LESE- PROBE Leseprobe

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LESE- PROBE Leseprobe
Insa Härtel
Kinder der Erregung
Edition Kulturwissenschaft | Band 54
Insa Härtel ist Professorin für Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Kulturtheorie und Psychoanalyse an der International Psychoanalytic University Berlin
(IPU). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Konzeptionen kultureller Produktion/kulturelle Transformationen, Raum/Phantasmen, psychoanalytische Kunst- und Kulturtheorie sowie Geschlechter- und Sexualitätsforschung.
Insa Härtel
unter Mitarbeit von Sonja Witte
Kinder der Erregung
»Übergriffe« und »Objekte« in kulturellen Konstellationen
kindlich-jugendlicher Sexualität
Diese Publikation wurde im Rahmen des Forschungsprojekts »›Übergriffe‹ und
›Objekte‹: Bilder und Diskurse kindlich-jugendlicher Sexualität« von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert (Sachbeihilfe GZ: HA 5911/2-1).
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Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld
Satz: Benjamin Thurn
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
Print-ISBN 978-3-8376-2884-5
PDF-ISBN 978-3-8394-2884-9
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
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Inhalt
Vorbemerkung | 7
Einführung | 9
Insa Härtel
Kapitel 1
Fehlende Küsse – fehlende Grenzen: „Voll Porno!“ (stern 2007) | 51
Insa Härtel
Kapitel 2
In Panik vor Jedermann.
Journalistische Beiträge zur Aufdeckung von Pädophilen | 89
Sonja Witte
Kapitel 3
Nicht an Sexualität denken. „Venus After School“ (Sally Mann 1992) | 145
Insa Härtel
Kapitel 4
Verlockende Zwischenzustände: Britney Spears | 179
Insa Härtel
Kapitel 5
„Let‘s face it… normal left us a long time ago“.
Ausgewählte Arbeiten Tracey Emins | 219
Insa Härtel
Stand der Dinge | 261
Insa Härtel
Kapitel 6
Kiss and stop and kiss and kiss and stop and kiss…
Über eine eigentümliche Maßlosigkeit im Denken
(anlässlich von Tseng Yu-Chin: „Who’s listening? No. 5“ 2003-2004) | 283
Sonja Witte
Literatur | 309
Vorbemerkung
Dieses Buch hat folgende Geschichte. Das ihm zugrundeliegende Forschungsprojekt wurde von Insa Härtel mit dreijähriger Laufzeit bei der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) beantragt und startete Mitte Oktober 2010 an
der Universität Bremen. Als klar war, dass Insa Härtel eine Professur an der
International Psychoanalytic University (IPU) antreten würde, ermöglichte die
DFG eine Umschreibung des Projekts. Es konnte vor Ort weitergeführt und es
konnte eine Wissenschaftliche Mitarbeiterin eingestellt werden: Sonja Witte,
die seit Oktober 2012 mitgearbeitet hat.
Wir danken der DFG.
Für Unterstützung, Diskussion, Kooperation, Anregung verschiedener Art außerdem Dank an (alphabetische Reihenfolge):
Angelika Bartl, Sabine Broeck, Lars Church-Lippmann, Thomas Disselkamp,
Susanne Gottlob, Kathrin Heinz, Dagmar Herzog, Olaf Kistenmacher, Olaf
Knellessen, Elfriede Löchel, Inge Marszolek, Irene Nierhaus, Timm Obendorfer, Karl-Josef Pazzini, Victoria Preis, Sigrid Schade, Georg-Christoph Tholen
sowie den Teilnehmer/innen eines Projekt-Workshops im Sommer 2013 – neben
einigen der bereits genannten: Melanie Babenhauserheide, Julia König, Peter
Passett, Peter Schneider.
