalsorten in einer
bestimmten Situation ist ein Mechanismus, der auch das soziale Handeln von
Marsmenschen erklären kann. Damit ist nichts darüber ausgesagt, ob die jeweiligen
Welten realistisch sind. Hier nun wird Bourdieu relevant: Über den Mechanismus des
Habitus und den Besitz spezifischen Kapitals kommen in einer bestimmten
Klassenlage in einer konkreten Gesellschaft sozialisierte Akteure ins Spiel, so dass
man aus der Untersuchung dieser Spezifika Rückschlüsse auf gesellschaftliche
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Strukturen ziehen kann – eben auf »die Strukturen der Arbeits- und Privatwelt« (S.
26f.) und deren ungleichsheitsrelevante Aspekte. Ich will nicht sagen, dass Abt das
nicht tut – aber für ein wissenschaftliches Werk würde ich doch eine
Auseinandersetzung mit der theoretischen Grundlage der Untersuchung erwarten.
Man könnte dann auch vergleichen, inwieweit der Habitus das geeignete Konzept für
die hier verfolgte Fragestellung ist, oder ob sich nicht vielmehr das Konzept
Alltäglicher Lebensführung anböte, das viel weniger starr als der Habitus ist und der
Person als Produzentin ihrer Lebensführungsregeln einen viel größeren Stellenwert
einräumt (siehe hierzu Margit Weihrich: Alltägliche Lebensführung und
institutionelle Selektion oder: Welche Vorteile hat es, die Alltägliche Lebensführung
in die Colemansche Badewanne zu stecken? In: Günter G. Voß / Margit Weihrich
(Hg.): tagaus – tagein. Neue Beiträge zur Soziologie Alltäglicher Lebensführung.
München und Mering: Rainer Hampp Verlag 2001, S. 219–236).
Weswegen sich das fiktive Leben des Kurt Wallander auch wunderbar für eine
8
Analyse der Mechanismen alltäglicher Lebensführung eignet.
Als weitere Belege dieser Art finden sich Verweise auf bunt zusammengewürfelte
9
soziologische Literatur.
In Fußnote 183, S. 102f. witzelt die Autorin darüber, dass die
10 Erkenntnismöglichkeiten in Ystad offensichtlich wesentlich unproblematischer sind
als in Berlin.
Dass diese Erzählform die aktuelle Wirklichkeit besser abbildet als jede andere, lobt
Tobias Kniebe in der Süddeutschen Zeitung vom 3. August 2005 anhand des Films
L.A. Crash und dessen »Vignettenform«. Auch dort werden Akteure in eine ebenso
überzufällige Verbindung zueinander gesetzt – im richtigen Los Angeles würde man
sich kein zweites Mal begegnen. »Wenn man L. A. Crash also mit dem Gefühl
11 verlässt, seit langem wieder einmal das echte Amerika erblickt zu haben – dann ist
das auch ein fast paradoxer Triumph für die unerschrockene und kompromisslose
Künstlichkeit dieses Films« (Tobias Kniebe: Hier berührt Dich niemand. In seinem
Film »L. A. Crash« baut Paul Haggis eine emotionale Massenkarambolage. In:
Süddeutsche Zeitung, Nr. 177, 3. August 2005, S. 11.). Damit wäre Stefanie Abt
sicher einverstanden.
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