Einführung
Insa Härtel
Das Objekt dieser Abhandlung sind Bilder bzw. Diskurse kindlich-jugendlicher
Sexualität. Die Untersuchung möchte zu einer Zustandsbeschreibung der derzeitig westlich-repräsentationalen Verfasstheit von ‚Sexualität‘ beitragen. Dies
setzt grundsätzlich die Annahme einer gesellschaftlichen Veränderlichkeit des
seit rund zwei Jahrhunderten ‚Sexualität‘1 genannten Bereichs voraus. Es ist
nicht eben eine Neuigkeit: Die Formen bzw. das Denken über ‚Sexualität‘ sind
historischen Wandlungen unterworfen.2
Dabei ist natürlich immer auch zu fragen, auf welchen Ebenen die jeweils
beschriebenen Veränderungen liegen. Nach Oberlehner wird der ‚Skandal des
Sexuellen‘ „wie eh und je abgewehrt […], nur das Wie dieser Abwehr folgt dem
Zeitgeist“ (Oberlehner 2005: 125). Mit Reiche gesprochen ist es wiederum gar
nicht so leicht, an den Präsentationen des Sexuellen „den Anteil der kulturellen Neuschöpfung und den Anteil der Maskierung und Abwehr von gewöhnlichen (herkömmlichen) sexuellen Konflikten, Nöten und Beschämungen zu
unterscheiden“ (Reiche 2004: 159). Was also wäre neu bewirkt und bedingt,
was auf andere Weise abgewehrt? Wie zeigt sich das und wie ist es zu unterscheiden? Und inwieweit formt die Abwehr das, was am Sexuellen wahlweise
skandalös oder gewöhnlich (oder beides) erscheint, allererst mit?
Zunächst lässt sich sagen, dass die vorliegende Untersuchung nicht versucht, die Sache selbst zu fassen. Sexualität ist hier nicht jenseits ihrer gesellschaftlichen Inszenierungen von Interesse, sondern es geht gerade um das,
was in diesen Inszenierungen verhandelt wird. – In den Kultur- und Medienwissenschaften sind z.B. mediale Darstellungen der Jugend und entsprechende Repräsentationspolitiken untersucht worden,3 feministische Forschung hat
vielfach Figuren von Sexualität und Geschlecht beforscht. An solche Debatten
anknüpfend werden kulturelle Repräsentationen hier als Austragungsort gesellschaftlicher Konflikte und dabei als bedeutungsgenerierend und ‚weltbildend‘ wirksam begriffen.
Die Frage: Wie wird ‚junge‘ Sexualität medial und künstlerisch vorgestellt? richtet sich folglich nicht auf das subjektive Erleben und Handeln von Kindern und
Jugendlichen,4 sondern vielmehr „darauf, was ‚man‘ denkt“,5 d.h. wie – anhand
10
Kinder der Erregung
veröffentlichter Bilder und Texte – über kindlich-jugendlich Sexualität gesprochen bzw. wie sie dargestellt wird. Es geht also nicht darum, Sexualität von
Kindern und Jugendlichen zu untersuchen, sondern wie diese repräsentiert
ist (was gerade nicht heißt, dass es dazwischen keine Wechselwirkung gibt).
In diesem Sinne zielt die Fragestellung – hierin durchaus diskursanalytisch
geprägt – auf das Textmaterial selbst und nicht auf die darin ‚bezeichneten‘ Gegenstände (vgl. Flick 2007: 430). Und insofern ein Diskurs eben nicht einfach
nur das artikuliert, was er postuliert, sondern selbst ein Symptom einer (sich
verändernden) gesellschaftlichen Konstellation bilden kann,6 richtet sie sich
auf das, was sich in diesem Material an kulturellen Tendenzen und Konflikten
manifestiert.
Denn Bilder/Diskurse 7 sind natürlich nicht alles. Das heißt nicht nur, dass
sie eben eine gesellschaftliche ‚Realität‘ immer auch produzieren – wobei ihre
Wirkungen sie selbst übersteigen8 –, sondern sie sind auch niemals vollständig; sie lassen Reste bzw. Einbruchsstellen,9 in denen sich dann etwa der (möglicherweise gewöhnliche) ‚Skandal‘ des Sexuellen nachträglich zeigen kann.10
Es geht also auch um das, was aus den angebotenen Deutungsmustern – auf
diese Weise ‚umgedreht‘ von ihnen geformt – herausfällt.
Die kulturellen Repräsentanzen, mit denen dieses Buch befasst ist, interessieren folglich hinsichtlich ihrer Bild- und Diskursstrategien und der durch sie
produzierten Bedeutungen, weniger in ihren – im hergebrachten Verständnis –
‚empirischen‘ Gehalten o.ä.,11 sehr wohl aber in dem, was in oder aus ihnen
bricht. Der Diskurs ist also immer auch ‚aufzudröseln‘.12
Z eitdiagnosen
Bevor es an die Untersuchung konkreter Materialien aus den Bereichen Kunst/
Medien geht, soll ein Blick auf kulturelle ‚Zeitdiagnosen‘, die für die letzten
Jahrzehnte einen westlichen Wandel des Sexuellen konstatieren, den Anfang bilden. Deren Skizzierung dient im Rahmen dieser Einführung einer
Herleitung der Fragestellung aus dem in ihnen (Nicht-)Gesagten; d.h. durch
Zusammen- oder Gegenlesen der Zeitdiagnosen sollen darin relevante kulturelle Dynamiken weiterführend formulierbar und befragbar werden. Für die
‚Fallstudien‘ aus den Bereichen Kunst/Medien, die in den nächsten Kapiteln
folgen, bilden jene vorgestellten ‚Diagnosen‘ dann eine Art Folie. Oder man
könnte formulieren: Die Fallstudien erproben deren Tragfähigkeit im Einzelfall, ausgehend von dem Grundsatz, dass „jeder Einzelfall die Theorie vor neue
Herausforderungen stellt“ (in anderem Kontext: Schwaiger 2009: 7). Lassen
sich die sich am Material zeigenden Konstellationen mit Rückgriff auf die ‚diagnostizierten‘ Veränderungen interpretieren? Oder lässt sich konstatieren,
Einführung
dass sie die bisherigen Thesen differenzieren, spezifizieren, ihnen widersprechen, sie verschieben?
Es geht mit dieser Untersuchung also weniger darum, zur Ausformulierung
einer weiteren Zeitdiagnose zu gelangen, etwa im Sinne einer historisch-neuen
Konfiguration im Vergleich zu einer alten, als vielmehr um eine Scharfstellung
gegenwärtiger Bilder des Sexuellen. – Hier vorab noch einige Anmerkungen
zum Status von Zeitdiagnosen selbst. Über die Annahme einer gesellschaftlichen Veränderlichkeit von Sexualität hinaus lässt sich konstatieren: Sexualität
ist selbst zu etwas geworden, das sich „konjunkturgemäß in Form eines Wandlungsdiskurses beschreiben lässt“ (Osswald-Rinner 2011: 44), als werde mit ihr
Veränderung geradezu verbunden. In Zeitdiagnosen generell liegt ein Trend
zu Wandel oder Neuerung. Vielleicht könnte man formulieren: „Wir leben in
einer Diagnosegesellschaft, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich
permanent mit neuen Selbstthematisierungen überzieht“ (dazu Osrecki 2011:
341).13 Noch einmal anders gewendet wäre das Denken zunehmend „der Versuchung ausgesetzt, ‚die Nerven zu verlieren‘“ bzw. „die alten konzeptionellen
Koordinaten über Bord zu werfen“ (in anderem Kontext Žižek 2001a: 80). Man
sehe sich ständig aufgefordert, sich „von den ‚alten Paradigmen‘ zu verabschieden“ etc. (ebd.).14 Auch hierin ist jeweils paradoxerweise wieder ‚Zeitdiagnostisches‘ enthalten.
Kulturelle Zeitdiagnosen sind von den Umständen, auf die sie verweisen,
notwendig selbst befallen: Als Diagnosen ‚unserer Zeit‘ unterliegen sie selbstverständlich deren Dynamik.15 Nicht zuletzt Historiker/innen sind ihnen gegenüber offenbar skeptisch, weil „die Diagnostiker/innen aktiver und passiver
Teil des diagnostizierten Zustandes sind“ – was wohl zu einer „geringen Halbwertszeit von Zeitdiagnosen beiträgt“ (Becker 2010: 178).16 In diesem Sinne
lassen sich Zeitdiagnosen als durchaus (wage-)mutig bezeichnen.17 Wobei diese
Verwicklungen bestenfalls auch ein grundsätzliches Übergreifen des betrachteten (Forschungs-)Gegenstands auf das über es Ausgesagte verdeutlichen
könnten.
Das Übergreifen wäre dem Zeitdiagnostizieren dann inhärent. Damit verbunden sagen solche ‚Diagnosen‘ (wie auch ich hier) eben nicht einfach nur
das, was sie zu postulieren scheinen. In Anlehnung an eine Formulierung Zupančičs aus anderem Kontext lässt sich eine Diagnose ‚unserer Zeit‘ versuchsweise auch als ‚Kompromissbildung‘ fassen (Zupančič: 2009: 52f.). – Oder:
Wenn Zeitdiagnosen dazu tendieren, eine Tendenz zu verdichten „und das zu
ihr gehörende Paradox, die zu ihr gehörende Gegenbewegung“ zu unterschlagen (Reiche 2004: 180), dann besteht der Versuch der vorliegenden Untersuchung darin, mit und gegen die Zeitdiagnosen auch die inhärenten Gegenbewegungen, Vermeidungen, Auslassungen und so wiederum das kulturell
Konflikthafte in den Blick zu bekommen.18
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Kinder der Erregung
V erhandeln
An dieser Stelle werden nun also zunächst einige jener gegebenen ‚Zeitdiagnosen‘ referiert und dabei – zugunsten eines Einblicks in die sexualität-umkreisenden Diskussionen –, verschiedene belangreiche Aspekte und Tendenzen
miteinander verwoben.
Die Sozialwissenschaften lassen, so Heenen-Wolff, keinen Zweifel an einer
signifikanten Entwicklung, die eine allein ihrer eigenen Realisierung dienende Sexualität zu ermöglichen scheint – auf der Grundlage ihrer Trennung von
der Fortpflanzungsfunktion (vgl. Heenen-Wolff 2009: 178). Durch die Dissoziation von der reproduktiven Sphäre wird demnach das Entstehen „einer
scheinbar eigentlichen, ‚reinen‘ Sexualität“ (Sigusch 2005: 30) markiert. Dies
wäre also der schiere Anfang.
Weiter wird Sexualität als selbst verhandelbar verhandelt. Die Frage sexueller Normen werde heute, wie es heißt, meist pragmatisch durch eigene Maßstabsbildung in gegenseitiger Abstimmung o.ä. gelöst (vgl. Vetter 2007: 18). In
unterschiedlicher Bewertung ist auch die Rede von einer Ablösung herkömmlicher Sexualmoral durch eine Verhandlungsmoral (Schmidt 1998, vgl. 2004).
Schmidt zufolge sind die sexuellen Verhältnisse westlicher Industriegesellschaften heute zum einen durch die „sexuelle Revolution“ bzw. den liberalen
Diskurs der 1960/70er Jahre und zum anderen durch den „Selbstbestimmungsdiskurs der 1980er Jahre“ bestimmt, der nicht zuletzt durch die Frauenbewegung eine „Sensibilisierung gegenüber sexuellem Zwang und sexuellen
Übergriffen“ mit sich brachte – und zugleich, „als Nebenfolge, einen neuen
Sexualkodex“ erwirkte, der u.a. auf eine „kommunikativer[e]“, „berechenbarer[e]“ oder „herrschaftsfreier[e]“ Regelung des sexuellen Umgangs zielt
(Schmidt 2005: 10f.). Gefordert ist gleichsam ein „vereinbarte[s], ratifizierte[s]
Sexualverhalten“, ein „ausdrückliche[r] verbale[r] Konsens“ erscheint wesentlich (Schmidt 1998: 11). Wurden gemäß der ‚alten‘ Moral bestimmte sexuelle
Handlungen oder Praktiken prinzipiell – und weitgehend kontextunabhängig
– disqualifiziert, so unterliegt nun stärker die Interaktion einer Bewertung, also
etwa: Wie ist die sexuelle Handlung zustande gekommen? (vgl. Schmidt 2005: 11).
Entscheidend ist dann eben der Prozess des Aushandelns (vgl. ebd. 12).19
Einer solchen Konsensmoral, die – da im Grunde auf alle Lebensbereiche
anwendbar – eigentlich keine spezifische Sexualmoral mehr darstellt (vgl. Lewandowski 2008: 246), erscheint Sexualität (idealtypisch)20 weitgehend als
Einwilligungs- und Verständigungsprozess.. Was sich also erfreulicherweise
gegen sexuelle Gewalt richtet, führt zugleich nicht nur „zu sehr engen Bedingungen der Ausführbarkeit“ (Pfaller 2005: 18), es bringt nicht nur potentiell einen „blinden Fleck“ in der Vorstellung sozusagen herrschaftsfreier
Konsensbildung mit sich,21 sondern anscheinend auch „einen starken Rationalisierungsschub der Sexualität“ (Schmidt 1998: 13f.); „Vorhersagbarkeit und
Einführung
Überschaubarkeit“ statt „Unberechenbarkeit und Risiken“ (ebd. 14)? Gründet
sich der so verstandene westlich-modernisierte Sex damit „auf einen beinahe
rührenden Glauben“ an „Rationalisierbarkeit“, kommt es zu einer Reduzierung „auf die Sprache des Tages“? (Schmidt 1998, z.T. mit Bezug auf Nádas,
14). Oder wird man hier vielmehr umgekehrt mit dem eigenen „rührenden
Glauben an die Irrationalität der Sexualität“ konfrontiert, wie sich der Autor
später selbst korrigiert (Schmidt 2004: 25)? Denn werden heute nicht gerade
kulturelle Bilder und Konzepte vom Sex etwa als „unbändige, tabusprengende
und transformative Kraft“ in Frage gestellt (ebd.)?
Die Perspektive der vorliegenden Untersuchung zu solchen Fragen kristallisiert sich im weiteren Verlauf heraus.
F reir äume – E ntmystifizierung
Sigusch hat für die letzten Jahrzehnte kapitalismuskritisch22 den Begriff der
Neosexualitäten – er spricht auch von neosexueller Revolution – geprägt (Sigusch
2005) und umkreist damit einen „kulturellen Wandel von Liebe und Perversion“,23 in dem es ebenso um „neue Freiräume“ wie um „neue Zwänge“ geht
(ebd. 7). Zu den Freiräumen heißt es, sie seien „noch nie so groß und vielgestaltig“ gewesen (ebd.). – Heterosexuelle können demnach sehr verschiedene
Beziehungsformen wählen, Homosexuellen werde die Ehe ermöglicht, Transsexualismus zum anerkannten Neogeschlecht etc. (vgl. ebd.).24 Gerade lange
„als abnorm, krank, pervers und moralisch verkommen“ angesehene Personen
profitierten von der neosexuellen Freistellung (ebd.). In der Terminologie der
Verhandlungsmoral ist entsprechend das, was sexuelle Perversion genannt
wurde, längst erreicht (Schmidt 1998: 13). Wie ehemals perverse Formen präsentieren sich als auszuhandelnde Lebensstile (vgl. ebd. 12f.).
„Kehrseite“ der neosexuellen Prozesse ist nach Sigusch gewissermaßen ein
Verlust an „Sprengkraft“ des Sexuellen (Sigusch 2005: 8).25 Durch aufdringliche öffentliche Inszenierungen banal geworden, fungiere Sexualität nicht
mehr als „große Metapher des Rausches, des Höhepunktes, der Revolution,
des Fortschritts und des Glücks“ (ebd.).
Sie ist es nicht mehr: Fortgesetzt dient nach Herzog kritischen Beobachtern im Bestreben einer Formulierung dessen, „was sie als Entdramatisierung
und Banalisierung der Sexualität“ verstehen, 1968 als „entscheidende[r] Bezugspunkt“ (Herzog 2005: 307). Waren laut Eder seit Mitte der 1960er Jahre
u.a. eine „rasante Sexualisierung des öffentlichen Raumes“ und eine „sexuelle Aufladung des gesellschaftskritischen Diskurses“ (Eder 2002: 217) zu verzeichnen, so sei heute eben eine Art Entmystifizierung – auch mediale Entzauberung – des Sexuellen erfolgt (ebd. 224f.). 26 Noch einmal im Verlauf: Nach
einer, wie es heißt, (zumindest in Deutschland) „negativen Mystifizierung“
13
14
Kinder der Erregung
von Sexualität in den 1950er Jahren (Becker 2010: 181), die hierzulande auch im
Zeichen einer (sexualkonservativen) ‚Vergangenheitsbewältigung‘ steht (vgl.
Witte 2013; vgl. Herzog 2005),27 kommt es Anfang der 1960er Jahre mit den
Kindern der Täter/innen-Generation zu einer Wendung: Statt der „Deutung
einer vom Exzessiven des Sexuellen ausgehenden Gefahr, die mit den nationalsozialistischen Verbrechen phantasmatisch verknüpft war“, lautet die Gleichung in (West-)Deutschland nun: „Befreiung vom Faschismus = Befreiung
der Sexualität“ (Witte 2013: 256, auch mit Bezug auf Herzog). – Nach Becker
wird Sexualität in den 1960er und 1970er Jahren „zum Hoffnungsträger im
Sinne einer positiven Mystifizierung“; in den 1980er Jahren folgt hingegen
(u.a. durch Themen wie sexueller Missbrauch und sexuelle Gewalt, PorNO und
AIDS) eine erneute Entwicklung Richtung „negative Mystifizierung der Sexualität“ (Becker 2010: 181). Und im Zeichen gegenwärtiger „Entmystifizierung“
sei Sexualität nun also unwichtiger geworden (ebd.); oder auch: „[V]on einer
‚Befreiung‘ der Sexualität“ werde kaum eine „grundlegende Umwälzung sozialer Verhältnisse“ erwartet oder befürchtet (Lewandowski 2008: 245).
Auch für junge Menschen liege, so Sigusch, die bedeutendste Veränderung
in der gesellschaftlich verminderten symbolischen Bedeutung von Sexualität
(Sigusch 2005: 22) – weil „sie nicht mehr die große Überschreitung ist, kann
sie auch unterbleiben“ (ebd.). ‚Sex zu haben‘ stehe heute sozusagen „gleichrangig neben anderen Erlebnissen“ (Eder 2002: 224).
In den 1990er Jahren seien die „vorehelichen sequenziellen Monogamien“
angestiegen; eine verringerte „Anzahl der Koituspartner“ gehe mit einem offenbar weniger ‚dranghaften‘ Erleben sexuellen Verlangens einher (Eder 2010:
168; vgl. 2002); sodass die vergleichsweise stärkere Verbindung von Sexualität
mit „Liebe und längerer Bindung“ (Eder 2010: 168) in einer solchen Denkart
im Grunde keinen Widerspruch zur ‚sexuellen Entmystifizierung‘ bildet. –
Nach Pfaller wiederum erfolgt der Beziehungsauf bau oft „‚romantisch‘ allein
auf der ‚Substanz‘ der innerlichen, zärtlichen Gefühle“ (Pfaller 2005: 12).
Wenn die „Neosexualität“ junger Leute mit Sigusch eher als eine „Wohllust“ denn als „alte triebhafte Wollust“ zu bezeichnen ist (Sigusch 2005: 8)28
oder nach Schmidt die „klassische Pubertät des bürgerlichen Jungen“ etwa mit
dem Erleben eines „plötzlichen Triebeinbruchs“ ausgedient hat (Schmidt 1998:
54), so wird bereits deutlich: Auch der Trieb hat einen schweren Stand. Für
Neosexualitäten sei typisch, dass „das triebhaft Sexuelle im alten Sinn nicht
mehr im Vordergrund steht“ (Sigusch 2002: 15).29 Darauf werde ich später zurückkommen und solche Beschreibungen auch im Sinne einer ‚symptomatischen‘ Lektüre befragen.
Im Rahmen neuer Formen selbstoptimierter und -disziplinierter Lust
taucht auch der Begriff des Selfsex auf (Sigusch 2005: 8) und es wird von Diskussionen berichtet, „that the 1990s to early 2000s were marked by an increasing ‚onanization of sex‘ […]. Others claimed that growing numbers of people

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